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Kassel im Frühsommer 2012. Ein scheinbar religiös motivierter Täter mordet im Prostituierten- und Strichermilieu. Hauptkommissar Paul Lenz und sein Mitarbeiter Thilo Hain jagen das Phantom, das nicht nur die Stadt in Angst und Schrecken versetzt, sondern durch seine Taten auch den sonst so lukrativen Markt der käuflichen Liebe nahezu austrocknet. Und das, nachdem kurz zuvor die 13. Documenta eröffnet wurde, die weltgrößte Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die hunderttausende Besucher in die Stadt lockt …
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Seitenzahl: 405
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Matthias P. Gibert
Höllenqual
Lenz’ zehnter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
Bernd Ahrens ging mit gesenktem Kopf auf die Journalisten zu, die vermutlich seit mehreren Stunden vor dem Eingang zum Landgericht Kassel auf ihn gewartet hatten. Sein Anwalt griff nach seinem Arm und zog ihn, ohne ein einziges Wort zu verlieren, ins Innere des Gebäudes. Dort standen mehrere Kamerateams, die sich sofort den beiden Männern zuwandten, doch auch an dieser Ansammlung schoben sie sich ohne eine Erklärung vorbei.
»Wie die Schmeißfliegen!«, stöhnte der Jurist, nachdem sie die Sicherheitsschleusen hinter sich gelassen hatten und auf dem Weg zum Sitzungssaal waren. Auch dort wurden die Männer von ein paar Journalisten erwartet, doch Dr. Schober, der Anwalt, schritt, seinen Mandanten vor sich herschiebend, kopfschüttelnd und mit eindeutiger Geste an ihnen vorbei, stellte seine große Aktentasche auf einem Stuhl ab und nestelte die Robe daraus hervor.
»Was erwarten Sie sich von dieser Verhandlung, Herr Ahrens?«, wollte ein Reporter, der den beiden mit einem Block in der Hand gefolgt war, wissen.
»Mein Mandant hat nichts zu sagen!«, herrschte Dr. Schober ihn an, während er damit zu tun hatte, sich kleidungstechnisch auf die bevorstehende Verhandlung einzustellen.
»Aber…«
»Nichts, aber! Sie warten, wie Ihre Kollegen auch, bis es ein Urteil gibt. Zu dem werden wir dann Stellung nehmen.«
Der Journalist wollte nachhaken, doch ein strenger Blick des Anwalts ließ ihn diesen Gedanken verwerfen.
»Dann halt bis später«, murmelte er enttäuscht, »und vergessen Sie mein Gesicht nicht. Nachher geht es hier nämlich garantiert wieder drunter und drüber.«
Von der Seite näherte sich ein weiterer Mann, dessen Auftauchen von Bernd Ahrens jedoch mit großem Wohlwollen quittiert wurde.
»Hallo, Konrad«, begrüßte er den Besucher.
»Guten Morgen, Bernd. Wie geht es dir?«
Die Andeutung eines müden Schulterzuckens musste als Antwort reichen.
»Du weißt, dass alles gut werden wird, Bernd, weil wir auch hier im Gerichtssaal in Gottes Händen sind«, schob der Besucher hinterher. »Vertraue auf den Herrn. Er wird dafür sorgen, dass diesem Wesseling seine gerechte Strafe zuteil wird.«
»Ja, darauf vertraue ich, Konrad.«
Ein weiterer strenger Blick des Anwalts, diesmal in seine Richtung, schreckte Bernd Ahrens ein wenig auf. Schnell schob er die Hand nach vorn und drückte Konrad Zimmermann, seinem Besucher, dessen Rechte.
»Wirklich schön, dass du gekommen bist, Konrad. Wir sehen uns, wenn die Sache ausgestanden ist, ja?«
»Ganz bestimmt.«
Damit wandte Zimmermann sich ab, schob sich an den Reportern vorbei und setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, den er mit seiner Jacke reserviert gehalten hatte. Ahrens schluckte, schloss kurz die Augen und setzte sich dann ebenfalls.
»Alles klar mit Ihnen?«, wollte sein Rechtsbeistand wissen.
Zu einer Antwort kam es nicht mehr, weil in diesem Augenblick Franz Marnet, der die bevorstehende Berufung vor dem Landgericht Kassel begleitende Staatsanwalt, den Sitzungssaal betrat und damit einen Schwenk der versammelten Medienvertreterschar auslöste, die sich sofort auf ihn stürzte.
»Verdammte Aasgeier!«, zischte Dr. Schober genervt.
Ahrens hätte den Juristen nur zu gern darauf hingewiesen, dass er dessen permanentes Fluchen nicht mochte, traute sich jedoch nicht. Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit auf einen großen, braun gebrannten Mann gelenkt, der in diesem Moment, umringt von mehreren Kamerateams, den Saal betrat. Wieder und wieder wurde der Weg des Hünen von Reportern verstellt, doch sein Begleiter, der schon eine Robe trug, drängte die Journalisten zurück und schob ihn wortlos in Richtung Anklagebank, wo die beiden schließlich Platz nahmen.
»Haben Sie ihn seit damals eigentlich mal wieder gesehen?«, wollte Dr. Schober von Bernd Ahrens wissen.
Der hagere Mann schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Nein. Warum auch?«
»Ich dachte nur«, erwiderte der Jurist abwesend, während er damit beschäftigt war, seinen Aktenstapel zu sortieren.
Ahrens hätte gerne länger zu dem ihm seitlich zugewandten Mann gesehen, ihm ins Gesicht geblickt, doch auch dazu fehlte ihm der Mut. Also faltete er die Hände, schloss die Augen, senkte den Kopf und versuchte, nichts mehr von dem Tumult um ihn herum an sich heranzulassen.
Zwei Stunden später war die Verhandlung in vollem Gang. Zu Beginn hatte Maik Wesseling, der Angeklagte, seinen Anwalt eine Erklärung verlesen lassen, in der er es bedauerte, dass Bernd Ahrens bei dem verhandelten Verkehrsunfall seine Frau und sein Kind verloren hatte, er jedoch mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun habe. Wie er schon des Öfteren erklärt habe, war ihm seine Mercedes-Limousine samt Schlüsseln am fraglichen Abend gestohlen worden, während er mit ein paar Freunden beim Kartenspiel saß. Der Fahrer des Wagens müsse demzufolge der Fahrzeugdieb gewesen sein. Dass dieser sich von der Unfallstelle entfernt hatte, auch das bedaure er, jedoch könne ihm selbst daraus kein Vorwurf gemacht werden.
Bernd Ahrens hörte dem Vortrag mit versteinertem Gesicht zu, wobei er das Gefühl hatte, dass der tiefere Sinn dessen, was er hörte, nicht in sein Gehirn vordringen konnte.
Danach wurden die beiden Polizeibeamten gehört, die als Erste am Unfallort eingetroffen waren und die aussagten, dass sich der Fahrer des den Unfall verursachenden Mercedes bei ihrer Ankunft schon vom Unfallort entfernt hatte. Nach zwei weiteren Zeugen aus den umliegenden Häusern, die allerdings erst etwas gesehen hatten, nachdem schon fast eine Minute seit dem Zusammenprall vergangen war, und die demzufolge nichts Erhellendes beisteuern konnten, betrat ein KFZ-Sachverständiger den Zeugenstand, der erklärte, dass es für ein unbefugtes Benutzen des Mercedes keinerlei Anzeichen gäbe und dass der Wagen zur Tatzeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit dem Originalschlüssel bewegt worden war.
Nach der Mittagspause traten nacheinander fünf Männer auf, die allesamt eine bis ins Detail gleiche Geschichte erzählten. Nämlich die, dass sie zum Zeitpunkt des Unfalls mit Maik Wesseling an einem Tisch im Hinterzimmer einer Kasseler Kneipe gesessen und gepokert hatten. Und überhaupt, so versicherten die Zeugen unisono, sei der Angeklagte wegen seines maßlosen Alkoholkonsums am betreffenden Abend gar nicht mehr in der Lage gewesen, ein Kraftfahrzeug zu führen. Auch auf skeptisches Nachfragen des Vorsitzenden wie auch des Staatsanwalts blieben alle fünf bei ihrer Version.
Dann wurde Bernd Ahrens an den Zeugentisch gebeten. Nach den obligatorischen Fragen zur Person und dem Hinweis auf seine Wahrheitspflicht wurde er vom Vorsitzenden gebeten, seine Erinnerungen an den Unfall vom 24. Dezember 2011 zu schildern.
»Meine Frau Gerlinde und ich«, begann er mit dünner Stimme, »waren, zusammen mit unserer neun Wochen alten Tochter Sarah, auf dem Weg zur Heiligen Messe. Wir befuhren die Hoffmann-von-Fallersleben-Straße, wo von Weitem sichtbar war, dass die Ampel an der Kreuzung zur Wolfhager Straße auf Grün stand.«
»Wer hat das Auto in diesem Moment gesteuert?«, wollte der Vorsitzende wissen.
»Meine Frau. Sie saß vorn auf dem Fahrersitz, ich hinten rechts. Das Baby hatten wir, wie immer, in seiner Liegeschale auf dem Beifahrersitz angeschnallt.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Ja, weiter bitte, Herr Ahrens.«
»Gerlinde bremste bis auf die nötige Geschwindigkeit ab, näherte sich der Kreuzung und wollte abbiegen. Genau in dem Sekundenbruchteil, in dem sie die Wolfhager Straße befahren hatte, sah ich von links die rasend schnell näher kommenden Scheinwerfer des anderen Wagens, der sich kurz darauf in unsere linke Seite bohrte.«
Ahrens schluckte hörbar.
»Möchten Sie etwas trinken, Herr Ahrens?«, fragte der Vorsitzende sanft.
»Nein, es geht schon.«
Wieder ein paar Sekunden Pause, bevor der kleine Mann weitersprach.
»Es ging alles so schnell, dass ich es bis heute kaum verstehen kann, Herr Richter. Unser Golf wurde bei dem Aufprall in zwei Teile gerissen, das vordere Stück, also der Motor und die Vorderachse, flog und schleuderte bis zur Einfahrt der Feuerwehr.«
»Sind Sie bei dem Unfall verletzt worden?«
»Ja. Ich habe mir den linken Oberschenkel gebrochen und eine Gehirnerschütterung zugezogen.«
»Waren Sie bewusstlos?«
»Es tut mir leid, aber das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Wenn, dann nur ganz kurz.«
»Was hat sich im weiteren Verlauf abgespielt?«
»Nachdem das Drehen aufgehört hat, gab es plötzlich eine gespenstische Ruhe. Das Einzige, was ich gehört habe, war das leise Glucksen einer Flüssigkeit. Ich vermute, es handelte sich dabei um irgendwelches Wasser aus unserem Kühler.«
Er machte eine weitere Pause.
»Ganz kurze Zeit später hörte ich eine Tür schlagen. Dann beugte sich eine Gestalt über die Beifahrerseite, hielt eine Hand gegen die Scheibe, vermutlich, um besser etwas erkennen zu können, und sah in den Wagen. Ich dachte, es würde sich um einen Helfer oder Retter handeln, aber dem war nicht so, denn die Gestalt bewegte sich sofort von unserem Auto weg und verschwand.«
»Konnten Sie das Gesicht der Person, die in den Wagen gesehen hat, erkennen?«
Bernd Ahrens schloss für eine Sekunde die Augen. Als er sie wieder öffnete, fixierte er Maik Wesseling.
»Ich glaube, es war der Angeklagte.«
Dr. Schober, sein Anwalt, senkte den Kopf und fuhr sich mit einem Anflug von Entsetzen durch die Haare.
»Was genau heißt das, wenn Sie sagen, dass Sie›glauben‹,dass es sich um den Angeklagten handelte?«
Ahrens schluckte.
»Ich musste ja ins Licht sehen, deshalb konnte ich nicht viel erkennen. Aber ich bin mir sicher, dass ich die Umrisse…, also…, der Kopf… des Mannes, sahen dem Angeklagten sehr ähnlich.«
»Aber Sie konnten nicht zweifelsfrei erkennen, dass es sich bei dem Mann, der ins Auto blickte, um den Angeklagten gehandelt hat?«
Ahrens zögerte.
»Zweifelsfrei?«
»Ja. Zweifelsfrei würde bedeuten, dass Sie sein Gesicht ganz genau erkannt haben müssten.«
In diesem Augenblick drehte Maik Wesseling zum ersten Mal während der gesamten Verhandlung den Kopf nach rechts und sah Bernd Ahrens mit einem durchdringenden, stechenden Blick an. Dann entspannten sich seine Züge, und um den Mund des Mannes mit den gegelten Haaren und dem Dreitagebart wurde so etwas wie die Andeutung eines Lächelns sichtbar.
»Es war sehr dunkel, Herr Richter«, antwortete Ahrens leise. »Aber ich würde mich darauf festlegen, dass ich Herrn Wesseling erkannt habe. Zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.«
Eine erneute Pause.
»Nein, ich habe ihn zweifelsfrei erkannt.«
Im Saal machte sich ein Raunen breit, das nach einem kurzen, strengen Blick des Vorsitzenden langsam wieder verstummte.
»Können Sie uns bitte noch schildern, auch wenn es Ihnen schwerfällt, was mit Ihrer Frau und Ihrem Kind passiert ist, Herr Ahrens?«
Ahrens nickte, holte tief Luft und schluckte.
»Meine Frau war sofort tot. Ihr Genick ist durch die Wucht des seitlichen Aufpralls gebrochen. Sarah ist zwei Tage später an ihren schweren inneren Verletzungen gestorben.«
Der Vorsitzende machte sich ein paar Notizen.
»Haben Sie Fragen an den Zeugen, Herr Staatsanwalt?«
»Durchaus«, erwiderte Franz Marnet und stellte ein paar Fragen, die jedoch nur darauf abzielten, die im Verlauf der Befragung erzielten Erkenntnisse zu vertiefen.
»Herr Verteidiger?«, wandte sich der Vorsitzende an Hubert Dörner, den Mann links von Maik Wesseling, der nach einem DIN-A4-Blatt griff, das er zuvor fast zur Gänze vollgeschrieben hatte.
»Ja, ich habe ein paar Fragen an den Zeugen, Herr Vorsitzender«, begann der renommierte Kasseler Strafverteidiger und wandte sich an Bernd Ahrens.
»Herr Zeuge, Sie saßen also auf dem Platz hinter dem Beifahrersitz.«
Ahrens nickte.
»Bitte antworten Sie auf meine Fragen so, dass jeder im Saal das, was Sie sagen, verstehen kann, Herr Ahrens«, forderte Dörner mit strengem Tonfall und vorwurfsvollem Blick.
»Ja, ich habe auf dem hinteren Beifahrersitz gesessen«, antwortete der Zeuge nun leise, wobei nicht wenige der im Raum Anwesenden den Eindruck hatten, dass er ein wenig eingeschüchtert wirkte durch das forsche Auftreten des Juristen, der ihn befragte.
»Und Sie sind sich nicht sicher, ob Sie nach dem Aufprall des anderen Fahrzeugs bewusstlos gewesen sind?«
»Nein, wie ich schon gesagt habe, ich weiß es nicht. Aber wenn, dann…«
»Ja«, wurde Ahrens von dem Juristen barsch unterbrochen, »wenn, dann allenfalls für ganz kurze Zeit. Das haben wir zur Kenntnis genommen.«
Dörner warf einen längeren Blick in seine Aufzeichnungen, bevor er fortfuhr.
»Nur, dass ich es richtig verstehe, Herr Ahrens. Sie können sich nicht daran erinnern, ob Sie nach dem Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge bewusstlos gewesen sind. Vielleicht ja, vielleicht nein, sagen Sie. Aber Sie wollen uns hier trotzdem weismachen, dass Sie meinen Mandanten direkt nach Ihrer Vielleicht-ja-vielleicht-nein-Bewusstlosigkeit erkannt haben? In einer Gegenlichtsituation und nach einem Aufprall, bei dem, leider und für Sie überaus tragisch, Ihre Frau und Ihr Kind ums Leben gekommen sind? Noch dazu mit einer schweren Gehirnerschütterung?«
Ahrens sah zu Boden, schluckte und blickte dann Maik Wesseling beklommen an.
»Aber ich bin wirklich ganz sicher, dass er der Mann war, der durch die Scheibe geblickt hat.«
»Das wundert mich schon sehr, nachdem Sie vorhin eingestanden haben, sich alles andere als sicher zu sein.
›Ich glaube, es war der Angeklagte‹«, zitierte Dörner genüsslich die erste Einlassung von Ahrens auf die Frage des Vorsitzenden.
»Ich will Ihnen etwas sagen, mein lieber Herr Ahrens, und das können Sie sich gern für den Rest Ihres Lebens merken. Wenn Sie zunächst von glauben sprechen, und kurz darauf plötzlich sicher sein wollen, dann machen Sie sich als Zeuge vor Gericht einfach unglaubwürdig. Und genau so sehe ich Ihren ganzen Auftritt hier. Unglaubwürdig. Sie sind wegen des schweren Leids, das Ihnen zugestoßen ist, zu bedauern, aber deshalb dürfen Sie sich nicht dazu hinreißen lassen, einen nahezu unbescholtenen Mann in Haft nehmen lassen zu wollen. Mein Mandant kann absolut nichts dafür, dass Ihnen dieser grausame Schicksalsschlag zugestoßen ist, denn er saß zur fraglichen Zeit mit seinen Freunden beim Kartenspiel.«
»Herr Verteidiger«, räusperte sich der Vorsitzende, »es wäre mir überaus recht, wenn Sie sich Ihr Plädoyer für später aufheben würden. Im Augenblick sind wir noch mitten in der Beweisaufnahme. Haben Sie also noch Fragen an den Zeugen?«
»Ja, eine Frage hätte ich noch.«
»Dann bitte.«
Der Strafverteidiger wandte sich wieder Ahrens zu.
»Stimmt es, Herr Ahrens, dass Sie sich gegenüber einer Krankenschwester des Klinikums Kassel in sehr klaren Worten über meinen Mandanten geäußert haben?«
Er griff nach einem anderen Blatt Papier vor sich auf dem Tisch.
»Wörtlich sollen Sie gesagt haben, dass Sie ›eine schwerePrüfung durchmachen müssen, aber dass kein Unrecht auf dieser Welt ungesühnt bleibt. Sie würden darauf vertrauen, meinten Sie weiter, ›dass Männer, die so etwas Schrecklichesgetanhätten wie der Unfallverursacher, dafür hart und blutigbestraft werden würden. Und dabei meinten Sie offenbar nicht die deutsche Gerichtsbarkeit.«
»Woher… wissen…?«
»Woher ich das weiß? Von der Krankenschwester, der gegenüber Sie diese ungeheuerlichen Drohungen geäußert haben. Und für den Fall, dass Sie es abstreiten sollten, habe ich die Dame vorsorglich auf die Zeugenliste setzen lassen.«
Der Jurist stand auf und ging langsam auf Ahrens zu.
»Also, stimmt es oder stimmt es nicht?«
»Ich protestiere auf das Schärfste, Herr Kollege«, mischte Dr. Schober sich ein. »Mein Mandant ist Zeuge in diesem Verfahren, nicht Angeklagter.«
»Das weiß ich sehr wohl, Herr Kollege, und darüber muss ich auch von Ihnen nicht belehrt werden, aber hier geht es sowohl um die Glaubwürdigkeit des Zeugen wie auch um seine persönlichen Rachegelüste. Und wenn es eine Motivation geben könnte, aus der heraus er meinen Mandanten einer falschen Anschuldigung aussetzt, dann muss natürlich darüber geredet werden.«
Beide Augenpaare wandten sich in Richtung des Vorsitzenden, der sofort eine Entscheidung traf.
»Bitte antworten Sie auf die Ihnen gestellte Frage, Herr Ahrens. Gab es gegenüber einer Krankenschwester eine solche Bemerkung?«
Ahrens sah aus, als würde er gleich zu weinen anfangen. Oder sich übergeben.
»Ja«, antwortete er schließlich leise. »Ich habe so etwas wohl gesagt. Aber dazu muss ich klarstellen, dass ich mich zu dieser Zeit im Krankenhaus befunden habe und dass ich seit ein paar Stunden wusste, dass ich meine Frau und meine Tochter verloren hatte. Das müssen Sie bitte dabei bedenken.«
Über das Gesicht von Hubert Dörner huschte ein kurzes, kaum wahrnehmbares Lächeln.
»Ich bin fertig mit dem Zeugen, Herr Vorsitzender.«
Zwei Stunden später erging im Namen des Volkes ein Urteil, das für ein paar Tage zu großer Aufgeregtheit und noch größeren Kontroversen innerhalb der Kasseler Bevölkerung führte. Maik Wesseling wurde, weil es beim Gericht nicht unerhebliche Zweifel an seiner Schuld gab, freigesprochen.
Hauptkommissar Paul Lenz öffnete mühsam sein linkes Auge und schloss es sofort wieder, weil ihn eine nach seiner Wahrnehmung riesige Deckenlampe blendete.
»Wann geht es denn endlich los?«, nuschelte er.
»Wann das losgeht, was Sie meinen«, hörte er wie durch Watte die Stimme einer unsichtbaren Frau, »kann ich Ihnen nicht sagen, aber Ihre OP ist vorbei. Und sie ist gut gelaufen, wie die Ärzte sagen.«
Lenz streckte den rechten Arm aus, griff mit einer unbeholfenen Bewegung an sein rechtes Bein und tastete es bis zur Wade ab. Tatsächlich, dachte er und stellte mit großer Erleichterung fest, dass er die Operation seines gebrochenen Sprunggelenks überstanden hatte.
»Willkommen zurück im Leben!«, erklang direkt neben ihm eine weitere weibliche Stimme. Der Polizist drehte den Kopf nach rechts, öffnete erneut das linke Auge und blickte in das liebevoll lächelnde Gesicht seiner Frau.
»Hallo, Maria«, murmelte er mit trockenem Mund.
Sie griff nach seiner Hand und streichelte sanft darüber.
»Hallo, Paul.«
»Ich hätte nicht erwartet, dich so schnell wiederzusehen«, verkündete er matt.
»Und ich hätte nicht erwartet, dass es so lange dauern würde, bis ich dich wiedersehe«, gab sie zurück.
Lenz sah sie überrascht an.
»Wie spät ist es denn?«
»Halb vier.«
»Halb vier? Das kann doch nicht sein. Dann wäre ich ja…«
Er versuchte zu zählen.
»Lass mal, Paul. Du warst insgesamt drei Stunden im Operationssaal und seit etwa vier Stunden bist du hier im Aufwachraum.«
Sie machte eine Handbewegung nach rechts, wo der Hauptkommissar eine weiß gekleidete Frau erblickte, die einem anderen Patienten etwas in den Mund träufelte.
»Möchten Sie auch etwas Flüssigkeit in den Mund?«, wollte sie wissen.
»Das wäre klasse, ja.«
Sie ging in einen Nebenraum, kam jedoch gleich darauf zurück und benetzte seinen Mund mit etwas Flüssigkeit.
»Das tut gut, vielen Dank.«
»Gerne. Jetzt erholen Sie sich noch etwas, dann lasse ich Sie auf Station bringen.«
Lenz nickte, während die Frau wieder im Nebenraum verschwand, und sah sich in dem weiß gestrichenen, etwa 30 Quadratmeter großen Raum um.
»Darfst du eigentlich hier sein?«, wollte er von Maria wissen, die sofort anfing zu grinsen.
»Nein, das dürfte ich eigentlich nicht. Aber mit meinen guten Kontakten ins Klinikum und deiner Prominenz war es gar nicht so schwer, mich bis hierher durchzumogeln.«
»Klingt interessant.«
»Ist es aber gar nicht. Dr. Raible hat mich gefragt, ob ich während der Aufwachphase mit dir Händchen halten will, und ich habe natürlich Ja gesagt. Also hat er mir erklärt, wo ich hin muss, und einen schönen Gruß an die nette Schwester Ilona mitgegeben, das war auch schon alles.«
»Hmm.«
Maria betrachtete sein rechtes Bein.
»Hast du Schmerzen?«
»Ganz leichte, ja. Aber ich vermute, dass es dabei leider nicht bleiben wird. Das hat mir Dr. Raible zumindest gestern Abend so erklärt.«
Sie sah ihn fragend an.
»Na ja«, versuchte er, seine Aussage zu präzisieren, »er hat mir gesagt, was alles zu machen ist, damit ich wieder ohne Probleme laufen kann, und dabei wurde schon klar, dass es sich um eine größere Operation handeln würde. Und so fühle ich mich im Moment auch. Wie nach einer größeren Operation. Und ich könnte einen Stalleimer Wasser aussaufen.«
»Damit müssen wir noch eine knappe Stunde warten«, vermeldete Schwester Ilona, die seinen Wunsch im Vorübergehen mitbekommen hatte. »Aber dann hindert Sie nichts mehr daran, etwas zu trinken. Ein Stalleimer wird es allerdings nicht gleich sein.«
»Erst in einer Stunde«, sinnierte Lenz traurig. »Hoffentlich bin ich bis dahin nicht verdurstet.«
»Keine Sorge«, gab die Krankenhausmitarbeiterin fröhlich zurück, »da passen Ihre Frau und ich schon auf.«
Damit war sie wieder aus dem Blickfeld der beiden verschwunden.
»Ich kann leider nicht mehr allzu lange bleiben, Paul«, bemerkte Maria nach einem kurzen Blick auf ihre Uhr, »weil wir nicht fertig geworden sind mit der Galerie. Es sieht dort, trotz zweier durchgearbeiteter Nächte, noch immer aus wie nach einem Bombenangriff. Und in fünf Tagen soll die große Eröffnung steigen.«
»Stimmt, dann beginnt die Documenta. Wie sieht es denn aus in der Stadt?«
Maria begann zu lachen.
»Wie soll es schon aussehen? Wie immer natürlich. Die paar Buden auf dem Friedrichsplatz und die Plakate, die auf die Ausstellung hinweisen, machen die Innenstadt sicher nicht schöner. Und der Rest spielt sich leider im Verborgenen ab. Die Documenta wird in der Innenstadt erst durch die Besuchermassen sichtbar, die sich in den Straßen bewegen.«
»Ja«, erwiderte der Polizist matt, »das war schon immer so, da gebe ich dir eindeutig recht.«
»Wie auch immer, Paul, in der Galerie müssen wir noch einige Nachtschichten einschieben, damit alles bis zum Eröffnungstermin steht.«
Maria und ihre Geschäftspartnerin hatten schon im letzten Jahr den Auftrag erhalten, einige der Documenta-Exponate in ihren Räumen zu präsentieren.
»Ja, macht das.«
Er sah an seinem frisch operierten Bein hinab.
»Leider kann ich in den nächsten Tagen und Wochen keine große Hilfe für euch sein.«
»Das macht nichts. Du hast schon wesentlich mehr zum Erfolg beigetragen als irgendjemand anders. Und musstest deshalb eine Operation über dich ergehen lassen.«
Lenz quälte sich mit dem Versuch eines Lächelns ab.
»Das stimmt nicht so ganz, Maria«, verbesserte er sie. »Die Operation und den Krankenhausaufenthalt habe ich mir eingebrockt, weil ich zu doof war, auf einer Leiter zu stehen.«
Er spielte auf den Hergang und den Ort des Unfalls an, bei dem er sich das Sprunggelenk gebrochen hatte.
»Wenn ich nicht zu blöd gewesen wäre, in der Galerie gleichzeitig eine Lüsterklemme und eine Lampe zu halten, ohne von der Leiter zu stürzen, wäre garantiert überhaupt nichts passiert, aber das war ich nun mal leider doch. Also…«
Diesmal klappte es mit einem Lächeln, doch seine Frau schüttelte energisch den Kopf.
»Trotzdem kannst du nicht verhindern, dass ich mich schuldig fühle. Wenn du uns nicht geholfen hättest, wäre dir nichts passiert, so viel ist Fakt.«
»Du immer mit deinen Fakten«, entgegnete ihr Ehemann. »Dann wäre ich halt vor dem Präsidium von einem Auto überfahren worden.«
»Wow«, machte sie ironisch, »mein Mann wird zum karmaorientierten Esoteriker. Alle Wetter!«
»Pass auf«, gab er grantelnd zurück, »sonst bitte ich Schwester Ilona um einen Pisspott, aus dem ich dir deine Zukunft vorhersage.«
Maria grinste, beugte sich nach vorn, küsste ihren Mann sanft auf den Mund und erhob sich von der Bettkante.
»Soll ich heute Abend noch mal nach dir sehen?«
»Nein, das muss nicht sein. Ich glaube, ich will eher schlafen, als mich von dir unterhalten zu lassen.«
»Gut. Dann kann ich mich voll und ganz darauf konzentrieren, meine Arbeit zu machen.«
»Viel Spaß dabei!«
»Mistkerl!«
Kassel, eine Woche später.
Erich Zeislinger betrachtete sein Spiegelbild. Was er sah, ließ ihn nicht unbedingt jubeln, doch mit den Jahren hatte er sich an sein bordeauxrotes Bluthochdruckgesicht und seinen feisten Schmerbauch gewöhnt. Immer und immer wieder hatte der Oberbürgermeister der Stadt Kassel sich vorgenommen, etwas zur Reduktion seines Gewichts zu unternehmen, und jedes Mal war es bei den guten Vorsätzen geblieben. Nun, da er sich bedrohlich der 130-Kilo-Marke näherte, war ihm jegliche Motivation dahingehend abhandengekommen. Wenn es irgendwann einmal darum gegangen war, sich 10 oder 15 Kilo abzuhungern, so drehte es sich nun um 40 oder gar 50 Kilo, und das kam ihm vor wie die Besteigung des Mount Everest, nämlich völlig unmöglich. Nachdem er sich angezogen hatte, schlüpfte er umständlich in ein Paar braune Lederschuhe, und nach dem Binden der Schnürsenkel, was ihm wegen der im Weg stehenden Wampe nur mit seitlich abgespreiztem Bein gelang, waren auf seiner Stirn kleine Schweißperlen sichtbar. Dann steckte er seine Brieftasche ein und begann, sich auf den weiteren Verlauf des Abends zu freuen.
»Guten Abend, Erich, dich habe ich aber lange nicht gesehen«, hauchte die extrem schlanke, in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid steckende Frau an der Tür dem OB ins Ohr und zog ihn mit einer schnellen Bewegung ins Innere der Penthousewohnung, wo sich ihre Zunge sofort in seinen Mund bohrte.
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