Müllhalde - Matthias P. Gibert - E-Book

Müllhalde E-Book

Matthias P. Gibert

4,7

Beschreibung

Aus der Fulda wird die Leiche des verhassten Kasseler Immobilienentwicklers Dominik Rohrschach gefischt. Die Kommissare Paul Lenz und Thilo Hain finden heraus, dass er pleite war und sich absetzen wollte. Zudem wollte er seine exzellenten Verbindungen ins Rathaus offenbar dazu nutzen, eine riesige Menge Sondermüll loszuwerden, die ihn bei einem Immobilienprojekt behinderte. Mit dem Verschwinden seines Ansprechpartners bei den Stadtreinigern nimmt der Fall eine dramatische Wendung …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 381

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (35 Bewertungen)
26
7
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Matthias P. Gibert

Müllhalde

Lenz’ dreizehnter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © vadim yerofeyev – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4480-7

Kapitel 1

Björn Schadewald trat auf die Straße hinaus, drehte sich nach rechts, sah kurz zum makellos blauen Himmel hinauf und hielt dabei den Schlüssel seines Motorrollers so in der Hand, dass er ihn sofort in das Schloss würde einfädeln können. Er hielt den Arm noch immer nach vorn gerichtet, als er realisierte, dass sich weder das Kombischloss, also die gemeinsame Einheit von Lenk- und Zündschloss, noch der gesamte Rest seines heiß geliebten Rollers an dem Platz vor der Haustür befand, an dem er ihn am Abend zuvor abgestellt hatte.

»Das gibt’s doch gar nicht«, murmelte der 17-jährige Junge ungläubig und sah sich nach rechts und links um.

»Das kann doch gar nicht sein!«

Wieder ein Blick die Straße hinauf in der Hoffnung, das Zweirad am Vorabend vielleicht, entgegen jeder Gewohnheit, an einem anderen Ort abgestellt zu haben als dem angestammten, aber das war definitiv nicht der Fall gewesen. Er hatte die auffällige, rote Vespa genau dort hingestellt, wo sie immer stand, wenn er zu Hause war.

»Mist!«

Der Schüler konnte und wollte nicht glauben, dass ihm der Roller geklaut worden war. Alles in seinem Hirn wehrte sich gegen diesen Gedanken, vielleicht auch wegen der vielen italienischen Tuningteile, mit deren Hilfe er dem technisch eigentlich völlig biederen Scooter im letzten halben Jahr ziemlich Beine gemacht hatte.

Er kramte sein Mobiltelefon aus dem Rucksack und sah auf die Uhr. Zehn vor acht, sein Roller war verschwunden, und Herr Reuter, der Abteilungsleiter in der Folienfabrik, würde seine Drohung von vor zwei Tagen todsicher wahr machen und ihm den Ferienjob kündigen, wenn er auch nur ein weiteres Mal nicht pünktlich um acht auf der Matte stand.

Genau das ist wohl dieses eine Mal zu viel, dachte er verzweifelt, sah erneut auf das Display und wählte.

Eine halbe Minute später hatte er dankbar zur Kenntnis nehmen dürfen, dass der Diebstahl seines fahrbaren Untersatzes natürlich nicht zu einem verfrühten Ende seines Einsatzes als Ferienjobber führen würde, und dass er erst mal die Polizei rufen solle, damit die alle nötigen Spuren sichern und das Weitere veranlassen konnte.

Das sich anschließende Telefonat mit dem zuständigen Polizeirevier Ost hingegen verlief weniger erfreulich, denn der diensthabende Beamte teilte ihm lapidar mit, dass sich wegen so einer Sache natürlich kein Polizist auf den Weg zu ihm machen würde und dass er sich schon selbst zur Polizeistation begeben müsse, wenn er eine Diebstahlanzeige aufgeben wolle.

»Und denken Sie bitte an die Fahrzeugpapiere und Ihren Personalausweis«, gab ihm der trotz der nicht wirklich zufriedenstellenden Antwort freundlich wirkende Beamte noch mit auf den Weg.

»So, wann hast du deinen Scooter denn gestern Abend dort abgestellt, wo er schließlich geklaut wurde?«, wollte der Beamte wissen, dem er eine knappe halbe Stunde später gegenüber saß und der schon seine Personendaten aufgenommen hatte.

»So gegen 22.45 Uhr.«

»Und das Lenkschloss war ganz sicher eingerastet?«

»Ja, ganz sicher«, erwiderte Schadewald. »Ich stelle den immer nur mit eingerastetem Lenkschloss ab.«

»Gut«, nickte der Polizist und hämmerte wieder ein wenig auf der Tastatur vor sich herum.

»Gibt es irgendwelche Besonderheiten an deinem Gefährt, an denen man es vielleicht besonders gut wiedererkennen kann?«, fragte er im Anschluss.

Der Junge vor dem Schreibtisch holte tief Luft.

»Nein, das eigentlich nicht«, log er. »Er sieht aus wie jeder andere Roller dieser Baureihe.«

Den auffälligen Auspuff und die getönte, gekürzte Frontscheibe verschwieg er geflissentlich, weil weder das eine noch das andere Bauteil in den Fahrzeugpapieren eingetragen war. Ganz zu schweigen von den Teilen im Innern des Motors, die dafür sorgten, dass sich die erreichbare Endgeschwindigkeit knapp der 120-km/h-Marke näherte.

»Große Hoffnungen will ich dir lieber nicht machen«, fasste der stark schwitzende Uniformierte ein paar Minuten später seinen Eindruck der Sachlage zusammen. »Es gibt da so ein paar Banden, die darauf spezialisiert sind, Zweiräder jeglicher Art zu klauen. Bisher waren es zwar mehr größere Motorräder, aber wenn die denken, dass sich mit deinem Scooter Geld verdienen lässt, dann wird der eben auch genommen.«

Er legte Björn Schadewald ein paar DIN-A4-Ausdrucke zur Unterschrift vor.

»Vielleicht ist das Teil schon irgendwo im Ausland oder es wird gerade irgendwo hier in der Nähe auseinandergeschraubt, das weiß halt niemand.«

Mit ein paar schnellen Griffen schob er dem Jugendlichen einige weitere Blätter über den Tisch.

»Das ist alles für deine Versicherung. Du hast doch Teilkasko, oder?«

Ein schnelles Nicken.

»Gut. Das war es dann bei uns, um den Rest musst du dich selbst kümmern.«

Abends um halb acht saß Björn Schadewald mit seiner Freundin auf der Terrasse seines Elternhauses. Seine Eltern waren noch für gut eine Woche im Urlaub.

»Was sind das denn für Arschgeigen, die so etwas machen?«, fragte Bianca Griesel mehr rhetorisch. »Das darf doch nicht wahr sein.«

»Darüber habe ich mir auch schon den ganzen Tag den Kopf zerbrochen«, gab Björn zurück.

Er erzählte ihr von der Aussage des Polizisten.

»Banden, die Motorräder klauen? Wie erbärmlich ist das denn?«

Sie hob den Kopf und strich ihrem Freund sanft über die Haare.

»Aber im Job gab es keinen Ärger?«

»Nee, Gott sei Dank nicht. Dem Reuter, meinem Boss, ist auch mal ein Fahrrad geklaut worden, der war diesmal echt verständnisvoll. Was aber nicht heißt, dass er mich nicht hochkant rausschmeißt, wenn ich auch nur noch ein weiteres Mal zu spät kommen sollte.«

»Bisschen verstehen kann ich ihn schon«, kicherte Bianca. »Bisher bist du doch nicht mal die Hälfte der Tage pünktlich gewesen.«

»Ja, das stimmt.«

Er lehnte sich zurück und sah in den Himmel.

»Ich habe den ganzen Tag überlegt, ob es vielleicht gar kein gewöhnlicher Rollerklau gewesen ist. Vielleicht steckt was ganz anderes dahinter.«

»Was meinst du?«

»Na, ja, es könnte sich doch auch um einen Racheakt handeln. Immerhin hat er …«

»Das glaube ich nicht, Björn. Zu so was ist Christoph nicht fähig.«

Sie sprachen von Christoph Kellner, Biancas ehemaligem Freund.

»Aber so ganz und gar abwegig ist es für mich nicht, dass er so etwas machen könnte, um Rache dafür zu nehmen, dass wir beide jetzt zusammen sind.«

»Du meinst, dass du mich ihm ausgespannt hast.«

»Ja, klar. Aber das klingt jetzt, als hätte nur ich es gewollt.«

»Nein«, lachte sie und küsste ihn sanft auf den Mund. »Das kann man nun wirklich nicht sagen, weil es eher so war, dass ich dich wollte.«

Wieder ein Kuss, diesmal ein etwas längerer.

»Ich habe heute an der Arbeit die ganze Zeit darüber nachgedacht, ob er den Scooter an eine andere Ecke gezerrt hat, um mich zu ärgern oder so. Aber ich habe schon mit dem Fahrrad das ganze Viertel abgefahren, da ist nichts.«

Er druckste ein wenig herum.

»Na los, sag schon.«

»Ich habe Angst davor, dass er ihn vielleicht in die Fulda geworfen hat.«

Beide sahen zu dem in etwa 30 Metern Entfernung träge vor sich hin treibenden Fluss.

»Das macht er nicht«, behauptete das Mädchen, doch richtig überzeugend klang sie dabei keineswegs.

»Und wenn doch? Wir könnten doch wenigstens mal nachsehen. Es sind höchstens 50 Meter Ufer, die dafür in Frage kommen.«

Bianca sah ihren Freund fassungslos an.

»Heißt das, du willst in der Dreckbrühe baden gehen?«

»Nein, das erst mal nicht. Aber ich könnte mit einem Magneten das Ufer absuchen. An der Karre ist so viel aus Metall, dass der garantiert hängen bleibt, wenn sie da drin liegt.«

»Das ist ja mal ’ne coole Idee. Aber woher willst du denn einen so großen Magneten nehmen?«

»Das ist das kleinste Problem. Mir ist doch letztes Jahr ein Tieftöner meiner Lautsprecherboxen kaputt gegangen, und den defekten habe ich noch im Keller liegen. Da ist hinten ein ziemlich großer Magnet dran, den ich eigentlich nur abpopeln muss.«

»Super, dann lass uns das am besten gleich machen.«

Ganz so schnell ging es dann doch nicht, weil Björn erst noch eine Befestigung kreieren musste, mit deren Hilfe er den großen Dauermagneten an einem alten Besenstiel befestigen konnte. Dann jedoch standen die beiden am Fluss und beobachteten begeistert, wie der Magnet sich, geführt von dem bestohlenen Jungen, aus dem Wasser hob und wieder senkte. Immer mal blieb eine rostige Schraube oder etwas anderes aus Metall daran kleben, doch nichts davon war so schwer, dass der Magnet im Wasser hängen geblieben wäre.

Meter um Meter Uferweg brachten die beiden so hinter sich, und Björn hatte schon längst die Hoffnung aufgegeben, noch auf seine Vespa zu stoßen, als sich der Magnet plötzlich mit einem satten Plopp an etwas anhaftete. Der Junge zog aufgeregt an dem Stiel in seiner Hand, doch erst nachdem er richtig viel Kraft eingesetzt hatte, trennten sich der Magnet und das Metallteil im Wasser wieder voneinander.

»Das ist meine Wespe!«, rief er laut. »Das muss sie sein.«

Bianca tanzte um ihn herum.

»Klasse! Aber wie kriegen wir sie jetzt da raus?«

Er ließ den Stiel wieder nach unten und versuchte, die ungefähre Wassertiefe abzuschätzen, bis erneut das Plopp erklang.

»Das sind mindestens eineinhalb Meter«, erklärte er mit Blick auf das restliche Seil am Holz ernüchtert. »Da brauchen wir bestimmt einen Kran oder so was.«

Wieder riss er an der Stange, damit der Magnet sich löste.

»Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn du mal reinsteigst und nachsiehst, wie man sie am einfachsten da rausbekommt. Und ob es Schlick gibt.«

»Bestimmt ist sie ganz schön kaputt«, befürchtete der Junge.

»Aber du hast recht, ich werde zuerst mal nachsehen, wie man sie da rausholen kann.«

Er sah auf seine Armbanduhr und dann zum Himmel, wo es schon ziemlich dämmerte.

»Aber das geht heute nicht mehr, es ist schon zu dunkel dafür. Außerdem habe ich meine Taucherbrille verliehen und muss sie mir erst zurückholen.«

»Also verschieben wir es auf morgen?«

»Ja, morgen tauche ich da runter.«

*

Am nächsten Morgen erschien Björn Schadewald zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit an seinem Arbeitsplatz, und obwohl er es kaum aushielt, bis die Uhr an der Wand gegenüber endlich auf 17 Uhr gesprungen war, so machte er seinen Job endlich einmal zur vollsten Zufriedenheit des Abteilungsleiters Reuter. Auf dem Heimweg radelte er bei seinem Schulfreund Dennis vorbei, holte die verliehene Taucherbrille mitsamt Schnorchel und Flossen ab und fuhr im Anschluss nach Hause, wo Bianca schon vor der Tür saß und auf ihn wartete.

»Da bist du ja endlich«, rief sie erfreut. »Ich dachte schon, du hättest kalte Füße gekriegt.«

»Nein, kalte Füße habe ich nicht. Eher gleich nasse, denke ich.«

Beide lachten und gingen ins Haus, wo Björn sich entkleidete und die Badehose überstreifte.

»Und du willst bestimmt nicht mit ins Wasser?«, fragte er scheinheilig, während er ein Badetuch in den Rucksack steckte.

Seine Freundin winkte ab.

»Nee, lass mal. Es reicht, wenn einer von uns morgen keine Haut mehr hat.«

»Spinnerin.«

Ein paar Minuten später verließen die beiden das Haus und machten sich auf den kurzen Weg zum Fluss.

»Echt super, dass es noch so warm ist«, meinte das Mädchen. »Sonst hättest du dir noch einen Neoprenanzug ausleihen müssen.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte er mit einem Blick Richtung Himmel, wo gerade eine dicke Wolke vor der Sonne stand. »Aber klarer Himmel wäre noch besser, weil dann die Sonnenstrahlen bestimmt bis zum Grund reichen.«

Kurz darauf hatten sie die Stelle erreicht, an der am Abend zuvor der Magnet im Wasser kleben geblieben war. Björn ließ den Rucksack fallen, streifte sich das T-Shirt über die Schultern und angelte die Taucherbrille aus dem Leinenbeutel.

»Meinst du, der Schnorchel ist notwendig?«, fragte Bianca ein wenig unsicher.

»Ich versuche es erst mal ohne«, erwiderte er mit einem Augenzwinkern, ließ sich auf den Hintern fallen und streckte die Beine über die Kaimauer.

»Au, verdammt, ist das heiß«, rief er, nachdem seine nackten Oberschenkel die Metallkante der Einfriedung berührt hatten, stemmte sich mit den Armen hoch und ließ seine Füße vorsichtig ins erstaunlich kalte Wasser gleiten.

»Pass auf, dass du dich nicht an irgendwas schneidest«, gab Bianca ihm mit, kniete sich hin und sah ihm aufgeregt dabei zu, wie er sich Zentimeter um Zentimeter auf die Stelle zubewegte, an der die Vespa liegen musste.

»Uh, ist das schlammig hier«, quiekte Björn ein wenig angeekelt.

»Nun mach schon, los, sieh nach!«

»Ja, ja, nur keine Hektik.«

Mit zitternden Fingern machte er sich das Gesicht und die Haare nass, brachte die Taucherbrille in die richtige Position, holte tief Luft und versank mit einer schnellen Bewegung in der bräunlich schimmernden Brühe. Sofort war es deutlich dunkler um ihn herum, und unter der Wasseroberfläche entpuppte sich die Farbe eher als grün denn als braun. Als er daran dachte, dass er ganz allein in diesem Fluss tauchte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, doch er fing sich gleich darauf wieder.

Beruhige dich, was soll dir schon passieren? Hier gibt es definitiv nichts, was dir etwas tun könnte.

Er hob den Kopf, atmete tief aus und wieder ein und sah seine Freundin an.

»Bin ich an der richtigen Stelle?«

Sie nickte heftig.

»Ja, ganz genau dort ist gestern der Magnet hängen geblieben.«

»Aber ich habe mich ganz schön vermessen, stehen kann ich hier nämlich schon lange nicht mehr.«

»Willst du trotzdem runter?«

»Klar, was denkst du denn? Nass bin ich schon, und ich will auf jeden Fall meine Karre zurück.«

Er winkte ihr zu, holte erneut tief Luft und verschwand im Wasser. Eine Weile konnte Bianca nur Luftblasen erkennen, doch dann tauchte ihr Freund wieder auf.

»Ich kann da unten nicht mal die Hand vor den Augen sehen«, prustete er. »Mehr als tasten ist völlig ausgeschlossen.«

»Hast du schon irgendetwas gefühlt? Vielleicht den Lenker oder so was?«

»Nein, noch gar nichts. Ich mache noch ein paar Versuche, das klappt schon.«

Damit tauchte er erneut unter und bewegte sich mit kräftigen Tauchzügen nach unten auf die Stelle zu, an der seine rote Vespa liegen musste. Sehen konnte er tatsächlich kaum 30 Zentimeter weit, und als er mit der rechten Hand den Grund berührte, erschreckte er sich mächtig. Mit hastigen Bewegungen tastete er den matschigen Grund ab, doch es gab nichts, was auch nur im Entferntesten auf seinen fahrbaren Untersatz hinwies. Gerade in dem Moment, in dem der Sauerstoff in seinen Lungen völlig aufgebraucht war, kollidierte sein linker Fuß mit etwas Hartem. Wieder erschrak er sich kurz, dann tauchte er auf.

»Da ist etwas«, rief er nach Luft japsend, aber euphorisch. »Ich glaube, ich habe sie gefunden.«

Ohne auf eine Reaktion seiner Freundin zu warten, atmete er wieder tief ein und verschwand unter Wasser.

Ich habe sie gefunden!

In seinem Körper war nun so viel Adrenalin unterwegs, dass es ihm vorkam, als könne er gleich ein paar Minuten unter Wasser bleiben, und als er den Grund erreicht hatte, schlug sein Herz fast aus dem Hals hinaus. Wieder tastete er sich im Dämmerlicht vorwärts und stieß keine zwei Sekunden später mit der Spitze der linken Hand an etwas.

Es bewegt sich keinen Millimeter. Das muss sie sein!

Mit fliegenden Bewegungen griff er nach dem schweren Teil und schrie im gleichen Augenblick auf, weil sich etwas Spitzes in seinen rechten Mittelfinger gebohrt hatte.

Verdammt, was ist das?

Er griff erneut zu, bekam diesmal das kalte, merkwürdig geformte Teil zu fassen und zog sich daran nach unten. Genau in diesem Moment schob sich in ein paar hundert Metern über ihm die Wolke, die bis dahin die Sonne verstellt hatte, so weit in Richtung Osten davon, dass es schlagartig heller um ihn herum wurde. Zunächst beunruhigte das viele Licht den Schüler, doch dann erinnerte er sich, woran die Veränderung liegen musste, und betrachtete, während er sich mit der anderen Hand an dem Teil unter ihm festhielt, zunächst die Verletzung an seinem Finger.

Nicht so schlimm, aber langsam muss ich ans Auftauchen denken.

Björn Schadewald drehte den Kopf nach unten, erkannte, dass er einen großen Metallring umfasst hielt, und wurde von einer Welle der Enttäuschung erfasst.

Es ist nicht die Vespa, es ist ein blöder Gullydeckel oder so was.

Der junge Mann hätte heulen können bei dem Gedanken, dass er das Wasser nicht als strahlender Held verlassen würde und dass die Vespa vermutlich doch nicht von Christoph Kellner geklaut worden war.

Jetzt wird es aber wirklich Zeit mit dem Auftauchen.

Er wollte sich gerade an dem Metallring abstoßen und auf den Weg nach oben machen, als er mit dem Rücken an etwas Weiches stieß. Irritiert drehte er sich um, riss die Augen auf und stieß einen Schrei aus, der seine Freundin für ein paar Sekunden glauben ließ, er hätte sein ihm geklautes Zweirad gefunden.

Unter Wasser blickte ihr Freund im gleichen Moment in ein aufgedunsenes, dunkelblaues Gesicht, um das herum sich halblange, fransige Haare im Takt des Wassers bewegten, und aus dessen Mitte er von zwei weit aufgerissenen Augen angestarrt wurde. Schadewald stieß sich die Taucherbrille aus dem Gesicht, schrie erneut laut und gellend auf und strampelte, längst ohne jeglichen Sauerstoff in den Lungen, mit hastigen, unkontrollierten Bewegungen in Richtung Oberfläche. Dort angekommen kraulte er völlig panisch mindestens 20 Meter in Richtung Schleuse, bevor er zur Ufermauer abbog und keuchend die eiserne Leiter hinaufkletterte, die an dieser Stelle angebracht war.

»Ruf die Polizei, Bianca, sofort«, schrie er seine Freundin hustend an, die auf ihn zugelaufen war und ihn fassungslos anstarrte.

»Was zum Teufel ist denn los, Björn? Was ist dir denn da unten passiert? Und warum blutest du wie ein Schwein an der Hand?«

»Ruf einfach die Bullen, Bianca, bitte! Den Rest erzähle ich dir, wenn ich wieder zu Luft gekommen bin.«

Kapitel 2

»Wie jetzt, der Güney lag vor dem Amtsgericht? Du willst mich doch verarschen.«

Oberkommissar Thilo Hain sah seinen langjährigen Boss und Freund Paul Lenz, den Leiter der Kasseler Mordkommission, völlig entgeistert an. »Wie zum Teufel ist er denn dort hingekommen? Ich dachte, der schaukelt sich in der Türkei die Weichteile, unerreichbar für die deutsche Justiz.«

»Dem war auch so, klar, aber irgendjemand hielt es wohl für eine gute Idee, den deutschen Behörden aus dem Urlaub ein Geschenk aus Kusadasi mitzubringen.«

»Du meinst, Güney wurde entführt und zu uns nach Deutschland verschleppt?«

»Davon sollten wir ausgehen, denn er war in einen Flokati eingerollt und ziemlich groggy. Uwe sagt, er hat im Krankenhaus die erste halbe Stunde mächtig konfuses Zeug geredet.«

Er sprach von Uwe Wagner, dem Pressesprecher des Polizeipräsidiums Nordhessen, von dem der Hauptkommissar die Informationen ein paar Minuten zuvor erhalten hatte.

»Außerdem wollte er, nachdem ihm klar geworden war, dass er in Deutschland ist, niemandem sagen, wer er ist, was allerdings nur kurz geklappt hat, denn seine Visage war vor ein paar Jahren so oft in der Zeitung, dass sich schnell jemand an ihn erinnert hat. Der Rest war Routine, weil mit internationalem Haftbefehl nach ihm gesucht wurde.«

Hain saß noch immer fassungslos da.

»Du meinst also allen Ernstes, dass irgendjemand dieses Arschloch in der Türkei abgefischt, in einen Flokati gepackt und nach Deutschland transportiert hat? Wer sollte denn auf so eine kaputte Idee kommen?«

»Das kann ich dir nicht genau sagen, aber wenn ich Uwe Glauben schenken kann, dann hat der Typ nicht nur Freunde zurückgelassen, als er sich in sein Vaterland abgesetzt hat. Da gab es wohl einige, die noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen gehabt hätten.«

Der Oberkommissar dachte eine Weile nach.

»Tja, und wenn ich die Gesetzeslage richtig einschätze, müssen wir nach dem oder den Menschen suchen, von denen du sprichst.«

»Ja«, stimmte Lenz zu. »Auch wenn es sicher viele in der Stadt freuen dürfte, dass er den Weg in die alte Heimat gefunden hat, so ist er, wie es jetzt aussieht, das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, das in unseren Zuständigkeitsbereich fällt.«

Über das Gesicht des Hauptkommissars huschte trotz der ernsten Worte ein verschmitztes Grinsen.

»Das hätte er sich bestimmt nicht gedacht, der gute Mehmet, dass er Kassel so schnell wiedersehen würde. Noch dazu eingerollt in einen ollen Teppich.«

»Ja, das wird ihn empfindlich treffen, das alte Großmaul«, stimmte Hain grinsend zu. »Ist er noch immer im Krankenhaus?«

»Nein. Jetzt befindet er sich auf der Krankenstation des Knasts in Wehlheiden.«

»Da ist er gut aufgehoben. Allerdings würde ich nicht mit ihm tauschen wollen, wenn er in die normale U-Haft verlegt werden sollte. Auf so knackiges Frischfleisch warten die Hartgesottenen dort nur.«

»Vielleicht«, schränkte Lenz ein, »kommt es ja gar nicht so weit, denn wie Uwe mir erzählte, laufen die diplomatischen Drähte zwischen Ankara und Berlin schon heiß. Die Türken bestehen darauf, ihren Mehmet so schnell wie möglich wieder zu Hause zu begrüßen, weil seine Überstellung nach Deutschland Teil einer kriminellen Handlung gewesen ist.«

»Was zu beweisen wäre.«

»Genau, was zu beweisen wäre«, erwiderte der Hauptkommissar nickend, »aber nicht mehr heute, wir machen nämlich jetzt Feierabend. Der Mehmet läuft uns nicht weg, und Maria und ich wollen heute Abend zu einem Konzert im Kulturzelt.«

»Klingt spannend. Und irgendwie nach großem Orchester.«

»Nee, nichts Klassisches. Irgendein afrikanischer Jazztrompeter, den wir manchmal zu Hause hören. Echt interessant das Ganze.«

»Na vielen Dank. Afrikanischer Jazztrompeter tönt in meinen Ohren wie eine Band, die zwei Stunden lang die Instrumente stimmt. Aber trotzdem viel Vergnügen.«

»Wir sehen uns morgen früh gleich in Wehlheiden, ja? Sagen wir um halb neun, dann kann ich endlich mal ausschlafen.«

»Lieber um neun, dann kann ich endlich mal wieder die Zwillinge in den Kindergarten bringen.«

»Meinetwegen, bis morgen dann.«

Die beiden griffen nach ihren Jacken und waren schon an der Tür, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte.

»Och nöö«, murmelte Hain.

»Vielleicht was ganz Belangloses«, mutmaßte sein Boss wenig überzeugend.

»Und wenn wir es einfach klingeln lassen?«

»Dann meldet sich eh gleich dein oder mein Mobiltelefon, wenn es was wirklich Wichtiges ist.«

Er griff zum Hörer, hob ab und lauschte ein paar Sekunden den Worten des Anrufers.

»Wir sind gleich da«, brummte er schließlich.

»Wo sind wir gleich?«, wollte sein Kollege mit zusammengekniffenen Augen wissen.

»An der Fulda, direkt in der Unterneustadt.«

»Jetzt sag mir nicht, dass wir nach Feierabend noch eine Wasserleiche aufs Auge gedrückt bekommen haben.«

»Bingo, der Kandidat erhält hundert Punkte. Wie bist du nur so schnell darauf gekommen?«

Hain holte tief Luft, fing theatralisch an zu husten und stützte sich dabei mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte ab.

»Ich befürchte, ich erleide gerade einen Herzinfarkt, Paul. Oder vielleicht doch eher so etwas wie einen sehr leichten Schlaganfall. Oder ein fieses gemeines Grippevirus hat sich meiner bemächtigt.«

Er sah mit bemitleidenswertem Gesichtsausdruck Richtung Decke.

»Nein, ich weiß, es muss was Psychisches sein. Irgendwas, was bisher noch kein Lebewesen hatte, was gerade zum ersten Mal überhaupt in der Menschheitsgeschichte auftritt. Vermutlich gezüchtet in einem amerikanischen Superlabor, um an einem armen deutschen Kripobeamten …«

»Hör auf zu jammern, Thilo. Ich weiß, dass du es mit Wasserleichen wirklich nicht so hast, aber wer hat es schon damit?«

Er legte den Hörer, den er noch immer in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Apparat und trat erneut auf die Tür zu.

»Und nun komm, du Simulant, vielleicht ist es nur ein Ruderer, der bei der Ausübung seines Sports einen echten Herzinfarkt bekommen hat.«

»Das kannst du deiner Großmutter erzählen, und das weißt du auch ganz genau«, jammerte der Oberkommissar weiter, obwohl er wusste, dass es nichts nützen würde. »Kannst du nicht allein dahin fahren? Ich würde auch für dich mit Maria zu diesem Afrikatrompeter gehen, damit die Karte nicht verfällt.«

»Hör auf zu wimmern und komm.«

Die ohnehin unrealistische Annahme, dass einer der vielen im Sommer den Fluss befahrenden Ruderer gekentert und ertrunken sein könnte, konnten die beiden Kripomänner schon beim ersten Blick auf die Leiche abhaken. Der Mann, auf dessen mehr als unappetitlich anzusehende sterbliche Überreste sie blickten, hatte seit mindestens einer Woche im Wasser gelegen.

»Boah, mir wird schlecht«, murmelte Hain.

»Das glaube ich Ihnen gern, Herr Kommissar«, bemerkte Dr. Peter Franz, der Rechtsmediziner, der dabei war, das Gesicht des Toten zu untersuchen, gelassen. »Aber mit Wasserleichen hatten Sie es, wenn ich mich recht erinnere, noch nie so.«

»Tag auch, Herr Doktor«, erwiderte Lenz für seinen Kollegen mit. »Können Sie uns schon was sagen?«

Franz nickte und wies auf den Hals des Mannes unter ihm.

»Er wurde, vorbehaltlich der weiteren Erkenntnisse natürlich, erdrosselt, wie Sie unschwer erkennen können. Dabei waren seine Hände gefesselt, was ebenso unschwer zu erkennen ist, weil die Handschellen noch seine Handgelenke zieren.«

»Handschellen?«, fragte Lenz erstaunt zurück.

»Ja, Handschellen. Die Dinger, die Sie beide am Gürtel tragen.«

»Verdammt, ich weiß, was Sie mit Handschellen meinen. Aber es ist in meinen Augen schon ungewöhnlich, wenn jemand mit Handschellen gefesselt wird.«

»Wenn Sie das sagen. Allerdings können Sie die Dinger in jedem vernünftig sortierten Sexshop für kleines Geld erwerben, also finde ich persönlich dieses Detail gar nicht so ungewöhnlich.«

»Auch wieder wahr.«

»Gibt es schon Hinweise zu seiner Identität?«, fragte Lenz den ihnen am nächsten stehenden Uniformierten, der den Kopf schüttelte.

»Keine Papiere, kein Telefon, nichts.«

»Ich kenne ihn, glaube ich«, kam es von hinter den Männern.

»Was?«

Einer der blau gekleideten Polizisten, die in etwa fünf Metern Entfernung standen, trat auf die kleine Gruppe zu.

»Ich habe schon die ganze Zeit gedacht, dass mir das Gesicht bekannt vorkommt, und gerade eben ist es mir eingefallen.«

Der etwa 25-jährige Mann warf einen kurzen Blick auf das Gesicht der Wasserleiche.

»Wenn Sie mich fragen, ist das Dominik Rohrschach, der Eishockeysponsor.«

»Der Eishockeysponsor? Kannst du das ein wenig präzisieren, Kollege?«

»Na, ja, ich weiß halt nur, dass er unseren Kasseler Eishockeyclub gesponsert hat, mehr kann ich dazu gar nicht sagen. Ich habe ihn ein paar Mal in der Eissporthalle gesehen, daher kenne ich sein … Gesicht.«

»Über den hab ich neulich was gelesen«, fiel Hain dazu ein. »Das war doch der, von dem alle gedacht haben, dass er sich wegen seiner vielen Schulden irgendwohin abgesetzt hat? War ein paar Tage lang die Topmeldung in unserer Lokalpostille.«

»Ich habe davon rein gar nichts mitbekommen«, schob Lenz dazwischen.

»Aber von genau dem rede ich«, bestätigte der Uniformierte.

Hain warf einen kurzen angewiderten Blick auf die Wasserleiche.

»Den hätte ich, wenn ich an die Bilder von ihm in der Zeitung denke, im Leben nicht erkannt.«

»Ja«, hob Dr. Franz den Kopf, »Wasser und Zeit sind eine Kombination, die dem menschlichen Organismus gar nicht gut bekommt, speziell wenn er sich in der Post­mortem-Phase befindet.«

»Sie immer mit Ihren hochgestochenen Kommentaren«, rümpfte der Oberkommissar mehr gespielt als ernst gemeint die Nase. »So einen Krempel sagen Sie doch nur, weil Sie wollen, dass sich der Nichtakademiker in Ihrer Nähe klein und doof vorkommt.«

»Das natürlich auch, Herr Hain, aber nicht primär. Vielmehr wollte ich damit zum Ausdruck bringen, dass sich eine Verweildauer von etwa zwei Wochen im sommerlich warmen Fuldawasser für jeden Leichnam ein wenig, sagen wir mal, unvorteilhaft auswirkt.«

»Er nun wieder …«, winkte Hain ab.

»Aber wo wir gerade dabei sind«, wechselte der Mediziner das Thema und hielt den Beamten einen Klarsichtbeutel mit einem imposanten Schlüsselbund darin unter die Nase.

»Das hier habe ich in seiner rechten Hosentasche gefunden.«

»Wow«, bilanzierte Lenz nach einem kurzen Blick darauf, »damit hätte er auch als Gefängniswärter durchgehen können.«

»Das eher nicht«, widersprach Dr. Franz. »Die meisten der Schlüssel gehören zu Kraftfahrzeugen.«

Er deutete auf ein paar schwarze Kunststoffteile, die ebenfalls am Schlüsselbund befestigt waren.

»Und diese Plastikutensilien hier gehören ebenfalls zu Autos, allerdings zu diesen neumodischen, für deren Benutzung man keinen Schlüssel mehr braucht.«

»So was gibt es wirklich?«, fragte Lenz skeptisch.

»Klar«, bestätigte sein Mitarbeiter. »Vielleicht nicht in der Kompaktklasse, aber viele der teureren Karren haben nur noch diese Funkdinger, die erkennen, dass der Berechtigte Platz genommen hat, und dann das Zündschloss freigeben.«

»Schöne neue Welt.«

»Ja«, stimmte Dr. Franz leise zu. »Immerhin können Sie schon mal konstatieren, dass der Gute hier Zugriff auf einen vermutlich beeindruckenden Fuhrpark gehabt hat. Immerhin weisen zwei dieser Plastikdings darauf hin, dass die dazugehörigen Modelle in Zuffenhausen gefertigt wurden.«

»Porsches?«

Ein kurzes Nicken musste als Antwort reichen.

»Wissen Sie, wo er gewohnt hat?«, wandte Lenz sich wieder an den Uniformierten, der noch immer neben ihnen stand und das Gespräch zwischen den Kripobeamten und dem Rechtsmediziner wie gebannt verfolgt hatte.

»Nein, tut mir leid, aber wie ich schon gesagt habe, mehr als …«

»Ist schon gut Kollege. Immerhin haben Sie es uns erspart, erst lang und breit die Identität des Mannes herausfinden zu müssen.«

Das freundliche Nicken des Hauptkommissars bedeutete dem Schutzpolizisten, dass er damit entlassen war, und genau so ordnete der junge Mann es auch ein.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, Thilo, dann ist er so etwas wie eine Lokalgröße gewesen?«

»Das kann man schon sagen, ja. Er hat seine Kohle wohl irgendwie mit Immobilien gemacht, aber wie genau, das brauchst du mich gar nicht erst zu fragen. Immobilienentwickler stand, glaube ich, in der Zeitung, aber das kann ich auch mit was anderem verwechseln. Und was diese Berufsbezeichnung konkret bedeutet, kann ich dir ohnehin nicht sagen.«

»Macht nichts, das finden wir raus. Zuerst müssen wir allerdings wissen, wo er zu Hause war.«

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass dieser Mann hier der ist, von dem Sie die ganze Zeit sprechen?«, zeigte sich Dr. Franz ein wenig zweifelnd. »Nicht, dass es sich nur um jemand handelt, der dem anderen sehr ähnlich sieht.«

Die beiden Kommissare tauschten einen irritierten Blick aus.

»Na, ja«, erwiderte Hain mit gerunzelter Stirn, »das passt schon ziemlich gut zusammen. Rohrschach ist seit ungefähr zwei Wochen verschwunden, und der hier sieht ihm erstens verdammt ähnlich, und zweitens liegt er, nach Ihrer Aussage, seit ungefähr zwei Wochen im Wasser.«

Sein Blick streifte erneut die Leiche.

»Teurer Anzug, teure Schuhe, teurer Fuhrpark. Wenn Sie mich fragen, bewegen sich meine Zweifel eher im homöopathischen Bereich.«

»Vielleicht gibt es eine Frau Rohrschach«, mischte Lenz sich vermittelnd ein, »die uns sagen kann, ob das Schlüsselbund zu ihrem Mann gehört und ihn, falls ja, sogar noch identifiziert.«

Er nickte erneut, wandte sich ab und betrachtete die Umgegend.

»Also, das bekommen wir in den Griff. Viel wichtiger ist für uns, wo er sein Leben ausgehaucht hat, weil das hier nicht stattgefunden haben dürfte.«

»Er wurde auch nicht hier ins Wasser befördert«, behauptete Dr. Franz ein wenig keck.

»So? Steht ihm das auf die Leichenflecke geschrieben?«

»Nein, das hat mir einer der Taucher, die ihn herausbefördert haben, erklärt. Der Umschlag seiner Hose, also das untere Ende, ist an einem alten Fahrrad hängengeblieben, das dort unten im Wasser liegt.«

Der Mediziner deutete auf zwei Männer, die auf die Gruppe zukamen.

»Aber fragen Sie die Froschmänner doch selbst, dort kommen Sie.«

Lenz und Hain begrüßten die beiden leger in kurzen Hosen steckenden Kollegen, die sich ihrer Tauchausrüstung entledigt hatten und von denen sie den einen recht gut kannten.

»Der Doc sagt, er sei dort unten irgendwie hängengeblieben?«, wollte Lenz von ihm wissen.

»Ja, das stimmt. Auf dem Grund liegt ein altes Fahrrad. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte sein Auftauchen viel früher passieren können, nämlich unten an der Schleuse.«

»Er ist also abgetrieben?«

»Klar. Alles, was man in die Fulda wirft und das keine Krallen hat, treibt mit der Zeit ab. Menschen tauchen zwar wegen der Fäulnisgasbildung meistens wieder auf, aber wenn ihr mich fragt, war der hier mit irgendwas beschwert, was ihn unten halten sollte. Ich schätze, es war an den Handschellen befestigt.«

»Klingt plausibel.«

»Schon, ja. Was immer es gewesen ist, es hat sich zwar gelöst, aber das fest im Schlick sitzende Fahrrad hat die Aufgabe hervorragend weitergeführt.«

Der Mann kratzte sich am Kopf.

»Hier ist eins zum anderen gekommen, wenn ich die Lage richtig einschätze. Und ohne den armen Kerl, dem vorletzte Nacht der Roller geklaut wurde, hätte die Leiche gut und gern an der Stelle überwintern können. Als wir ihn losgeschnitten haben, ist er übrigens wie eine Rakete an die Oberfläche geschossen, so faul war er schon, aber der gute, feste Stoff seiner Hose auf der einen Seite und das Rad auf der anderen hätten vermutlich gegen das Gas gewonnen.«

»Das bedeutet nach eurer Meinung, dass er nicht hier ins Wasser geworfen wurde?«

»Nahezu ausgeschlossen«, antwortete der andere Taucher und ließ dabei den Blick kreisen. »Hier könnte einem jeder aus den umliegenden Häusern zuschauen, wenn man sich seiner Leiche entledigt.«

Er schüttelte, von seiner These überzeugt, den Kopf.

»Nee, der wurde weiter oben in den Bach geworfen. Vielleicht sogar außerhalb von Kassel, und möglicherweise auch von einem Boot aus. Das könnte, denke ich, die Sache für den Mörder um einiges erleichtert haben.«

»Auch eine Idee.«

»Ja, und bestimmt keine ganz schlechte.«

»Es dürfte sich übrigens bei dem Mann um einen gewissen Dominik Rohrschach handeln«, ließ Hain die beiden Kollegen wissen.

»Den Eishockeysponsor?«, stieß der eine Taucher aus, während sein Kollege im gleichen Augenblick »der Pleitier?« vernehmen ließ.

»Wenn ich die Sache richtig einschätze und unsere Lokalzeitung nicht gänzlich missverstanden habe, trifft wohl beides zu«, bestätigte der junge Oberkommissar.

Die beiden Taucher betrachteten das Konterfei der Leiche, das sich in der kurzen Zeit seit dem Verlassen des Wassers deutlich verändert hatte.

»Da geht man nun Jahr für Jahr in die Eissporthalle, grölt den gegnerischen Mannschaften die unverschämtesten Lieder entgegen, sieht diesen Typen da im Winter fast jede Woche, und wenn man ihn aus dem Wasser fischt, erkennt man ihn nicht mal«, sinnierte der jüngere der beiden Männer in Shorts.

»Das soll nichts heißen«, nahm Hain ihn in Schutz, »ich habe seine Visage in den letzten Wochen mehr als einmal in der Zeitung gesehen und hätte ihn genauso wenig erkannt.«

»Gut zu wissen. Zwar ein schwacher, aber immerhin ein Trost.«

»Wobei noch nicht hundertprozentig geklärt ist, dass er es wirklich ist«, mahnte Lenz von der Seite. »Wir müssen erst auf die Fingerabdrücke und das ganze andere Zeugs warten.«

Der Taucher sah seinen Kollegen irritiert an.

»Ihr habt ihm nicht mal den Ärmel hochgerollt?«

»Nein, warum das denn?«

»Wenn es wirklich dieser Rohrschach ist, dann könnt ihr das ganz leicht an einer Tätowierung am rechten Unterarm erkennen. Dort hat er einen blauen Schlittenhund, das Wappentier unseres Eishockeyvereins, verewigt, und ich denke, das geht schon als eindeutiges Identifizierungsmerkmal durch, oder?«

»Das kann sein, aber woher weißt du denn davon?«, wollte Hain wissen.

»Weil er nach jedem Tor unserer Mannschaft den Arm frei macht und die Tätowierung küsst. Klingt blöd, sieht blöd aus und ist auch ziemlich blöd, aber es ist nun mal so.«

»Die Welt wird immer verrückter«, murmelte Lenz und wandte sich an Dr. Franz, der dabei war, seine Sachen zu packen.

»Können wir ihm den rechten Unterarm freilegen, Doc? Dann sollten wir Gewissheit haben, ob es sich um diesen Dominik Rohrschach handelt oder nicht.«

»Den rechten Unterarm?«

»Ja, bitte.«

Der Mediziner griff in seine Tasche, kramte eine Schere daraus hervor und trennte mit einem Schnitt sowohl das Hemd als auch den Stoff des Anzugs auf.

»Voilà«, meinte er generös mit Blick auf die grünlich schimmernde Haut des Toten.

»Könnten Sie uns die Innenseite zeigen?«, fragte Hain leise.

Der Rechtsmediziner kam auch dieser Bitte nach und hob den Kopf.

»Ah, jetzt verstehe ich«, murmelte er mit Blick auf die blasse, ausgefranst wirkende Tätowierung. »Ist es das, was Sie erwartet haben?«

»Ja«, brummte Lenz zurück.

»Dann lasse ich ihn jetzt wegbringen, meine Herren«, erklärte Dr. Franz zufrieden, jedoch mit besorgtem Blick auf den Leichnam, dessen Äußeres sich in der Stunde seit seinem Auftauchen entschieden zum Schlechten verändert hatte. »Wie Sie sehen, bekommt ihm nämlich die Kasseler Abendsonne ganz und gar nicht, und wenn wir noch eine halbe Stunde warten, wird es richtig ekelig.«

Er packte die Schere nach einem kurzen Reinigungsprozess zurück in die Tasche.

»Von Ihrer Seite spricht doch sicher nichts dagegen?«

»Nein, Doc, ganz sicher nicht«, schüttelte Hain fast mit an Begeisterung grenzender Bewegung den Kopf.

Kapitel 3

»Erst eine Wasserleiche, und dann auch noch die Todesnachricht überbringen«, sinnierte Lenz auf dem Weg zum Wagen. »Dir bleibt heute auch wirklich nichts erspart, mein Freund.«

»Du könntest dich ja großzügig zeigen und die Sache allein in die Hand nehmen.«

»Stimmt, das könnte ich wirklich, aber dann lernst du es ja nicht.«

»Es geht doch gar nicht ums Lernen«, erwiderte sein Kollege müde. »Können kann ich es ja, es macht mich halt nur so furchtbar traurig.«

»Das wird mit jedem Mal weniger, vertrau mir.«

»Glaub ich nicht.«

Lenz unterließ es, sich auf eine weitere Diskussion einzulassen und griff stattdessen zu seinem Telefon.

»Lenz, guten Abend«, meldete er sich bei dem Kollegen in der Zentrale. »Ich bräuchte mal die Meldeadresse eines gewissen Dominik Rohrschach.«

Dann buchstabierte er den Nachnamen und wartete.

»Wie, nicht in Kassel gemeldet? Hast du auch wirklich …«

Er brach ab und musste erneut warten.

»Ja, genau um den geht es«, bestätigte er eine Weile später. »Den Eishockeyfuzzi, der Pleite gemacht hat.«

Wieder ein paar Sekunden des Zuhörens.

»Und das weißt du ganz genau?«

Eine weitere kurze Pause.

»Gut, dann gib mir die, vielleicht hilft uns das weiter.«

Er schrieb die Ansage des Kollegen mit und beendete das Gespräch.

»Ein Dominik Rohrschach ist nicht in Kassel gemeldet, aber der Kollege meinte, dass er genau weiß, dass der Eishockeysponsor Rohrschach aus Eschwege kommt. Sein Büro und das alles hat er zwar in Kassel, aber wohnen würde er noch in Eschwege.«

Hain verzog das Gesicht zu einem ausgewachsenen Grinsen.

»Und wir beide fahren jetzt auf keinen Fall nach Eschwege, mein Lieber, und zwar auf gar keinen Fall. Das kannst du dir völlig abschminken.«

»Wollen wir auch gar nicht.«

»Aber du hast doch gesagt …«

Der junge Oberkommissar brach ab, weil nun Lenz ein breites Grinsen aufsetzte.

»Deine Schlussfolgerung ist falsch. Wir fahren nicht nach Eschwege, wo wir sowieso nichts zu suchen hätten, sondern zu dem Büro der …«

Er warf einen Blick auf den Zettel in seiner Hand.

»Der Roimm-Gruppe.«

»Roimm-Gruppe? Das klingt, als hätten wir einen internationalen Multi in der Stadt.«

»Da gebe ich dir nun wiederum recht. Es klingt tatsächlich nach London-Paris-Tokio, und wir dämlichen Bullen haben nicht die geringste Ahnung davon, dass es diese Roimm-Gruppe überhaupt gibt.«

»Wir haben halt nichts mit Eishockey am Hut.«

»Daran wird es wohl liegen«, bestätigte Lenz süffisant. »Also los, wir müssen nach Bettenhausen.«

Das riesige Grundstück, auf dem das modern gestylte Haus stand, in dem die Roimm-Gruppe residierte, lag etwa 30 Meter von der Leipziger Straße entfernt und wurde von dichten Büschen gesäumt, hinter denen eine Schallschutzwand zu erkennen war. Rechts und links über dem offenen Rolltor, an dem die Beamten standen, waren jeweils Kameras installiert, im unteren Teil gab es ein ebenfalls kameraunterstütztes Klingelbrett, auf dem mehrere Firmennamen zu erkennen waren, die mit großflächigen, polierten, goldfarbenen Tafeln korrespondierten, die daneben den Eingang zierten.

»Bisschen protzig, wenn du mich fragst«, bemerkte Lenz leise.

»Aber wirklich nur ein bisschen«, kam es kichernd, jedoch ebenso leise zurück.

»Sehen wir uns mal um? Das Tor steht ja offen.«

Wie auf Kommando begann im gleichen Augenblick ein starker Elektromotor zu summen, über ihren Köpfen startete eine gelbe Rundumleuchte ihre Arbeit, und das Tor setzte sich in Bewegung.

Lenz und Hain sahen sich kurz an, nickten und sprangen mit schnellen Schritten auf das Grundstück, während die schwere Edelstahlkonstruktion sich hinter ihnen schloss.

»Wow«, machte Hain, während sie sich langsam dem im Architektenstil erbauten, vermutlich recht jungen Bau näherten, vor dem ein dunkelblaues Aston-Martin-Cabriolet stand, dessen Auspuffanlage leise vor sich hin knisterte.

»Gerade angekommen, vermutlich«, meinte Lenz. »Also wissen wir, dass jemand zu Hause ist.«

»Schöner Wagen.«

»Schöne Hütte.«

»Finde ich nicht. Ist mir deutlich zu modern.«

»Früher standest du mal auf so was.«

»Stimmt, aber seit ich deine und Marias Bude kenne, stehe ich mehr auf Altbau und hohe Decken und so einen Kram.«

»Hallo, Sie da! Wenn Sie nicht augenblicklich das Grundstück verlassen, rufe ich die Polizei«, rief eine Frau aufgebracht aus der halb geöffneten Eingangstür. »Es ist eine Unverschämtheit, was Sie sich erlauben.«

Ihre linke Hand lag auf der Türklinke, mit der anderen versuchte sie, einen Rottweiler zu bändigen, der laut knurrend die beiden Polizisten fixierte.

»Und den Hund lasse ich auch los, wenn Sie meiner Aufforderung nicht auf der Stelle nachkommen«, fügte sie überflüssigerweise hinzu, weil sie den Hund sowieso kaum noch halten konnte.

»Wir sind von der Polizei«, rief Lenz eilig mit Blick auf die Töle, die aussah und sich benahm, als würde ihr jeglicher Humor abgehen.

»Was? Das wird ja immer schöner! Los, runter von unserem Grundstück. Ich zähle bis drei, und wenn Sie dann nicht vorn am Tor stehen, werden Sie es bitter bereuen.«

»Mein Kollege sagt die Wahrheit«, blaffte Hain die etwa 40-jährige Frau mit den auffällig langen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen aschblonden Haaren an. »Und wenn Sie diese Bestie wirklich loslassen, werden Sie es bitter bereuen.«

Seine Worte machten offenbar Eindruck auf die Frau, die den Hund zurückzog und ihn zwang, sich zu setzen. Hätte sie Thilo Hain besser gekannt, wäre ihr garantiert aufgefallen, dass trotz seiner harschen Ansprache in seiner Stimme jede Menge Schiss vor dem Tier mitschwang. So jedoch ging er mit über dem Kopf gehaltenen Dienstausweis auf die Haustür zu, wo die Frau den längst wieder hoch gekommenen Hund mit beiden Händen am Lossprinten hindern musste.

»Sperren Sie dieses Monster weg, bitte«, forderte Lenz, der hinter seinem Kollegen herkam, die Frau auf.

»Das mache ich erst, wenn Sie sich ordentlich ausgewiesen haben«, keifte sie zurück.

»Wenn Sie den Hund wegsperren, finden Sie vielleicht die Kraft, sich unsere Dienstausweise anzusehen«, knurrte der Hauptkommissar genervt.

»Ruhig, Rambo«, war das Einzige, was ihr dazu einfiel, doch ihr Blick war dabei wie gebannt auf die kleinen Plastikkarten geheftet. Dann trat sie dem Rottweiler unvermittelt so fest in die Seite, dass der gequält aufheulte und sich wimmernd ins Innere des Hauses verzog.

»Manchmal weiß ich mir einfach keinen anderen Rat«, ließ sie mit entschuldigender Geste folgen, schob sich vor die Tür, zog sie hinter sich ins Schloss und griff nach Hains Ausweis.

»Wenn Sie wirklich von der Polizei sind, warum klingeln Sie dann nicht wie jeder normale Mensch?«, wollte sie schnaubend wissen.

»Das Tor stand offen, also sind wir reingekommen. Natürlich wollten wir Sie nicht belästigen.«

Rambo schien seine Schmerzen hinter sich gelassen zu haben, denn seine Pfoten scharrten in schneller Folge am anderen Ende des Türblatts, untermalt von einem drohenden, dunklen Bellen.

»Seien Sie froh, dass ich ihn halten konnte. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er Sie angefallen hätte.«

Hains Ausweis wanderte zurück, ein kurzer Blick auf den von Lenz, dann ein Nicken.

»Also, ich glaube Ihnen, dass Sie von der Polizei sind, obwohl man solche Ausweise bestimmt auch im Internet bestellen kann. Was kann ich für Sie tun?«

»Zunächst könnten Sie uns verraten, mit wem wir das … Vergnügen haben.«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Können wir uns darauf einigen, dass wir Ihnen zunächst ein paar Fragen stellen, und wenn das um ist, stellen Sie uns Ihre Fragen, ja?«

Durch ihren Körper ging ein kurzer, kaum wahrnehmbarer Ruck. Offenbar war die Frau es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach.

»Gut, machen wir es so«, stimmte sie nach ein paar weiteren Augenblicken des Nachdenkens zu.

»Schön«, meinte Lenz zufrieden. »Also, wer sind Sie?«

»Mein Name ist Angelika Rohrschach.«

»Dann gehe ich davon aus, dass Sie Dominik Rohrschach kennen?«

»Das sollte man meinen, ja. Er ist mein Mann.«

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, Frau Rohrschach?«

»Das habe ich Ihren Kollegen doch alles schon erzählt«, rief sie aufgebracht und drehte sich um. »Ich kann nicht glauben, dass Sie hier auftauchen wie Diebe, um mir eine Frage zu stellen, die ich schon vor knapp zwei Wochen auf der Wache mehrmals beantwortet habe. Das ist wirklich die Höhe.«

Nach vier, fünf schnellen Schritten hatte sie die Haustür erreicht.

»Nicht zu glau…«

»Wir sind nicht nur deshalb hier, weil wir Ihnen diese Frage stellen wollen, Frau Rohrschach«, wurde sie von Lenz unterbrochen. »Wir …«

Er zögerte und zog den Plastikbeutel mit den Autoschlüsseln aus der Jackentasche und hielt ihn hoch.

»Ist das der Schlüsselbund Ihres Mannes, Frau Rohrschach?«

Die mit Shirt, einer Cargohose und Segelslippern bekleidete Frau drehte sich um und starrte wie gebannt auf die Tüte in der Hand des Polizisten.

»Ja … nein. Ich meine ja, natürlich ist das Dominiks Schlüsselbund. Woher … haben Sie den?«

Die beiden Polizisten tauschten einen kurzen, für die Frau kaum wahrnehmbaren Blick aus, der eindeutig klärte, dass Lenz die nächsten Sätze zu Protokoll geben würde.

»Frau Rohrschach, es tut mir sehr leid, aber wie es aussieht, haben wir eine sehr traurige Nachricht für Sie.«

Der Hauptkommissar zögerte kurz.

»Ich muss Ihnen mitteilen, dass, allem Anschein nach, Ihr Mann das Opfer eines Verbrechens geworden ist.«

Angelika Rohrschach sah erst Lenz an, dann Hain, dann wieder den Leiter der Mordkommission und lachte laut auf.

»Wie kommen Sie denn auf solch einen Unsinn?«, wollte sie ohne jeglichen Anflug von Trauer oder Betroffenheit wissen. »Das meinen Sie nicht wirklich ernst, oder?«

»Doch, leider«, erwiderte Lenz mit Blick auf den Schlüsselbund in seiner Hand. »Wir sind ganz sicher, dass es sich bei der Leiche, die vor etwa zwei Stunden in der Fulda gefunden wurde, um Ihren Mann Dominik handelt.«

Erneut schüttelte die Frau energisch den Kopf.

»Nein, da irren Sie sich, meine Herren. Mein Mann ist nicht tot, ganz gewiss nicht.«

»Was macht Sie da so sicher, Frau Rohrschach? Immerhin haben Sie selbst ihn vor zwei Wochen als vermisst gemeldet.«

»Ja, natürlich, das stimmt schon«, gestand sie schulterzuckend ein. »Aber …«

»Ja, was aber?«

»Ich kann Ihnen nur sagen, dass mein Mann nicht tot ist. Und mehr werden Sie dazu von mir nicht erfahren.«

»Also sagen Sie, dass es sich bei dem Schlüssel hier nicht um den Ihres Mannes handelt?«

Die Frau vermied es nun strikt, den Beutel anzusehen.

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht genau sagen. Vermutlich gibt es viele von diesen Schlüsseln auf der Welt, was weiß ich.«

Ihr Ton war bei ihrem letzten Satz deutlich rauer geworden.

»Hat Ihr Mann eine Tätowierung auf dem Arm, Frau Rohrschach? Einen Schlittenhund, um genau zu sein?«

»Ja, aber das weiß doch jeder in der Stadt. Schließlich geht er damit, nach meiner Meinung zumindest, äußerst offensiv um. Warum fragen Sie überhaupt danach?«