Nervenflattern - Matthias P. Gibert - E-Book

Nervenflattern E-Book

Matthias P. Gibert

4,6

Beschreibung

In Kassel geschehen kurz hintereinander zwei tragische Unfälle - jedenfalls scheint es zunächst so. Ein anonymer Brief an den Oberbürgermeister der Stadt lässt jedoch erhebliche Zweifel an der Zufälligkeit der Ereignisse aufkommen - und urplötzlich steckt Kommissar Paul Lenz mitten in einem brisanten Fall: Die Documenta, bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst der Welt, wird durch einen Anschlag mit einem hochgiftigen Nervenkampfstoff bedroht. Und mit ihr die Einwohner der Nordhessischen Metropole und die zahlreichen Ausstellungsbesucher.

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Wolkenwehe

Nicht schlecht

Krimi mit Kasseler Lokalkolorit und ziemlich spannender Geschichte. Nicht umwerfend originell, aber leicht lesbar.
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Matthias P. Gibert

Nervenflattern

Kriminalroman

Zum Buch

KUNST IM FADENKREUZ Kassel im Februar. Die türkische Putzfrau einer Ladengalerie fällt über vier Etagen in den Tod. Drei Monate später gerät auf Kassels höchster Autobahnbrücke ein PKW ohne erkennbaren Grund ins Schleudern und stürzt in die Tiefe. Der Fahrer ist sofort tot. Zwei tragische Unfälle – jedenfalls scheint es zunächst so. Ein anonymer Brief an den Oberbürgermeister der Stadt lässt jedoch erhebliche Zweifel an der Zufälligkeit der Ereignisse aufkommen – und urplötzlich steckt Kommissar Paul Lenz mitten in einem brisanten Fall: Die Documenta, bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst der Welt, wird durch einen Anschlag mit einem hochgiftigen Nervenkampfstoff bedroht. Und mit ihr die Einwohner der Nordhessischen Metropole und die zahlreichen Ausstellungsbesucher.

Matthias P. Gibert, 1960 in Königstein im Taunus geboren, lebt seit vielen Jahren mit seiner Frau in Nordhessen. Nach einer kaufmännischen Ausbildung baute er ein Motorradgeschäft auf. 1993 stieg er komplett aus dem Unternehmen aus und orientierte sich neu. Seit 1995 entwickelt und leitet er Seminare in allen Bereichen der Betriebswirtschaftslehre. Mit seiner Frau erarbeitete er ein Konzept zur Depressionsprävention und ist mit diesem seit 2003 sehr erfolgreich für mehrere deutsche Unternehmen tätig. Seit 2009 ist er hauptberuflich Autor.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Matthias P. Gibert

ISBN 978-3-8392-3324-5

Widmung

Für Marion, ohne die alles nichts wäre.

1

Donnerstag, 15. Februar 2007

Ayse Bilicin schwitzte. Die türkische Mitarbeiterin der Reinigungsfirma Cleanfix, die seit der Eröffnung des Ladencenters vor einigen Jahren immer den gleichen Bereich des City-Point in Kassel putzte, konnte sich nur noch schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Vor einer Stunde hatte es angefangen, mit Kopfschmerzen, die immer schlimmer wurden. Sie wischte mit einem Lappen über das Treppengeländer im dritten Stock, aber es war mehr ein Festhalten als koordiniertes Arbeiten. Tief unten sah sie eine Kollegin im grauen Kittel winken, wer es aber genau war, konnte sie nicht erkennen.

Ayse hatte öfter Kreislaufprobleme. Die Wechseljahre, hatte ihre Ärztin gesagt und geraten, abends mal ein Glas Sekt zu trinken, und ihr Hormone verschrieben. Aber so wie heute war es noch nie gewesen, und langsam wurde sie panisch. Ihr wurde in Wellen übel und sie hatte das Gefühl, sich dauernd übergeben zu müssen. Das ganze Gesicht der 52-jährigen Frau war nass von Schweiß, Speichel, Tränenflüssigkeit und Nasensekret. Als sie sich erbrach, empfand sie für einen kurzen Moment so etwas wie Erleichterung. Sie kniete sich hin, um ihr Erbrochenes aufzuwischen, hatte jedoch keine Erinnerung, wie sie es machen sollte. Mit der einen Hand zog sie sich wieder am Geländer hoch und wollte in Richtung der Rolltreppe gehen, aber die Beine gehorchten ihr nicht. Mühsam hielt sie sich fest und wollte um Hilfe rufen, aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, weil ein unsichtbarer Ring ihre Brust umklammert hielt. Auf dem Boden mischten sich ihre Exkremente mit dem Erbrochenen, doch davon bemerkte sie nichts. Sie sah in den erleuchteten Nachthimmel außerhalb des Glasdaches, sah die Schneeflocken, die vom Wind umhergetrieben wurden, verstand aber nicht, was dort draußen passierte.

Verschwommen erinnerte sie sich, dass vor langer Zeit einmal jemand von unten hoch gewunken hatte. Sie beugte sich über das Geländer und sah nach unten, konnte jedoch nichts erkennen. Alles war bunt, surreal, wie ein Gemälde ohne Struktur. Sie beugte sich ein weiteres Stück nach vorne. Das Edelstahlgeländer bog sich unter ihrem Gewicht leicht durch. Ihre Füße verloren den Bodenhalt, traten gegen die Glasscheibe, die zwischen Boden und Geländer eingelassen war, und fielen zurück. Sie machte eine weitere unkoordinierte Bewegung, hob erneut vom Boden ab und hatte diesmal so viel Schwung, dass sie über das Geländer getragen wurde. Zwei Sekunden später war Ayse Bilicin tot.

2

Dienstag, 15. Mai 2007

Es waren die ersten wirklich schönen Tage des Jahres in Kassel. Mitte Mai. Der Winter hatte sich endlos hingezogen und der Frühling endlos auf sich warten lassen. Schnee von gestern. Heute zeigten die Mädchen freie Bauchnabel und die Jungs trugen ärmellose Shirts. Seit ein paar Tagen standen Stühle und Tische vor den Cafés, die Menschen saßen in der Sonne und sahen glücklich aus.

Der Regionalexpress aus Frankfurt schlingerte über die letzten Weichen vor dem Hauptbahnhof und kam eine Minute später mit leise singenden Bremsen zum Stehen. Eine Lautsprecherstimme verkündete den Ankommenden, dass sie nun Kassel erreicht hätten, der Zug hier enden würde und in welche Richtung sich Umsteigemöglichkeiten anboten. Viele waren es nicht.

Paul Lenz, der Leiter von K11 (Gewalt-, Brand- und Waffendelikte) des Polizeipräsidiums Nordhessen in Kassel, blieb noch einen Moment sitzen. Dann reckte er sich, stand auf und griff nach seinem Rollkoffer. Als er den Bahnsteig betrat, fing er sofort an zu schwitzen, zog das Jackett aus, das er wegen der Klimaanlage im Zug anbehalten hatte, und machte sich auf den Weg. Er ging zum Nebenausgang gegenüber dem Polizeipräsidium und überquerte die Straße. Der Rollkoffer holperte über das Kopfsteinpflaster und der Inhalt wurde wieder mal durcheinandergemischt, was Lenz ziemlich egal war.

»Guten Tag, Herr Hauptkommissar«, begrüßte ihn der Uniformierte am Eingang.

Lenz winkte mit der freien linken Hand, grüßte zurück, schnappte den Koffer am Handgriff und ging ein Stockwerk tiefer zu seinem Büro. Dort stellte er das Gepäck ab, schloss die Tür, setzte sich und legte die Füße hoch. Als er mit dem Stuhl eine bequeme Position gefunden hatte, verschränkte er noch die Arme hinter dem Kopf. 10 Sekunden später war er eingeschlafen.

32 Stunden zuvor war er in Frankfurt aufgestanden. Dort war er zu einer Sonderkommission hinzugezogen worden, die den gewaltsamen Tod mehrerer türkischer Geschäftsleute aufzuklären versuchte. Da sich einer der Morde in Kassel ereignet hatte und er auf den Fall angesetzt worden war, hatte er die letzten 14 Tage in Frankfurt verbracht.

Mieses Wetter, miese Stadt, mieser Fall, miese Unterkunft.

So hatte er seinem Mitarbeiter Thilo Hain, mit dem er regelmäßig telefonierte, die letzten beiden Wochen geschildert. Er war in einem Zimmer des Ausbildungszuges der Bereitschaftspolizei untergebracht worden. Dort war er von 80 jungen Polizisten umgeben, die nie vor eins ins Bett gingen und laute Musik liebten.

Und dann noch Frankfurt. Er war zu Zeiten seiner Ausbildung oft dort gewesen, aber warm geworden war er mit diesem Moloch nie. Die Häuserschluchten machten ihn unruhig, und unter der Erde, in der U-Bahn, fühlte er sich eingesperrt.

Zu allem Überfluss hatte es in den letzten 14 Tagen auch noch fast täglich geregnet. Und als der Täter dann nicht in Frankfurt zugeschlagen, sondern am Vorabend einen türkischen Schmuckhändler in Rosenheim erschossen hatte, wurde die ganze Sonderkommission in Frankfurt aufgelöst.

Ein Klopfen weckte ihn. Er öffnete die Augen, nahm die Füße vom Schreibtisch und setzte sich aufrecht.

»Ja, bitte«, sagte er.

Es dauerte einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde und Thilo Hain den Kopf hereinstreckte.

»Hallo, Paul. Ich dachte, du hättest vielleicht deinen Zug verpasst. Bevor ich zum Essen gegangen bin, war ich schon mal hier, aber es hat sich nichts getan, als ich geklopft hab. Ist alles in Ordnung mit dir?«

Lenz fuhr sich mit den Händen durchs Haar, nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Jacke und zündete sich eine an.

»Ganz und gar nichts ist in Ordnung. Der Türkenmörder hat in Rosenheim zugeschlagen, ich habe seit gestern Morgen kein Auge zugemacht und die Bahn stand eine Stunde auf freier Strecke, weil ein Signal kaputt war. Ich bin zu alt für diesen Job, glaube ich.«

Hain grinste.

»Du siehst genau so aus, wie du dich fühlst. Die Sache in Rosenheim ist blöd, aber irgendwann macht auch der mal einen Fehler. Warum hast du denn nicht geschlafen?«

»Die Jungs vom Ausbildungszug haben gestern ihre letzten Prüfungen absolviert. Scheinbar hatten alle bestanden oder glauben es zumindest. Als ich heute Morgen da raus bin, lagen sie immer noch auf dem Flur und haben gesungen. Ich wollte ihnen die Party nicht verderben, also habe ich die Nacht mit einem Buch in der Hand verbracht. Und in der Bahn kriege ich nun mal kein Auge zu.«

Er zog an seiner Zigarette, blies den Rauch Richtung Wand und drückte sie halb geraucht aus.

»Was gibts denn hier Neues?«

Hain brachte ihn auf den aktuellen Stand der Ermittlungen, mit denen sie betraut waren, und ließ auch den Tratsch nicht aus.

»Also alles wie gehabt.«

Lenz sah auf seine Uhr.

»Zu allem Übel muss ich mich jetzt auch noch bei dieser Psychotante einfinden. Hast du deine Prüfung schon bestanden?«

»Ich hätte meinen Termin letzte Woche gehabt, konnte ihn jedoch abblasen, weil ich in der Nacht vorher Bereitschaft hatte. Das wollte die Dame sich und mir dann doch nicht antun. Die Kollegen sagen aber, man sollte sich vor Dr. Driessler in Acht nehmen, sie hat Haare auf den Zähnen.«

Um eine echte Prüfung handelte es sich nicht, das wusste auch Lenz. Die ganze Geschichte mutete eher an wie eine Posse.

Ein leitender Mitarbeiter des hessischen Innenministeriums hatte im Jahr zuvor aus heiterem Himmel Panikattacken bekommen und legte sich deswegen bei einem Psychotherapeuten auf die Couch. Als das nicht den gewünschten Effekt brachte, wurde er von seinem Dienstherrn in Kur geschickt oder auf neudeutsch: zu einer Rehamaßnahme. Nach sechs Wochen Therapie war er als quasi geheilt entlassen worden. Allerdings überzeugten die dort wirkenden Ärzte den Mann davon, dass sehr viele Menschen an Panikattacken oder noch viel schlimmeren psychischen Leiden erkrankt seien. Zurück im Amt entwickelte er ein geradezu missionarisches Engagement seinen Mitarbeitern gegenüber, sich auf psychische Erkrankungen hin untersuchen zu lassen. Und als dieser Bereich abgegrast war, richtete er sein Augenmerk auf die weiteren Bediensteten des Landes.

Da Polizisten, das wusste er, großem Stress ausgesetzt sind und in der Regel auch noch im Schichtdienst arbeiten, wurde allen Polizisten die freiwillige psychologische Betreuung im Rahmen der jährlichen Routineuntersuchung empfohlen. Etwaige Verweigerer überzeugte man mit dem Hinweis, dass bei zukünftigen Beförderungen auch die Bereitschaft zur Mitarbeit in Fragen der eigenen Gesundheit eine Rolle spielen würde.

»Dann will ich mal los. Hoffentlich dauert die Sache nicht den ganzen Nachmittag.«

Hain und er verabredeten sich für den nächsten Morgen und verließen das Büro.

Lenz ging zum Treppenhaus und hatte schon die erste Stufe auf dem Weg nach unten betreten, als er es sich anders überlegte. Er drehte um und ging, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, drei Stockwerke höher. Dort bog er nach rechts ab und stand kurze Zeit später vor dem Zimmer des Pressesprechers der Kasseler Polizei, Uwe Wagner. Die Tür war wie üblich offen und er trat ein. Wagner telefonierte, bot ihm aber mit einer erfreuten Geste einen Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch an. Lenz setzte sich und wartete.

»Grüß dich, Heimkehrer. Wie war dein Einsatz in der Metropole des Verbrechens?« Wagner kam um den Schreibtisch herum, zog Lenz an der ausgestreckten Hand aus dem Stuhl, umarmte ihn und klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. Lenz hüstelte, befreite sich aus der Umklammerung seines Freundes und setzte sich wieder hin.

»Mein Gott, ich bin doch kein Kriegsheimkehrer. Ich war gerade mal zwei Wochen weg. Außerdem werde ich dich auch gleich wieder verlassen, weil ich einen Termin bei Frau Dr. Driessler habe. Sag mir nur kurz, was ich beachten muss.«

Wagner war in solchen Fragen immer der richtige Ansprechpartner. Er hatte seine Ohren überall und war generell auf dem neuesten Stand.

»Ich hatte keine Probleme mit der Dame«, meinte er. »Allerdings habe ich mich vorher mit einem Kollegen aus Wiesbaden unterhalten und mir erklären lassen, was dieser Unfug eigentlich soll. Der ernstere Hintergrund ist tatsächlich, herauszufinden, ob es Anzeichen einer psychischen Überbelastung oder einer Erkrankung gibt. Mehr nicht. Ich habe ihr einfach erklärt, was ich den ganzen Tag und manchmal auch die Nächte hier so mache und dass ich seit Jahren keinen bösen Buben mehr zu Gesicht bekommen habe, und schon war ich wieder draußen.«

Er lachte.

»Allerdings liegen die Dinge bei dir längst nicht so einfach. Starker Raucher, übermäßiger Alkoholkonsum, geschieden, keine Damenbekanntschaften. Da wird wahrscheinlich eine längere Therapie fällig.«

Lenz stand auf.

»Du hast mir sehr geholfen, danke«, äußerte er mit schief gezogenem Mundwinkel. »Ich melde mich morgen bei dir, um mir meine Einweisung in die Psychiatrie abzeichnen zu lassen und mich zu verabschieden. Machs gut.« Er drehte sich um und verließ grinsend das Zimmer.

Zwei Minuten später stand er vor dem Raum, den die Psychologin für die Zeit ihrer Gespräche zugeteilt bekommen hatte. Er klopfte, wartete kurz und trat ein.

Dr. Helga Driessler saß an einem quadratischen Tisch, hatte eine Akte vor sich liegen und las darin. Auf dem Boden lag ein weiterer Stapel Akten.

Sie sah kurz auf die Uhr, lächelte frostig, erhob sich, kam auf ihn zu und streckte die rechte Hand aus.

»Herr Lenz, wie ich vermute. Guten Tag.«

»Ja, Paul Lenz«, stellte er sich vor.

»Es tut mir leid, aber ich bin eben erst von einem Einsatz aus Frankfurt zurückgekommen. Deswegen habe ich mich etwas verspätet.«

Sie hielt noch immer seine Hand fest und sah ihm in die Augen.

»Und ich dachte, Sie hätten mich im falschen Raum gesucht. Der Pressesprecher zumindest hat mich gleich gefunden und war pünktlich.«

Lenz merkte, wie ihm das Blut ins Gehirn schoss und hoffte, tot umzufallen, was leider nicht geschah. Er verstärkte den Druck auf ihre Hand und ließ sie dann los.

»Nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, befürchte ich«, meinte er zynisch und setzte sich ohne Aufforderung.

Während sie sich auf den Weg zu ihrem Stuhl machte, musterte Lenz die Psychologin. Sie trug ein eng geschnittenes, hellbraunes Kostüm und hohe Schuhe mit Pfennigabsätzen. Ihr Gesicht war dezent geschminkt und an ihrem Hals bewegte sich eine Kette mit großen grünen Kugeln. Sie war etwa 40, vielleicht etwas jünger. Auf dem Tisch lag eine Brille, die sie aufsetzte, nachdem sie Platz genommen hatte. Es war eine dieser Brillen, mit denen Frauen um Jahre älter und ziemlich streng aussahen, flach und breit; eigentlich zwei Gläser mit Bügeln. Lenz fragte sich, ob sie das so wollte oder ihr Optiker sie auch nicht leiden konnte.

Sie nahm die Akte zur Hand und sah ihn an.

»Machen wir uns nichts vor, Herr Kommissar. Ich weiß, dass die wenigsten Kollegen mich und meine Arbeit so ernst nehmen, wie ich mir das wünschen würde. Aber ich kann ihnen meine Hilfe nur anbieten. Ob sie mein Angebot annehmen, muss jeder selbst entscheiden. Sie hingegen sollten klüger sein, als mich schon zu Beginn unseres Gespräches verarschen zu wollen.«

Lenz schluckte. Ihre Ausdrucksweise überraschte und schockierte ihn gleichermaßen. Aber wenigstens redete sie nicht um den heißen Brei.

»Gut. Ich habe gestern Morgen zuletzt geschlafen. Ich habe 14 Tage in einer Stadt verbracht, die mich nicht erheitert und versucht, einen Fall zu lösen, der nicht zum Lachen ist. Ich habe keine, aber auch wirklich gar keine Lust, mit Ihnen mein Seelenleben zu besprechen. Also habe ich es vorgezogen, zuerst meinem Freund Uwe Wagner guten Tag zu sagen und mich dann mit Verspätung zu Ihnen zu begeben.«

»Guter Anfang, Herr Lenz. Viel besser als der erste. Ich habe natürlich auch keine Lust, mich hier mit Kollegen herumzuplagen, die lieber mit ganz anderen Menschen ganz woanders wären. Aber unser gemeinsamer Dienstherr hat es sich nun einmal so ausgedacht, und wir wollen ihn doch nicht enttäuschen, oder?«

Lenz war sich sicher, dass in dieser Frage eine Drohung versteckt war, ging aber nicht darauf ein.

»Ich habe mich in der Zeit des Wartens schon mal mit Ihrer Akte beschäftigt.«

Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Dossier, in dem sie gelesen hatte.

»Und? Haben Sie Erkenntnisse gewonnen, die wir besprechen sollten?«

»Sagen Sie es mir, Herr Lenz. Ich sitze hier und biete Ihnen meine Hilfe zu Fragen der psychischen Gesundheitsbetreuung an.«

Lenz verschränkte die Arme vor der Brust. In einem Seminar über Körpersprache hatte er einmal gelernt, dass diese Geste Ablehnung bedeutet.

»Sie lesen in meiner Akte, Frau Dr. Driessler. Sie lesen dort, dass ich zwei Mal geschieden bin, dass meine zweite Frau mich ausgezogen hat bis auf die Unterhose und dass ich seit Jahren Unterhalt für meine beiden Kinder aus erster Ehe bezahle, die ich ewige Zeiten nicht gesehen habe. In meinem schönen Haus wohnt nun meine zweite Frau mit ihrem neuen Kerl, den sie aber nicht heiraten will, weil sonst mein monatlicher Scheck ausbleiben würde und sie sich dann einen Job suchen müsste. Ich selbst bewohne anderthalb Zimmer in einem Vorort und rauche am Tag eine Schachtel Zigaretten.«

Er erhob sich und reichte ihr die Hand.

»Und wenn ich nachts nicht einschlafen kann, Frau Doktor, dann trinke ich ein Glas Rotwein oder eine Büchse Bier, damit es besser geht.«

Da sie ihm ihre Hand nicht entgegenstreckte, zog er seine zurück, drehte sich um und ging zur Tür. In diesem Moment klingelte sein Mobiltelefon. Er sah noch einmal zurück.

»Ich melde mich nächste Woche bei Ihnen, wenn ich ausgeschlafen bin. Wenn Sie wollen, fangen wir dann noch mal bei null an. Wiedersehen.«

Er verließ das Büro, kramte nach seinem Telefon und nahm das Gespräch an.

»Hallo«, meldete er sich deutlich genervt.

»Mein lieber Mann, die hat dich aber aufgeregt. Bist du schon fertig?« Es war Hain.

»Fertig bin ich, ja. Ich will nur noch ins Bett und bis morgen niemanden mehr sehen.«

Hain seufzte.

»Daraus wird nix, Chef. Wir haben einen Toten in der Fulda. Scheint über die Bergshäuser Brücke abgegangen zu sein. Wahrscheinlich Selbstmord. Aber hinfahren und es uns ansehen müssen wir.«

Die Bergshäuser Brücke war ein Teil der A44 und verband die Autobahnen A49 und A7 im Kasseler Südosten. Sie war früher unter Selbstmördern sehr beliebt gewesen, allerdings hatte sich seit Jahren kein Mensch mehr von dort aus ins Jenseits befördert.

»Wir treffen uns am hinteren Ausgang. Hast du ein Auto besorgt?«

»Ich sitze schon drin, der Motor läuft, und vollgetankt ist er auch.«

»Na«, knurrte Lenz, »dann sollte es ja für die paar Kilometer nach Bergshausen reichen.«

3

Fünf Minuten später saßen sie schweigend nebeneinander. Hain steuerte den Opel durch den einsetzenden Feierabendverkehr. Lenz rauchte eine Zigarette, was Hain, als überzeugter Nichtraucher, nicht leiden konnte und Lenz auch normal nicht machte, wenn sie gemeinsam im Auto saßen. Allerdings war dieser Tag nicht wie jeder andere, und Hain wusste schon, wann er besser nicht auf Absprachen bestand.

»Hätte der Typ nicht zwei Stunden früher in den Bach hüpfen können?«, grantelte Lenz. »Dann wäre mir der Besuch bei Frau Dr. Driessler erspart geblieben und die Straßen wären auch freier.«

Hain sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

»Nun krieg dich mal wieder ein. Ich kann nichts dafür, dass die Jungs in Frankfurt die ganze Nacht Party gemacht haben und du ausgerechnet heute den Termin bei der Tante hattest. Wenn alles normal läuft, sind wir in einer Stunde fertig und du kannst dich schlafen legen. Ich bringe dich auch gerne persönlich ins Bett. Aber bis dahin versuchst du, dich wie ein gesitteter Chef zu benehmen.«

Er klang wirklich ärgerlich, was bei ihm sehr, sehr selten vorkam.

Lenz sah zu ihm hinüber, warf die Zigarette aus dem Wagen und schloss das Fenster.

»Entschuldigung«, murmelte er.

»Schon gut.«

Als sie aus der Stadt hinausfuhren, auf Höhe des Metro-Großmarktes, klingelte ein Mobiltelefon. Beide griffen in die Jackentasche und sahen auf das Display. Es war das von Lenz, das einen Anruf anzeigte. Er nahm das Gespräch jedoch nicht an, sondern steckte das Telefon zurück in die Jacke. Hain sah ihn irritiert an.

»Was ist denn das jetzt? Mal wieder einer von deinen mysteriösen Anrufen?«

»Ja.«

»Und du willst mir noch immer nichts darüber sagen?«

»Nein.«

Den Rest der Fahrt brachten sie schweigend hinter sich, nur unterbrochen vom akustischen Signal der Mailbox. Der Anrufer hatte eine Nachricht hinterlassen.

Unter der Bergshäuser Brücke standen sechs Polizeiautos, zwei Notarztwagen, ein Leichenwagen und ein Autokran. Und mindestens 500 Schaulustige. Die Stelle, an der das Auto von der Brücke gestürzt war, konnte man an einer leichten Ausbuchtung der Leitplanke weit oben erkennen. Lenz fragte sich, wie viele Meter das wohl waren. 40? 60? Auf der Brücke stauten sich die Fahrzeuge, weil die rechte Fahrspur und der Standstreifen noch immer gesperrt waren, doch davon bekam er nichts mit.

Unten war weiträumig abgesperrt. Zwei Polizisten sorgten dafür, dass die Gaffer nicht zu nahe kamen. Das Unfallauto stand auf einem Grasstreifen etwa 30 Meter entfernt. Lenz kannte sich mit Autos nicht gut aus, aber dieses weinrote Wrack hätte auch ein Spezialist nicht auf den ersten Blick als einen Golf Kombi erkannt.

Hain parkte innerhalb der Absperrung, die von einem uniformierten Polizisten hochgehalten wurde, als die beiden ankamen. Sie stiegen aus und begrüßten die Kollegen.

»Er sitzt noch im Auto«, sagte ein Uniformierter auf die Frage von Hain nach dem Fahrer. »Aber es sieht nicht schön aus. Irgendwie ist von ihm nicht viel übrig geblieben. Wir haben im Handschuhfach, das hinter der Rückbank gelandet ist, Wagenpapiere und einen Führerschein gefunden. Vermutlich handelt es sich um Dieter Brill aus Wolfhagen. Prüfen können wir es leider nicht, weil wir zwar das Foto haben, aber kein Gesicht mehr dazu.« Er reichte Hain den nassen grauen Lappen. Einen Führerschein der Marke uralt.

Hain sah seinen Chef an. Wer geht nachschauen, was sich da im Wagen befindet?, war als Frage in seinem Gesicht zu lesen.

»Ich gehe mal zum Auto«, sagte Lenz. Er sah den Streifenpolizisten an.

»Und Sie geben bitte dem Kollegen Hain alle Informationen, die Sie bis jetzt zusammengetragen haben.«

»Klar.«

Der Hauptkommissar näherte sich langsam dem Autowrack und versuchte sich vorzustellen, mit welcher Seite der Aufprall stattgefunden haben könnte. Das Dach des Kombis war im hinteren Teil bis zur Fensterkante heruntergedrückt und es fehlte glatt ein Meter der ursprünglichen Länge des Autos. Der Vorderwagen war allerdings auch um einiges kürzer und sah schwer beschädigt aus.

»Er ist mit dem Heck zuerst aufgeknallt.«

Lenz drehte sich um. Fünf Meter hinter ihm stand ein Mann mit einer roten Latzhose. Offenbar der Kran-fahrer.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich hab ihn rausgezogen. Wir hatten schon mal so einen Fall vor ein paar Jahren. Der ist mit dem Heck aufgeknallt, was man ja sieht, da hinten am Auto.« Er zeigte mit dem rechten Arm auf das Ende des Golfs. »Aber durch die mordsmäßige Wucht ist der Motor aus der Verankerung gerissen worden und hat sich wie ein Geschoss in den Innenraum gedrückt. Das hat ihm dann den Rest gegeben.«

Lenz fragte sich, ob man nach einem solchen Aufschlag noch einen Rest brauchte, antwortete aber nicht.

»Ja, das klingt logisch.«

Er sah in den Wagen, erkannte einen menschlichen Überrest und wunderte sich, dass kein Blut zu sehen war.

»Wie es aussieht, hat er im Wasser gelegen.«

»Ja. Irgendwie war das heute nicht sein Tag. Kommen Sie, ich zeigs Ihnen.«

Unter der Brücke sah Lenz die Einschlagstelle.

»Er knallt oben über die Leitplanke, was ja an sich schon eine echte Leistung ist. Dann dreht sich die Karre in der Luft und knallt rückwärts hier in die Uferböschung. Zwei Meter weiter hinten, und die Fulda hätte vielleicht das Schlimmste verhindert. Glaub ich aber nicht. Also, er knallt rückwärts auf, kriegt dann den Motor von vorne praktisch durchs Gesicht gezogen und kommt zum Stehen. Dann rutscht er ganz langsam rückwärts, bis die Karre bis zum Dach in der Fulda verschwunden ist. Das war dann Leichenschändung, wenn Sie mich fragen, weil ersoffen ist der sicher nicht. Aber wenn er sich selbst ausknipsen wollte, dann hat er alles richtig gemacht.«

Er holte tief Luft. Lenz sah ihn an und hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

»Ich glaube, Sie brauchen mich nicht mehr. Ich nehm dann mal meinen Kran und hau ab. Eigentlich hab ich nämlich schon seit zwei Stunden Feierabend. Frühschicht.«

Lenz war noch immer verwirrt von der Schilderung des möglichen Unfallhergangs und nickte nur mit dem Kopf.

Der Kranfahrer verzog sich. Als Lenz ihm hinterhersah, bemerkte er in der Menge Peter Franz, den Rechtsmediziner. Er wollte gerade in seine Richtung losgehen, als sich der Arzt von der Gruppe löste und auf ihn zukam.

»Hallo, Herr Dr. Franz.«

Der Mediziner gab ihm die Hand.

»Tag auch. Sieht übel aus da drinnen, was meinen Sie?« Er deutete auf das Autowrack.

»Suizid?«

»Ich gehe mal davon aus. Die Jungs von der technischen Abteilung sind unterwegs. Wenn sie ihn rausgeschnitten haben, nehme ich ihn mit zur Obduktion, aber nach dem Unfallhergang bleibt keine vernünftige andere Erklärung. Ich habe mitbekommen, dass oben auf der Brücke zwei Zeugen ausgesagt haben, die direkt in den Autos hinter ihm gefahren sind. Beide haben übereinstimmend erklärt, dass er ganz normal gefahren ist, plötzlich das Lenkrad verrissen hat und über die Leitplanke geflogen ist. Dann ging es dahin.«

»Vielleicht ein technischer Defekt?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen, aber ich will dem Ergebnis der technischen Untersuchung nicht vorgreifen. Eine Reifenpanne war es sicher nicht, denn alle vier Räder sind noch intakt. Höchstens etwas mit der Lenkung, aber wie gesagt, das ist das Metier der Techniker.«

»Ja«, sagte Lenz, »die Reifen habe ich auch schon gesehen. Die waren es nicht.«

In diesem Moment fuhr ein kleiner LKW unter die Brücke.

»Das sind die Techniker«, sagte der Arzt. »Sie hören von mir, sobald ich mehr weiß.«

Lenz ging noch einmal um den Unfallwagen herum, hob den Kopf und sah zur Brücke hoch. Hoffentlich ein Selbstmörder, dachte er und gähnte.

Thilo Hain kam auf ihn zu. In der Hand hielt er einen Block.

»Selbstmord, Paul. Glasklar. Oben haben zwei Zeugen beobachtet, wie er einfach so nach rechts abgebogen und abgeschmiert ist. Einer von uns müsste jetzt noch nach Wolfhagen fahren, um den Hinterbliebenen die Nachricht zu überbringen und die Identität zu klären.«

»Lass uns zusammen fahren.«

»Ich dachte, du willst in einer Viertelstunde im Bett liegen?«

»Dann eben eine Stunde später. Aber ich will wenigstens die Identität klar haben.«

Dr. Franz, der Rechtsmediziner, kam im Laufschritt auf die beiden zu. In der rechten Hand hielt er einen Kunststoffbeutel, den er Lenz überreichte.

»Hier, Herr Lenz, den Ring habe ich ihm schon mal vom Finger genommen. Der könnte Ihnen vielleicht bei der Identifizierung behilflich sein. Auf der Innenseite gibt es eine Gravur.«

»Sehr gut, Herr Doktor, vielen Dank. Wir fahren jetzt zu der im Führerschein angegebenen Adresse.«

Hain steckte das Dokument, das er noch immer in der Hand hielt, ebenfalls in den Beutel.

Fünf Minuten später fuhren sie durch Bergshausen in Richtung Kassel. Der Feierabendverkehr hatte seinen Höhepunkt erreicht, an jeder Ampel bildete sich ein langer Rückstau. Lenz hielt den Ring in der Hand und versuchte, die Gravur zu lesen.

»Das wird nichts, Paul«, grinste Hain ihn an. »Ohne deine Lesebrille bist du doch auf diese Entfernung blind wie ein Grubengaul. Gib mal her, das Ding.«

Er hatte recht. Lenz brauchte seit etwa drei Jahren eine Lesebrille, die er jedoch öfter irgendwo vergaß. Jetzt lag sie auf seinem Schreibtisch im Präsidium. Er reichte Hain den Ring, der die Gravur während der Fahrt zu entziffern versuchte.

»He, he, warte wenigstens bis zur nächsten roten Ampel. Gleichzeitig fahren und lesen ist schon so manchem Beifahrer gar nicht gut bekommen.«

»14.06.1998 – in Liebe M.«

»Was?«

»Hier steht 14.06.1998 – in Liebe M.«

»Das hast du in dem Moment gelesen?«

»Nein, ich kenne den Typen seit ein paar Jahren und wusste, was da steht.« Er schüttelte den Kopf.

»Natürlich habe ich das eben gelesen.«

»Alle Achtung, Adlerauge. Das heißt ja wohl, dass er zumindest schon mal eine Freundin hat oder gehabt hat. Eine Monika. Oder Marita. Oder eine Marianne.«

»Oder vielleicht eine Michaela«, ergänzte Hain.

Lenz steckte den Ring zurück in den Beutel, nahm den Führerschein heraus, klappte ihn auf und betrachtete das Bild.

»So haben wir damals alle ausgesehen. 18 Jahre alt, picklig und ungepflegt. Geboren am 15.05.1962 in Wolfhagen.« Er rechnete. »Der ist jetzt 45. Oder besser: war.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Hain.

»Zu meiner Rechenleistung?«

»Nein, zum Geburtstag.« Hain deutete auf den Führerschein.

»Der hat heute Geburtstag.«

»Das ist übel«, kommentierte Lenz.

Eine Weile sagte keiner etwas. Erst als sie aus Kassel hinausgefahren waren und Hain eine Melodie aus dem Radio leise mitsummte, nahm Lenz das Gespräch wieder auf.

»Das Ding ist vor 27 Jahren ausgestellt worden. Wer weiß, ob er heute noch dort wohnt?«

»Ich«, antwortete Hain. «Während du dir die Beine am Unfallwagen vertreten hast, habe ich über Funk eine Halterabfrage zu dem Wrack gemacht. Zugelassen auf Dieter Brill, Friedensstraße 51, Wolfhagen. Die gleiche Adresse wie in dem alten Lappen.«

»Aus dir wird noch mal ein richtig guter Polizist«, sagte Lenz und gab die Adresse ins Navigationsgerät ein.

Die Friedensstraße war eine lange Sackgasse, Hausnummer 51 befand sich ganz am Ende, ein großes Zweifamilienhaus. Das Nachbargrundstück war eine Baulücke, direkt dahinter ging der Wald los. Hier konnte man es aushalten.

Sie stiegen aus und sahen sich um.

Der Vorgarten war gepflegt und für das Auge eines Städters riesig. Lenz öffnete das hölzerne Gartentor und ging zur Haustür. Dort sah er zwei Klingelschilder. Auf dem unteren las er Elfriede Brill, auf dem oberen Dieter Brill. Er legte den Finger auf den oberen Klingelknopf und wartete. Als nach einer halben Minute nichts geschehen war, klingelte er unten. Kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet und eine Frau erschien. Sie war etwa 70 Jahre alt, modern gekleidet, trug ihr silbergraues Haar hochgesteckt und machte einen freundlichen Eindruck. Ihr Blick traf zuerst Hain, der etwa einen Meter hinter Lenz stand, und dann den Hauptkommissar.

»Ja, bitte?«

»Guten Tag«, sagte Lenz.

»Mein Name ist Paul Lenz. Das ist mein Kollege Thilo Hain. Wir sind von der Kasseler Kriminalpolizei.« Beide hielten ihre Dienstausweise hoch.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Was ist denn geschehen?«

»Ich nehme an, Sie sind Frau Brill.«

Sie nickte.

»Frau Brill, das würden wir ungern mit Ihnen hier an der Tür besprechen.«

»Bitte«, sagte sie und drehte sich um.

Die Polizisten folgten ihr durch einen langen Korridor, der in einem riesigen Wohnzimmer mündete, und setzten sich.

»Es ist wegen meines Sohnes, nicht wahr?«

Lenz nahm den Ring aus dem Kunststoffbeutel und zeigte ihn der Frau.

»Gehört dieser Ring Ihrem Sohn, Frau Brill?«

Sie sah kurz auf, senkte aber sofort wieder den Blick und nickte.

»Ja, den trägt für gewöhnlich mein Sohn. Wo haben Sie ihn her?«

»Es tut mir außerordentlich leid, Frau Brill, aber nach jetzigem Erkenntnisstand ist Ihr Sohn heute Nachmittag bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«

»Bei einem Verkehrsunfall?«

»Wie es aussieht, ja. Allerdings deuten einige Hinweise darauf hin, dass auch ein Freitod nicht auszuschließen ist.«

Elfriede Brill umschlang ihre Knie mit beiden Armen, wie um sich selbst zu schützen.

»Freitod. Wie das klingt, Herr Inspektor. Als ob man gerne und aus freien Stücken in den Tod gehen würde. Das kann ich nicht glauben. Aber ich könnte glauben, dass mein Sohn Selbstmord begangen hat. Das könnte ich glauben.«

Lenz hatte schon häufiger die Nachricht vom Tod eines Familienangehörigen überbracht. Er hatte schon viele Reaktionen auf seine Mitteilung erlebt, aber diese war ihm neu.

»Wie meinen Sie das? Hat Ihr Sohn sich dahingehend geäußert, dass er sich das Leben nehmen wollte?«

»Nicht direkt. Mein Sohn ist krank, Herr Kommissar, sehr krank. Er leidet seit einigen Jahren an Depressionen, sehr schlimmen Depressionen. Im letzten Jahr war er deswegen sogar in einer Klinik.«

Lenz und Hain sahen sich an.

»Wissen Sie, um welche Klinik es sich handelt?«

Sie nannte ihnen den Namen der Klinik, Hain schrieb mit.

»Wie ist es passiert?«

»Ihr Sohn ist mit seinem Wagen von einer hohen Brücke gestürzt. Es war ein sehr harter Aufprall, dabei wurde sein Kopf …« Lenz stockte.

»Man kann nicht mehr viel von ihm erkennen, meinen Sie?«

Es entstand eine Pause.

»Das meine ich, ja.«

»Ich bin mit solchen Dingen vertraut, Herr Inspektor. Mein leider viel zu früh verstorbener Mann war Chirurg, ich habe ihn als Krankenschwester im Hospital kennengelernt. Natürlich habe ich nach unserer Eheschließung nicht mehr in meinem Beruf gearbeitet, aber ich bin doch über die Auswirkungen von Unfällen informiert.«

»Natürlich«, sagte Lenz.

»Ich stehe Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung. Aber mein Sohn ist ganz leicht an einer großen Brandnarbe auf seinem Rücken zu identifizieren. Sein ganzer Rücken wurde im Alter von sechs Jahren verbrannt, beim Spielen. Das ist ein unverkennbares Merkmal.«

Sie setzte sich aufrecht. Lenz glaubte, jetzt so etwas wie Trauer in ihrem Gesicht zu sehen.

»Erzählen Sie uns etwas über Ihren Sohn. Was hat er gemacht, wie hat er gelebt?«

»Dieter lebte sehr zurückgezogen, er hatte wenige Freunde. Er arbeitete in Kassel für das Jugendamt. Sein Beruf hat mich allerdings nie interessiert, seit klar war, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Er hätte alles haben können, wenn er Medizin studiert hätte, aber er hat sich für Sozialpädagogik entschieden.«

Sie betonte Sozialpädagogik, als würde von diesem Studiengang Herpes übertragen.

»Und er ist nie hier weggezogen?«

»Nein, nie. Auch während seines Studiums in Kassel hat er immer hier gewohnt«

»Wer ist diese ›M‹? Die Gravur muss eine Bedeutung haben. Wissen Sie etwas darüber?«, fragte Hain.

»So leid es mir tut, aber von den Liebschaften meines Sohnes kann ich Ihnen gar nichts erzählen. Wir haben auch nie über solche Dinge gesprochen. Und um Ihre nächste Frage auch gleich zu beantworten, es gab wohl aktuell keine Frau in seinem Leben. Sonst hätte er seinen heutigen Geburtstag sicher nicht mit mir verbringen wollen.«

»Wollte er das?«

»Ich habe vor einer Stunde in seiner Wohnung oben den Tisch gedeckt. Dort steht eine von mir gemachte Nusstorte, wie er sie am liebsten mag. Er wollte direkt nach der Arbeit hierherkommen.«

»Können wir uns kurz in seiner Wohnung umsehen?«

»Wenn Sie hoffen, einen Abschiedsbrief zu finden, so muss ich Sie enttäuschen. Ich halte die Wohnung rein und kann Ihnen versichern, es gibt nichts Derartiges.«

Sie folgte den Polizisten nach oben und zeigte ihnen die Wohnung. Lenz und Hain sahen sich um, es war eine normale Junggesellenwohnung, die von Mutti rein gehalten wurde. Hinweise auf einen bevorstehenden Selbstmord gab es keine, und die Nusstorte auf dem Küchentisch sah klasse aus.

»Was geschieht nun?«, fragte Frau Brill, als sie sich voneinander verabschiedeten.

»Ihr Sohn wird zunächst in die Rechtsmedizin gebracht. Ob eine Obduktion notwendig ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen, aber ich vermute es. Danach wird der Leichnam freigegeben und Sie können über den weiteren Fortgang entscheiden.«

»Dieter wollte, dass er im Fall seines Todes verbrannt wird. Dem Wunsch werde ich natürlich nachkommen.«

»Da Sie die nächste Verwandte sind, spricht sicher nichts dagegen.«

Lenz nahm eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihr.

»Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, können Sie mich gerne anrufen, und wenn ein Testament auftauchen sollte, informieren Sie uns bitte darüber.«

»Selbstverständlich. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er so etwas hatte.«

Sie verabschiedeten sich von Elfriede Brill und gingen zum Auto. Als das Haus hinter ihnen verschwunden war, platzte es aus Hain heraus.

»So was hab ich ja noch nie gesehen. Da hüpft ihr Sohn von der Brücke und die ist cool wie ’ne Hundeschnauze. Ich hätte schreien können.«

»Das war komisch, stimmt. Aber ich wette, sie sitzt jetzt da und heult sich die Augen aus. Die hat nur gewartet, bis wir weg waren. In ihren Augen wäre das sicher eine Schwäche gewesen, in unserem Beisein loszuheulen. Wie war denn dein Eindruck von seiner Bude?«

»Steril. Eben wie von einer Krankenschwester gepflegt. Aber das passt alles zusammen. Zwischendrin hab ich mal gedacht, dass es kein Wunder ist, dass der Depressionen gekriegt hat und von der Brücke gesprungen ist. Erstaunlich nur, dass er so lange damit gewartet hat, bei der Mutter. Und zu viel Derrick hat sie auch gesehen in ihrem Leben.«

Er imitierte Elfriede Brills Tonfall.

»Ich bin vertraut mit diesen Dingen, Herr Inspektor.«

Jetzt mussten beide lachen. Einen Inspektor gab es in Hessen wie auch in Bayern, wo Derrick bekanntlich spielte, schon lange nicht mehr bei der Polizei, aber gerade ältere Menschen sahen in jedem Kripobeamten noch immer einen Inspektor.

4

Als sie hinter dem kleinen Ort Istha auf die B 520 Richtung Kassel einbogen, klingelte Lenz’ Mobiltelefon. Er sah auf das Display und nahm den Anruf an.

»Lenz«, meldete er sich.

»Hallo, Herr Lenz. Hier ist Marnet.«

Oberstaatsanwalt Marnet und Lenz kannten sich seit vielen Jahren. Sie kamen gut miteinander aus, auch wenn Lenz nicht immer mit der Vorgehensweise und dem selbstgefälligen Auftreten des Juristen einverstanden war. In seiner Behörde ging das Gerücht um, der Staatsanwalt würde auch vor Verkehrsampeln sein telegenes Grinsen zeigen, wenn sie auf Rot sprangen.

»Grüß Sie, Herr Marnet.« Er sah auf die Uhr.

»Was kann ich denn nach Feierabend noch für Sie tun?«

»Na ja, auch ein Oberstaatsanwalt muss manchmal die Leiden der Bereitschaft ertragen, das ist bei mir heute der Fall. Und ausgerechnet dann haben wir einen Toten an der Bergshäuser Brücke. Was meinen Sie, müssen wir den aufmachen lassen?«

Marnet sprach von einer möglichen Obduktion.

»Wie es aussieht, gehe ich von einem Suizid aus«, erklärte Lenz und informierte den Staatsanwalt über die Ergebnisse der Befragung in Wolfhagen. Dann war einen Moment lang Stille in der Leitung.

»Nun, wenn die Sache sich so klar darstellt, können wir auf die Obduktion verzichten. Wir müssen den Herrschaften in der Gerichtsmedizin nicht mehr Arbeit machen als nötig. Und ob er nun Beruhigungsmittel, Antidepressiva oder einen Schnaps zu viel im Blut hatte, ist bei dieser Sachlage sicher nicht von Belang, was meinen Sie?«

»Eher nicht, Herr Marnet«, pflichtete Lenz ihm bei, auch weil er wusste, dass Marnet solche Rückfragen höchst ungern mit einer anderen Antwort versehen sah.

»Gut, dann hätten wir das geklärt. Wenn die Techniker mit der Untersuchung des PKW fertig sind und nichts auf einen technischen Defekt hindeutet, kann ich die Leiche freigeben. Sehr schön.«

Klar, dachte Lenz, weil du dann keine Arbeit mehr mit der ganzen Geschichte hast. Vermutlich wollte Marnet das anstehende lange Wochenende zu einem Kurztrip mit seiner Freundin nutzen, während seine Frau die Zeit mit den Kindern in Kassel verbrachte.

Der Hauptkommissar verabschiedete sich und informierte Hain kurz über das, was er gerade von Marnet gehört hatte.

»Das ist geil. Dann kann ich dich jetzt schön ins Bettchen bringen, Chef.«

»Lass mich einfach zu Hause raus und verschwinde. Den Schreibkram machen wir morgen, wenn die Techniker fertig sind.«

Eine halbe Stunde später saß Lenz frisch geduscht auf der Couch seines Wohnzimmers und hörte jene Nachricht ab, die er ein paar Stunden zuvor nicht mit Hain diskutieren wollte. Dann drückte er eine Kurzwahltaste auf dem Mobiltelefon und wartete.

»Ja, bitte«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Ich bins.«

»Schön. Ich dachte schon, du würdest mich nicht mehr anrufen.«

»Nein, nein. Ich wollte nur warten, bis ich zu Hause bin. Jetzt komme ich gerade aus der Dusche, bin wieder vorzeigbar und freue mich, mit dir zu telefonieren.«

»Vorzeigbar klingt gut. Leider habe ich heute keine Möglichkeit, das zu prüfen. Ich hatte schon befürchtet, du wärest vielleicht doch noch länger in Frankfurt geblieben.«

»Grauenhafter Gedanke. Nein, ich bin wie geplant heute Morgen zurückgefahren. Allerdings ist seitdem so ziemlich alles schief gegangen, was schief gehen konnte.«

»Erzähl.«

»So viel Zeit hast du nicht, Maria.«

»Versuch es.«

20 Minuten später war die Anruferin komplett mit den kleinen und großen Katastrophen seines Tages vertraut.

»Und die Sache mit der Psychologin kann dir nicht schaden?«, fragte sie besorgt.

»Ich weiß es nicht. Vermutlich nein, aber vielleicht auch ja. Wir werden sehen. Ich gehe morgen bei ihr vorbei und mache einen Termin für nächste Woche. Außerdem habe ich noch ein paar Fragen an sie zu dem Depressiven, der sich von der Brücke gestürzt hat.«

»Ist sie hübsch?«

Lenz machte eine kurze Pause.

»O làlà. Sie ist ein männermordender Vamp. Ein Bild von einer Frau. Riesenbusen, lange Beine, braungebrannt, klug. Und so einladend. Warum fragst du?«

Die Anruferin lachte los.

»So genau wollte ich es gar nicht wissen, aber gut. Jetzt weiß ich, dass ich mir wegen ihr keine Sorgen machen muss.«

»Wieso?«

»Weil du das alles bei mir hast. Oder zumindest vieles davon.«

»Du bist eifersüchtig?«

»Wenn es um dich geht, immer«, antwortete sie entschieden.

»Keine Sorge. Ich habe mit dir wirklich genug zu tun. Einen weiteren Pflegefall verkrafte ich nicht.«

»Was machst du am Donnerstag?«

Sein Herzschlag setzte für einen winzigen Moment aus.

»Heißt das, wir können uns am Donnerstag sehen?«

»Erich ist kurzfristig für Donnerstag zu einer Sitzung seiner Parteibonzen nach Berlin zitiert worden. Damit ist in meiner Tagesplanung plötzlich eine ziemliche Lücke entstanden, die ich gerne mit dir füllen würde. Falls du es vergessen haben solltest, Donnerstag ist Feiertag.«

»Nein, ich weiß«, antwortete er.

»Also, ich fahre am Donnerstag ganz früh morgens mit dem ICE nach Hannover, weil ich dort eine Ausstellung besuchen will. Moderne Kunst, also das pure Gift für dich. Aber wenn du ja sagst, musst du das über dich ergehen lassen. Abends wäre ich wieder zu Hause, aber zwischen Kunst und Abend liegen noch ein paar Stunden.«

Lenz grinste.

»Die Lücke, wenn ich dich richtig verstehe.«

»Exakt.«

»Gerne«, sagte er.

Sie gab ihm die Abfahrtszeit des Zuges durch und die Nummer ihrer Sitzplatzreservierung.

»Ich freu mich auf dich«, sagte Maria Zeislinger, die Frau des Kasseler Oberbürgermeisters Erich Zeislinger.

»Ich auch«, antwortete Lenz.

10 Minuten später war er eingeschlafen.

5

»Es tut mir leid, Frau Dr. Driessler.«

Er saß auf dem gleichen Stuhl wie am Tag zuvor, die Psychologin gegenüber.

»Schwamm drüber, Herr Lenz. Gestern war ein Tag zum Vergessen, scheinbar für uns beide. Fangen wir einfach noch mal von vorne an.«

Lenz war früh und gut gelaunt wach geworden. Der Gedanke an einen Tag mit Maria hatte ihn in eine fast euphorische Stimmung versetzt. Um halb acht saß er in seinem Büro am Schreibtisch und las die Aussagen der beiden Zeugen, die im Auto hinter Dieter Brill auf der Bergshäuser Brücke unterwegs gewesen waren. Dann hatte er die Nummer von Frau Dr. Driessler gewählt und um eine kurze Unterredung gebeten. Sie war sofort bereit, ihn zu empfangen.

»Leider habe ich in einer Viertelstunde den nächsten Termin, deshalb muss ich Sie für unser Gespräch auf nächste Woche vertrösten.«

»Gut, aber ich bin eigentlich nicht wegen unseres Desasters von gestern hier.«

»Sondern?«, fragte sie erstaunt.

»Wir hatten gestern einen Toten. Er ist mit seinem Wagen die Fuldabrücke bei Bergshausen hinuntergestürzt.«

Lenz schilderte ihr den Unfallhergang auf der Brücke und das Gespräch mit der Mutter.