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Spiritualität als Ressource für uns Menschen - Tabu-Mauer durchbrechen: Differenzierte, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Historie, Konzepten und Praxis der Spiritualität - Für TherapeutInnen: Meditationen und spirituelle Übungen z.B. gegen Burnout - Für PatientInnen: Sinnfindung und Einordnung von Schicksalsschlägen ermöglichen Spiritualität ist die menschliche Erfahrung von Einheit und Verbundenheit und somit eine wichtige Stütze für die psychische Gesundheit. Harald Walach beschreibt psychische Probleme gar als die Unfähigkeit und Unmöglichkeit, diese ursprüngliche Verbundenheit im Leben zu erfahren und zu realisieren. Spätestens dann, wenn PatientInnen von sich aus darauf zu sprechen kommen, wird es Zeit, sich in der Psychotherapie darum zu kümmern. Wie mit den spirituellen Ressourcen gearbeitet werden kann und welches konzeptuelle Wissen hierfür nötig ist – all das erfahren Sie in diesem Buch. Positiv und offen gibt Walach Ihnen als PraktikerInnen den nötigen Hintergrund, um individuelle Wege zu finden, wie Sie Spiritualität in Ihr Leben und Ihre therapeutische Arbeit integrieren können. Lernen Sie z.B. Imaginationen, Helfergestalten und unterstützende Denkweisen kennen und erfahren Sie, wie Sie Ihre PatientInnen auf dem spirituellen Pfad begleiten können. Aber auch die umgekehrte Seite ist wichtig: Wie erkennen Sie, ob durch Spiritualität ein tieferliegender Konflikt verdeckt wird? Dieses Buch richtet sich an: PsychotherapeutInnen (ärztliche wie psychologische), Coaches, BeraterInnen, PatientInnen
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Seitenzahl: 803
Harald Walach
Brücken zwischen Psychotherapie und Spiritualität
Prof. Dr. Dr. phil. Harald Walach
Schönwalder Str. 17
13347 Berlin
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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Schattauer
www.schattauer.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von © adobe stock/styf
Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
Lektorat: Marion Drachsel
Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani
ISBN 978-3-608-40056-4
E-Book: ISBN 978-3-608-11694-6
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20533-6
Einleitung
I
Theoretische und konzeptuelle Grundlagen
1 Spiritualität als Begriff und Lebenshaltung
2 Andere Begriffe von Spiritualität
3 Spiritualität ohne Gott?
3.1 Gibt es »Gott«?
3.2 Spielformen der Seinserfahrung
4 Spiritualität und Religion
4.1 Inhalt und Form
4.2 Wie die Erfahrung Form gewinnt
4.3 Die ethisch-moralische Dimension der Religion
5 Spiritualität und Wissenschaft
5.1 Wissenschaftliche Methode und wissenschaftliche Weltanschauung
5.1.1 Wissenschaftliche Methode
5.1.2 Wissenschaftliche Weltanschauung
5.2 Spiritualität und wissenschaftliche Methode
5.2.1 Was ist Bewusstsein?
5.2.2 Das Komplementaritätsmodell von Leib und Seele
5.2.3 Ein Platz für die »Seele« oder ein »Höheres Selbst« – der »Seelenfunke«?
6 Religion und Wissenschaft
6.1 Einige Beispiele für wissenschaftliche Grundannahmen oder absolute Voraussetzungen
6.2 Die Funktion absoluter Voraussetzungen: Sie behindern und ermöglichen
6.3 Die unterschiedlichen Domänen von Religion und Wissenschaft
6.4 Veränderungsprozesse in Religion und Wissenschaft
7 Spiritualität und Religion für Agnostiker und der Transhumanismus
7.1 Naturalismus als Religion
7.2 Transhumanismus
II
Praktischer Teil
8 Psychotherapie und Spiritualität: Mögliche Missverständnisse, Grenzverletzungen und Brücken
8.1 Abgrenzungen: konstruktiv und sinnvoll
8.1.1 Religionen und Sekten
8.1.2 Verschiedene professionelle Identitäten
8.1.3 Leidensbewältigung und Sinnerfüllung
8.1.4 Ausbildungsstandards und empirische Fundierung
8.2 Brücken
8.2.1 Zwei Formen der Rationalität
8.2.2 Dominanz der Erfahrung in Spiritualität und Psychotherapie
9 Spiritualität als Ressource für Patienten und Klienten
9.1 Erfassung von Spiritualität und Religiosität
9.2 Psychische Probleme als mangelnde Verbundenheit mit sich und der Welt
9.3 Meditation und spirituelle Praxis als Therapie oder therapiebegleitend
9.3.1 Spirituelle Praxis und Meditation als Befreiung von Leiden
9.3.2 Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR) und verwandte Programme
9.3.3 Achtsamkeit und Sammlung
9.3.4 Mindfulness-based Cognitive Therapy (MBCT)
9.3.5 Andere achtsamkeitsbasierte Verfahren
9.3.6 Zen als Therapieprinzip: Die dialektische Verhaltenstherapie für Borderline-Patienten
9.3.7 Sammlung als Therapieprinzip: Transzendentale Meditation und Meditationsformen aus dem Vedanta
9.4 Therapiebegleitende Meditation
9.5 Spiritualität als Ressource für Therapeuten
9.5.1 Burn-out bei Therapeuten und Prävention durch Achtsamkeit und Meditation
Mitgefühl, Mitleid und Empathie – Eine wichtige Unterscheidung
Metta-Meditation
Burn-out bei Psychotherapeuten und Ärzten
9.5.2 Achtsamkeit als Ressource für Therapeuten
9.5.3 Achtsamkeit und Kultur des Bewusstseins als Methode der Selbstfürsorge für Therapeuten
Von der Notwendigkeit einer Kultur und Hygiene des Bewusstseins
Wissenschaftliche Belege
Einige Notfallschirme
10 Integration von Spiritualität und Psychotherapie in den therapeutischen Prozess – Spiritualität im Dienst unserer Klienten
10.1 Patienten mit ihren spirituellen Ressourcen in Verbindung bringen
10.2 Eine alternative Konzeption zum Verständnis spiritueller Phänomene in einer spirituell integrierten Psychotherapie
10.2.1 Ritual und Grenze
10.2.2 Verschränkung und Übertragung
Wann ist eine quantentheoretische Betrachtung nötig?
Inkompatibilität erzeugt Verschränkung
Verschränkungsphänomene als Basis für das Verständnis von Spiritualität, Übertragung und Gegenübertragung
10.3 Konkrete Anwendungen
10.3.1 Visualisierung von Zielzuständen – »Quantenheilung«
10.3.2 Das Gefühl der Verbundenheit und seine konstruktive Nutzung: Intuition durch Verbundenheit und Heilung durch tiefes Gesehenwerden
10.3.3 Therapeutische Rituale gestalten
10.3.4 Zwangloser Umgang mit paranormalen Erlebnissen, Spuk und anderen Merkwürdigkeiten
10.3.5 Gefahren und Heilmittel
10.3.6 Aufstellungsarbeit
Das generische Prinzip der Aufstellungsarbeit – Rituelle Grenzen und Identifikationen erzeugen
Partizipatorische Wahrnehmung
Rituelle Veränderungen
11 Spiritualität im therapeutischen Kontext – Vertiefende Aspekte
11.1 Narzissmus und toxische Spiritualität
11.1.1 Zwei Formen des Narzissmus: Der Moses- und der Guru-Komplex
11.1.2 Narzisstische Störungen im spirituellen Kontext erkennen und heilen
11.2 Toxische Spiritualität: Kulte, sexueller und ritueller Missbrauch
11.3 Spirituelle Krisen, andere Probleme und Therapieformen
11.3.1 Spirituelle Krisen, verfrühtes Erwachen und die Abgrenzung gegenüber psychiatrischen Problemen
Unterscheidung zwischen spiritueller Krise und psychiatrischer Erkrankung: Geht das? Wenn ja, wie?
Umgang mit spirituellen Krisen
11.3.2 Spirituelle Abkürzungen
11.3.3 Spirituelle Verweigerung
11.3.4 Sucht als fehlgeleitete spirituelle Suche
11.3.5 Holotropes Atmen, Arbeiten mit veränderten Bewusstseinszuständen und psychedelische Therapie
11.3.6 Reinkarnationserfahrungen und entsprechende Therapien
12 Abschließende Bemerkungen und ein selbstkritisches Nachsinnen
Anhang
Abkürzungen
Fallbeispiele und Übungen
Ressourcenverzeichnis
Literatur
Sachverzeichnis
MeMoriae Xenium Xystico Instarde profundis temporummagistris, in via vel in patria,dedicoUllulo in sella imperatorisSplendori helvetico in prato superioreViatori in montibusNicolao de valle cornutoHugoni de palmafratrique Thomae conversione perfecta
»Spiritualität« ist ein schwammiger Begriff; jeder verwendet ihn anders. Ursprünglich stammt der Begriff aus der mystisch-aszetischen Mönchstradition und meint ein Leben, das durch den »Geist« – »spiritus« – geprägt ist. Damit ist ein Leben gemeint, das von innen her – durch das Wirken des Heiligen Geistes oder in anderen religiösen Traditionen durch vergleichbare Kräfte – gestaltet wird. Genauer gesagt sind wir dann spirituelle Menschen, wenn wir unser Leben durch solche Kräfte gestalten lassen. Das setzt natürlich voraus, dass es solche Kräfte überhaupt gibt. Während es zu Zeiten, als der Begriff »Spiritualität« geprägt wurde, völlig selbstverständlich war, ja selbstverständlicher als das Vorhandensein der materiellen Welt, dass es göttliche Kräfte gibt, ist es in unserer Zeit genau andersherum (Taylor 2007). Niemand zweifelt am Vorhandensein der äußeren, materiellen Realität und wenn dies jemand tut, kommt er oder sie rasch in die Psychiatrie. Aber viele zweifeln am Vorhandensein einer Wirklichkeit(1), die über das Sicht-, Fühl- und Messbare hinausgeht. Daher wird es ein Teil dieser Arbeit sein, gewissermaßen Begriffs- und Seelenarchäologie zu betreiben. Freud(1) hat ja bekanntlich die psychotherapeutische Arbeit mit Archäologie verglichen: Man muss graben, stützen und sichern, vorsichtig, um die verborgenen Schichten des Unbewussten ans Tageslicht zu holen. Ich erweitere dieses Bild auf die Realität der Transzendenz(1), also einer Wirklichkeit im Inneren oder Jenseits des Sichtbaren, Greifbaren und Messbaren. Witte (2010) verwendet hierfür den schönen Begriff der »Ciszendenz«, weil diese Wirklichkeit »immer schon« von sich aus in unser Leben und unsere Wirklichkeit hineinreicht. Wir müssen graben, um diese verdeckten Schichten freizulegen: unser Innen, das Innen der Welt, die Realität, die mit dem Begriff »Spiritualität« gemeint ist.
Es wird also im Folgenden darum gehen, diese Frage je neu aufzuwerfen: Gibt es jenseits, »hinter«, »innerhalb« oder in der Tiefe der uns erscheinenden materiellen Wirklichkeit noch eine andere, »transzendente«, »cis-zendente«, die uns das Recht gibt, von Spiritualität(1) in dem Sinne zu sprechen, dass damit das Wirken dieser Wirklichkeit gemeint ist? Ich bin selbstverständlich der Ansicht, dass diese Frage zu bejahen ist, sonst würde ich mir kaum die Mühe machen, dieses Buch überhaupt zu schreiben. Aber lässt sich diese Ansicht in unserer Zeit begründen? Muss man, wenn man sie teilt, einen Teil der wissenschaftlichen Ausbildung verraten? Ich glaube: Nein, muss man nicht und werde dafür auch Argumente und Belege liefern. Warum sind dann die akademische Psychologie(1) im Besonderen und die Naturwissenschaft(1) im Allgemeinen diesem Themenbereich abhold? Warum liegt gleichsam ein Tabu auf ihm? Auch dazu werde ich Klärungshilfen anbieten. Die kurze Antwort auf diese Frage, die ich schon einmal vorwegnehmen kann, lautet: Es gibt kein einziges gedankliches System in der Welt und kann es aus prinzipiellen Gründen nicht geben, das die Begründung für seine Fundamente und Voraussetzungen aus sich selbst hat. Immer muss es auf Annahmen oder Voraussetzungen zurückgreifen, die außerhalb seiner selbst liegen und nicht mehr mit den Mitteln des Systems belegt oder bewiesen werden können.
Das bedeutet: Die Naturwissenschaft(2) muss unterschieden werden in das Projekt der Erforschung der Natur mit Methoden, die über die Jahrhunderte gewachsen sind, und in eine Weltanschauung, die viele daraus ableiten. Die Erkenntnisse der Wissenschaft(1) sind, im Rahmen der menschlichen Begrenztheit, meistens zuverlässig – lose Dachziegel fallen eben vom Dach nach unten und nicht in den Himmel, Züge fahren auf ihren Schienen und nicht daneben und mit einem Anästhetikum kann man relativ zuverlässig das Bewusstsein(1) ausschalten, wenn man weiß, wie. Aus dieser Tatsache leiten viele Zeitgenossen ab, dass das, was die Naturwissenschaft untersucht und herausgefunden hat, das Einzige ist, was für uns und unser Leben Belang hat. Diese Haltung hat mit Wissenschaft selbst nichts mehr zu tun, sondern ist eine Weltanschauung, die unterschiedlich benannt wird. Manche sagen dazu »naturwissenschaftliche Weltanschauung«(1), korrekterweise ist dies eher als »Szientismus«(1)zu bezeichnen, also als die Anschauung, dass die Wissenschaft, die Naturwissenschaft zumal, ausreichend ist, um alle Probleme der Welt und von uns Menschen zu lösen. Häufig nennen sich die Vertreter solcher Haltungen auch »Naturalisten«. Dahinter steckt die Idee, dass die materielle Natur in ihrer derzeit verstandenen Form und Entwicklung, also inklusive der Evolution(1), die sie hervorgebracht hat, und der Naturwissenschaft, die sie beforscht, ausreichend ist, um die Welt zu erklären und unser Leben zu informieren. Der Philosoph Bas van Fraassen nennt Menschen, die so innerhalb des Horizonts der gegenwärtigen Naturwissenschaft verwurzelt sind, dass sie sich gar nichts anderes mehr vorstellen können, »naturalistic natives« (van Fraassen 2016). Indigene Völker, beispielsweise im Amazonasgebiet, haben ihre Weltanschauung, in der Götter und Dämonen vorkommen und die Seelen in einen jenseitigen Bereich wandern und von dort wiederkommen (s. z. B. Garve 2012). Dies lehrt ihr Schöpfungsmythos und anders kann es in ihren Augen gar nicht sein. So ähnlich sind die meisten Menschen, vor allem in der jüngeren Generation, im Rahmen unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes aufgewachsen, dass sie selten darüber reflektieren, welche Begrenzungen eine solche Sicht hat. Daher könnte man »naturalistic natives« als »Eingeborene der naturalistischen Weltanschauung«(1) übersetzen. Oft nennen sich solche Menschen auch »new atheists – neue Atheisten« und meinen damit, dass sie anders als die alten Atheisten bessere Argumente haben, warum ihre Haltung nicht nur möglich, sondern richtig sei. Fast immer ist diese Haltung auch gekoppelt mit dem Glauben(1), dass die äußere materielle Wirklichkeit die Einzige sei, die es gibt und die relevant ist.
Um den Begriff der »Spiritualität« zu erklären und um zu verstehen, warum er heute erklärungsbedürftig ist, müssen wir auch die Voraussetzungen dieser naturwissenschaftlichen Weltanschauung(2) etwas analysieren. Dazu jedoch später. Fürs Erste so viel: Wissenschaft(2) als Methode (in meiner Terminologie »Wissenschaft 1«) ist von naturwissenschaftlicher Weltanschauung (»Wissenschaft 2«) zu unterscheiden. Diese naturwissenschaftliche Weltanschauung ist selbst keine Wissenschaft, sondern eine moderne Religion(1). Auch das werde ich noch etwas begründen. Diese meine Meinung hängt eben damit zusammen, dass sich selbst Naturwissenschaft(3) auf Voraussetzungen verlassen und sie »gläubig« annehmen muss, wenn sie funktionieren will. Und dieses gläubige Akzeptieren der Voraussetzungen ist der Struktur nach nicht sehr verschieden vom Glauben eines religiösen Menschen. Genauer und argumentativ stringent habe ich das in meinem Galileo-Report ausgeführt (Walach 2019a) und werde hier auf diese Gedanken zurückgreifen.
Mein Kollege Steve Taylor (1)hat diesen Sachverhalt in einem unschlagbar guten Bonmot in einem Gespräch mir gegenüber einmal zusammengefasst: »A Catholic knows he is a Catholic. A Muslim knows he is a Muslim. A Jew knows he is a Jew, and a Hindu knows he is a Hindu. Only a materialist doesn’t know he is a materialist. He thinks he is a scientist.«
Wir werden also in den ersten theoretischen Kapiteln diese Fragen klären müssen, um intellektuell aufrichtig und der menschlichen Erfahrung gemäß über Spiritualität(2) im Allgemeinen und dann vor allem im Kontext der Psychotherapie(1) sprechen zu können. Meine Haltung hierzu ist, dass es keinen systematischen, sondern nur einen historisch-kontingenten Grund dafür gibt, warum dieser Themenbereich aus dem Wissenschaftskontext bis heute ausgegliedert blieb. Ich glaube, es wäre gut, wenn sich das ändern würde, und zwar deswegen, weil dann das menschliche Erfahrungsspektrum breiter abgebildet wird und wir damit möglicherweise auch eine Ressource(1) neu entdecken, die uns helfen kann, etwa bei der Lösung psychischer Probleme, aber auch im gesellschaftlichen Bereich.
Denn die Basis für Spiritualität und für Wissenschaft(3) ist dieselbe: menschliche Erfahrung. Während sich die Erfahrung, die das Rohmaterial für naturwissenschaftliche Erkenntnisse darstellt, vor allem auf die äußere, materielle Wirklichkeit bezieht, ist die Basis für spirituelle Erfahrung eine Erfahrung des »Innen«, des Bewusstseins, oder, anders ausgedrückt, eine Erfahrung der Welt von innen her. Solche »spirituellen Erfahrungen«(1)machen das Rohmaterial aus, aus dem über die Zeiten hinweg Religionen und geistige Strömungen entstanden sind. Sie könnten im Prinzip wissenschaftsfähig werden und sind es in manchen Kulturen auch; wenn wir nämlich im Bereich der Wissenschaft, der Psychologie(2) zumal, eine Methode entwickeln würden, die solche inneren Erfahrungen methodisch-kritisch aufbereitet. Das steht allerdings auf meinem Wunschzettel für die Zukunft der Psychologie. Immerhin hat die Psychologie einmal so begonnen – als Versuch der methodisch kontrollierten Introspektion – und ist damit zunächst kläglich gescheitert (Boring 1953; Lyons 1986). Ist es also nicht etwas uninformiert von mir, wenn ich mit dieser scheinbar abgehakten Thematik neu daherkomme? Ich glaube nicht, ich werde auch versuchen, dies plausibel zu machen. Akzeptieren wir fürs Erste, dass innere Erfahrung, die Welt oder das »Innere« der Welt, durch das Bewusstsein(2) erfahren, einen möglichen Zugang zur Wirklichkeit darstellt, dann ist Spiritualität nicht nur Privatvergnügen, sondern dann kann sie auch potenziell wichtige Impulse für Wissenschaft und Gesellschaft liefern. Das habe ich in verschiedenen Texten dargestellt, die ich in diesem Buch kurz streifen werde (Walach 2015, 2017c).
Eigentlich treffen sich Wissenschaft(4) und Spiritualität(3) an diesem Punkt. Denn jede wirklich innovative Wissenschaft stellt nicht nur Daten zusammen wie in einem Briefmarkenalbum der Faktizität, sondern ordnet sie, gewichtet sie und stellt sie in Zusammenhang. Dies geschieht auf der Basis einer Theorie, die wir zunächst einmal als wahrscheinlich oder denkbar annehmen. Woher aber kommt die Theorie? Woher haben Einstein(1), Heisenberg(1), Freud(2) oder Skinner(1) ihre Ideen genommen? Ich schlage vor, den kreativen Einsichtsprozess, der zu einer wissenschaftlichen Theorie führt, einer spirituellen Erfahrung(2) als strukturell ähnlich zu verstehen. »Ideen kommen von Gott«(1), pflegte Einstein zu sagen (Brian 1996, S. 61). Damit meinte er wohl, sie kommen aus einem Bereich, über den wir keine Verfügung haben, denn Einstein war ja Agnostiker und glaubte nicht an einen persönlichen Gott. Man könnte auch sagen: Die Ideen oder Einsichten, die einer guten wissenschaftlichen Theorie zugrunde liegen, sind, so ähnlich wie spirituelle Erfahrungen, »Ein-fälle«; phänomenologisch handelt es sich dabei um eine innere Erfahrung.
Ich bin also der Meinung, dass eigentlich mehr Gemeinsamkeiten zwischen Wissenschaft(5) und Spiritualität(4) bestehen, als wir denken. Der Konflikt oder die scheinbare Unvereinbarkeit liegt, wie Alvin Plantinga(1) richtig und unschlagbar gut analysiert hat, nicht zwischen Spiritualität oder Religion(2) und Wissenschaft, sondern zwischen Wissenschaft und der Religion des Szientismus(2) (Plantinga 2011). Der Konflikt liegt zwischen einer Religion des Naturalismus(1) oder Materialismus(1) und anderen Religionen oder zwischen Wissenschaft als Weltanschauung und Spiritualität, nicht aber zwischen Spiritualität und Wissenschaft. Das ist begründungsbedürftig und ich werde dazu einige Daten und Argumente anführen. Ich betrete also hier einen Pfad der »Naturalisierung der Religion«, der gleichzeitig einer der »Spiritualisierung der Wissenschaft« ist. Ich habe das andernorts ausführlicher dargestellt (Walach 2020b). Hier nur so viel: Religion(3) im eigentlichen Sinne war und ist immer für die Wissenschaft und ihre Befunde offen. Sie kann gar nicht anders. Denn für jede Religion, die ich kenne, sind göttliches Wirken und menschliches Wirken nicht getrennt. In der christlichen Religion ging und geht es immer darum, dem Wirken des Heiligen Geistes in der Welt nachzuspüren und ihm Raum zu geben, und dazu gehört auch die Wissenschaft. Deshalb ist es auch Unfug und schlecht informierter Theologie geschuldet, wenn manche religiös-fundamentalistischen Kreise einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion aufbauen wollen. Sie spielen damit dem szientistischen Narrativ in die Hände, das seinen Gründungsmythos aus diesem angeblichen Konflikt schöpft.
Daher muss sich jede Religion(4) den Befunden der Wissenschaft(6) öffnen. Und wenn die Wissenschaft entdeckt hat, dass die Evolution(2) eine wichtige Kraft der Entwicklung darstellt, dann gilt es, diesen Befund in bestehende Denkweisen zu integrieren. Auf einem anderen Blatt steht, dass auch das Narrativ von der sich selbst organisierenden Evolution seine Lücken hat, dass unklar ist, was genau die treibenden und organisierenden Kräfte sind und wie man sich Ausgang und Anfang des Prozesses vorzustellen hat (Hands 2015). Sind wirklich Kampf und Wettbewerb die treibenden Kräfte (Pinker 2018)? Oder sind nicht am Ende mindestens so viel Kooperation und Liebe im Spiel, wie das schon Pierre Teilhard de Chardin beobachtet hat (Dobzhansky 1968; Teilhard de Chardin 1964)? Es gibt, scheint mir, noch jede Menge Platz in der Interpretation der Befunde der Wissenschaft, die Raum und Aufgabe für jede Religion bereitstellen. Spiritualität, Religion und Wissenschaft sind also keine Gegensätze. Spiritualität hat es mit der inneren Erfahrung von Menschen zu tun, aus der letztlich die Religion entsteht. Wissenschaft hat es mit den raum-zeitlichen Erfahrungen der Menschheit zu tun, aus denen unser durchaus immer wieder revidierbares und historisch auch immer wieder revidiertes Wissen von der Welt entsteht. Die drei Begriffe bauen sozusagen aufeinander auf oder sind dialektisch aufeinander bezogen. Die Basis sowohl von Wissenschaft als auch von Religion sind Erfahrungen: Innere Erfahrung, die menschliche Spiritualität, nährt die Religion, Erfahrung der äußeren Welt nährt die Wissenschaft. Insofern wäre es klug, keine Spaltung zwischen diese Begriffe und Bereiche zu treiben, sondern sie als sich gegenseitig bereichernde Domänen aufzufassen. Jede Domäne hat ihren eigenen Bereich und daher sind sie auch nicht einfach als Begriffe und Praktiken auszutauschen. Sie folgen ihren je eigenen methodischen Prinzipien und haben ihre je eigene innere Logik. Es ist nützlich, sie zu kennen und zu verstehen. Es ist ein bisschen so, wie wenn man drei Sprachen spricht. Wer Latein, Englisch und Deutsch kann, der weiß, dass jede dieser drei Sprachen andere Qualitäten und andere grammatikalische Strukturen hat. Jede Sprache kann auch in anderen Bereichen jeweils unterschiedlich gut Sachverhalte darstellen und manches bleibt unübersetzbar. Ein Rilke-Gedicht in Latein ist ziemlich schwer vorstellbar und bereits auf Englisch macht es Probleme. Heidegger in Deutsch zu lesen ist schon nicht leicht, aber eine englische Heidegger-Übersetzung ist eigentlich ein Unding. Die Klarheit des Denkens von Thomas von Aquin(1) oder William Ockham lässt sich faktisch nur im originalen Latein deutlich sehen. So ähnlich ist es hier auch: Wissenschaft, Spiritualität und Religion sind auf unterschiedliche Domänen der Wirklichkeit bezogen. Man kann zwar sagen, diese Domäne interessiert mich nicht, genauso wie man sagen kann: Deutsch brauche ich nicht. Diese Haltung nahm bekanntlich der Soziologe Max Weber gegenüber der Religion ein, als er sagte, er sei »religiös unmusikalisch« (Will 2009). Aber zu sagen, diese Domäne sei irrelevant (weil ich kein Deutsch kann), das ist je nach Standpunkt wissenschaftliche oder religiöse oder spirituelle Überheblichkeit(1). Insofern geht es mir hier um den Nachweis, dass jedes dieser Gebiete unterschiedliche Geltungsbereiche hat und in sich sinnvoll und wichtig ist.
Für den Zweck dieses Buches ist auch Religion(5)am Rande wichtig. Denn in ihr drückt sich organisierte Spiritualität aus. Religion macht aber nicht den Schwerpunkt meines Interesses aus. Sie ist insofern wichtig, als dass sie im Guten wie im Schlechten ins Leben der Menschen eingreift. Manche sind von einer lebensfeindlichen Interpretation der Religion für ihr Leben gezeichnet (Ringel & Kirchmayr 1986). Manche erleben in der Religion ihren Halt. Das sollte für Therapeuten nicht irrelevant sein, denn, wie Kenneth Pargament(1) beobachtet hat, Menschen geben ihre Religion nicht an der Garderobe ab, wenn sie das Therapiezimmer betreten (Pargament 2007). Vielmehr prägt Religion oftmals ihr Leben, in den USA vermutlich mehr als bei uns in Mitteleuropa; aber auch hier kann es durchaus bedeutsam sein, zu wissen, wie stark jemand religiös gebunden ist und welche Rolle Religion in seinem Leben spielt oder gespielt hat.
Aber für die Grundposition meines Ansatzes ist die begriffliche Trennung zwischen Religion(6) und Spiritualität wichtig. Denn Religion ist eine Struktur, die stark kognitiv, manchmal auch erfahrungsmäßig verankert ist. Treffen sich spirituelle Erfahrung(3) und Religion in einer gelebten und erfüllten Religiosität, dann ist das vermutlich optimal. Aber das ist häufig nicht der Fall. Oft sind Menschen eben religiös, weil es bei ihnen zu Hause so Sitte war oder weil dies zum Vollzug des Lebens gehört wie die Mitgliedschaft bei der freiwilligen Feuerwehr. Ich will solche Lebensvollzüge nicht als minderwertig dargestellt sehen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass dies nicht der Hauptfokus meines Anliegens ist. Denn, ich wiederhole, das Zentrale an einer gelebten Spiritualität ist die Erfahrung.
Und eines der zentralen Veränderungsmomente in der Psychotherapie(2) sind ebenfalls Erfahrungen, neue korrigierende Erfahrungen beispielsweise oder die Wiederbelegung und Integration einer schmerzhaften Erfahrung. Genau auf diesem Terrain treffen sich Spiritualität(5) und Psychotherapie; denn spirituelle Erfahrungen(4) können häufig bei der konstruktiven Korrektur eines Lebensentwurfs helfen, manchmal sind sie sogar die Basis, wie das etwa für das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker begründend war (Cook 2009). Bisweilen erlauben Erfahrungen im Bereich der Psychotherapie erst wieder eine volle Zuwendung zum Leben und damit auch zu dessen spirituellen Quellen(1). Psychotherapie und Spiritualität ergänzen einander, wäre meine Behauptung. Denn jede tief sitzende Wunde im seelischen Gerüst eines Menschen verunsichert auch den Zugang zum spirituellen Lebensgrund. Und der verschüttete Zugang zu unseren spirituellen Quellen stellt nicht selten den Grund für psychisches Leiden dar, das als existenzielle Angst, tiefe Depression(1) oder Verlust des Sinnes aufscheint. Daher, so eine meiner Leitideen, sind vermutlich psychotherapeutisches Bemühen und spirituelle Arbeit wie die Holme einer Leiter. Beides ist vonnöten, damit Menschen wachsen und gedeihlich leben können. Psychotherapie beschränkt sich typischerweise darauf, einen Holm zu reparieren, und sehr häufig ergibt sich daraus auch das organische Verlängern des anderen Holms. Manche Menschen schaffen es, durch spirituelle Eigenarbeit(1) – etwa indem sie eine Meditationspraxis oder eine andere spirituelle Praxis(1) beginnen –, auch ihre psychischen Probleme in den Griff zu bekommen. Dann zieht die spirituelle Arbeit die innere therapeutische gleichsam hinterher.
Aber häufig benötigen Menschen eben beides. Viel ist darüber diskutiert worden, ob es zulässig sei, Spiritualität und Psychotherapie zu vermischen (Utsch 1998, 2005, 2014; Utsch et al. 2017). Ich rede hier nicht der Vermischung das Wort, sondern der Einsicht, dass beide Domänen für menschliches Gedeihen hilfreich sind, jede auf ihre Weise. Der Psychotherapie kann es manchmal hilfreich sein, wenn Menschen gleichzeitig innere spirituelle Arbeit verrichten. Und für spirituelles Weiterkommen ist oftmals eine solide psychotherapeutische Arbeit nützlich. In der transpersonalen Psychotherapieszene und in Kreisen des spirituellen Suchens wird oft vom »spiritual bypassing«(1) gesprochen. Damit ist gemeint, dass Menschen versuchen, nötige psychotherapeutische Veränderungen, etwa die Auseinandersetzung mit einer traumatischen Erfahrung, zu vermeiden, indem sie sich vertieft in eine spirituelle Praxis(2) begeben und lange Meditationsretreats einer soliden psychologischen Arbeit vorziehen. Ein Meditationslehrer meinte dazu neulich lakonisch: »Wer nach dem dritten 30-Tage-Retreat immer noch Schweißausbrüche bekommt, wenn seine Mutter am Telefon ist, der sollte vielleicht lieber eine Psychotherapie machen.« Wer aber nach der dritten Psychotherapie immer noch am Sinn des Lebens verzweifelt, der sollte vielleicht mal ein Meditationswochenende ausprobieren. Meine Haltung ist hier pragmatisch und mein Plädoyer ist für gegenseitige Offenheit. Nur in seltenen Fällen wird eine Psychotherapeutin beides ermöglichen können, solide psychologisch-therapeutische Arbeit und Hilfe bei der Integration von Spiritualität, wiewohl dies aus meiner Sicht das Ideal wäre. Aber es genügt schon, wenn der Therapeut offen und hellhörig ist für die existenziell-spirituelle Not(1) seiner Klientin oder wenn die Meditationslehrerin versteht, dass bei einer spirituellen Aspirantin nicht die nächste Stufe des Kundalini-Yogas(1)(1) angezeigt ist, sondern vielleicht eine Psychotherapie. In diese Richtung will ich aufklären und informieren.
Vielleicht ist das Wichtigste für Psychotherapeutinnen, dass sie Zugang zu ihren eigenen spirituellen Quellen bekommen und wissen, wie sie diese finden können, etwa um sich gegen Ausbrennen und Leere zu schützen. Aber auch, um selbst in ihrer Arbeit erfüllter und effizienter zu werden. Wegweisend ist für mich dabei eine Studie aus der Therapieklinik in Simbach am Inn (Grepmair et al. 2007). In dieser Studie wurden verhaltenstherapeutische Psychotherapie-Ausbildungskandidaten, die in der Klinik tätig waren, auf zwei Gruppen zufällig verteilt. Die eine Gruppe meditierte am Morgen eine Stunde, die andere tat das nicht. Die Patienten der Therapeuten, die morgens meditiert hatten, waren mehr als dreimal so erfolgreich, obwohl die Patienten nichts von dieser morgendlichen Übung ihrer Therapeutinnen wussten. Woran das wohl lag? Jedenfalls gibt es einige Hinweise darauf, dass Spiritualität für Therapeuten selbst eine Quelle darstellt. Dabei müssen sie weder ihren normalen therapeutischen Stil ändern noch spirituelle Themen in ihre Therapien aufnehmen oder esoterische Rituale(1) anwenden. Um all das geht es nicht. Aber der Zugang zu den eigenen spirituellen Quellen kann nicht nur Menschen, die auf der Suche nach einem Sinn sind, helfen, sondern auch Therapeuten auf der Suche nach Rückhalt und Inspiration. Auch das soll zur Sprache kommen.
Ich will gleichfalls praktische Beispiele und Übungen einstreuen, die zeigen sollen, wie man mit spirituellen Themen, Übungen und Bildern arbeiten kann. Ich denke, dass bei manchen Patienten und für manche Therapeutinnen eine solche Arbeit durchaus sinnvoll ist. Wann, wie, für wen und unter welchen Umständen werde ich diskutieren.
Die Darstellung werde ich mit einigen Fallbeispielen illustrieren. Manche Beispiele stammen von mir, andere von Kollegen, die sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Diese sind auch mit deren Namen gekennzeichnet. Am Ende des Buches sind die Autorinnen und Autoren der Fälle nochmals ausführlich aufgeführt. Auf diese Art wird auch die Vielfalt von Möglichkeiten und Ansätzen sichtbar. Denn mehr Therapeutinnen und Therapeuten, als wir denken, haben entweder durch ihre persönliche Praxis oder durch ihre Weiterbildung Zugang zur Spiritualität(6) und machen damit Erfahrungen. Allen Kolleginnen und Kollegen, die mir durch die Zusendung ihrer Fälle geholfen haben, danke ich sehr herzlich.
Zum Schluss noch ein paar Worte zu meinen eigenen Quellen und damit zu meiner Kompetenz, die gleichzeitig Worte des Dankes sind.
Ich habe gegen Ende meines Studiums der Psychologie(3) in Freiburg, das ich 1984/85 mit dem Diplom abschloss, Bekanntschaft mit der Psychosynthese Roberto Assagiolis(1) gemacht und beschlossen, darin eine Ausbildung zu machen, obwohl sie damals wie heute noch in keiner Weise als psychotherapeutische Ausbildung anerkannt war. In dieser Ausbildung habe ich viel über Licht(1)- und Schattenseiten der spirituell-therapeutischen Arbeit gelernt. Besonders hilfreich waren für mich die Elemente der Gestalttherapie(1) unter Judith Brown, die sozusagen noch einen Originalgeschmack von Fritz Perls transportierten, dessen Schülerin Judith war. Aber auch die Arbeit mit Piero Ferrucci und Diana Whitmore, die selbst noch Schüler Assagiolis waren, hat mich sehr geprägt. Ich habe am Ende meiner dreijährigen Ausbildung festgestellt, dass bei aller kreativen Arbeit und bei allen Einsichten die klinisch-diagnostische Fundierung in der Psychosynthese zu kurz kam, und mich daher in eine siebenjährige Supervisionsanalyse bei Dr. Theo Glantz begeben, einem Analytiker klassischer und Jung’scher Prägung. Mit ihm habe ich die Fälle, die ich damals begleitete, in enger Supervision besprochen. Dort lernte ich sehr viel über das therapeutische Handwerk, vor allem Übertragungsprozesse(1) zu verstehen und zu analysieren. Vermutlich hat mich diese Arbeit am tiefsten geprägt.
Meinen eigenen spirituellen Standpunkt hatte ich schon Jahre zuvor erworben, durch meine Erfahrungen, die ich vor allem im Kontext von systematischen Meditations- und Kontemplationsgruppen und -kursen gemacht habe. Da waren zunächst die Meditationsgruppen am Maria-Ward-Haus in Augsburg, wo ich als streunender Jugendlicher mit 16 Jahren eine geistige Heimat und bald auch erste Erfahrungen fand. Dafür danke ich Ilsetraud Köninger. Dies legte die Basis für eine Meditationspraxis in der Tradition der Exerzitien des Ignatius von Loyola, die mich von 1976, als ich Abitur machte, bis 1983 inspirierten. In diesem Kontext sind meine damaligen Begleiter Rüdiger Funiok SJ und Wolfgang Müller SJ dankend zu nennen. Die dreißigtägigen Exerzitien, die ich 1981 machte, waren für mich eine zentrale Erfahrung, die mich immer noch prägt. Allerdings wurde mir durch meine damaligen Erfahrungen auch die Tür zu einer anderen Form der Spiritualität(7), einer eher ungegenständlich-schweigenden Form der Meditation(1), aufgestoßen, was mich schließlich zum Zen(1) führte, wo ich seit dieser Zeit und seit 1985 auch formell als Schüler beheimatet bin, wofür ich Niklaus Brantschen SJ danke. Er hat seine Ausbildung im Rahmen der Sanbo-Kyodan-Linie von Yamada Roshi gemacht und von Tetsugen Glassman Roshi die volle Inka, also die Ermächtigung, eine eigene Linie zu gründen, erhalten. In dieser Tradition habe ich gelernt, dass die Methodik des schweigenden Sitzens und der Sammlung ideell mit allen möglichen Formen der Religiosität kompatibel ist. All diese Erfahrungen haben mich gelehrt, dass man Erfahrungen und ihre Interpretation begrifflich trennen muss. Wahrscheinlich die allermeisten Erfahrungen lassen sich, mit ausreichender Kenntnis von Texten und Tradition, sowohl christlich, buddhistisch als auch entlang einer Vedanta(1)-Tradition interpretieren. Vermutlich ist es nötig, dass sich jedermann irgendwann auf eine bestimmte Tradition einlässt. Nur so kann man auch die zu einem spirituellen Leben gehörenden Rituale(2), Feiern und praktischen Aspekte ausreichend erleben und schätzen. Aber wer dies aus einem Erfahrungshintergrund heraus tut, weiß, dass solche Dinge kontingent sind, d. h. sie sind zufälligerweise so und könnten auch anders sein. Es ist zufälligerweise so, dass ich im katholischen Augsburg aufgewachsen und bei Benediktinern in die Schule gegangen bin und daher eine relativ solide katholische Sozialisation hinter mir habe – die ich übrigens durchaus einmal für ein paar rebellische Jahre an den Nagel gehängt habe, bis mich meine eigenen Erfahrungen eines Besseren belehrten. Spirituelle Erfahrungen(5) hingegen sind menschliche Grundkonstanten, bei denen nur die Umstände, nicht die Erfahrung selbst kontingent sind. Ob ich sie heute mache oder mit 23 oder mit sechs Jahren oder gar nicht, das ist kontingent. Aber das, was ich erfahre, nennen wir es einmal den Seinsgrund, um mit Albert zu sprechen, der das letztlich von Meister Eckhart übernommen hat (Albert 1974), das ist nicht mehr kontingent. Kontingent ist, wie ich darüber spreche und denke. Denn das werde ich irgendwann einmal tun (müssen). Und dann fällt die multiplexe und vielschichtige Erfahrung ins Zweierlei der ausschließenden Sprache, die mit »entweder – oder«, mit logischen Konstruktionen arbeiten muss, um etwas sagen zu können. Das geht bei solchen Erfahrungen nur sehr begrenzt.
Das ist auch der Grund, weswegen religiöse Texte, die von solchen Erfahrungen handeln, oder Schriftsteller, die solche Erfahrungen transportieren wollen, mit Paradoxien operieren oder mit kühnen Bildern. Denken wir an die Paradoxa der Bergpredigt oder die Koan-haften Jesusworte wie etwa »Noch ehe Abraham wurde, bin ich« (Joh 8,58)1 oder »Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen, und zu mir ist das All gelangt. Spaltet ein Holz, ich bin dort, hebt einen Stein hoch und ihr werdet mich dort finden« (Thomas-Evangelium, Spruch 772; Ceming & Werlitz 2004, S. 144) oder an die Bilder aus Rainer Maria Rilkes(1) »Duineser Elegien«, wo er Engel »Gelenke des Lichts« nennt (Rilke 1974 [1923], 2. Elegie, S. 15). All dies sind Versuche, die Multiplexität spiritueller Erfahrung(6) sprachlich anzudeuten. Denn erfassen kann man sie mit Sprache eben genau nicht. Das ist auch der Grund, weswegen eigentlich auf der Ebene der Erfahrung kein Streit herrscht. Der Streit beginnt nur auf der Ebene der Auslegung dieser Erfahrung, der Versprachlichung. Man könnte auch sagen: Erst auf der Ebene der Ideenformulierung, der Ideologisierung der spirituellen Erfahrung, tauchen Konflikte auf. Ich vergleiche das gerne mit dem Inhalt menschlicher Erfahrung und ihrem unterschiedlichen kulturellen Ausdruck: Trauer beispielsweise dürfte eine universelle menschliche Erfahrung sein. Aber der Ausdruck ist je verschieden. Wir in Deutschland kleiden uns Schwarz bei einem Trauerfall. In Japan trägt man weiß. In manchen Kulturen gehört lautes Weinen zum guten Ton im Fall der Trauer, anderswo hält man sich mit emotionalen Äußerungen zurück. Die Erfahrung von Liebe ist höchstwahrscheinlich überall sehr ähnlich, aber ihr kultureller Ausdruck sehr verschieden.
In diesem Sinne habe ich im Laufe meiner eigenen spirituellen Sozialisation(1) gelernt, zwischen der Erfahrung und ihrer Interpretation und Konnotation zu unterscheiden. Ich weiß, dass dies überhaupt nicht allgemein akzeptierte religionswissenschaftliche Lehrmeinung ist. Steven T. Katz z. B. vertritt wohl den Mainstream, wenn er darauf hinweist, dass man Erfahrung und Sprache nicht trennen kann (Katz 1992). Dem hielt Robert K. C. Forman aufgrund seiner empirischen Forschung entgegen, dass es so etwas wie ursprüngliche, vorsprachliche Erfahrungsmomente gibt: pure conscious events (Forman 1998, 1999). Wir werden darauf zurückkommen. Hier nur so viel: Möglicherweise hängen die unterschiedlichen Denk- und Theoriestrukturen damit zusammen, dass manche Autoren – z. B. Bob Forman und ich – von der Erfahrung ausgehen, andere stärker von der Tradition, der jüdischen zumal, die sehr stark text- und sprachgebunden ist, wie Katz etwa.
Ich bin also von meiner Herkunft in drei Welten zu Hause: Ich kenne aus eigener Erfahrung die psychotherapeutische Zunft, denn einige Jahre habe ich nach meiner Ausbildung auch so gearbeitet. Ich kenne die christliche Tradition(1) aus eigenem Erleben und ich habe über meine Zen(2)-Ausbildung viel von der buddhistischen Lehre aufgesogen. Mit der christlichen Mystik habe ich mich außerdem akademisch ausführlich beschäftigt, als ich für meine zweite Promotion in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung einen unbekannten mittelalterlichen Kartäusermystiker, Hugo de Balma, übersetzt und historisch eingeordnet habe (de Balma 2017; Walach 1994, 2009c, 2009d, 2010, 2012b). Dabei habe ich so manches über Theologie gelernt.
Wissenschaftlich habe ich mich vor allem mit der Evaluation von Komplementärmedizin beschäftigt, aber auch mit Phänomenen der Parapsychologie(1) und mit dem Themenbereich Spiritualität(8) und Gesundheit(1). Meine Arbeitsgruppe gehörte zu den Ersten in Deutschland, die sich mit Achtsamkeit(1) und Gesundheit befasste. Als ich zwischen 2005 und 2010 einen Master-Studiengang »Transpersonal Psychology and Consciousness Studies« an der University of Northampton in England aufbaute und leitete, flossen viele dieser Themen zusammen. In dieser Zeit habe ich mit Niko Kohls, Thilo Hinterberger und Siobhan Lynch etliche interessante Studien durchgeführt. Wir haben u. a. den Zusammenhang zwischen spirituellen Erfahrungen(7) und Gesundheit(2) untersucht, ein Achtsamkeitsprogramm für Studierende entwickelt und evaluiert und im Auftrag des dortigen Primary Mental Health Care Trusts Achtsamkeitsgruppen für Angst- und Depressionspatienten(2) entwickelt und angeboten. Wir haben langjährige Meditierende unterschiedlicher Herkunft mithilfe von hochauflösendem EEG in verschiedenen Zuständen untersucht und einige innovative Lehrkonzepte ausprobiert.
Das alles hat mich und meine Herangehensweise an das Thema deutlich geprägt. Das ist Chance und Begrenzung gleichermaßen. Letztere werde ich nicht überwinden, aber vielleicht durch Transparenz entschärfen können.
Abschließend noch ein paar klärende Worte: Häufig wird in unserer Kultur der raschen Klarstellungen und des ubiquitären Faktenchecks wegen, wo jeder meint, im Besitz des Wissens zu sein, rasch kategorisiert. Hier die – böse, antiquierte, verschrobene – Religion(7), da die – neue, hippe, nötige – Spiritualität(9). Da die – solide, klarerweise wahrheitsbasierte – Wissenschaft(7). Dort die – unreflektierte, gefährliche – Esoterik(1). Hier die – wissenschaftlich bewiesene, weil evidenzbasierte – Medizin, dort die – unwissenschaftliche, schlecht beforschte – Alternativmedizin(1) mit ihren spirituellen Auslegern. Hier die akademische, empirisch bestätigte Psychologie(4). Dort die Popformationen der Geistheiler und Parapsychologen.
Ich will vor solchen Kategorisierungen warnen. Zum einen habe ich in meiner Laufbahn schon so viel Unsinn und falsche Behauptungen unter dem honorigen Siegel der Wissenschaft gesehen und gelesen, bin so viel mit Interessenskonflikten, gerade der Angesehenen und Mächtigen in der Wissenschaft, konfrontiert worden, dass ich wissenschaftlichen Daten nur dann traue, wenn ich sie selbst erzeugt habe oder wenn ich sehr genaue Hinweise auf ihre Gültigkeit habe. Wissenschaft ist ein hervorragendes Instrument. Sie wird aber in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit oft überschätzt und von wissenschaftsreligiösen Journalisten sehr einseitig transportiert. Die Bruchlinien verlaufen meistens eben genau nicht entlang der erwarteten Kanten: Manche alternativmedizinische Methode ist besser beforscht als das, was die Universitätsklinik als wissenschaftlichen Standard anpreist. Mancher Heiler und Esoteriker hat einen besseren Einblick in die Wirklichkeit als der Lehrstuhlinhaber von nebenan. Wichtig sind, wie so oft, die »Unwägbarkeiten«: Ob einer ehrlich ist und aufrichtig an Erkenntnis und Wahrheit interessiert oder als Karrierist vor allem sein Fortkommen im Blick hat, ob jemand menschlich zuverlässig und treu ist oder beim leisesten Gegenwind den Kurs wechselt, ob jemand Überzeugungen hat, für die er einsteht oder mit der Meute heult: Das sind alles weiche Kriterien. Sie sind schwer zu ermitteln und nicht immer klar. Daher benötigt man eine gute Portion Unterscheidungsfähigkeit, um sich in diesem Feld zu orientieren.
Die christliche Tradition(2) kennt die »Unterscheidung der Geister«, ein Begriff, der von Ignatius von Loyola geprägt wurde, aber aus der Tradition der Wüstenväter kommt. Damit ist gemeint, dass nichts aufgrund des Inhalts oder formaler Kriterien allein zu bewerten ist. Es kommt auf den Effekt an, auf die Praxis. Eine Seelenregung, sagen wir ein Schuldgefühl, kann falsch sein, weil sie aus neurotischer(1) Schulderfahrung kommt. Sie kann aber auch echt sein und hilfreich, weil jemand eben wirklich einen Fehler begangen hat und das Schuldgefühl auf diese moralische Verwerfung hinweist. Was richtig ist, ist nicht am Gefühl selbst festzumachen, sondern muss genauer untersucht werden. So plädiere ich auch hier dafür, dass wir vorschnelle Urteile suspendieren. Was aus konventionell wissenschaftlicher Sicht als Humbug gilt – Telepathie beispielsweise –, könnte sich aus dem Blickpunkt einer spirituellen Entwicklung als ein ganz natürliches und organisches Geschehen erweisen und im praktischen Falle – etwa als Intuition(1) in der Psychotherapie – extrem hilfreich sein. Wir werden darauf zurückkommen.
Ich stelle hier meine Erfahrungen, meine Kenntnisse und meine Perspektiven zur Disposition. Sie sind nicht unerheblich, aber begrenzt. Daher wäre es mir am liebsten, wenn sie als Anstoß zum Dialog dienen würden, wenn Leserinnen und Leser sie an ihrer eigenen Erfahrung und ihren Gedanken messen. Nur dann sind sie hilfreich.
Ich werde übrigens anarchisch schreiben, manchmal weiblich, manchmal männlich und meistens in der ersten Person Plural. Was mich gerade in den letzten Jahren am meisten stört, ist »political correctness«. Ich sehe durchaus, dass Sprache auch Wirklichkeit prägt. Aber mit Gendersternchen und 3. Personentoiletten wird keine gerechtere Welt geschaffen, das geht nur mit einer Änderung der Haltung. Diese drückt sich zwar meistens sprachlich aus. Aber sie kann nicht durch sprachliche Vorschriften erzwungen werden. Genauso wenig, wie man durch gesetzliche Vorgaben Anstand erzwingen kann. Man kann konformes Verhalten erzwingen, aber keinen Anstand und Moralität sowieso nicht.
Wir leben in einer Zeit, in der man versucht, alles durch Regulierungen, Qualitätssicherung oder Vorschriften zu perfektionieren. Wir haben schon wieder eine neue Religion(8) geschaffen, Qualitätssicherung (Walach 2009a). Das beeinflusst auch die Psychotherapie(3). Political correctness ist der Ausdruck der gleichen Mentalität: Man meint, durch externe Regelwerke interne Standards erzeugen zu können, weil man denkt, der Mensch sei – nichts als – ein komplexer Computer. Dort begegnen wir unserem Thema wieder, denn die zugrunde liegende Haltung ist die einer naturalistisch-materialistischen Weltanschauung, in welcher der Mensch auch nur ein etwas komplexerer Biocomputer ist. Der muss eben nur richtig programmiert werden, heißt: erzogen, therapiert, durch Vorschriften und Qualitätssicherung reguliert werden. Insofern ist meine Arbeit hier auch Fundamentalkritik an diesem Menschen- und Weltbild. Denn ich bin leidenschaftlich der Auffassung, dass uns genau dieses Welt- und Menschenbild am Ende die Welt und die Menschlichkeit kosten wird. Yuval Noah Harari hat das mit gekonnter Präzision analysiert: Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns nur als komplexe Biocomputer sehen wollen oder ob unser Bewusstsein(3) und unser Innenleben eine eigene Seinsqualität haben (Harari 2017). Ich bin der Meinung: Ja, haben sie. Und daher ist Spiritualität(10) ein absolut unabdingbares Themenfeld für die Psychologie(5). Wenden wir uns ihr nun zu.
I
Ich definiere Spiritualität(2)(1) als Lebenshaltung, die auf Ziele und Motive ausgerichtet ist, die über die unmittelbaren Belange des eigenen Ich hinausgeht, die implizit oder explizit von der Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit(2) gespeist wird sowie Anlass zu Handlungen und Motiven gibt.
Was das bedeutet und wie sich das äußert, soll hier kurz skizziert werden; spirituelle Erfahrung(8) als Grundlage wird definiert und anhand von Beispielen beschrieben. Ich gehe davon aus, dass solche Erfahrungen die Basis von Religion(9) sind. Und weil die Grundlage von Spiritualität menschliche Erfahrung ist, ist Spiritualität eine Gegebenheit, so ähnlich wie Sexualität.
Dies ist also meine Arbeitsdefinition. Aristoteles (1)hat bekanntlich festgestellt: Definitionen kommen am Ende eines Erkenntnisprozesses zustande, wenn wir eine Sache vollständig verstanden haben. Das ist bei Spiritualität nicht der Fall. Daher ist jede Definition im Moment vorläufig und willkürlich. Meine Definitionselemente sind die Folgenden:
Spiritualität ist eine Haltung. Damit meine ich einen Stil, ein gewohnheitsmäßiges Herangehen an die Welt. Der beste Begriff für Freunde der Theologie ist der scholastische Ausdruck »habitus«, der das Gleiche auf Latein sagt. Eine Haltung ist etwas, das man sich angeeignet hat, z. B. durch Wiederholung und Erziehung oder durch willentlich-absichtliches Üben. Der Habitus eines Boxers etwa ist ein leicht geduckt-federndes Stehen. Der Habitus eines Sängers ist aufrechtes Stehen mit offener Brust und resonanter Stimme. Manchmal muss man auch Anstrengung aufbringen, um eine Haltung zu realisieren. Die Haltung der Freundlichkeit anderen Menschen gegenüber z. B. ist nicht so schwierig zu realisieren, wenn man ein freundlicher Mensch ist. Aber selbst dann wird man vielleicht auf Zeitgenossen treffen, bei denen man sich bewusst am Riemen reißen muss, um seine Freundlichkeit zu behalten. So auch hier: Manchmal wird es Zeiten und Tage geben, da muss man sich bewusst erinnern und die Haltung der Orientierung auf Ziele und Motive jenseits seiner selbst aufrechterhalten. Das ist etwa dann der Fall, wenn mich jemand vor die Alternative stellt, für wirtschaftliche oder monetäre Vorteile meine Ideale oder meine wirkliche Meinung zu verraten. »Haltung« heißt aber auch, es ist eine gewisse gewohnheitsmäßige Reaktionsbereitschaft vorhanden, die aufgrund einer bewussten Lebensausrichtung passiert. Damit unterscheidet sich das, was ich hier unter Spiritualität verstehe, von einem durch Suche nach Abwechslung gesteuerten Hüpfen von Blume zu Blume, hier mal ein Wochenendkürschen, da mal ein Selbsthilfebüchelchen und zum Drüberstreuen das spirituelle Monatsmagazin, weil es eben zum Lebensstil der Community passt, der man sich zugehörig fühlt. Das soll nicht heißen, dass das nicht alles hilfreich sein kann und unter Umständen sogar der Anfang einer ernsthaften Suche ist. Aber letztlich geht es bei Spiritualität um eine ernste, das ganze Wesen und Leben durchdringende Haltung.
Diese Haltung, so sage ich, ist über die »unmittelbaren Belange und Motive des Ich« hinausgehend. Damit ist gemeint: Spiritualität hat nicht nur mit mir zu tun. Sie hat klarerweise auch mit mir zu tun, denn ich bin ja das Subjekt, die Person, der ich Spiritualität zuschreibe oder die sie entwickeln will. Aber je mehr ich mich um Spiritualität bemühe, umso weniger kreise ich um mich selbst. Das ist das Paradox. Eine Mutter z. B. ist von Natur aus, wenn sie nicht ihre innersten Gefühle und Instinkte blockiert, auf ihr Neugeborenes ausgerichtet. Sie stillt es, auch nachts, auch wenn sie müde ist. Das ist ein natürlicher spiritueller Akt. Denn das Ziel ist nicht das Wohlbefinden der Mutter, sondern das des Kindes. Daraus ergibt sich dann aber auch das Wohlbefinden der Mutter, als Konsequenz sozusagen. Gerade in neuerer Zeit hören wir immer öfter, dass dies alles andere als selbstverständlich ist: Mütter, die ihre Kinder verwahrlosen lassen und schlechter ernähren, sind zwar sicher nicht der Normalfall, kommen aber vor, wie Michael Tsokos in einem erschütternden Bericht darlegt (Tsokos & Guddat 2014). Das zeigt, diese Orientierung ist zwar natürlich, aber nicht selbstverständlich.
Um ein anderes Beispiel zu bemühen: In Basel in der Schweiz gibt es schon eine ganze Weile sog. Quartierskompostanlagen. In kleinen, überschaubaren Quartieren kompostieren Bürger ihre Bioabfälle auf öffentlichen Plätzen, welche die Stadt zur Verfügung stellt. Das Material – Werkzeuge, Körbe, Kompostiertrommeln – kommt von der Stadtgärtnerei. Freiwillige arbeiten an den vorgesehenen Kompostiertagen, um den angelieferten Bioabfall zu kompostieren, und wer ihn bringt, spart Müllgebühren. Denn die öffentliche Müllbeseitigung ist gebührenpflichtig, strikt abhängig vom Volumen. Dort gibt es Menschen, die kompostieren, weil sie damit vielleicht 20 oder 30 Franken im Monat sparen. Es gibt aber auch solche, die das aus Überzeugung tun, weil sie nämlich aus ihrer inneren Erfahrung der Verbundenheit(1) mit der Welt spüren, dass die Schließung von Abfallkreisläufen wichtig ist. Der erste Fall hätte mit Spiritualität wenig zu tun, weil er, außer in Fällen echter finanzieller Knappheit, rein egoistisch motiviert ist, auch wenn der Effekt am Ende derselbe ist.
Es ist also meines Erachtens ein wichtiges Definitionsmerkmal von Spiritualität, dass Handlungen und Motive über die unmittelbaren Belange des Ich hinausgehen.
Woher kommt diese Haltung? Ich würde vermuten, sie entstammt, implizit oder explizit, einer Erfahrung von Transzendenz(2). »Transzendenz« ist, neben »Gott«(2), vielleicht einer der missverständlichsten Begriffe, die man verwenden kann. Gemeint ist in meinem Kontext: Die Wirklichkeit(3), die ich erfahre, zeigt sich mir als eine, die über mich selbst hinausreicht. Möglicherweise erfahre ich sie sogar als mit mir in gewisser Weise eins, die Welt beispielsweise. Aber sie ist gleichzeitig auch mehr als ich selbst. Meine Alltagserfahrung von Welt ist die von Objekten, die in meine phänomenale Umwelt gestellt sind: Schränke, Häuser, Autos, Bücher, andere Menschen. Damit sind sie auch von mir getrennt und es würde mir wenig ausmachen, wenn sie nicht da wären. Wenn z. B. jenes blaue Auto vor meinem Fenster morgen nicht mehr dasteht, stört es mich nicht, oder wenn der Nachbar vier Häuser weiter, mit dem ich nie ein Wort gewechselt habe und den ich nicht kenne, plötzlich stirbt und nicht mehr da ist, weiß ich es vielleicht nicht einmal.
Mit einer transzendenten Wirklichkeit(4) in dem hier besprochenen Sinne ist es anders. Auch diese erlebe ich vielleicht als über mich hinaussteigend und andersartig. Aber gleichzeitig hat sie einen direkten und unmittelbaren Bezug zu mir: Sie ist gleichsam die Wirklichkeit, mit der ich eins bin. Ich werde im Kapitel 3.2 ein paar phänomenologische Beispiele dafür anführen, wie sich dies konkret äußern kann. Die Wirklichkeit, die ich als transzendente beschreibe, erlebe ich auf jeden Fall als »meine«, direkt mit mir verbundene Wirklichkeit.
Wir können uns das am Beispiel des o. g. Todesfalls vergegenwärtigen: Stirbt dieser Nachbar vier Häuser weiter von mir und ich erfahre das aus der Zeitung, so werde ich vielleicht ein Gefühl des Bedauerns verspüren. Stirbt meine Mutter, so ist ihr Tod wesentlich tiefer mit meiner Existenz verbunden und ich werde deutlich andere Gefühle erleben.
Die erste und unmittelbarste Transzendenzerfahrung haben wir alle mit unsere Eltern: Sie sind ganz anders und doch irgendwie sehr tief mit uns verbunden. Sterben sie, so erleben wir meistens sehr tiefe Gefühle, auch wenn wir vielleicht so manchen emotionalen Groll gegen sie gehegt haben. Im Laufe des Lebens nabeln wir uns immer mehr ab und werden zu selbstständigen Personen. Aber wir hören niemals auf, Söhne und Töchter zu sein. Und so, wie das Kind aus der Matrix, der Mutter, allmählich herauswächst und zu einem selbstständigen Wesen wird, so sind wir in die Matrix des Seins eingeschrieben, ob wir es merken oder nicht, ob wir es realisieren oder nicht. Und so wie die Matrix der Mutter für das Kind transzendent ist, anders und doch ganz inwendig nahe, so ist auch die Matrix des Seins für uns »immer schon« nahe, ganz inwendig und gegenwärtig und doch anders, jedoch in diesem Anderssein nicht getrennt.
Diese Erfahrung kann man mehr oder weniger direkt, mehr oder weniger tief greifend machen. Die meisten Menschen haben einen erfahrungsmäßigen Zugang zu diesem Grund der Welt; wer seine Handlungen aus diesem Erfahrungsgrund heraus befruchten lässt, dem würde ich das Prädikat »spirituell« zuschreiben. Vielleicht ist dieser Erfahrungszugang sehr kreatürlich-unbewusst, ohne tiefere Reflexion; etwa wenn sich ein Gartenbesitzer dagegen wehrt, dass sein Garten mit den alten Kirschbäumen aufgekauft und einem Bauprojekt geopfert werden soll, obwohl das Geschäft vielleicht sogar sehr lukrativ wäre.
Wenn eine Haltung aus dieser Erfahrung gespeist wird, so nenne ich sie »spirituell«.
Zum Schluss ist es noch wichtig, darauf hinzuweisen, dass aus meiner Sicht zu einer echten Spiritualität auch ein Motivations- oder Handlungsaspekt gehört. Spiritualität motiviert und führt zu anderen Formen der Handlung und äußert sich in ihnen. Wenn jemand etwa einmal die Erfahrung gemacht hat, beim Überfahren einer gelben Ampel beinahe mit einem relativ früh startenden Motorradfahrer auf der angrenzenden Kreuzung zusammengestoßen zu sein, dann wird er die Motivation haben, in Zukunft zu bremsen, wenn er »gelb« sieht, und nicht noch aufs Gas zu drücken. Die Erfahrung motiviert und führt zu einer anderen Handlungsbereitschaft. So ist es auch mit spiritueller Erfahrung(9) und Spiritualität als Haltung. Wie das aussieht und wohin es führt, ist schwer zu sagen. Bei den einen wird dabei religiöses Engagement in einer Gemeinde herauskommen, bei anderen politischer oder sozialer Einsatz in einer Partei oder Gruppierung und wieder ein anderer entscheidet sich vielleicht für das Anlegen eines Guerilla-Gartens in der Baumscheibe vor dem Haus oder für eine regelmäßige spirituelle Praxis(3). Und manchmal ist es vielleicht auch mehreres davon. Zum Begriff der Spiritualität gehört also in meinen Augen auch Handlung.
Es gibt natürlich eine Reihe anderer Definitionen der Spiritualität(12), von denen ich nun einige streifen will. Man kann Definitionen in Bezug auf die folgenden Pole ordnen:
Immanenz – Transzendenz(3)
theistische Konzepte – nicht-theistische Begrifflichkeit
kognitive Konzepte – erfahrungsbezogene Konzepte
rein introvertiert – handlungs- und aktionsbezogen
Meine eigene Definition läge dabei klar auf der transzendenten, nicht-theistischen und erfahrungsbezogenen Seite des Definitionsspektrums mit einem Handlungsaspekt. Es gibt auch relativ weite Definitionen, die alles, was menschliche Sinnerfahrung betrifft, in den Bereich der Spiritualität einordnen.
Christina Puchalski, die an der George Washington University in Washington, D. C., das Institut »Spirituality and Health« leitet und einen Studiengang aufgebaut hat, verwendet eine sehr einfache Definition:
»I see spirituality as that which allows a person to experience transcendent meaning in life. This is often expressed as a relationship with God, but it can also be about nature, art, music, family, or community – whatever beliefs and values give a person a sense of meaning and purpose in life.« (Puchalski & Romer 2000, S. 129)
»Für mich ist Spiritualität das, was einer Person ermöglicht, transzendenten Sinn im Leben zu erfahren. Das drückt sich oft aus als eine Beziehung mit Gott(3), aber es kann auch mit der Natur, Kunst, Musik, Familie oder Gemeinschaft sein – alle Glaubensinhalte und Werte, die jemandem ein Gefühl von Sinn im Leben geben.«3
Eine einflussreiche Definition stamm von Chris C. Cook(1), einem der Mitbegründer der »Spirituality Special Interest Group« des englischen Royal College of Psychiatrists(1), das mittlerweile mehr als 1400 Mitglieder umfasst. Chris Cook leitet die Suchtberatung an der Durham University in England und ist sowohl Psychiater als auch anglikanischer Priester:
»Spirituality is a distinctive, potentially creative and universal dimension of human experience arising both within the inner subjective awareness of individuals and within communities, social groups and traditions. It may be experienced as relationship with that which is intimately ›inner‹, immanent and personal, within the self and others, and/or as relationship with that which is wholly ›other‹, transcendent and beyond the self. It is experienced as being of fundamental or ultimate importance and is thus concerned with matters of meaning and purpose in life, truth and values.« (Sims & Cook 2009, S. 4)
»Spiritualität ist eine eigenständige, potenziell kreative und universelle Dimension menschlicher Erfahrung. Sie kann sich im Einzelnen, aber auch in Gruppen, Gemeinschaften und Traditionen zeigen. Sie kann erfahren werden als eine Beziehung zu dem, was ganz ›innen‹, immanent und persönlich ist, also innerhalb von uns selbst und den anderen, aber auch als Beziehung mit dem, was ganz ›anders‹ ist, transzendent und jenseits des Selbst. Es wird erfahren als von entscheidender, letztgültiger Wichtigkeit und betrifft daher die Fragen von Sinn und Bedeutung im Leben, von Wahrheit und Werten.«
Wir sehen, die Elemente, die ich anfangs genannt habe, sind hier auch enthalten: Es ist eine Definition, die stark erfahrungsbezogen ist, die den transzendenten Pol betont, aber auch den immanenten, und keine theistischen Definitionselemente enthält.
Eine andere nützliche Definition, die stärker auf dem immanenten Pol verankert ist, ist jene von John Swinton:
»Spirituality is the quest for meaning, value and relationship with Self, other and, for some, with God. This quest provides an underlying dynamic for all human experience, but comes to the forefront in focused ways under particular circumstances. This quest for meaning, value and relationship may be located in God or religion, but in a secularised context such as the United Kingdom it may reveal itself in varied forms.« (Swinton et al. 2011, S. 644)
»Spiritualität ist die Suche nach Sinn, Werten und einer Beziehung mit sich selbst, mit anderen und für manche mit Gott(4). Diese Suche erzeugt eine innere Dynamik für jegliche menschliche Erfahrung, kommt aber vor allem unter bestimmten Umständen zum Vorschein. Diese Suche nach Sinn, Werten und Beziehung kann sich in Gott oder in der Religion(10) zeigen, aber in einem säkularisierten Kontext wie dem Vereinigten Königreich kann sie sich in verschiedenen Formen offenbaren.«
Ein klassisches Beispiel für eine stärker theistisch orientierte Definition stammt von Linda K. George aus den USA, die damit auch die dort stärker auf christliche oder jüdische Konzepte fokussierte Religiosität im Blick hat:
»The search for the sacred is central to definitions of religion and spirituality. This focus on the sacred helps to distinguish both spirituality and religion from other social and personal phenomena […] As used here, ›sacred‹ refers to a divine being, higher power, or ultimate reality, as perceived by the individual.« (George et al. 2000, S. 104)
»Die Suche nach dem Heiligen ist zentral für alle Definitionen von Spiritualität und Religion(11) und ihrer Abgrenzung(1) von anderen sozialen und persönlichen Phänomenen […] In der hier verwendeten Bedeutung bezieht sich ›das Heilige‹ auf ein göttliches Wesen, eine höhere Macht oder eine endgültige Realität, je nachdem, wie jemand dies wahrnimmt.«
King & Koenig (2009) haben schließlich eine Art Konsensdefinition erstellt. Sie schlagen vier Definitionselemente vor:
Glauben(2) – ein Element des Glaubens an eine Wirklichkeit(5), die über die materielle Wirklichkeit hinausreicht
spirituelle Praxis(4) – ein Praxiselement, das ohne bewusste Entscheidung oder Anstrengung geschieht
Bewusstheit (awareness), dass uns diese Wirklichkeit in unserer Tiefe berührt und angeht
Erfahrung
Diese Elemente werden von verschiedenen Definitionen in unterschiedlicher Gewichtung verwendet. Vor allem diejenigen, die aus dem amerikanischen und speziell aus dem jüdischen Kontext stammen, betonen die Bedeutung des »Heiligen – the sacred« als notwendiges Definitionselement oder verwenden den Begriff »Gott«(5). Die meisten Definitionen versuchen, diese Festlegung zu vermeiden, so wie ich auch, da sich vor allem in unserer säkularen Kultur immer mehr Menschen explizit als nicht-religiös, aber spirituell bezeichnen. Es ist nämlich durchaus eine Spannung, wenn nicht gar ein Antagonismus zwischen Religion(12) und Spiritualität zu erkennen. Ich kann und will diese Spannung nicht auflösen, aber vielleicht sind an dieser Stelle zwei vorgreifende Gedanken sinnvoll.
In meiner Konzeption ist Religion(13) die formale Struktur oder das Gefäß spiritueller Erfahrung, so ähnlich wie Reime, Sprachbilder und Rhythmus Formen eines Gedichtes darstellen und damit den Inhalt fassen. Religion ist also die historisch gewachsene Form, die spirituelle Erfahrung annimmt, wenn sie sich institutionalisiert und kulturell wirksam wird. Ihre Funktion ist es, der Spiritualität Ausdruck und Gefäß zur Verfügung zu stellen, die vielschichtigen Facetten der Erfahrung zu bewahren, zu garantieren und in Riten auszudrücken. Gleichzeitig haben diese rituellen Formen die Aufgabe, die Spiritualität und damit die ursprüngliche Erfahrung zu transportieren und zu erneuern.
Nehmen wir als Beispiel das jüdische Pessachfest(1). Bei diesem Ritual(3) fordert der Vater ein Kind auf, die Geschichte vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, danach isst die Familie gemeinsam das Mahl. Die Basis für dieses Ritual ist die historische Befreiung des Volkes Israel aus ägyptischer Knechtschaft, wie sie uns das Buch Exodus im Alten Testament beschreibt. Dahinter steht als spirituelle Erfahrung(10), welche die historische sozusagen füllt, dass die Beziehung zum Heiligen menschlich und psychologisch befreiend ist. Das Fest und das Ritual sind Ausdruck und Erinnerung zugleich und können damit auch die Erfahrung befördern. So ist es letztlich mit allen religiösen Festen und Ritualen: Sie sind das Kondensat einer spirituellen Erfahrung, die sich in einem Narrativ, in einer Geschichte oder einer sprachlich verfassten Erkenntnis ausdrückt und die in ihrem aktiven, bewussten Nachvollzug wieder diese Erfahrung erzeugen kann.
Ein anderes Beispiel: Im Rohatsu-Sesshin im Zen(3), einer Meditationsperiode in der ersten Dezemberwoche, wird der Erleuchtung des historischen Gautama Buddha(1) gedacht. Im Gedenken an dessen tagelanges Ausharren im Versenkungszustand wird an diesem historisch überlieferten Gedenktag, dem 8.12., nicht nur die üblichen acht Stunden meditiert, sondern die ganze Nacht hindurch mit vielleicht zwei Stunden Schlafenszeit von vier bis sechs Uhr morgens. Die historischen Erzählungen oder Sutren, die diese Erfahrung zum Gegenstand haben, werden zwischen den Meditationssitzungen kurz vorgelesen. Das Ritual(4) ist aus der Erfahrung entstanden, dient der Erinnerung an sie, hat aber gleichzeitig auch das Potenzial, sie wieder zu vergegenwärtigen, und zwar in jedem, der sich darauf einlässt.
Nun ist es aber mittlerweile so, vor allem in unserem christlichen Kulturkreis, dass Religion(14), die von ihren spirituellen Wurzeln nicht mehr gut genug genährt wird, von manchen Menschen als hohl und leer empfunden wird. Ihre Vertreter wirken für junge Leute oft nicht mehr sonderlich überzeugend. Ihre Narrative und Geschichten werden nicht mehr ausreichend gut übersetzt und ausgelegt. Was ursprünglich als Resultat der Erfahrung, als »Glaubensinhalt«, fast selbstverständlich war, wird plötzlich unverständlich.
Dazu ein kleines Beispiel. Der Berliner Bischof Heiner Koch berichtete in seiner Weihnachtspredigt 2019 von seiner Weihnachts-Aktion: Er packte öffentlich Weihnachtsgeschenke für Berliner Kinder ein und verteilte sie, erzählte er. Dabei habe ihn ein Kind gefragt: »Feiern Christen auch Weihnachten?« Das ist vielleicht ein gutes Beispiel dafür, wie weit in unserer Kultur mancherorts die christliche Religion(1) aus dem Erfahrungshorizont der Menschen verschwunden ist. Und weil eine solchermaßen entleerte Religion nicht mehr das Mysterium des Lebens feiert, sondern allenfalls sich selbst und seine Protagonisten, empfinden viele Menschen eine solche Religion als hohl und entfernen sich von ihr. Das heißt nun nicht, dass diese Menschen kein spirituelles Interesse geschweige denn keine spirituelle Erfahrung haben. Es bedeutet einfach, dass sie ihre Erfahrung nicht mehr mit der gängigen Religion in Verbindung bringen können und sie nicht mehr in ihr ausgedrückt empfinden.
Daher scheint mir eine möglichst säkulare Definition und Interpretation von Spiritualität mindestens für unseren Kontext und speziell im Rahmen der Psychologie(6) und Psychotherapie(4) sinnvoll. Damit soll nicht einer wie auch immer gearteten Trennung zwischen Spiritualität und Religion(15) Vorschub geleistet werden, sondern einfach die empirische Tatsache anerkannt werden, dass viele Menschen diese Trennung empfinden und in ihrem Leben realisieren.
Wollen wir an dieser Stelle einen Moment pausieren und darüber nachdenken, was dieser Sachverhalt und was der missverständliche Begriff »Gott« bedeuten. Der transzendente Grund, Gegenstand einer spirituellen Erfahrung, ist als Erfahrungsgegenstand universell, meine ich. Allerdings sind die Beschreibung und Fassung dieser Erfahrung historisch extrem vielfältig, weil die Erfahrung so vielschichtig und multiplex ist, also äußerst viele Facetten hat. Kulturelle, politische, historische, linguistische, ökonomische Bedingungen und vermutlich viele andere mehr gehen in die Fassung der Erfahrung ein. Beispielsweise wird ein jüdischer Rabbiner um die Zeitenwende, wie der historische Jesus(2), eine solche Erfahrung völlig anders ausdeuten als ein griechischer Philosoph des 3. Jahrhunderts n. Chr., der Neuplatoniker Plotin(1)