Psychologie - Harald Walach - E-Book

Psychologie E-Book

Harald Walach

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Beschreibung

Dieses Werk zeigt anschaulich auf, welche historischen Entwicklungen zur Psychologie geführt haben, welche philosophischen Grundthemen in ihr neu vereinigt und verhandelt werden und welche wissenschaftstheoretischen Strömungen innerhalb der Psychologie aufgegriffen worden sind. Hierbei werden auch Darstellungen zur Phänomenologie berücksichtigt. Das Buch schließt mit einigen Überlegungen zu den wesentlichen ethischen Grundproblemen und ihrer Praxisrelevanz für therapeutisch und in der Forschung tätige Psychologen. Der Autor legt mit diesem Werk einen informativen Grundlagentext vor, der Studierenden der Psychologie beim Einstieg ins Studium behilflich sein soll, aber auch jenen, die zu einem späteren Zeitpunkt ein vertieftes Verständnis der Thematik gewinnen wollen.

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Der Autor

Dr. Dr. phil. Harald Walach ist Professor für Verhaltenswissenschaft an der Medizinischen Universität Poznan, Polen, und Gastprofessor für philosophische Grundlagen der Psychologie am Department für Psychologie der Universität Witten-Herdecke. Er hat sich intensiv mit Fragen der theoretischen Begründung verschiedener Phänomene beschäftigt, mit der Frage, wie Bewusstsein mit körperlichen Prozessen verbunden ist, und mit praktischen Fragen der Evaluation von Gesundheitsinterventionen. Er lehrt Achtsamkeit bei internationalen Medizinstudierenden an der Medizinischen Universität in Poznan und philosophische Grundlagen der Psychologie an der Universität Witten-Herdecke.

Harald Walach

Psychologie

Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und GeschichteEin Lehrbuch

4., aktualisierte Auflage

Unter Mitarbeit von Nikolaus v. Stillfried

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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4., aktualisierte Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036825-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-036826-2

epub:   ISBN 978-3-17-036827-9

mobi:   ISBN 978-3-17-036828-6

EXPERTUS INFALLIBILITER NOVIT – WER EINE ERFAHRUNG

GEMACHT HAT, HATTÄUSCHUNGSFREIE KENNTNIS

JOHANNES DUNS SCOTUS (1266–1308),

SENTENZENKOMMENTAR

 

MeMorIae Vel gratia debita magistris amicisque in via et in patria,insuper viatori in montibus, ullulo in sella imperatoris,splendori helvetico de pratu superiore, fratri thomaeconversione perfecta, hugonique de palma.

Inhalt

Einleitung

Einige Worte zur Benutzung

Danksagung

Teil I:   Das Wesentliche

1   Was ist Wissenschaft? – oder: Die Detektivgeschichte als Modell für die empirische Wissenschaft

Die Ehre des Israel Gow

Quintessenz

Literatur

2   Wissenschaft im historischen und sozialen Kontext

2.1   Absolute Voraussetzungen: Collingwood

2.2   Die soziale Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnis: Fleck

2.3   Thomas Kuhn – Wissenschaftliche Revolutionen

Zwei Beispiele: Die kopernikanische Revolution und die kognitive Wende

2.4   Wissenschaft als sozialer Prozess

Ausbildung, Prüfung, Publikationen

Eigenständigkeit und soziale Akzeptanz

Wissenschaftliche Information

Wissenschaft – Ein soziales Unternehmen

Quintessenz

Literatur

3   Psychologie: (mindestens) zwei Gesichter einer Wissenschaft

3.1   Komplementarität

3.2   Geist und Natur – zwei komplementäre Seiten in einer Wissenschaft

3.3   Das Besondere am Forschungsgegenstand Mensch

3.4   Beispiel Depression

3.5   Vorläufige Definitionen und Zusammenfassungen

Quintessenz

Literatur

Teil II: Philosophiehistorisches Propädeutikum, oder: Im Galopp durch die Philosophiegeschichte

Einführung

4   Themenvorgabe in der Antike

4.1   Thales von Milet (ca. 624 v.Chr. – ca. 546 v.Chr.)

4.2   Anaximander (ca. 610 v.Chr. – ca. 547 v.Chr)

4.3   Pythagoras (ca. 570 v.Chr. – ca. 510 v.Chr)

4.4   Heraklit (ca. 520 v.Chr. – ca. 460 v.Chr.)

4.5   Parmenides (ca. 520 v.Chr. – ca. 455 v.Chr.)

4.6   Leukipp und Demokrit (5. Jhd. v.Chr.)

4.7   Platon (ca. 427 v. Chr. – ca. 347 v. Chr.)

Ideenlehre und Höhlengleichnis

Seelenlehre

Erkenntnislehre

4.8   Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.)

Ontologie

Wissenschaftslehre und Logik

Kategorienlehre

Physik

Psychologie

4.9   Resümee

Quintessenz

Literatur

5   Spätantike, Neuplatonismus und Augustinus

5.1   Plotin (205 n. Chr. – 270 n. Chr.)

5.2   Augustinus (354 n. Chr. – 430 n. Chr.)

5.3   Pseudo-Dionysius Areopagita (5. Jhd. n.Chr.)

Quintessenz

Literatur

6   Vom Mittelalter zur Neuzeit

Frühe Gelehrsamkeit

Erste Universitäten

6.1   Thomas von Aquin (ca. 1225–1274)

6.2   Robert Grosseteste (ca. 1168–1253), Roger Bacon (ca. 1214–1292) und die ersten Anfänge der empirischen Wissenschaft

6.3   Die Aufklärung beginnt im Mittelalter

6.4   William von Ockham (1285–1349)

Ockhams Rasiermesser und die Begründung der Erfahrung

Sprachkritik

Zum Beispiel »Ursache«

Hinwendung zur Kreatur und zum Einzelnen

Quintessenz

Literatur

7   Beginn der Neuzeit

7.1   Die Renaissance

7.2   Francis Bacon (1561–1626)

7.3   Galileo Galilei (1564–1642)

7.4   Johannes Kepler (1571–1630)

7.5   René Descartes (1596–1650)

Zweifel als Methode

Mechanisierung des Lebendigen

7.6   Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)

Die Monade

Prästabilierte Harmonie

Moderner Denker

Quintessenz

Literatur

8   Newton, Hume, Kant und die Folgen

8.1   Isaac Newton (1642–1727)

Kausalität, Lokalität

Determinismus

8.2   David Hume (1711–1776)

Das Kausalitätsproblem

Das Induktionsproblem

8.3   Immanuel Kant (1724–1804)

Analyse der Voraussetzungen von Erkenntnis

Transzendentale Kategorien

Analytisch und synthetisch

Synthetische Urteile a priori und die Entstehung der Psychologie

Motor der Aufklärung und Vater der Psychologie

Ich, Autonomie, Ethik

Quintessenz

Literatur

Teil III: Geschichte der Psychologie im deutschsprachigen Raum, Wissenschaftstheorie, Ethik

9   Von der Philosophie zur Psychologie

9.1   Nach-Kantianische Wissenschaft

Idealismus

Philosophie und Naturwissenschaft

9.2   Franz Brentano (1838–1917)

9.3   Die Entwicklung der Physiologie: Helmholtz und Fechner

Helmholtz

Fechner

9.4   Wilhelm Wundt (1832–1920)

9.5   Hugo Münsterberg und die Freiburger Schule der Psychologie

9.6   Die Wiener Schule

9.7   Die Würzburger Schule und die Grundlegung der Gestaltpsychologie

9.8   Klinische Psychologie

Historische Voraussetzungen

Charcot, Bernheim und Janet

Freud und die Psychoanalyse

Wissenschaftstheoretische und epistemologische Sonderstellung

Bindungsforschung: Brückenschlag zwischen analytischer Entwicklungspsychologie und akademischer Psychologie

Psychoanalyse

Weiterentwicklungen der Psychoanalyse

9.9   Die positivistische Phase der Psychologie: Die Entwicklung des Behaviorismus

9.10 Kognitive Wende

Kritik der behavioristischen Sprachtheorie

Betonung der Kognitionen

Wahrnehmung als komplexer Akt

Erweiterung der Verhaltenstherapie

Vom verhaltenstheoretischen zum kognitionistischen Forschungsprogramm

Von der kognitiven Psychologie zu den Kognitionswissenschaften

Von der Verhaltenstherapie zur kognitiv-behavioralen Therapie

9.11 Neben der Kognitiven Wende: Andere Bedeutsame Strömungen

Existentialismus und Humanistische Psychologie

Carl Rogers und die Anfänge der Humanistischen Psychologie

Maslow und die Transzendierung der Selbstverwirklichung

Frankl: Sinnsuche als grundlegend

Die Transpersonale Bewegung

C. G. Jung

Jean Gebsers Kulturanthropologie

9.12 Exkurs: Bewusstsein, Spiritualität und Wissenschaft

Quintessenz

Literatur

10 Wissenschaftstheorie

Einführung

10.1 Was ist eigentlich Wissenschaft?

Was will Wissenschaft? Kriterien der Wissenschaftlichkeit

Wissenschaft will vorhersagen: Das Wechselspiel von Theorie und empirischer Überprüfung

10.2 Theorie: Erklärung und Begründung

Verwertung und Technik

Grundlagenforschung

10.3 Beschreibung und Erklärung

Das H-O-Schema der Erklärung

10.4 Grundlegende Begriffe und Definitionen innerhalb der Wissenschaftstheorie

Wissenschaft

Theorie

Reduktion

Hypothese und Satz

Begriff

Operationalisierung

Beispiele und Konkretisierung

Ein vorläufiges Ordnungsschema wissenschaftstheoretischer Positionen

10.5 Positivismus

Wissenschaftssprache, Logik und Unbegründbarkeit

Die »Eimertheorie« der Erkenntnis

Kritik am Positivismus: Das Induktionsproblem

Die »Theoriebeladenheit« von Beobachtungen

10.6 Kritischer Rationalismus – Popper

Kritik am Positivismus

Falsifikation als Methode

Historisches Gegenbeispiel: Eddington testet Einsteins Vorhersage

Die Erweiterungen des kritisch-rationalistischen Programms durch Lakatos

Putnams Kritik am Falsifikationismus

Falsifikationismus und statistische Hypothesentestung

Kritik am kritischen Rationalismus und am lakatosschen Programm: Feyerabends »Anarchismus«

Die Kritik der Frankfurter Schule

Kleinster gemeinsamer Nenner

10.7 Neuere Entwicklungen innerhalb der Wissenschaftstheorie

Systemtheorie

Systemordnung und Thermodynamik

Emergenz

Die Bedeutung des Kontextes

Multikausalität

Systemhierarchien: Teilautonomie und Zugehörigkeit

Theorie autopoietischer Systeme

Komplexe und chaotische Systeme

Konstruktivistische Ansätze

Verschiedene Wirklichkeiten

Unser Gehirn: Ein Wirklichkeitsgenerator

Auswirkungen in der Psychologie

Evolutionstheoretische Entwürfe

Quintessenz

Literatur

Wissenschaftstheorie: Positivismus, Kritischer Rationalismus und ihre Kritik

Systemtheorie, Komplexität und Nichtlineare Systemdynamik

Konstruktivismus und evolutionäre Erkenntnistheorie

11 Das Leib-Seele-Problem

11.1 Begriffsbestimmungen

Einfache und schwierige Probleme

11.2 Grundpositionen

11.3 Typologie neuerer Richtungen materialistischer Positionen

Identitätstheorien

Nicht-reduktiv materialistische Theorien

Funktionalismus

11.4 Dualistische Positionen

11.5 Komplementarismus

11.6 Exkurs: Lokalität und Nichtlokalität – Kausalität und Verschränkung

Nichtlokalität und Verschränktheit

Quintessenz

Literatur

12 Hermeneutik

Hermeneutischer Zirkel und Horizontverschmelzung

Wirkungsgeschichte und Tradition

Anwendung

Konkretisierungen

Quintessenz

Literatur

13 Introspektion und Phänomenologie

Hintergrund, Geschichte und aktuelle Entwicklungen

Kritik der Introspektion

Buddhismus als Inspirationsquelle

Quintessenz

Literatur

14 Ethik

Begriffsdefinition

Kurze Geschichte und aktuelle Situation

Ethik in der Wissenschaft

Datenschutz und Schweigepflicht

Experimente

Abhängigkeit

Güterabwägung

Grenzprobleme

Die Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit

Quintessenz

Literatur

15 Bausteine für eine Wissenschaftstheorie der Psychologie

Personenverzeichnis

Sachwortverzeichnis

Einleitung

 

 

Ein Buch über das Schreinerhandwerk wäre von Anfang an eine missglückte Sache. Zum einen würde es kaum etwas von dem Handwerk selbst vermitteln können. Handwerk und die damit verbundene Erfahrung kann man nur selbst ausüben und kennen, oder man kennt sie eben nicht. Zum anderen würde ein solches Buch nie die vielen Schattierungen, die vielen Eigenarten, lokalen Traditionen oder Spielformen einfangen können. Und dennoch wäre ein solches Buch über das Schreinerhandwerk eine lohnende Angelegenheit, denn es würde festhalten, was andernfalls flüssige, vergängliche Wirklichkeit wäre. In einem ähnlichen Sinne ist das hier vorliegende Buch eine überflüssige und zugleich notwendige Sache. Es wird auf keinen Fall die gelebte Wissenschaft einfangen können, dazu kommt ein Buch über Wissenschaftstheorie immer zu spät. Denn es kann nur reflektieren darüber, was bereits passiert ist und kann nur systematisieren, was Vergangenheit ist. Die lebendige, flüssige, kreative Gegenwart der Wissenschaft selbst kann sie allenfalls informierend befruchten, indem derjenige, der dieses Buch und die darin entwickelten Perspektiven kennt, vielleicht etwas anders an die Wissenschaft herangeht. Vielleicht geht der Leser oder die Leserin dann, wenn er oder sie (übrigens werden wir die Geschlechtsformen in diesem Buch anarchistisch handhaben ohne Anspruch auf politische Korrektheit) dieses Buch gelesen hat, etwas freudiger, etwas bescheidener, etwas wissender um die Gebrechlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ans Werk. Wenn das Buch dies erreicht hätte, ist schon viel gewonnen. Zum anderen ist dieses Buch auch deswegen eine flüchtige und in gewisser Weise überflüssige Angelegenheit, weil in einem Buch über Wissenschaftstheorie nie die vielen praktischen Details, die lokalen oder disziplinären Teiltraditionen eingefangen werden können. Dennoch erscheint es uns sinnvoll und notwendig, einen Gesamtüberblick zu geben. Wir haben uns also entschlossen dieses Buch trotz allem zu schreiben, weil die Gründe für die Arbeit diejenigen, die für seine Überflüssigkeit sprechen, überwiegen:

Zum einen gibt es keine wirkliche Wissenschaftstheorie der Psychologie. Obwohl es uns mit diesem Buch vermutlich nicht gelingen wird, eine solche schlüssig und endgültig darzulegen, können wir vielleicht einen Beitrag dazu leisten, dass eine genuin psychologische Wissenschaftstheorie möglich, ja sogar wirklich wird. Zum anderen gibt es wenige Ansätze, die einen postmodernen Ausgangspunkt nehmen. Dies tun wir in dem hier vorliegenden Buch.

Damit meinen wir Folgendes: Eine der wesentlichen Einsichten der jüngsten Zeit ist, dass es kein endgültiges, festes, in sich stimmiges System geben kann, das sich selbst mit den von ihm entwickelten Mitteln als endgültig schlüssig belegen kann. Vielmehr ist jedes System oder jeder Ansatzpunkt immer ein endlicher und relativer. Wissenschaftstheorie kann sich hiervon nicht ausnehmen. Während lange Zeit die Doktrin gültig war, Wissenschaftstheorie wäre sozusagen die letztbegründende fundamentale Wissenschaft, die nicht nur die Praxis sondern auch die Methodik und die Gültigkeit der Ergebnisse von Wissenschaft belegen und begründen kann, so ist in neuerer Zeit immer klarer geworden, dass diese sogenannten präskriptiven, also vorschreibenden Ansätze der Wissenschaftstheorie haltlos sind. Stattdessen hat sich immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass Wissenschaftstheorie eben immer hinterherhinkt. Sie kann die gelebte Praxis der Wissenschaft reflektieren und so zu Aussagen darüber gelangen, welche grundlegenden Prozesse im Wissenschaftsprozess maßgebend und steuernd sind. Sie kann vielleicht auch Ansatzpunkte dafür liefern, wie Wissenschaft in der Vergangenheit weniger gut oder besser funktioniert hat, und daraus Hinweise entwickeln, welche zukünftigen Entwicklungen ratsam oder weniger ratsam sind. Derjenige, der hofft, in der Wissenschaftstheorie eine Art Leitwissenschaft zu finden, die platt gesagt, angibt »wo es lang geht«, wird und muss enttäuscht werden. Denn das ist die Lehre, die die Reflexion über Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten ergeben hat: Wissenschaft selbst ist ein sich selbst steuernder, sich selbst begründender, sich selbst reformierender und sich selbst reflektierender Prozess, jenseits dessen es keinen intellektuellen archimedischen Punkt mehr geben kann, der diesen Prozess wieder selbst grundlegt. Diese Auffassung machen wir uns in dem hier vorgelegten Buch zu Eigen und werden also eher verschiedene Hinsichten oder Perspektiven auf den Wissenschaftsprozess geben als diesen begründend fixieren. Wir werden eher verschiedene Sichtweisen und Praxisvarianten psychologischer Wissenschaft darstellen, ihr historisches Gewachsensein und ihre vorhandenen oder weniger vorhandenen Querverbindungen, als dass wir diese Praxisvarianten bewerten. Wir werden schließlich vor allem eine genuine psychologische Perspektive in dieser Reflexion über Wissenschaft vornehmen. Damit ist gemeint, dass wir den speziellen Gegenstand der Psychologie, nämlich den Menschen selbst, als konstituierend für einen neuen Typ von Wissenschaft begreifen wollen.

Die Psychologie ist als Wissenschaft jung. Ihren Beginn kann man ins Jahr 1879 datieren, als Wilhelm Wundt das Psychologische Laboratorium in Leipzig begründete, oder ins Jahr 1874, als Brentano dies in Wien versuchte. Wenige Jahre später wurde ein ähnliches Laboratorium in Freiburg von Hugo Münsterberg gegründet, der anschließend von William James nach Harvard gerufen wurde und dort die empirische Psychologie aufbaute. Alles in allem kann die Psychologie als Wissenschaft also maximal auf 140 Jahre Geschichte zurückblicken. Dies ist gesehen auf die Zyklen und historischen Dimensionen der Wissenschaft jung, wenn nicht geradezu unreif.

Bedenken wir: Am 12. Mai 1543 wurde zum ersten Mal von Andreas Vesalius in Basel eine Leiche öffentlich im Rahmen einer akademischen Vorstellung seziert und damit die medizinische Wissenschaft der Anatomie begründet. Heute, 470 Jahre später, haben wir ein einigermaßen vollständiges Wissen der menschlichen Anatomie, was Muskeln, Blutgefäße, Knochen und Bänder angeht. Unser Verständnis der Neuroanatomie ist immer noch bruchstückhaft. Und die Anatomie als Wissenschaft ist bei weitem noch nicht an ihr Ende gelangt. Wie soll es da bei der menschlichen Psyche, die vielleicht zum kompliziertesten gehört, was sich die Wissenschaft zum Gegenstand nehmen kann, innerhalb von vielleicht vier bis fünf Wissenschaftlergenerationen zu einem konsolidierten, geschweige denn einheitlichen Wissenschaftsfeld kommen? Was viele Anfänger der Psychologie und auch viele innerhalb der Psychologie tätigen Wissenschaftler bemängeln, nämlich die Vielzahl der Ansätze, die kaum überschaubare Fülle von Teildisziplinen, den Wirrwarr von Einzelergebnissen, der kaum jemals die Chance zu bieten scheint, in ein einheitliches Gebäude integriert zu werden, all dies sind nicht notwendigerweise Anzeichen einer Wissenschaft, die auf dem falschen Wege ist, sondern Zeugnis sowohl der Komplexität des Gegenstandes als auch der historischen Situation der Psychologie als Wissenschaft unterwegs. Weit davon entfernt, diesen Zustand beklagen zu wollen und weit davon entfernt, einer verfrühten und auch kolonialisierenden Vereinfachung das Wort reden zu wollen, plädieren wir hier geradezu für die Notwendigkeit dieser Fülle von divergierenden Ansätzen methodisch scheinbar widersprüchlicher Traditionen.

Wenn wir von einer Wissenschaftstheorie speziell für die Psychologie sprechen, so meinen wir damit auch die Tatsache, dass Wissenschaftstheorien, die bislang innerhalb der Psychologie vorgelegt worden sind, unserer Meinung nach alle einen entscheidenden Fehler haben: Sie versuchen, Wissenschaftsmodelle, die in anderen Wissenschaften, z. B. der Physik, Chemie, Astronomie, Mathematik oder biochemischen Grundlagenwissenschaften erfolgreich waren, auf die Psychologie zu übertragen, so als könnte man die Methode der Bauschreinerei einfach auf die Modellschreinerei übertragen. Genau dies ist unserer Meinung nach das Dilemma, das Manko und auch die entscheidende Schwäche aller bisher vorgelegten Versuche, und genau dies ist auch der Grund, weswegen wir hier einen neuen Versuch vorlegen, Wissenschaftstheorie für die Psychologie verfügbar zu machen. Wir sind der Meinung, dass eine gute Wissenschaftstheorie der Psychologie nicht einfach nur eine Adaptation der vorliegenden Wissenschaftsmodelle aus anderen Disziplinen sein kann. Vielmehr muss die Psychologie durch ihre Geschichte und ihre eigenen Passversuche zu einer genuin eigenen Auffassung gelangen, wie Wissenschaft funktionieren kann, soll und muss, wenn es um die Wissenschaft der Psychologie, also der Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen geht. Dass dieser Weg nicht geradlinig sein kann, dass er vielmals in mäandernden Wendungen verläuft, auf denen scheinbar rückschrittliche Tendenzen anscheinend fortschrittliche abzulösen scheinen, um dann in eine ganz andere Richtung weiter zu strömen, dass dies so ist, scheint uns nicht nur normal, sondern geradezu notwendig zu sein. Psychologie muss die ihr eigene Wissenschaftsform in dem Maße erarbeiten und neu erfinden, in dem sie als Wissenschaft überhaupt erst zu sich selbst gelangt. Dies ist ein historischer Prozess und die Eigenart der Historie ist, dass sie aufgrund der Reflexion von Vergangenem Gegenwärtiges zuallererst begreifen lässt.

Im gleichen Sinne erscheint es uns notwendig, in diesem Buch Geschichte sprechen zu lassen. Denn durch das Verständnis, wie Wissenschaft im Allgemeinen und wie die Psychologie im Besonderen entstanden und geworden ist, in diesem Verständnis wird sich auch die Gegenwart der Psychologie und ihre zukünftige Methodik erhellen lassen. Dieser historische Standpunkt, den wir in diesem Buch einnehmen, ist alles andere als eine antiquierte Wendung nach rückwärts. Sie ist vielmehr aus dem Wissen erwachsen, dass nur dort Gegenwart gut verstanden und gelebt werden kann, wo ihre Bedingungen bewusst sind und ihre Herkunft erhellt ist. Auch dies ist im Übrigen eine genuin psychologische Erkenntnis, die wir sozusagen auf die Wissenschaft, aus der sie entstammt ist, selbst anwenden.

Dieses Buch legt einen Grundlagentext vor, der Studierenden der Psychologie beim Einstieg ins Studium behilflich sein soll, aber auch jenen, die zu späteren Zeitpunkten ein vertieftes Verständnis gewinnen wollen. Aktive Wissenschaftler mögen durch unsere Gedanken angeregt werden, eigene Beiträge zu liefern oder ihr eigenes Tun und Handeln anders oder neu zu verorten.

Das Buch ist im Wesentlichen in folgende Teile gegliedert:

•  Wir bringen zunächst eine ganz kurze und kursorische Skizze der Grundhaltung, in der dieses Buch geschrieben ist. Die ersten Kapitel können also gewissermaßen als Vorgeschmack dessen gelesen und gewertet werden, was in kommenden Kapiteln ausgefaltet wird. Wer also nach den ersten drei Kapiteln Lust aufs Weiterlesen bekommt, wird auf den folgenden Seiten vertiefendes Material finden. Wem nach den ersten drei Kapiteln nicht mehr zum Weiterlesen zumute ist, der wird auch in der Folge kaum anderes finden.

•  Anschließend folgt ein philosophisches Propädeutikum, das speziell auf die Bedürfnisse der Psychologie ausgerichtet ist. Darunter verstehen wir einen kursorischen Grundlagenkurs in philosophischer Geistesgeschichte. Obwohl die Psychologie sich als moderne Wissenschaft betrachtet, hat sie viele Themen, viele methodische Fragestellungen und Ansatzpunkte, viele Entscheidungen über grundlegende Methoden und Inhalte, die selten reflektiert werden, aus der philosophischen Tradition übernommen. Nicht nur, dass die Psychologie aus der Philosophie entstanden ist. Die Philosophie und ihre Geschichte ist gleichsam die Wurzel und der Nährboden, aus der und in der unsere Wissenschaften wurzeln und keimen. Eine mindestens kursorische Kenntnis dieser Tradition scheint uns für eine profunde Ausübung jeglicher Wissenschaft und vor allem der Wissenschaft der Psychologie unabdingbar. Wer sich diese Kenntnis im Rahmen der Schulbildung oder anderer Kurse bereits angeeignet hat, kann diese Kapitel kursorisch oder selektiv zur Kenntnis nehmen. Dem Studierenden in den Anfangssemestern soll damit eine gewisse geistesgeschichtliche Grundlage gegeben werden.

•  Nach der Geschichte der Philosophie werden wir die Geschichte der Psychologie im Spezielleren behandeln, um verständlich zu machen, wie vielgestaltig die Forschungstraditionen innerhalb der Psychologie sind.

•  Der nächste Teil befasst sich mit einem für die Psychologie zentralen Problem, das selten innerhalb der Psychologie thematisiert wird: dem sogenannten Leib-Seele-Problem. Darunter ist die Frage zu verstehen, wie – philosophisch gesprochen – die unterschiedlichen Bereiche von Psyche und Organismus, von seelischen und leiblichen Vorgängen zusammenhängend gedacht werden. Die Beantwortung dieser Frage hat nämlich viele methodische und praktische Konsequenzen. Es ist nützlich, sich über diese Tatsache Rechenschaft abzulegen und mindestens einmal in seinem Studenten- oder professionellen Leben diesen Sachverhalt reflektiert zu haben. Deswegen widmen wir ihr einigen Raum, in dem nicht nur das systematische Problem angerissen wird, sondern auch die neuere Diskussion skizziert wird.

•  In einem weiteren Abschnitt werden sodann die modernen und aktuelleren Positionen der Wissenschaftstheorie, besonders diejenigen, die von Psychologen gerne für sich reklamiert werden, diskutiert.

•  Wir schließen das Buch mit einigen Überlegungen zur Ethik und zur Praxis und fassen unsere Position in einem Schlusskapitel zusammen. Weit davon entfernt, das komplexe Thema Ethik komplett und vollständig aufrollen zu können oder zu wollen, denken wir dennoch, dass es notwendig ist, im Rahmen einer solchen Einführung auf die wesentlichen ethischen Grundprobleme, ihre Tradition und Geschichte und ihre Praxisrelevanz für therapeutisch und in der Forschung tätige Psychologen hinzuweisen.

Einige Worte zur Benutzung

Der Text dieses Buches folgt im Aufbau im Wesentlichen dem Vorlesungsplan, den Harald Walach über viele Semester in einem zweisemestrigen Vorlesungszyklus am Institut für Psychologie der Universität Freiburg i. Br. entwickelt hat. Dadurch ist zwar ein gewisser innerer Aufbau vorgegeben, der unserer Meinung nach durchaus sinnvoll ist. Die Kapitel können aber auch für sich selbst gelesen und bearbeitet werden. Aus diesem Grund sind auch einige Redundanzen im Text. Sie sollen Quereinsteigern das Verständnis erleichtern und dienen didaktisch der Wiederholung und Vertiefung.

Wir haben in diesem Text bewusst auf viele Literaturangaben verzichtet, die aller Erfahrung nach Studierende in den Anfängen eher verwirren statt hilfreich zu sein. Am Schluss jedes Kapitels ist weiterführende Basisliteratur in Fettdruck markiert, Spezialliteratur zur Vertiefung mit einem Stern, und andere Literatur, die wir zur Argumentation heranziehen. Die Literatur ist nummeriert, um den Bezug zum Text herzustellen.

Dieses Buch ist ein sehr persönliches Buch, das den Weg des Autors als philosophierendem Psychologen und psychologisierendem Philosophen über die letzten 40 Jahre folgt. Insofern ist es ein subjektives und auch ein notwendigerweise einseitiges Buch. Es ist bewusst selektiv, es vermeidet bewusst den Anschein enzyklopädischen Wissens. Die Lücken und Grenzen dieses Buches kommen daher, dass die Möglichkeit eines Einzelnen, alles zu überblicken, in unserer Zeit immer geringer werden. Gleichzeitig ist dadurch für den Leser auch die Chance gegeben, eigenes Verständnis zu entwickeln und zu vertiefen. Aus diesem Grunde möchten wir alle Leser explizit zu Rückmeldungen über Fehler, Unklarheiten, Lob und Kritik einladen und anregen. Dies wird bei späteren Auflagen die Gelegenheit bieten, Versäumtes nachzuholen, Löcher zu füllen, unmarkiertes Gelände zu kartographieren. Wir haben versucht, trotz des Anspruchs auf wissenschaftliche Gültigkeit lesbar und verständlich zu bleiben. In diesem Sinne soll dieses Buch nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam sein, und wir wünschen allen Lesern Freude dabei.

Danksagung

Dieses Buch verdankt sein Entstehen vor allem denen, von denen ich selbst gelernt habe und die mir Anregungen und Hilfen gegeben haben. Allen voran zu nennen ist mein wissenschaftlich-psychologischer Lehrer, Prof. Jochen Fahrenberg, der mir durch das Angebot, diese Vorlesung zu halten, die Möglichkeit gab, die entsprechenden Gedanken und Texte zu entwickeln. Er hat das Entstehen des Manuskripts mit einigen wegweisenden kritischen Gedanken begleitet, für die ich sehr dankbar bin. Viele seiner Anregungen habe ich aufgegriffen, andere nicht, sodass der Text durchaus von mir zu verantworten ist, auch und vor allem dort, wo er als ergänzungsbedürftig erlebt wird.

Für die grundlegende Einführung in das philosophische Denken, viele Auseinandersetzungen, persönliche Gespräche und Tutorien bin ich meinem philosophischen Lehrer Prof. Friedrich A. Uehlein besonders dankbar. Ohne diese gründliche Schulung wäre es mir nie möglich gewesen, das entsprechende Problembewusstsein zu entwickeln.

Viel gelernt über Wissenschaftstheorie habe ich von meinem wissenschaftstheoretischen Lehrer Prof. Erhard Oeser, dessen Gedanken und Anregungen mich sehr inspiriert haben. Prof. Thomas Slunecko hat einige der hier vorgelegten Kapitel sorgfältig korrigiert und kommentiert, wofür ich ihm dankbar bin. Auch wenn er aus Gründen der zeitlichen Belastung nicht als Koautor fungieren wollte, empfinde ich ihn aufgrund seiner Anregungen, Kritik und Bemerkungen als stillen Teilhaber.

Für Einsichten über die Bedeutung und das Wesen der introspektiv-partizipativen Forschungsmethodik bin ich meinem klinischen Lehrer Dr. Theo Glantz (†) dankbar.

Nicht zuletzt möchte ich mich bei einigen Generationen von Freiburger Studierenden bedanken, die meine Vorlesungen mit Aufmerksamkeit verfolgt und mit wohlwollender Kritik bedacht haben, sodass mir die Stärken und Schwächen meines Konzepts klarer bewusst geworden sind. Transkription und Gestaltung des Textes verdanken sich der tatkräftigen und kompetenten Mitarbeit von Andreas Sommer, ohne den es mir nicht möglich gewesen wäre, einen solchen Text inmitten vieler anderer Verpflichtungen zu verfassen.

Nikolaus von Stillfried hat bei der gründlichen Überarbeitung und Erweiterung des Textes zur 3. Auflage maßgeblich mitgewirkt, dafür ebenfalls meinen herzlichen Dank.

Die Tatsache, dass ich mir überhaupt den Luxus erlauben kann, mit meinen Forschungsthemen im akademischen Bereich präsent zu sein und obendrein ein solches Buch zu verfassen, ist der großzügigen finanziellen Förderung durch das Samueli-Institut zu verdanken, das mir persönlich und einer Reihe meiner Mitarbeitern die Möglichkeit des wissenschaftlichen Arbeitens über lange Jahre gegeben hat. Dafür bin ich den Gründern des Instituts, Henry und Susan Samueli, und seinem Leiter, Dr. Wayne Jonas, aus tiefstem Herzen dankbar. Dem früheren Leiter des Instituts für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene, an dem ich tätig war, Prof. Dr. Franz Daschner, danke ich für seine wissenschaftliche und menschliche Offenheit. Prof. Thomas Ostermann danke ich dafür, dass er mir mit einer Berufung als Gastprofessor an das Department für Psychologie der Universität Witten-Herdecke die Möglichkeit gegeben hat, das Thema wieder neu im Kontext des Bachelor-Studiengangs zu vermitteln.

 

Berlin, im Mai 2020

Harald Walach

Teil I:   Das Wesentliche

1          Was ist Wissenschaft? – oder: Die Detektivgeschichte als Modell für die empirische Wissenschaft

 

 

Wissenschaft hat viel mit der Arbeit eines Detektivs gemeinsam. Beide finden ein Ensemble von Fakten vor, die in irgendeinem geheimnisvollen Zusammenhang zu stehen scheinen. Beide suchen sie verbindende Strukturen, die die Fakten erklären, möglicherweise zukünftige Fakten vorhersagen und vielleicht zur Aufklärung eines Rätsels beitragen können. Für den Detektiv ist das Rätsel sein konkreter Fall, für die Wissenschaft die Welt als Ganzes oder ein Teil daraus, den sich ein Wissenschaftler zu bearbeiten ausgesucht hat. Wollen wir anhand einer Detektivgeschichte diese Gemeinsamkeiten etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Es handelt sich um eine Geschichte, die der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton von seiner Detektivfigur Pater Brown erzählt [2, 3]. Wir geben sie in Auszügen wieder, und wer Lust auf einen kleinen Ausflug in die Welt der Belletristik hat, sei eingeladen, im Folgenden den Originaltext der Geschichte in Auszügen direkt zu verfolgen.

Die Ehre des Israel Gow

Ein stürmischer Abend in Olivgrün und Silber brach an, als Father Brown in einen grauen schottischen Plaid gehüllt an das Ende eines grauen schottischen Tales gelangte und die eigenartige Burg Glengyle erblickte. Sie verschloss das eine Ende der Schlucht oder des Hohlwegs wie eine Sackgasse; und sah aus wie das Ende der Welt …

 

Der Priester hatte sich für einen Tag von seinen Geschäften in Glasgow weggestohlen, um seinen Freund Flambeau zu treffen, den Amateurdetektiv, der auf Burg Glengyle gemeinsam mit einem anderen offizielleren Beamten Leben und Tod des verblichenen Earl of Glengyle untersuchte … Während vieler Jahrhunderte hatte es niemals einen redlichen Herrn auf Burg Glengyle gegeben; und als das viktorianische Zeitalter anbrach, hätte man meinen sollen, dass alle Exzentrizitäten erschöpft seien. Der letzte derer von Glengyle aber wurde den Traditionen seines Stammes dergestalt gerecht, dass er das einzige tat, was ihm zu tun übrig geblieben war: Er verschwand. Damit meine ich nicht, dass er ins Ausland ging; allen Berichten zufolge befand er sich immer noch in der Burg, wenn er sich überhaupt noch irgendwo befand. Aber obwohl sich sein Name im Kirchenbuch befand und im Register des Hochadels, hat niemand ihn je unter der Sonne gesehen.

 

Falls überhaupt jemand ihn sah, war es ein einsamer Diener, ein Mittelding zwischen Stallknecht und Gärtner. Er war so taub, dass die Geschäftsmäßigeren ihn für stumm hielten, während die Tieferblickenden ihn für schwachsinnig erklärten. Ein hagerer rothaariger Arbeiter, mit mächtigem Kiefer und Kinn und ausdruckslosen Augen; er hörte auf den Namen Israel Gow und war der einzige, schweigende Dienstbote auf jenem verlassenen Besitz. Aber die Energie, mit der er Kartoffeln ausbuddelte, und die Regelmäßigkeit, mit der er in der Küche verschwand, vermittelten den Leuten den Eindruck, dass er für die Mahlzeiten eines Höhergestellten sorgte und dass der merkwürdige Earl sich immer noch in der Burg barg. Und wenn die Gesellschaft noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass er sich dort aufhielt, so reichte die hartnäckige Behauptung der Dienstboten, dass er nicht zu Hause sei.

 

Eines Morgens wurden der Ortsvorsteher und der Prediger (denn die Glengyles waren Presbyterianer) auf die Burg gerufen. Dort stellten sie fest, dass der Gärtner, Stallknecht und Koch seinen vielen Berufen noch den weiteren eines Leichenbestatters hinzugefügt und seinen noblen Herrn in seinen Sarg genagelt hatte. Wie viele oder wie wenige weitere Untersuchungen diese eigenartige Tatsache begleiteten, war bisher noch nicht klar erkennbar; denn der Vorgang war nie juristisch untersucht worden, bis Flambeau vor zwei oder drei Tagen in den Norden gekommen war. Da aber ruhte der Leichnam von Lord Glengyle (wenn es denn sein Leichnam war) bereits seit einiger Zeit in dem kleinen Friedhof auf dem Hügel.

 

Als Father Brown den dunklen Garten durchschritt und in den Schatten der Burg geriet, waren die Wolken schwer und die Luft feucht und gewitterschwül. Vor dem letzten Streifen des grün-goldenen Sonnenuntergangs sah er eine schwarze menschliche Silhouette; einen Mann mit einer Angströhre, der einen großen Spaten geschultert hatte. Diese Zusammenstellung erinnerte merkwürdig an einen Totengräber; als Brown sich aber an den stummen Knecht erinnerte, der Kartoffeln ausgrub, fand er es natürlich genug. Er wusste einiges über den schottischen Bauern; er wusste von seiner Achtbarkeit, die es verlangen mochte, zu einer amtlichen Untersuchung »schwarz« zu tragen; er wusste auch von der Sparsamkeit, die deswegen keine Stunde lang das Graben verlieren würde. Sogar das Stutzen des Mannes und sein misstrauisches Starren, als der Priester vorbeiging, entsprachen der Wachsamkeit und dem Argwohn dieses Menschenschlags.

 

Flambeau selbst, der in Begleitung eines mageren Mannes mit stahlgrauen Haaren und Papieren in den Händen war, Inspektor Craven von Scotland Yard, öffnete ihm die große Tür. Die Eingangshalle war größtenteils kahl und leer; aber die fahlen höhnischen Gesichter von einem oder zwei der verruchten Ogilvies blickten herab aus schwarzen Perücken und sich schwärzenden Leinwänden.

 

Als Father Brown den Verbündeten in einen der inneren Räume folgte, sah er, dass sie an einem langen Eichentisch gesessen hatten, davon ihr Ende mit beschriebenen Papieren bedeckt war, flankiert von Whisky und Zigarren. Die gesamte übrige Fläche war bedeckt mit einzelnen Gegenständen, die in Abständen angeordnet waren; so unerklärlichen Gegenständen, wie Gegenstände nur sein können. Ein Gegenstand sah aus wie ein kleines Häufchen glitzernden zerbrochenen Glases. Ein anderer sah aus wie ein hoher Haufen braunen Staubes. Ein dritter schien ein einfacher Holzstock zu sein.

 

»Sie scheinen hier eine Art von geologischem Museum zu haben«, sagte er, als er sich niederließ, und ruckte mit dem Kopf kurz in die Richtung des braunen Staubes und der kristallinen Bruchstücke.

 

»Kein geologisches Museum«, erwiderte Flambeau; »sagen Sie lieber ein psychologisches Museum.«

 

»Oh, um Gottes willen«, rief der Polizeidetektiv lachend, »wir wollen doch erst gar nicht mit so langen Wörtern anfangen.«

 

»Wissen Sie denn nicht, was Psychologie bedeutet?« fragte Flambeau mit freundlichem Erstaunen. »Psychologie bedeutet, es rappelt im Karton.«

 

»Ich kann immer noch nicht ganz folgen«, erwiderte der Beamte.

 

»Na schön«, sagte Flambeau entschieden; »was ich meine ist, dass wir über Lord Glengyle nur eines herausgefunden haben. Er war irre.«

 

Die schwarze Silhouette von Gow mit Zylinder und Spaten glitt, undeutlich gegen den dunkelnden Himmel umrissen, am Fenster vorbei. Father Brown starrte sie unbewegt an und antwortete:

 

»Ich kann ja verstehen, dass da irgendwas Sonderbares um den Mann war, denn sonst hätte er sich nicht lebendig begraben – und auch nicht so eine Eile gehabt, sich tot begraben zu lassen. Aber was lässt Sie denken, er wäre ein Irrsinniger gewesen?«

 

»Na gut«, sagte Flambeau; »dann hören Sie sich nur mal die Liste der Gegenstände an, die Craven im Haus gefunden hat.«

 

»Dazu brauchen wir eine Kerze«, sagte Craven plötzlich. »Ein Sturm kommt auf, und es ist schon zu dunkel zum Lesen.«

 

»Haben Sie unter Ihren Sonderbarkeiten«, fragte Brown lächelnd, »irgendwelche Kerzen gefunden?«

 

Flambeau hob sein ernstes Gesicht und richtete seine dunklen Augen auf den Freund.

 

»Das ist auch seltsam«, sagte er. »25 Kerzen und keine Spur von einem Kerzenhalter.«

 

In dem sich schnell verdunkelnden Zimmer ging Brown bei dem sich schnell verstärkenden Wind am Tisch entlang da hin, wo ein Bündel Wachskerzen zwischen den anderen Ausstellungsbruchstücken lag. Dabei beugte er sich zufällig über den Haufen rotbraunen Staubes; und ein scharfes Niesen zerbrach die Stille.

 

»Hallo!« sagte er. »Schnupftabak!«

 

Er nahm eine der Kerzen, zündete sie sorgfältig an, kam zurück und steckte sie in den Hals der Whiskyflasche. Die unruhige Nachtluft, die durch das zerbrochene Fenster fuhr, ließ die lange Kerzenflamme wie ein Banner wehen. Und rings um die Burg konnte man die schwarzen Föhren Meilen über Meilen wie eine schwarze See um den Felsen rauschen hören.

 

»Ich will das Verzeichnis verlesen«, begann Craven ernst und hob eines der Papiere auf, »ein Verzeichnis von dem, was wir zusammenhanglos und unerklärlich in der Burg fanden. Sie müssen wissen, dass die Burg fast ausgeräumt und vernachlässigt ist; ein oder zwei Räume sind aber von jemandem in einem einfachen aber keineswegs ärmlichen Stil bewohnt worden; jemand, der nicht der Knecht Gow war. Hier ist die Liste:

 

Erstens. Ein sehr beachtlicher Hort wertvoller Steine, fast alles Diamanten, und alle lose, ohne jede Fassung. Selbstverständlich ist es nur natürlich, dass die Ogilvies Familienschmuck besaßen; nun sind dies genau die Schmucksteine, die fast immer in besondere Fassungen eingesetzt werden. Die Ogilvies aber scheinen sie lose wie Kupfermünzen in den Taschen getragen zu haben.

 

Zweitens. Haufen über Haufen loser Schnupftabak, nicht etwa in einer Büchse oder auch nur in einem Beutel, sondern in losen Haufen auf den Wandsimsen, auf der Anrichte, auf dem Piano, überall. Es hat den Anschein, als ob der alte Herr sich nicht die Mühe machen wollte, in einer Tasche zu suchen oder einen Deckel aufzuklappen.

 

Drittens. Hier und da im Haus sonderbare kleine Häufchen aus winzigen Metallteilen, manche in der Form von Stahlfedern und andere in der von mikroskopischen Rädchen. Als ob man irgendein mechanisches Spielzeug auseinandergenommen hätte.

 

Viertens. Die Wachskerzen, die man in Flaschenhälse stecken muss, weil nichts anderes da ist, sie hineinzustecken.

 

Nun bitte ich Sie zu beachten, wie viel sonderbarer all dieses ist als das, was wir erwartet haben. Auf das Haupträtsel waren wir vorbereitet; wir haben alle auf den ersten Blick gesehen, dass mit dem letzten Earl irgend etwas nicht in Ordnung war. Wir kamen hierher, um herauszufinden, ob er wirklich hier lebte, ob er wirklich hier starb, ob jene rothaarige Vogelscheuche, die ihn begrub, etwas damit zu tun hat, dass er starb. Stellen Sie sich vor, der Diener tötete wirklich den Herrn, oder stellen Sie sich vor, der Herr ist nicht wirklich tot, oder stellen Sie sich den Herrn als Diener verkleidet vor, oder stellen Sie sich den Diener an der Stelle des Herrn begraben vor; erfinden Sie sich welche Tragödie auch immer im Stil von Wilkie Collins, aber dann haben Sie immer noch nicht eine Kerze ohne Kerzenhalter erklärt, oder warum ein älterer Herr aus gutem Hause gewohnheitsmäßig Schnupftabak auf dem Piano verstreuen sollte. Den Kern der Geschichte können wir uns vorstellen; es sind die Ränder, die rätselvoll sind (Hervorhebung durch den Autor). Selbst die wildeste Fantasie des menschlichen Geistes kann Schnupftabak und Diamanten und Wachs und loses Uhrwerk nicht miteinander verbinden.«

 

»Ich glaube, ich sehe die Verbindung«, sagte der Priester. »Dieser Glengyle hasste die Französische Revolution. Er war begeisterter Anhänger des ancien régime, und deshalb versuchte er, das Familienleben der letzten Bourbonen buchstäblich nachzuspielen. Er hatte Schnupftabak, denn das war der Luxus des 18. Jahrhunderts; Wachskerzen, denn sie waren die Beleuchtung des 18. Jahrhunderts; die mechanischen Eisenstückchen stellen die Uhrmacherei von Ludwig XVI. dar; die Diamanten sind für das Halsband Marie Antoinettes bestimmt.«

 

Die beiden anderen Männer starrten ihn mit aufgerissenen Augen an. »Welch eine vollkommen ungewöhnliche Idee!« rief Flambeau. »Glauben Sie wirklich, dass das die Wahrheit ist?«

 

»Ich bin absolut sicher, dass sie das nicht ist«, antwortete Father Brown, »nur sagten Sie, dass niemand Schnupftabak und Diamanten und Uhrwerk und Kerzen in eine Beziehung bringen könnte. Ich habe Ihnen eine solche Beziehung aus dem Ärmel geschüttelt. Die wirkliche Wahrheit liegt mit Sicherheit tiefer.«

 

Er schwieg einen Augenblick und lauschte dem Heulen des Windes um die Türme. Dann sagte er: »Der verblichene Earl of Glengyle war ein Dieb. Er lebte ein zweites und dunkleres Leben als ein zu allem entschlossener Einbrecher. Er hatte keine Kerzenhalter, weil er die Kerzen nur kurzgeschnitten in seinen Laternen verwendete. Den Schnupftabak verwendete er wie die wildesten französischen Verbrecher den Pfeffer: um ihn plötzlich in großen Mengen einem Häscher oder Verfolger ins Gesicht zu schleudern. Der letzte Beweis aber ist das eigenartige Zusammentreffen von Diamanten und kleinen Stahlrädern. Damit wird Ihnen doch wohl alles klar? Diamanten und kleine Stahlräder sind die beiden einzigen Instrumente, mit denen man eine Glasscheibe ausschneiden kann.«

 

Der Zweig einer geknickten Föhre peitschte im Sturm schwer gegen die Fensterscheibe hinter ihnen, wie eine Parodie auf einen Einbrecher, aber sie sahen sich nicht um. Ihre Augen hafteten an Father Brown.

 

»Diamanten und kleine Räder«, wiederholte Craven nachdenklich. »Ist das alles, was Sie denken lässt, das wäre die richtige Erklärung?«

 

»Ich glaube nicht, dass das die richtige Erklärung ist«, erwiderte der Priester gelassen; »aber Sie haben behauptet, niemand könne diese vier Dinge miteinander verbinden. Die wirkliche Geschichte ist natürlich viel langweiliger. Glengyle fand wertvolle Steine auf seinem Besitz, oder glaubte es wenigstens. Jemand hat ihn mit diesen losen Diamanten getäuscht und behauptet, man habe sie in den Burgkellern gefunden. Die kleinen Räder sind irgendein Diamantenscheidegerät. Er konnte die Sache nur sehr grob und in kleinem Maßstab durchführen, mit der Hilfe einiger Schäfer oder anderer rauer Burschen aus diesen Hügeln. Schnupftabak ist der einzige große Luxus dieser schottischen Schäfer; er ist der einzige Stoff, mit dem man sie bestechen kann. Sie hatten keine Kerzenhalter, weil sie keine brauchten; sie hielten die Kerzen in den eigenen Händen, wenn sie die Burghöhlen durchforschten.«

 

»Und das ist alles?« fragte Flambeau nach einer langen Pause. »Sind wir damit endlich an die nüchterne Wahrheit geraten?«

 

»O nein«, sagte Father Brown.

 

Als der Wind in den fernsten Föhren mit einem langen spöttischen Heulen erstarb, fuhr Father Brown mit völlig unbewegtem Gesicht fort:

 

»Ich habe das nur vorgebracht, weil Sie behaupteten, niemand könne glaubwürdig Schnupftabak mit Uhrwerken oder Kerzen mit Edelsteinen verbinden. Zehn falsche Philosophien passen aufs Universum; zehn falsche Theorien passen auf Burg Glengyle. Wir aber wollen die wirkliche Erklärung für Burg und All (Hervorhebung durch den Autor). Gibt es keine anderen Beweisstücke?«

 

Craven lachte, und Flambeau stand lächelnd auf und wanderte den langen Tisch entlang.

 

»Fünftens, sechstens, siebtens usw.«, sagte er, »sind bei weitem vielfältiger als erhellend. Eine sonderbare Sammlung nicht von Bleistiften, sondern von Bleiminen aus Bleistiften. Ein sinnloser Bambusstock mit einem ziemlich gesplitterten Ende. Der könnte das Instrument des Verbrechens sein. Nur gibt es kein Verbrechen. Die einzigen anderen Gegenstände sind einige alte Messbücher und kleine katholische Bilder, die die Ogilvies wohl seit dem Mittelalter aufgehoben haben – ihr Familienstolz war eben stärker als ihr Puritanismus. Wir haben sie nur deshalb ins Museum aufgenommen, weil sie seltsam zerschnitten und entstellt sind.«

 

Der ungestüme Sturm draußen trieb schauerliche Wolkenwracks über Glengyle dahin und stürzte den langen Raum in Dunkelheit, als Father Brown die kleinen illuminiertenSeiten aufnahm, um sie zu untersuchen. Er sprach, bevor der Zug der Dunkelheit vorüber war; aber es war die Stimme eines völlig neuen Mannes.

 

»Mr. Craven«, sagte er, und sprach wie ein zehn Jahre jüngerer Mann, »Sie haben doch eine gesetzliche Vollmacht, hinzugehen und das Grab zu untersuchen, oder? Je eher wir das tun, um so besser, damit wir dieser scheußlichen Geschichte auf den Grund kommen. Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt gehen.«

 

»Jetzt«, wiederholte der überraschte Detektiv, »und warum jetzt?«

 

»Weil dies ernst ist«, antwortete Brown; »hier geht es nicht mehr um verschütteten Schnupftabak oder lose Kiesel, die aus hunderterlei Gründen umherliegen können. Ich kenne nur einen Grund dafür, dass das gemacht wird; und dieser Grund reicht hinab bis an die Wurzeln der Welt. Diese religiösen Bilder sind nicht einfach beschmutzt oder zerrissen oder verkritzelt, wie das aus Müßigkeit oder Bigotterie geschehen kann, durch Kinder oder durch Protestanten. Diese wurden sehr sorgfältig behandelt – und sehr eigenartig. Überall da, wo der große verzierte Eigenname Gottes in diesen alten Illuminationen vorkommt, ist er sehr sorgsam herausgeschnitten worden. Das einzige andere, was herausgeschnitten wurde, ist der Heiligenschein um den Kopf des Jesuskindes. Deshalb sage ich: Nehmen wir unsere Vollmacht und unseren Spaten und unsere Hacke und gehen hinauf und öffnen den Sarg.«

 

»Was genau meinen Sie?« fragte der Londoner Beamte.

 

»Ich meine«, antwortete der kleine Priester, und seine Stimme schien im Röhren des Sturmes lauter zu werden, »ich meine, dass der große Teufel des Universums vielleicht gerade jetzt oben auf dem höchsten Turm dieser Burg hockt, gewaltig groß wie hundert Elefanten und brüllend wie die Apokalypse. Irgendwo auf dem Grund dieses Falles ist schwarze Magie.«

 

»Schwarze Magie«, wiederholte Flambeau mit leiser Stimme, denn er war zu aufgeklärt, als dass er nicht von diesen Dingen gewusst hätte; »was aber können diese anderen Dinge bedeuten?«

 

»Oh, sicherlich irgend etwas Verdammungswürdiges, vermute ich«, sagte Brown ungeduldig. »Woher soll ich das wissen? Wie sollte ich denn all ihre Irrwege hienieden erraten können? Vielleicht kann man aus Schnupftabak und Bambusrohr ein Folterinstrument machen. Vielleicht gieren Wahnsinnige nach Wachs und Stahlspänen. Vielleicht kann man aus Bleistiftminen eine Wahnsinn-Droge herstellen! Unser kürzester Weg in dieses Geheimnis ist der den Hügel hinauf zum Grab.«

 

Seine Gefährten merkten kaum, dass sie gehorchten, und folgten ihm, bis eine Bö des Nachtwindes sie im Garten fast auf ihre Gesichter niederwarf. Und dennoch hatten sie ihm wie Automaten gehorcht; denn Craven fand ein Beil in seiner Hand und die Vollmacht in seiner Tasche; Flambeau trug den schweren Spaten des seltsamen Gärtners; Father Brown trug das kleine goldene Buch, aus dem der Name Gottes gerissen war.

 

Der Pfad hügelan zum Friedhof war gewunden, doch kurz; nur im Druck des Windes erschien er mühsam und lang. So weit das Auge blicken konnte, und weiter und weiter, je höher sie am Hang hochstiegen, wogten Meere und Meere von Föhren, die nun unterm Wind sich alle in eine Richtung bogen …

 

»Wissen Sie«, sagte Father Brown mit leiser, aber entspannter Stimme, »die Schotten waren, schon ehe es Schottland gab, ein sonderbares Volk. Eigentlich sind sie immer noch ein sonderbares Volk. Aber in prähistorischen Zeiten haben sie wohl tatsächlich Dämonen verehrt. Und deshalb«, fügte er freundlich hinzu, »sagt ihnen auch die puritanische Theologie so zu.«

 

»Mein Freund«, fragte Flambeau und wandte sich fast zornig um, »was bedeutet denn all dieser Schnupftabak?«

 

»Mein Freund«, erwiderte Brown mit gleicher Ernsthaftigkeit, »alle echten Religionen kennzeichnet eines: ihr Materialismus. Und Teufelsanbetung ist eine wahrlich echte Religion.«

 

Sie hatten das grasige Haupt des Hügels erreicht, eine der wenigen kahlen Stellen, die sich aus dem krachenden und röhrenden Föhrenwald erhoben. Ein billiger Zaun, teils aus Holz und teils aus Draht, klapperte im Sturm und wies ihnen die Grenze des Friedhofs. Als aber Inspektor Craven endlich die Ecke des Grabes erreicht und Flambeau seinen Spaten, Spitze nach unten, abgesetzt und sich darauf gestützt hatte, waren sie beide fast ebenso wackelig wie der wackelige Zaun aus Holz und Draht. Zu Füßen des Grabes wuchsen große hohe Disteln, grau und silbern in ihrem Verfall. Manchmal, wenn sich ein Ball aus Distelwolle im Winddruck löste und an ihm vorbeiflog, zuckte Craven zusammen, als wäre es ein Pfeil.

 

Flambeau trieb das Blatt seines Spatens durch das zischelnde Gras in die nasse Erde darunter. Dann schien er innezuhalten und sich darauf zu stützen wie auf einen Stab.

 

»Weiter«, sagte der Priester sehr sanft. »Wir versuchen nur, die Wahrheit herauszufinden. Wovor haben Sie Angst?«

 

»Davor, sie zu finden«, sagte Flambeau.

 

Der Londoner Detektiv sprach plötzlich mit einer hohen krähenden Stimme, die eine fröhliche Gesprächsstimme sein sollte. »Ich frage mich, warum er sich wirklich so versteckt hat. Irgendwas Übles, nehme ich an; war er ein Aussätziger?«

 

»Schlimmer als das«, sagte Flambeau.

 

Er grub während einiger scheußlicher Minuten schweigend weiter und sagte dann mit erstickter Stimme: »Ich fürchte, der hier hat nicht die richtige Form.« …

 

Flambeau grub in blindem Eifer weiter. Aber der Sturm hatte die erstickenden grauen Wolken beiseite geschoben, die an den Hügeln hingen wie Rauch, und graue Felder schwachen Sternenlichtes enthüllt, ehe Flambeau den Umriss eines rohen Holzsargs freigelegt und den irgendwo auf den Rasen gekippt hatte. Craven trat mit seiner Axt hervor; eine Distelspitze berührte ihn, und er fuhr zusammen. Dann trat er entschlossener vor und hackte und hebelte mit ebensolchem Eifer wie Flambeau drauflos, bis der Deckel abgesprengt war und alles, was da war, schimmernd im grauen Sternenlicht lag.

 

»Knochen«, sagte Craven, und dann fügte er hinzu: »aber das ist ja ein Mann«, als ob das etwas Unerwartetes wäre.

 

»Ist er«, fragte Flambeau mit einer Stimme, die seltsam auf und nieder schwankte, »ist er in Ordnung?«

 

»Scheint so«, sagte der Beamte heiser und beugte sich über das undeutliche verfaulende Skelett in der Kiste. »Einen Augenblick.«

 

Ein mächtiger Schauder überlief Flambeaus riesige Gestalt. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke«, schrie er, »warum im Namen des Wahnsinns sollte er nicht in Ordnung sein? Was packt einen Mann in diesen verfluchten kalten Bergen? Ich glaube, das ist die schwarze hirnlose Gleichförmigkeit; all diese Wälder, und über allem das uralte Grauen des Unbewussten. Das ist wie der Traum eines Atheisten. Föhren und noch mehr Föhren und millionenmal mehr Föhren –«

 

»Um Gottes Willen!« schrie der Mann am Sarg. »Er hat ja keinen Kopf.«

 

Während die anderen erstarrten, zeigte der Priester zum ersten Mal das Zusammenzucken der Betroffenheit.

 

»Keinen Kopf!« wiederholte er. »Keinen Kopf?«, als hätte er eher irgendeinen anderen Mangel erwartet.

 

Halbverrückte Vorstellungen von einem kopflosen Säugling, geboren zu Glengyle, von einem kopflosen Jüngling, der sich in der Burg verbarg, von einem kopflosen Mann, der jene alten Hallen oder jenen üppigen Garten durchschritt, zogen wie ein Panorama durch ihren Sinn. Aber nicht einmal in diesem erstarrten Augenblick schlug diese Sage Wurzeln in ihnen und schien auch keinen Sinn zu ergeben. Sie standen und lauschten den lauten Wäldern und dem heulenden Himmel, töricht wie erschöpfte Tiere. Denken schien etwas Ungeheures zu sein, das plötzlich ihrem Zugriff entschlüpft war.

 

»Da stehen also drei kopflose Männer«, sagte Father Brown, »rund um das offene Grab.«

 

Der blasse Detektiv aus London öffnete den Mund, um zu reden, und ließ ihn wie ein Dorftrottel offenstehen, während ein langgezogener Schrei des Windes den Himmel zerriss; dann blickte er auf die Axt in seinen Händen, als ob sie nicht zu ihm gehöre, und ließ sie fallen.

 

»Father«, sagte Flambeau mit jener kindlichen, ernsten Stimme, die er nur selten benutzte, »was sollen wir tun?«

 

Die Antwort seines Freundes kam mit der explosiven Promptheit eines gelösten Schusses.

 

»Schlafen!« rief Father Brown. »Schlafen. Wir haben das Ende des Weges erreicht. Wisst ihr, was Schlaf ist? Wisst ihr, dass jeder Mensch, der schläft, an Gott glaubt? Schlaf ist ein Sakrament; denn er ist ein Akt des Glaubens und er ist Nahrung. Und wir brauchen ein Sakrament, auch wenn es nur ein natürliches ist. Uns ist widerfahren, was Menschen sehr selten widerfährt; vielleicht das Schlimmste, was ihnen widerfahren kann.«

 

Cravens geöffnete Lippen näherten sich einander, um zu fragen: »Was meinen Sie?«

 

Der Priester wandte sein Gesicht der Burg zu, als er antwortete: »Wir haben die Wahrheit gefunden; und die Wahrheit ergibt keinen Sinn.«

 

Er schritt ihnen voraus den Pfad hinab mit einem stürmischen und rücksichtslosen Schritt, der an ihm sehr selten war, und als sie die Burg erreicht hatten, warf er sich mit der Unschuld eines Hundes in den Schlaf.

 

Trotz seines mystischen Lobgesangs auf den Schlummer war Father Brown eher auf als alle anderen, mit Ausnahme des schweigsamen Gärtners; und ward aufgefunden, wie er eine große Pfeife schmauchte und jenen Fachmann bei seiner wortlosen Arbeit im Küchengarten beobachtete. Gegen Tagesanbruch hatte der rüttelnde Sturm im rauschenden Regen geendet, und der Tag kam mit eigenartiger Frische. Der Gärtner schien sogar gesprochen zu haben, aber beim Anblick der Detektive pflanzte er seinen Spaten mürrisch in ein Beet, sagte irgendwas über sein Frühstück, schlurfte die Kohlkopfreihen entlang und schloss sich in der Küche ein: »Ein wertvoller Mensch, das«, sagte Father Brown. »Er pflegt die Kartoffeln ganz erstaunlich. Aber«, fügte er mit leidenschaftsloser Nachsicht hinzu, »er hat seine Fehler; wer von uns hat die nicht? Er hat dieses Beet nicht ganz regelmäßig umgegraben. Da zum Beispiel«, und er stampfte plötzlich auf eine Stelle. »Wegen dieser Kartoffel habe ich wirklich meine Bedenken.«

 

»Und warum?« fragte Craven, den das neue Steckenpferd des kleinen Mannes erheiterte.

 

»Ich habe meine Bedenken«, sagte der andere, »weil der alte Gow selbst seine Bedenken hatte. Er stach mit seinem Spaten methodisch in jede Stelle bis auf diese. Also muss genau hier eine mächtig feine Kartoffel stecken.«

 

Flambeau zog den Spaten heraus und trieb ihn ungestüm in die Stelle hinein. Er hob mit einer Ladung Erde etwas heraus, das nicht wie eine Kartoffel aussah, sondern eher wie ein monströser Pilz mit übergroßem Hut. Aber es traf den Spaten mit einem kalten Klicken; es rollte dahin wie ein Ball und grinste zu ihnen auf.

 

»Der Earl of Glengyle«, sagte Brown traurig und blickte bedrückt auf den Schädel hinab.

 

Dann, nach einem Augenblick des Nachdenkens, nahm er Flambeau den Spaten weg und sagte: »Wir müssen ihn wieder verstecken«, und packte ihn in die Erde. Danach stützte er seinen kleinen Körper mit dem mächtigen Kopf auf den großen Griff des Spatens, der fest in der Erde stak, und seine Augen waren leer und seine Stirn war voller Falten. »Wenn man nur«, murmelte er, »die Bedeutung dieser letzten Monstrosität begreifen könnte.« Und indem er sich über den großen Spatengriff lehnte, verbarg er seinen Kopf in den Händen, wie man das in der Kirche tut.

 

Der Himmel leuchtete an allen Ecken in Blau und Silber auf; die Vögel zwitscherten in den winzigen Gartenbäumen; das schien so laut, als sprächen die Bäume selber. Aber die drei Männer waren schweigsam genug.

 

»Na, ich jedenfalls geb’s auf«, sagte Flambeau schließlich heftig. »Mein Gehirn und diese Welt passen nicht zusammen; und das ist alles. Schnupftabak, zerstörte Gebetbücher und das Innere von Musikautomaten – was –«

 

Brown warf seine zerquälte Stirn zurück und pochte mit einer für ihn sehr ungewöhnlichen Unduldsamkeit auf den Spatengriff. »O pah, pah, pah!« rief er. »Das alles ist so klar wie Kloßbrühe. Ich habe den Schnupftabak und all das Uhrwerk und all das abgegriffen, als ich heute morgen die Augen aufschlug. Und danach hab ich das mit dem alten Gow geklärt, dem Gärtner, der weder so stumm noch so dumm ist, wie er zu sein vorgibt. Bei den losen Dingen fehlt nichts. Und beim zerrissenen Messbuch hab ich mich auch geirrt; da ist nichts Schlimmes. Aber diese letzte Angelegenheit. Gräber zu schänden und toter Männer Köpfe zu stehlen – da steckt doch sicherlich Schlimmes drin? Da steckt doch sicher schwarze Magie drin? Das passt doch nicht in die einfache Geschichte vom Schnupftabak und den Kerzen.« Und wieder schritt er auf und ab und rauchte mürrisch.

 

»Mein Freund«, sagte Flambeau mit grimmem Humor, »Sie müssen mit mir vorsichtig umgehen und sich daran erinnern, dass ich einstmals Verbrecher war. Der große Vorteil jenes Zustandes war, dass ich die Geschichte immer selbst entwarf und sie so schnell spielte, wie es mir gefiel. Dieses Herumlungern, wie es das Geschäft des Detektivs verlangt, ist für meine französische Ungeduld zuviel. Während meines ganzen Lebens habe ich, gut oder nicht, alles sofort erledigt; ich habe meine Duelle immer am nächsten Morgen gefochten; ich habe meine Rechnungen immer pünktlich bezahlt; ich habe nicht mal einen Besuch beim Zahnarzt aufgeschoben –«

 

Father Brown fiel die Pfeife aus dem Mund und zerbrach auf dem Kiesweg in drei Stükke. Er stand da und rollte mit den Augen, das wahre Abbild eines Schwachsinnigen. »Gott, was bin ich für ein Dummkopf!« wiederholte er immer wieder. »Gott, was für ein Dummkopf!« Dann begann er in einer fast trunkenen Weise zu lachen.

 

»Der Zahnarzt!« wiederholte er. »Sechs Stunden im geistigen Abgrund, und alles nur, weil ich nie an den Zahnarzt gedacht habe! So ein einfacher, so ein schöner und friedvoller Gedanke! Freunde, wir haben die Nacht in der Hölle verbracht; aber jetzt ist die Sonne aufgegangen, die Vögel jubilieren, und der strahlende Umriss des Zahnarztes tröstet die Welt.«

 

»Und ich werde den Sinn herauskriegen«, schrie Flambeau und stürmte vor, »selbst wenn ich die Foltern der Inquisition anwenden muss.«

Halten wir an dieser Stelle inne und spielen für einen Moment den Detektiv. Welches ist das Rätsel und wie lässt es sich lösen? (Für die Ungeduldigen: Die Lösung und das Ende der Geschichte folgt sogleich; wir raten aber davon ab, die Unsitte, eine Detektivgeschichte von hinten zu lesen, an dieser Stelle greifen zu lassen.)

Folgendes sind die Fakten: Der Schlossherr Earl of Glengyle ist gestorben. Es gibt eine seltsame Gestalt, den Diener Israel Gow, der sich ausgesprochen merkwürdig verhält. Im Schloss finden sich verschiedene Gegenstände: Lose Diamanten, Kerzen ohne Halter, Uhrräder ohne Gehäuse, Schnupftabak, verschiedene Stöcke ohne Knauf, Bleistiftminen. Es gibt auch veränderte Gegenstände: Bilder ohne Heiligenschein, eine Leiche ohne Kopf, und schließlich den abgetrennten Kopf der Leiche, vergraben im Gemüsegarten. Gesucht wird nun ein theoretisches Modell, eine verbindende Theorie, die all diese Gegenstände und all diese Fakten so miteinander verknüpft, dass sie ein sinnvolles Ganzes ergeben, ohne dass eines der Elemente vernachlässigt ist. Pater Brown und seine Kollegen geben in seiner Geschichte selbst mehrere mögliche Theorien zum Besten.

Theorie Nr. 1: Der Schlossherr ist ein Liebhaber desancien régime. Während verschiedene Dinge wie Diamanten, Kerzen und Schnupftabak noch dazu passen mögen, sind andere Gegenstände, z. B. die Bilder ohne Heiligenschein, schwer mit dieser Theorie vereinbar. Also schreiten wir weiter:

Theorie Nr. 2: Der alte Earl of Glengyle war ein Dieb. Das würde erklären, warum sich so viele Diamanten, Kerzen und vielleicht noch Uhrräder finden, aber wiederum würden andere Elemente nicht zu diesem Modell passen.

Theorie Nr. 3: Schwarze Magie. Sie scheint für Pater Brown diejenige Theorie zu sein, die am besten passt. Sie erklärt auch in der Tat fast alle Elemente der vorgefundenen Geschichte schlüssig. Die Frage ist, ob sie stimmt. Und diese Theorie lehrt uns auch sogleich sehr vieles über die Tücken der wissenschaftlichen Theoriebildung. Obwohl die Theorie alle Daten und alle Elemente, die wir vorfinden, einigermaßen gut und schlüssig miteinander in Verbindung bringen kann, ist sie doch nicht die beste aller möglichen Theorien, weil sie zu kompliziert ist (abgesehen davon, dass sie falsch ist, wie sich später herausstellen wird). Sie ist zu kompliziert, weil sie sehr viele Annahmen macht, die nicht von Fakten gestützt werden. In der Wissenschaft spricht man davon, dass Theorien möglichst sparsam sein sollen. Dafür hat sich das Wort von »Ockhams Rasiermesser « eingebürgert. Was dies genau bedeutet, werden wir im Kapitel über Ockham und das Mittelalter erläutern. Hier sei so viel verraten, dass möglichst wenig auf theoretische Strukturen zurückgegriffen werden soll, die nicht überprüfbar oder im Rahmen des Vorgefundenen nicht belegbar sind. Pater Brown verwirft dann also auch all diese möglichen aber falschen Theorien mit dem folgenschweren und bemerkenswerten Satz »Zehn falsche Philosophien passen aufs Universum; zehn falsche Theorien passen auf Burg Glengyle.« Die Frage ist, welche Theorie ist die richtige?

Die richtige Theorie ist wie gesagt die, welche

a)  alle vorgefundenen Fakten

b)  möglichst schlüssig,

c)  möglichst sparsam, und

d)  möglichst durch Erfahrung oder Überprüfung an der Wirklichkeit erklären kann.

Hören wir die Geschichte weiter, um zu sehen, welche Theorie nun die richtige ist.

Father Brown unterdrückte, was eine momentane Neigung zu sein schien, auf dem jetzt sonnenbestrahlten Rasen zu tanzen, und rief Mitleid erheischend wie ein Kind: »Ach lasst mich doch ein bisschen albern sein. Ihr wisst nicht, wie unglücklich ich war. Und jetzt weiß ich, dass es in dieser Geschichte überhaupt keine schwere Sünde gibt. Nur ein bisschen Verrücktheit, vielleicht – und wen stört das schon?«

 

Er wirbelte einmal herum und sah sie dann ernsthaft an.

 

»Dies ist nicht die Geschichte eines Verbrechens«, sagte er; »es ist vielmehr die Geschichte einer sonderbaren und verdrehten Redlichkeit. Wir haben es mit dem vermutlich einzigen Mann auf Erden zu tun, der nicht mehr genommen hat, als ihm zustand. Dies ist eine Studie der wilden Lebenslogik, die immer schon die Religion seiner Rasse war. Jener alte Spruch der Gegend über das Haus der Glengyle

 

Was grüner Saft für das Wachsen der Bäume

 

War rotes Gold für der Ogilvies Träume

 

ist ebenso wörtlich gemeint wie bildlich. Er bedeutet nicht nur, dass die Glengyles nach Reichtum trachteten; es war ebenso wahr, dass sie buchstäblich Gold horteten; sie besaßen eine große Sammlung von Schmuck und Gerätschaften aus diesem Metall. Sie waren tatsächlich Geizhälse, deren Wahn diese Form annahm. Nun gehen Sie im Lichte dieser Tatsache einmal all die Dinge durch, die wir in der Burg gefunden haben. Diamanten ohne ihren goldenen Ring; Kerzen ohne ihre goldenen Kerzenhalter; Schnupftabak ohne goldene Schnupftabakdosen; Bleistiftminen ohne die goldenen Stifte; einen Spazierstock ohne seinen goldenen Knauf; Uhrwerke ohne ihre goldenen Uhren – oder besser Taschenuhren. Und wie verrückt es auch klingt, weil die Heiligenscheine und der Name Gottes in den alten Messbüchern aus reinem Gold waren, wurden auch sie entfernt.«

 

Der Garten schien heller zu werden, das Gras fröhlicher in der stärkenden Sonne zu wachsen, als die verrückte Wahrheit erzählt war. Flambeau zündete sich eine Zigarette an, als sein Freund fortfuhr.

 

»Wurden entfernt«, berichtete Father Brown weiter, »wurden entfernt – aber nicht gestohlen. Diebe hätten dieses Geheimnis nie ungelüftet gelassen. Diebe hätten die goldenen Schnupftabakdosen, den Schnupftabak und alles geklaut; die goldenen Stifte, die Bleistiftminen und alles. Wir haben es mit einem Menschen zu tun, der ein eigenartiges Gewissen hat, aber gewiss ein Gewissen. Ich habe diesen verrückten Moralisten heute morgen in jenem Küchengarten gefunden, und ich habe die ganze Geschichte gehört.

 

Der verblichene Archibald Ogilvie kam von allen je auf Glengyle Geborenen einem guten Menschen am nächsten. Aber seine bittere Tugend wandelte sich zur Menschenfeindlichkeit; er grämte sich über die Unredlichkeit seiner Vorfahren und verallgemeinerte daraus eine Unredlichkeit aller Menschen. Insbesondere aber misstraute er jeglicher Menschlichkeit oder Freigebigkeit; und er schwor: Wenn er einen Mann fände, der nur nehme, was ihm exakt zustehe, dann solle der alles Gold der Glengyles haben. Nachdem er so der Menschheit den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, schloss er sich ein, ohne auch nur im mindesten zu erwarten, dass er eine Antwort darauf erhielte. Eines Tages aber brachte ihm ein tauber und scheinbar schwachsinniger Bursche aus einem entfernten Dorf ein verspätetes Telegramm; und Glengyle gab ihm in ätzendem Hohn einen funkelnagelneuen Farthing. Zumindest bildete er sich das ein, aber als er seine Münzen zählte, war der neue Farthing noch da und ein Sovereign verschwunden. Dieser Zwischenfall bot ihm weite Aussichten auf zynische Überlegungen. Der Bursche würde auf jeden Fall die schmierige Gierigkeit der Art beweisen. Entweder würde er verschwinden, der Dieb einer Münze; oder er würde tugendsam mit ihr zurückgekrochen kommen, der Heuchler in Erwartung einer Belohnung. Mitten in der Nacht wurde Lord Glengyle aus seinem Bett gepocht – denn er lebte allein – und musste dem tauben Schwachsinnigen die Tür öffnen. Der Schwachsinnige brachte ihm nicht etwa den Sovereign, sondern exakt 19 Schilling 11 Pence und 3 Farthings Wechselgeld.