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Beschreibung

Der Sammelband regt an, über den Tellerrand der Linguistik hinauszuschauen, dorthin zu gehen, wo sich die (Sub)Disziplinen nicht mehr zuständig fühlen, und dabei die Gegenstände, Zugänge sowie Handlungsräume neu zu betrachten. Die Beiträge leuchten die Schnittstellen zwischen den institutionell verfestigten Disziplinen aus und diskutieren, wo sinnvolle Grenzüberschreitungen und Brückenschläge nötig sind, um starre "Denkstile" (Ludwik Fleck) aufzubrechen, disziplinäre Gewissheiten zu hinterfragen und mögliche neue Gegenstandsbestimmungen vorzunehmen.

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Seitenzahl: 492

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Sarah Brommer / Kersten Sven Roth / Jürgen Spitzmüller

Brückenschläge

Linguistik an den Schnittstellen

Die Festschrift wurde durch die Universitätsbibliothek Zürich finanziell unterstützt.

 

Prof. Dr. Sarah Brommer

Universität Bremen

Fachbereich 10 | Sprach- und Literaturwissenschaften

Universitäts-Boulevard 13

28359 Bremen

https://orcid.org/0000-0002-1792-4328

 

Univ.-Prof. Dr. Jürgen Spitzmüller

Universität Wien

Institut für Sprachwissenschaft

Sensengasse 3a

A-1090 Wien

https://orcid.org/0000-0001-7213-9173

 

Prof. Dr. Kersten Sven Roth

Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Institut III/Bereich Germanistik

Zschokkestr. 32

39104 Magdeburg

https://orcid.org/0000-0003-1691-9671

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395188

 

© 2022 · Sarah Brommer / Kersten Sven Roth / Jürgen Spitzmüller (Hrsg.)

Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/den ursprünglichen Autor/innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

 

ISSN 0564-7959

ISBN 978-3-8233-8518-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0459-3 (ePub)

Inhalt

Brückenschläge fachlich, menschlichLiteraturWarum es nur eine Linguistik gibt1 Einleitende Bemerkungen2 Was tut Sprachwissenschaft/Linguistik – und was nicht?3 Gelingende Interdisziplinarität4 Die Relevanz der wissenschaftlichen Erforschung von Sprache(n) als solcheLiteraturWie viele Kasus hat das Deutsche?1 Einleitung2 Drei langfristige Entwicklungstendenzen des deutschen Kasussystems2.1 Schwächung des formalen Kontrasts zwischen Nominativ und Akkusativ2.2 Spezialisierung des strukturellen Genitivs als adnominaler Kasus2.3 Ausbau der Präpositionalphrase3 Konsequenz: Morphemzusammenfall von Genitiv und Dativ4 Zwischenbilanz für die Entwicklung zum Neuhochdeutschen hin5 Alemannisch als „Neuhochdeutsch 2.0“6 Genitivproblem 2.0: Warum ist der Genitiv im Neuhochdeutschen erhalten?7 FazitLiteraturSatz für Satz1 Einleitung2 Das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache3 Das Verhältnis von Sprachsystem und Schriftsystem4 Der Satz im Sprachsystem5 Der Satz im Schriftsystem6 Die Einheit ‚Schreibäußerung‘7 Orthographische Beschränkungen für Schreibäußerungen im Deutschen7.1 Großbuchstaben am linken Rand von Schreibäußerungen7.2 Schlusszeichen am rechten Rand von Schreibäußerungen7.3 Zum strukturellen Verhältnis von Schreibäußerung und Satz7.4 Kommaregeln als Wohlgeformtheitsbedingungen für Schreibäußerungen8 FazitLiteraturDie Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag zwischen Areallinguistik und Grammatikographie – am Beispiel der Genusvariation1 Einleitung, Verortung und Zielsetzung2 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen3 Vom Nutzen der Variantengrammatik für die Klärung grammatischer Normprobleme4 Vom Nutzen der Variantengrammatik für die Grammatikforschung – das Beispiel Genus bei Anglizismen4.1 Areale Genusvariation im Deutschen4.2 Prinzipien der Genuszuordnung bei Anglizismen4.3 Areale Genusvariation bei Anglizismen im Deutschen5 Fazit: Vom Nutzen eines Brückenschlags zwischen Areallinguistik und GrammatikographieLiteraturZwischen Empirie und Hermeneutik1 Einleitung2 Fragestellung: Orientierungsschwierigkeiten3 Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Bedeutung‘4 Analyse4.1 Die Oberfläche lässt tief blicken4.2 Korpuspragmatik als Topographie der Semantik4.3 Linke sind links, Rechte sind konservativ5 Brückenschlag zwischen Geistes- und SozialwissenschaftLiteraturArtikel aus dem KorpusPrimärquellenSekundärliteraturBegegnung mit dem ‚Fremden‘1 Übersetzung von und zwischen Kulturen: Probleme und Begriffe1.1 Kultureme und kulturelle Rahmung1.2 Äquivalenz1.3 Übersetzung und (Vor-)Urteil1.4 Kultureller Relativismus oder Universalismus?2 Übersetzen und/als Verstehen: Perspektiven der Hermeneutik im Anschluss an Humboldt und Gadamer3 Übersetzung als Problem der interkulturellen Kommunikation3.1 Interkulturelle Kommunikation und (Un-)Übersetzbarkeit3.2 Übersetzung im Problemfeld Globalisierung4 Fazit und AusblickLiteraturSpracharbeit im Filmgeschäft1 Die Macht kleiner Texte2 Spracharbeiter:innen und wordsmiths3 Spracharbeit im Filmgeschäft3.1 Dialektcoaches3.2 Synchronsprecher:innen4 Untertitel als kleine Texte5 Ökonomien und Ideologien der SpracharbeitDanksagungLiteraturDesign als symbolische Form1 Symbolische Formen2 Kritik an Cassirer3 Design als symbolische Form4 Design zwischen Kunst und Technik4.1 Drei Praktiken4.2 Kunst vs. Design4.3 Technik vs. Design4.4 Technik – Design – Kunst5 Design im Vergleich mit anderen symbolischen Formen6 Sprache & Design6.1 Form und Materie6.2 Beispiel Sachbuch6.3 Beispiel Cockpit6.4 Arbeitsteilung zwischen Sprache und Design7 Gestaltetes BedeutungserlebnisLiteratur„Telekopräsenz“1 Zur Einführung: COVID-19 und der Wandel von Kommunikationsbedingungen2 Anwesenheit vs. Erreichbarkeit3 Telekopräsenz und Herstellung von Anwesenheit in der Videokonferenz4 Ausblick: Telekopräsenz als Kommunikationsbedingung im WandelLiteraturMeinung1 Vorbemerkung2 „Ihre Meinung bitte!“3 Ein phänomenologischer Rundblick4 Was ist überhaupt eine Meinung?5 Funktionen von Meinungen6 Meinungsbildung6.1 Traditionen der Meinungsbildung6.2 Meinungen in Interaktionen6.3 Argumentationen und Pseudo-Argumentationen7 ‚Eigene Meinung‘8 Meinung und Sprachideologie9 Linguistische Meinungsforschung10 Zusammenfassung und AusblickLiteraturOhne Sinn1 Einleitung2 Idee und Funktionsweise des E-Raters3 Kritik am E-Rater4 Aufsätze als kulturell verankerte Zeichengebilde5 Eine Bewertungsvorhersage ist keine Bewertung5.1 Der Grundgedanke der Sprechakttheorie5.2 Gelingensbedingungen des Bewertens und Benotens von Aufsätzen5.3 Können Vorhersagen hier dennoch eine sinnvolle Rolle spielen?LiteraturSprachliche Höflichkeit1 Konjunktur der Höflichkeit in öffentlichen Debatten und Beratungsbedarf2 Höflichkeit im linguistischen Aufschwung3 Empirische Einblicke in den Umgang mit Höflichkeit in der Schule4 Höflichkeit in Rahmenvorgaben und Lehrwerken für den Deutschunterricht4.1 Muttersprachlicher Deutschunterricht im Bereich der Allgemeinbildung4.2 Sprachunterricht im Bereich der Berufsbildung4.3 Deutsch‐als‐Fremdsprache‐Unterricht5 Reflektierte Höflichkeit als LeerstelleLiteraturRahmenvorgaben und LehrwerkeDie BrückenbauerinHerausgeber:innen und Beiträger:innenHerausgeber:innenBeiträger:innen

Brückenschläge fachlich, menschlich

Sarah Brommer (Universität Bremen), Kersten Sven Roth (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) und Jürgen Spitzmüller (Universität Wien)

Beginnen wir mit ein paar persönlichen Erinnerungen, die sehr gut verdeutlichen, warum wir diesen Band so betitelt haben, wie wir ihn betitelt haben. Die erste reicht genau zwei Jahrzehnte zurück, in den Herbst 2002. Christa Dürscheid hatte gerade ihre Professur am Deutschen Seminar der Universität Zürich angetreten, deren zwanzigjähriges Jubiläum wir mit diesem Band feiern, und zwei Prädoc-Assistenzen ausgeschrieben. Einer von uns hatte sich darauf beworben, ohne viel Hoffnung, da er Christa Dürscheid persönlich nicht kannte, sie ganz sicher noch nichts von ihm gehört hatte, und außerdem: Syntax?! Vorfelder im Deutschen?! Valenz?! Schriftsysteme?! Da konnte er nun wirklich nicht reüssieren. Na gut, da war ja noch die Medienlinguistik, ein kleiner Hoffnungsschimmer vielleicht, und versuchen kann man es ja. Überraschenderweise kam dann die Einladung zum Bewerbungsgespräch. Schnell auf der Zugfahrt nach Zürich noch einmal die Einführung in die Syntax gelesen, man weiß ja nie; aber dann doch eingesehen, dass auf diesem Feld nichts zu gewinnen war, und in die Offensive gegangen: „Frau Dürscheid, dass ich im Bereich der Grammatiktheorie nichts vorzuweisen habe, haben Sie ja in den Unterlagen gesehen.“ – „Dann erzählen Sie doch mal, was Sie machen!“ Der Bewerber erzählt von seinem laufenden Dissertationsprojekt, einer soziolinguistischen Arbeit, in der sprachkritische Diskurse auf der Basis französisch-poststrukturalistischer Epistemologie analysiert werden – ein Thema, bei dem viele sog. ‚Kernlinguist:innen‘ nur müde abgewunken hätten (dazu später mehr). Christa Dürscheids Miene wird nachdenklich und ernst. „Ehrlich gesagt, ich habe absolut keine Ahnung von dem, was Sie mir da gerade erzählt haben.“ Plötzlich ein Strahlen: „Das interessiert mich!“ Diese Geschichte ist typisch dafür, wie Christa Dürscheid Sprachwissenschaft betreibt: als ständiges Sondieren dort, wo möglicherweise Neues und Überraschendes (nach Peirce 1958 [1901]: § 180 ein Motor der wissenschaftlichen Erkenntnis) zu finden ist, Dinge, die nicht nur den eigenen Horizont, sondern potenziell auch den Skopus der Sprachwissenschaft insgesamt zu erweitern versprechen: Linguistik an den Schnittstellen.

Dass das Interesse ernst gemeint war, zeigte sich dann nicht nur daran, dass der Bewerber tatsächlich eine der beiden Stellen bekommen hat (die andere, auch das ist bezeichnend, wurde mit einem Bewerber besetzt, der Syntax auf der Grundlage Generativer Theorie betrieben hat – und Christa Dürscheid wusste, dass es sich lohnt, einen Soziolinguisten und einen Generativisten in ein Büro zu setzen; auch dieser Brückenschlag ist ihr gelungen). Die Ernsthaftigkeit zeigte sich vor allem darin, dass Christa Dürscheid von nun an begonnen hat, sich systematisch mit Sprachkritik zu befassen – und dies eben gerade nicht so, wie es in Fachkreisen zu der Zeit so gerne gemacht wurde: im Sinne eines belehrenden Aufklärens von ‚Mythen‘, sondern mit ernstem Interesse daran, was die Menschen bewegt, die sich jenseits der Linguistik mit Sprache befassen (s. dazu auch den Beitrag von Bühler i. d. Bd.). Bald auch erste Publikationen zum Thema. Inzwischen ist Christa Dürscheid, die Konrad-Duden-Preisträgerin 2020, auch auf diesem Gebiet, wie man weiß, schon längst gefragte Expertin und stetige Impulsgeberin.

Dass dieses systematische Explorieren neuer Felder niemals auf Kosten anderer geht, dass sie also, wenn sie sich ein Thema ‚zu Eigen‘ macht, dies immer zum Gewinn derer ist, die sie dazu inspiriert haben, ist einem sehr wesentlichen Charakterzug Christa Dürscheids zu verdanken, den Erinnerungen an erste gemeinsame Tagungsbesuche verdeutlichen. Es war uns bereits bewusst, wie unglaublich vernetzt ‚die Chefin‘ ist. Wir selbst kannten kaum jemanden und hatten bei den wenigen vorherigen Tagungsbesuchen die nicht sehr angenehme Erfahrung gemacht, dass man als Noviz:in häufig eher verloren dasteht in einem Kreis von Personen, die sich alle mehr oder weniger gut kennen, sich vielleicht länger nicht gesehen und entsprechend viel zu besprechen haben. Wie sie uns später erzählt hat, kannte Christa Dürscheid diese Erfahrung auch, und vielleicht deswegen hat sie sich um uns in dieser prekären Situation so gut gekümmert. „Kommen Sie, ich stelle Sie ein paar Leuten vor!“ Es folgte eine Tour, die uns wie ein Gang durch unsere Literaturliste vorkam: lauter bekannte Namen, die nun mit Menschen verkoppelt wurden, zu denen uns Christa Dürscheid Brücken schlug, welche vielfach erhalten geblieben sind. In Erinnerung geblieben ist uns dabei aber nicht zuletzt, wie sie sie schlug. Christa Dürscheid sagte zu ihren Kolleg:innen nicht: „Ich möchte Ihnen meine Assistentin/meinen Assistent XY vorstellen“. Sie sagte: „Ich möchte Sie gerne mit XY bekannt machen. Wir arbeiten zusammen an einem Lehrstuhl.“

Dass Christa Dürscheid immer das Wohlergehen der anderen mit im Blick hat, zeigt sich auch daran, dass sie Brücken zwischen Wissenschaftsbetrieb und Privatleben schlägt und dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für sie keine leere Floskel, sondern eine Herzenssache ist. Wer sie kennt, schätzt ihre aufrichtige Anteilnahme am persönlichen Wohlergehen anderer, ihr Mitfreuen an Anlässen wie Hochzeiten und Geburten ebenso wie ihr Mitfühlen bei persönlichen Belastungen. Unvergessen bleibt das Erlebnis, als Christa Dürscheid von der anstehenden Elternschaft von einem von uns erfuhr: Die in leiser Sorge vorgetragene Mitteilung traf auf große Freude ihrerseits, die in einen langen, begeisterten Vortrag mündete, wie schön diese Aussicht sei und wie wunderbar sich wissenschaftliches Arbeiten und Familienalltag vereinbaren ließen. Dass dies in der Praxis nicht immer der Fall ist, haben wir dann noch früh genug erfahren. Aber der steten Anteilnahme und Unterstützung durch Christa Dürscheid konnten wir uns in jedem Moment gewiss sein. Die Selbstverständlichkeit und Uneitelkeit, mit der die Mütter und die Väter diese Unterstützung erfuhren, war und ist einzigartig.

Wie Christa Dürscheid auch fachlich und wissenschaftsstrategisch beim Brückenbau anderer mitplante, verdeutlicht die letzte Erinnerung. Nach Abschluss der Dissertation und nachdem klar war, dass dem eine Postdoc-Phase folgen sollte, beschäftigten wir uns mit der Frage, zu welchem Thema wir denn eine Habilitation anstreben sollten. Eine:r von uns hatte, nicht zuletzt durch Christa Dürscheids schriftlinguistische Arbeiten inspiriert, mit dem Gedanken gespielt, zur Materialität und Gestaltung von Schrift zu arbeiten, damals noch ein randständiges Thema im Fach, mit dem sich allenfalls die Textstilistik oder Sozialsemiotik gelegentlich befassten (die Schriftlinguistik, selbst zu der Zeit immer noch randständig genug, noch nicht). Dieses Gedankenspiel wurde jäh beendet, nachdem wir von einem Sprachwissenschaftler, einem ausgewiesenen Soziolinguisten, der von unserer aufkeimenden Habilitationsidee nichts wusste, im Gespräch über unsere (soziolinguistisch-diskurslinguistische) Dissertation den gut gemeinten Rat bekommen haben: „Aber für Ihre Habilitation machen Sie doch etwas Linguistisches!“. Als Christa Dürscheid dann einige Zeit später wissen wollte, ob man schon Ideen für das Habilitationsprojekt habe, hat die:der dermaßen Zurechtgestutzte geantwortet: „Na ja, ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, im Bereich der Schriftlinguistik zu arbeiten und dort die vernachlässigten Gebiete Typographie, Materialität und Gestaltung genauer anzusehen. Aber ich habe das verworfen, weil das Thema etwas zu randständig ist und von Vielen sicher gar nicht als sprachwissenschaftliches akzeptiert wird.“ Christa Dürscheids Antwort: „Na, wenn das kein Grund ist, sich des Themas endlich anzunehmen!“.

 

 

Die Metapher der SCHNITTSTELLE, die wir für den Untertitel dieses Bandes gewählt haben, lässt sich unterschiedlich ausdeuten. Zuerst denkt man sicher an den Bildspendebereich der Computertechnik. Dort ist, wie wir etwa in der Wikipedia lesen können,

[d]ie Schnittstelle (englisch Interface, [ˈɪntəfeɪs] oder [ˈɪnt̬ɚfeɪs]) […] der Teil eines Systems, das der Kommunikation dient. (Wikipedia o. J.; Herv. entfernt)

Schnittstellen sind also Kommunikationskanäle zwischen verschiedenen Bereichen eines ‚Systems‘, sie verbinden voneinander getrennte Sphären zu einem ‚Ganzen‘. Wie der zitierte Wikipedia-Artikel weiter ausführt:

Wenn man ein beliebiges „System“ als Ganzes betrachtet, das es zu analysieren gilt, wird man dieses Gesamtsystem in Teilsysteme „zerschneiden“. Die Stellen, die als Berührungspunkte oder Ansatzpunkte zwischen diesen Teilsystemen fungieren (über die die Kommunikation stattfindet), stellen dann die Schnittstellen dar. Unter Verwendung dieser Schnittstellen kann man die Teilsysteme wieder zu einem größeren Ganzen zusammensetzen. Sie dienen dann als Nahtstellen. (Wikipedia o. J.)

Kommunikation zwischen als getrennt betrachteten Sphären und Schnittstellen als Nahtstellen zwischen kommunizierenden (Teil-)Systemen: Dies beschreibt das Sprachwissenschaftsverständnis Christa Dürscheids sehr treffend. Wie die geschilderten Erinnerungen zeigen, ist der Dialog über (teil-)disziplinäre Grenzen hinaus (und dazu gehört unbedingt auch die Schule und die nichtlinguistische Öffentlichkeit) etwas, was für diese Sprachwissenschaftlerin unbedingter Bestandteil eigenen Tuns ist. Christa Dürscheid ist überzeugt davon, dass nur Offenheit gegenüber neuen Themen und Gegenständen und für abweichende Positionen Wissenschaftler:innen und Wissenschaften voranbringt, wohingegen ein Verharren im „esoterischen Kreis“ (Fleck 1980 [1935]: 138–139) der eigenen akademischen Blase zwar zu immer weitergehender Spezialisierung führen mag, aber einer Spezialisierung, die den eigenen Denkstil und dessen „Beharrungstendenz“ (Fleck 1980 [1935]: 40–53) nicht zu überschreiten imstande ist. Auch wenn Christa Dürscheid alles andere ist als eine Poststrukturalistin, haben wir den Eindruck, dass Michel Foucaults Motto auch das ihre ist:

Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. (Foucault 1995 [1984]: 15)

Neben der computertechnischen Lesart kann man die Metapher der SCHNITTSTELLE freilich auch anders lesen, wenn man die Metaphorik, die die informationstechnologische Terminologie trägt (wie das zweite Wikipedia-Zitat oben zeigt), weiter auflöst. Die Schnittstelle ist dann eine Grenze, die Stelle, in der etwas (vielleicht einem Schnittmuster folgend) in verschiedene Teile zerschnitten wird. Wenn man die Metapher so auflöst, wäre ‚Linguistik an den Schnittstellen‘ ‚Linguistik an den Grenzen‘ oder ‚Rändern‘. Dies impliziert, dass die Sprachwissenschaft konzentrisch aufgebaut ist. Wie wir wissen, ist das ein in der Sprachwissenschaft (insbesondere des vergangenen 20. Jahrhunderts) weit verbreitetes Konzept. Demzufolge gibt es eine ‚Kernlinguistik‘ (auch ‚harte Linguistik‘ oder linguistics proper), die umgeben ist von den sogenannten ‚Bindestrich-Linguistiken‘ an der Peripherie. „Aber für Ihre Habilitation machen Sie doch etwas Linguistisches!“ ist ein Rat, der auf einer solchen konzentrischen Vorstellung beruht (bzw. auf der Vorstellung, dass der Kandidat sich in einem als konzentrisch konzipierten Fach bewegt, karrierestrategisch also keinesfalls das ‚Zentrum‘ vernachlässigen darf, wenn er in diesem Fach weiterkommen möchte). Eine andere Form dieses Rats, die ein (vernichtendes) Verdikt ist, trägt die Form „Aber das ist nicht (Gegenstand der) Linguistik!“ oder auch „Das ist keine linguistische Fragestellung!“, ein Verdikt, das mehr ist als nur der Hinweis auf Disziplinengrenzen, Zuständigkeiten und Kompetenzen und das – wie Agha (2007) zeigt – sehr eng zusammenhängt mit der Entstehungsgeschichte der (‚modernen‘) Sprachwissenschaft und ihrem Bemühen, die eigene Existenz gegenüber älteren mit Sprache befassten Disziplinen zu legitimieren:

‘Yes, but it isn’t linguistics.’ This incantation is not an innocent dismissal. It is an ideological stance on the study of language that serves specific positional interests. It bespeaks a particular model of discipline formation, one which links the act of restricting a subject matter to the performative self-constitution of a unified ‘linguistics,’ and to membership in its disciplinary ranks. (Agha 2007: 220)

Schön, aber das ist doch keine Linguistik! Diesen Satz musste sich auch Christa Dürscheid (p.c.) anhören, als sie etwa 2002 die erste Auflage der inzwischen fünffach aufgelegten Einführung in die Schriftlinguistik (Dürscheid 2016a) ausarbeitete. Inzwischen ist ‚die Schriftlinguistik‘ längst unbestrittenes Standardwerk, das Buch hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Teildisziplin selbst fest im Fach zu etablieren, und die jüngst erschienene englischsprachige Schwesterpublikation (Meletis & Dürscheid 2022) zeigt, wie sehr dies inzwischen auch international der Fall ist. Das ist Linguistik!

‚Linguistik an den Schnittstellen‘ ist also bei Christa Dürscheid gerade nicht ‚Linguistik an den Rändern‘ oder gar ‚Linguistik jenseits ihrer Grenzen‘. Es ist ‚Linguistik in Kommunikation‘. Christa Dürscheid hat immer selbstverständlich und souverän Bereiche bearbeitet, die im Konzentrismus als ‚Kernbereiche‘ der Sprachwissenschaft bezeichnet werden, etwa Grammatiktheorie, spezifisch Syntax (bspw. Dürscheid 1989, 1999, 2012), gleichzeitig aber auch solche, die diese eher im Bereich der ‚weichen‘ bzw. ‚peripheren‘ Angewandten Sprachwissenschaft verorten würde, etwa im Feld der Medienlinguistik (bspw. Dürscheid, Wagner & Brommer 2010, Thurlow, Dürscheid & Diémoz 2020), der Politolinguistik (Roth & Dürscheid 2010), der Sozio- (Dürscheid & Spitzmüller 2006) und Variationslinguistik (Dürscheid & Schneider 2019, Dürscheid 2021) sowie der Deutschdidaktik (vgl. Dürscheid 1993, 2016b, 2022). Und sie hat sich Gebieten zugewandt, die für viele Vertreter:innen des Konzentrismus ‚jenseitig‘ (in vielerlei Hinsicht des Wortes) sind, etwa die genannte Schriftlinguistik oder die Mensch-Maschine-Kommunikation (Brommer & Dürscheid 2021). Dabei hat Christa Dürscheid stets auch, wie bereits erwähnt, die Schnittstelle Wissenschaft – Öffentlichkeit mitbedacht, lange bevor die Wissenschaftskommunikation neben Forschung und Lehre als third mission deklariert wurde. Zahlreiche Beiträge oder Interviews für Zeitungen und Zeitschriften, regelmäßige Teilnahmen an Veranstaltungen für die Öffentlichkeit sowie Publikationen, die sich dezidiert an ein breites Publikum wenden (z. B. Dürscheid & Frick 2016, Dürscheid 2021), zeugen von ihrem Engagement für das Fach. All dies ist für Christa Dürscheid – selbstverständlich! – Linguistik.

Für das ‚beschneidende‘ der Schnittstellen und die innerfachlichen Kämpfe um die Grenzen und Gegenstände des Fachs zeigt sie dabei ein staunendes Interesse. Ein prägendes Erlebnis, von dem Christa Dürscheid oft erzählt hat und das sie bis heute beschäftigt, ist der DGfS-Kongress 1993 in Jena, an dem Christa Dürscheid als junge Nachwuchswissenschaftlerin teilnahm und staunend zusah, wie sich eine Kontroverse über den „Gegenstand der Sprachwissenschaft“ zwischen dem kulturwissenschaftlich verorteten Ludwig Jäger und einigen Vertretern einer „harten Kernlinguistik“, insbesondere Günther Grewendorf und Manfred Bierwisch, entzündete, die als „Jäger-Grewendorf-Bierwisch-Debatte“ in die Fachwissenschaftsgeschichte eingegangen ist (vgl. Jäger 1993a,b; Bierwisch 1993, Grewendorf 1993, Habel 1993). Bis heute ist Christa Dürscheid fasziniert von der Härte, mit der diese Debatte geführt wurde, und davon, wie wenig darin kommuniziert wurde, weil keiner der Beteiligten den andern wirklich ernsthaft zugehört hatte. Das war ‚Linguistik an den Schnittstellen‘ als ‚Linguistik der Begrenzungen‘. Nicht Christa Dürscheids Linguistik.

 

 

Die Frage, wie man eine solch unerhörte Breite in einer Festschrift angemessen würdigen kann, hat uns lange beschäftigt und ziemlich herausgefordert. Als Meisterin des fachlichen und menschlichen Brückenschlags, die sie ist, und als souveräne und anerkannte Spielerin auf so vielen disziplinären Feldern hat Christa Dürscheid ein, wie man heute sagt, großes Netzwerk. Hinzu kommt, dass dieses Netzwerk sie unglaublich schätzt. Egal, wen wir gefragt haben, ob sie:er bereit wäre, einen Text zu einer Festschrift für Christa Dürscheid beizusteuern, es kam stets postwendend die Antwort: „Für Christa immer!“

Bald ist uns daher klar geworden, dass wir dieses Netzwerk und damit Christa Dürscheids Skopus nur partiell abdecken können. Wir haben uns daher dafür entschieden, diese Festschrift als eine Art exemplarischen Ausschnitt (no pun intended!) des Dürscheid’schen Universums anzulegen. Dieser Ausschnitt soll einerseits das breite Themenspektrum andeuten, das Christa Dürscheid abdeckt, andererseits auch verschiedene institutionelle Felder, in denen sie steht. Das führt zu Mehrerem, was erklärt werden muss: Erstens ist die Festschrift, die wir vorlegen, gewissermaßen strategisch hybrid. Das betrifft sowohl die Themen als auch die Zugänge und die Schreibstile. Alles andere wäre der Jubilarin nicht gerecht geworden. Zweitens, und das schmerzt uns mehr, haben wir im großen Kreis potenzieller Beiträger:innen stark selektieren müssen, und dies nicht unbedingt nach absteigender ‚Wichtigkeit‘ oder ‚Nähe‘, sondern eher prototypisch: Es sollte aus möglichst vielen der unterschiedlichen Felder, auf denen sich Christa Dürscheid bewegt, jemand dabei sein. Wie gesagt: Alle, die wir gefragt haben, haben ohne zu zögern zugesagt. Das heißt nun aber im Umkehrschluss, dass wir viele, die wir hätten anfragen können, nicht angefragt haben. Das wird, darüber sind wir uns vollauf im Klaren, zu Verwunderung bei einigen Kolleg:innen, vielleicht auch bei der Jubilarin selbst führen. Wir hoffen hier aber auf allseitiges Verständnis. Die Auswahl der Beiträger:innen zu dieser Festschrift ist weit weg von einer vollständigen Abbildung ihres akademischen Netzwerks, sie ist kontingent, aber sie ist auch nicht beliebig, denn an ihr lässt sich, wie wir meinen, ganz gut die Kontur von Christa Dürscheids sprachwissenschaftlicher Breite erkennen. Der Band ist, wenn man so will, eines von mehreren möglichen Schnittmustern ihrer Linguistik an den Schnittstellen. Er vereint viele verschiedene Stimmen und Positionen, die man zur Sprachwissenschaft und sprachwissenschaftlichen Themen haben kann: ein polyphoner Jubiläumschor.

 

 

Den Auftakt macht Elisabeth Stark mit einem emphatischen Plädoyer für das Festhalten an einer engen Auffassung des Gegenstands der Linguistik im Sinne eines strukturalistischen Zugriffs auf Sprache. Sie argumentiert, dass nur auf diese Weise, durch Wahrung eines klar umrissenen „Markenkerns“ der Sprachwissenschaft, ein wirklich Gewinn bringender Brückenschlag zu anderen verwandten Disziplinen im Sinne echter Interdisziplinarität möglich werde.

Guido Seiler stellt die allgemeine Annahme, derzufolge das Deutsche eine Sprache mit einem Vierkasussystem sei, in Frage, indem er in seiner Analyse eine allomorphische Beziehung zwischen den Kasus des peripheren Bereichs – Genitiv und Dativ – aufzeigt, die im Grunde der Genitivschwund in den kolloquialen Varietäten des Deutschen ihrerseits schon überwunden habe. Die Überlegungen führen ihn dazu, die Fortexistenz des Genitivs innerhalb dieses Dreikasussystems als im Sinne eines stilistischen Markers ausschließlich soziopragmatisch erklärbar zu charakterisieren.

Martin Neef befasst sich mit der Frage, was ein Satz sei. Er verbindet dabei Auffassungen der theoretischen Linguistik, bei denen Einheiten des sprachlichen Systems den relevanten Bezugspunkt darstellen, mit schriftlinguistischen, bei der die Schriftäußerung die entscheidende Größe ist. Auf diese Weise wird die Beantwortung der gestellten Frage zur Charakterisierung der – wie es im Titel formuliert ist – „Schnittstelle zwischen gesprochener und geschriebener Sprache“.

Stephan Elspaß blickt in seinem Beitrag auf die Schnittstelle zwischen Areallinguistik und Grammatikographie im Projekt „Variantengrammatik“, in dem er lange mit Christa Dürscheid zusammengearbeitet hat. Er zeigt am Beispiel der Genusvariation bei Anglizismen, wie sich die beiden im Titel genannten linguistischen Zugänge fruchtbar ergänzen bei der angemessenen empirischen Beschreibung grammatischer Wirklichkeit.

Eine theoretisch-methodologische Schnittstelle, die im gegenwärtigen Fachdiskurs nicht selten als schwer überwindbare Grenzen wahrgenommen wird, machen Livia Sutter und Noah Bubenhofer zum Gegenstand ihres Beitrags: die zwischen einer Linguistik, die sich dem Paradigma der qualitativ-hermeneutischen Geisteswissenschaften verpflichtet sieht, und einer quantitativ-empirischen Sprachwissenschaft, die häufig einem sozialwissenschaftlich geprägten Disziplinverständnis zugeordnet wird. Anhand einer Beispielanalyse zu den Ausdrücken ‚links‘ und ‚rechts‘ demonstrieren sie, wie ein korpuspragmatischer Zugriff helfen kann, diese dichotomische Sichtweise zu überwinden und die Musterhaftigkeit der sprachlichen Oberfläche als Resultat diskursiven Handelns zu verstehen.

Hermeneutik einerseits und die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation andererseits bringt Manabu Watanabe miteinander in Verbindung. Ausgehend von philosophischen Konzepten von Humboldt und Gadamer erörtert der Beitrag die grundsätzlich positive Rolle von Fremdheitserfahrung im übersetzungswissenschaftlichen Kontext.

Eine besondere Form von professioneller und sozioökonomisch bedingter „Spracharbeit“ macht Crispin Thurlow zum Gegenstand seiner Analyse: die Produktion und Funktionsweise von Untertiteln für gehörlose und schwerhörige Menschen in Kinofilmen (Closed Captions), die nicht nur die Verschriftlichung gesprochener in geschriebene Sprache, sondern auch die Transmodalisierung anderer Modi wie Musik und Geräusche leisten. Der Beitrag versteht sich dabei nicht zuletzt als Würdigung sogenannter „kleiner Texte“ für die sprachliche Prägung gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Um das Zusammenspiel verschiedener Zeichenmodi geht es auch im Beitrag von Ulrich Schmitz, der einen linguistischen Blick auf das Phänomen Design vornimmt: Ausgehend von der Annahme, dass es sich bei Design um eine symbolische Form im Sinne Cassirers handelt, untersucht er am Beispiel eines Sachbuchs und eines Auto-Cockpits die gemeinsame „Gestaltungsarbeit eines komplexen Sinnganzen“ zwischen Design und Sprache.

Heiko Hausendorf diskutiert anschließend die besonderen Herausforderungen, die die Kommunikation in Videokonferenzen, die in den letzten Jahren befördert durch die Corona-Pandemie rasant zugenommen hat in der alltäglichen Praxis, für einen auf Goffman bezogenen Interaktionsbegriff darstellen. Indem das Kriterium der wechselseitigen Wahrnehmung hier wie in der Face-to-Face-Interaktion gegeben, aber nun nicht mehr an die Bedingung der lokalen Kopräsenz gebunden ist, spiele hier eine grundsätzlich neuartige Interaktionsbedingung eine Rolle, die Hausendorf als „Telekopräsenz“ bezeichnet.

Für die Entwicklung und Etablierung einer „linguistischen Meinungsforschung“ plädiert Gerd Antos. Angesichts der Tatsache, dass Meinungen im Sinne diskursiver Positionen „gefragt“ und „sozial, kulturell, kommerziell und politisch folgenreich“ seien, hält er eine systematische sprachwissenschaftliche Forschung zu den Akteuren, Produktionsweisen, medialen Mustern und schließlich nicht zuletzt der Erkennbarkeit von Meinungen anhand bestimmter Indikatoren für notwendig.

Einem Thema an der Schnittstelle zwischen Hermeneutik und Schreibdidaktik widmen sich Jan Georg Schneider und Katharina A. Zweig in ihrem Beitrag. Sie setzen die algorithmische Vorgehensweise automatisierter Aufsatzbewertungssysteme, die darauf zielen, Vorhersagen der Aufsatzbenotung zu errechnen, ins Verhältnis zum sinnerfassenden Bewerten durch eine Leserin oder einen Leser. Auf diese Weise wird sichtbar, worin die Grenzen des „E-Raters“ liegen und worin das Potenzial des Zusammenwirkens des automatisierten und des hermeneutischen Zugriffs.

Mit einer anderen Herausforderung der Sprachdidaktik befasst sich Eva Neuland, die nach dem Status des Themas „Sprachliche Höflichkeit“ mit Blick auf den muttersprachlichen Deutschunterricht fragt. Sie konstatiert dabei eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Themas in der klassischen linguistischen Pragmatik und in gesellschaftlichen Diskussionen einerseits und seiner Behandlung in einschlägigen Unterrichtsmaterialien außerhalb des „Deutsch-als-Fremdsprache“-Unterrichts andererseits. Der Beitrag geht den Gründen für dieses Phänomen nach.

Den Abschluss dieser Festschrift bildet eine Hommage, die Urs Bühler der Wissenschaftskommunikatorin Christa Dürscheid widmet. Als NZZ-Redaktor hat er über viele Jahren hinweg von ihrer besonderen und nach wie vor nicht selbstverständlichen Bereitschaft profitiert, ihre Forschungsinhalte und Erkenntnisse einer breiten an Sprache interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Man darf Bühlers Dank für diese Arbeit wohl mit dem Hinweis ergänzen, dass gerade in dieser Hinsicht nicht nur die Öffentlichkeit von Christa Dürscheids Neigung zum Überschreiten von Grenzen profitiert hat, sondern vermutlich weit mehr noch ihr Fach, die Sprachwissenschaft.

Literatur

Agha, Asif. 2007. The object called “language” and the subject of linguistics. Journal of English Linguistics 35 (3), 217–235.

Bierwisch, Manfred. 1993. Ludwig Jägers Kampf mit den Windmühlen: Anmerkungen zu einer merkwürdigen Sprach(wissenschafts)verwirrung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 12 (1), 107–112.

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Wikipedia. O.J. Schnittstelle. In: Wikipedia. Bearbeitungsstand: 21. März 2022, 09:18 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Schnittstelle&oldid=221359444 (Abgerufen am 11. April 2022).

Warum es nur eine Linguistik gibt

Keine Interdisziplinarität ohne starke Disziplinen

Elisabeth Stark (Universität Zürich)

Abstract: In diesem Beitrag wird der Kern der Sprachwissenschaft bzw. Linguistik umrissen als die empirische wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung sprachlicher Strukturen an sich, als solche, d. h. unabhängig von ihrem (kommunikativen) Kontext und den sie umgebenden Diskursen. Damit ist die Sprachwissenschaft durch ihren Gegenstand und die daraus resultierenden Methoden wesentlich unterschieden von interpretativen Geisteswissenschaften, auch von den Kulturwissenschaften, und von zahlreichen Textwissenschaften, mit denen sie aber traditionellerweise häufig institutionell und forschungspolitisch zusammen gruppiert wird. Weiterhin wird die Relevanz einer kundigen wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung von Sprache(n) durch die jeweiligen ExpertInnen herausgearbeitet, u. a. für die Sprachpolitik, und das Risiko eines Verlusts bzw. in falsch verstandener Interdisziplinarität gleichsam ‚aufgelösten Markenkerns‘ der Linguistik skizziert. Schliesslich erfolgt ein emphatisches Bekenntnis zu einem Brückenschlag auf solidem diszipinären Grund zwischen der Linguistik und anderen Disziplinen im Sinne eines vollständigen Verständnisses des Definiens‘ des homo sapiens schlechthin: seiner Sprachfähigkeit.

1Einleitende Bemerkungen

Seit etwa 30 Jahren geht ein Gespenst um in der Forschungsförderung und Forschungspolitik, und zwar dasjenige der Interdisziplinarität. Wenn es völlig ausser Frage steht, dass die komplexen Fragen unserer Zeit umfassend nur durch das Zusammenarbeiten von WissenschaftlerInnen aus verschiedensten Disziplinen angegangen werden können, so muss doch verwundern, dass häufig das Präfix anstelle des lexikalischen Kopfnomens die Diskussion, die Forschung, ja sogar die Lehre zu determinieren scheint. Dies führt dann zu Projektanträgen zur Stand‑Up‑Comedy aus pragmatischer Sicht, in denen die Grice’schen Implikaturen, ein wesentlicher Bestandteil der linguistischen Pragmatik (siehe Levinson 1983: 100–118), sichtlich nicht mehr beherrscht werden, zur Analyse von Modalpartikeln (siehe Waltereit 2006) in literarischen Texten, in der die Modalitätsdiskussion sehr unscharf wird, zur areal‑geographischen Analyse von Nominalphrasenkomplexität, ohne die syntaktischen Funktionen, in denen die fraglichen Nominalphrasen stehen, als Untersuchungsparameter auch nur mit einzubeziehen. Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist der dramatische Schwund an Studienprogrammen, in denen das linguistische Kerngeschäft, also die Beobachtung, Beschreibung und Erklärung sprachlicher Strukturen als solchen (siehe Abschnitt 2), überhaupt noch substantiell vorkommt – stattdessen werden Werbetexte, Genderdiskurse und literarische Texte nach Herzenslust analysiert und kritisch hinterfragt, mit zur jeweiligen Interpretation passend und punktuell herausgebildeten Beschreibungskategorien – und die Sprachwissenschaft oder Linguistik1 ist mit den anderen sprachbezogenen Disziplinen (Philosophie, Theologie, Philologie, Rhetorik, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Kulturanalyse, Gender Studies, Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft und einigen anderen mehr) zu einem grossen Brei verwoben, in dem sie ihr Gesicht zu verlieren droht. Schlimmer: Sie gibt damit ihre Inhalte auf und ihre Expertise ab. Am anderen Ende des disziplinären Rauschens wandelt sich die Linguistik gerade in eine rein empirisch‑quantitative Beobachtungswissenschaft, die ihre Fragestellungen und Methoden ohne theoretische Durchdringung ihrer Daten in Einklang zu bringen versucht mit der Welt der Naturwissenschaften (v. a. der Biologie).

Angesichts dieser Entwicklungen, die nach Ansicht der Verfasserin nicht zufällig einhergehen mit einer institutionell weiterhin schwachen Stellung der Linguistik, zumindest an den Universitäten Europas, möchte der vorliegende Beitrag dreierlei. Zum Ersten soll in Abschnitt 2 daran erinnert werden, was der Markenkern der Linguistik ist und was Peripherie und warum diese regelmässige Erinnerung immer vonnöten ist. Zum Zweiten sollen in Abschnitt 3 konkrete Beispiele gelingender interdisziplinärer Zusammenarbeit skizziert werden, die notwendig auf einer sehr tiefgehenden disziplinären Expertise ruht. Zum Dritten soll in Abschnitt 4 die Relevanz der Linguistik an und für sich für die Forschung und die Gesellschaft – und konkret für die Forschung und Gesellschaft in der deutschsprachigen Schweiz – aufgezeigt werden, mit der Konklusion, dass die Linguistik Interdisziplinarität kann, aber nicht braucht, und aus dieser Stärke eine immer stärker nachgefragte Gesprächspartnerin anderer Disziplinen sein wird, wenn sie sich an ihren Kernkompetenzen orientiert.

Dass sich dieser Beitrag selbst im Arbeitsfeld der Sprachwissenschaft bewegt, bezeugt übrigens eine Passage aus de Saussures Cours de linguistique générale (1916, in einer Ausgabe von 1979), einem der Gründungswerke der zeitgenössischen Linguistik:

La tâche de la linguistique sera :

de faire la description de l’histoire de toutes les langues qu’elle pourra atteindre, ce qui revient à faire l’histoire des familles de langues et à reconstituer dans la mesure du possible les langues mères de chaque famille ;

de chercher les forces qui sont en jeu d’une manière permanente et universelle dans toutes les langues, et de dégager les lois générales auxquelles on peut ramener tous les phénomènes particuliers de l’histoire ;

de se délimiter et de se définir elle‑même. (de Saussure 1979: 20, Hervorhebung von mir)

2Was tut Sprachwissenschaft/Linguistik – und was nicht?

Betrachten wir eingangs eine von vielen Definitionen der Linguistik:

Wissenschaftliche Disziplin, deren Ziel es ist, Sprache und Sprechen unter allen theoretisch und praktisch relevanten Aspekten und in allen Beziehungen zu angrenzenden Disziplinen zu beschreiben. (Bußmann 42008: 671)

Wie das Standardwerk Lexikon der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann bezeichnen zahlreiche weitere Lexika oder auch Einführungswerke die Linguistik als die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache.1 Diese auf den ersten Blick völlig einleuchtende Definition enthält allerdings gleich zwei Stolpersteine: Was verstehen wir unter wissenschaftlich? Und, viel schwerer zu beantworten: Was ist Sprache?

Letzteres hat vor allem in den letzten Jahrzehnten ausufernde Diskussionen mit sich gebracht und soll nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen sein. Relativer Konsens scheint darüber zu bestehen, dass der Terminus die speziesspezifische Art des homo sapiens bezeichnet, nach einem unbewusst und automatisch ablaufenden Erwerbsprozess Symbole eines von sich untereinander stark unterscheidenden Zeichensystemen so miteinander zu kombinieren, dass situationsunabhängig über komplexe Zusammenhänge kommuniziert werden kann. Die Zeichensysteme erlauben dabei die Produktion neuer Zeichen und Zeichenkombinationen (Kreativität), die in potentiell unendlich langen Strukturen miteinander verknüpft werden können, wobei kommunikative und kognitive Erfordernisse dieser Unendlichkeit Grenzen setzen in der Kommunikationspraxis. Eine wichtige und nicht kommunikativ direkt herleitbare Eigenschaft menschlicher Sprache(n) ist dabei die Wohlgeformtheit (siehe Seiler 2015), die alleine erklären kann, warum in deutschen, französischen oder englischen elektronischen Kurznachrichten wie SMS oder WhatsApp gegebene Subjektreferenten im Hauptsatz durchaus wegfallen können, aber nicht im Nebensatz – hie wie da sind sie kommunikativ nicht erforderlich, aber eine syntaktische Regel dieser besonderen Sprachvarietät in diesen Einzelsprachen (‚geschriebene Kurztexte‘, siehe Haegeman/Stark 2021) verhindert ihren Ausfall im Nebensatz – im Gegensatz etwa zum Italienischen oder Spanischen. Ich möchte bereits an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, dass Kommunikation und Sprache in einem metonymischen Verhältnis zueinander stehen und je unabhängig voneinander existieren und auch wissenschaftlich betrachtet werden müssen: Sprache ist das präferierte zur Kommunikation eingesetzte semiotische System des homo sapiens, aber beileibe nicht das einzige (man denke an Mimik, Verkehrszeichen, Mode usw.). Und Sprache hat neben der kommunikativen Funktion noch viele weitere, v. a. kognitive und ästhetische. Sprache und Kommunikation existieren logisch und in der tatsächlichen Praxis der Menschen also (auch) unabhängig voneinander. Obwohl sich Sprache und Kommunikation in manchen Strukturen gegenseitig beeinflussen mögen, sind Sprachwissenschaft und Kommunikationswissenschaft zwei unterschiedliche Disziplinen (in der Regel auch sichtbar in der getrennten institutionellen Verortung an Universitäten).

Ersteres, also der Terminus wissenschaftlich, lässt die anhaltende Kontroverse zwischen qualitativen und quantitativen Zugängen zum Beschreibungsgegenstand und dahinterstehend diejenige zwischen geistes‑ vs. sozial‑ oder naturwissenschaftlichen Ansätzen aufleuchten, die hier ebenfalls nur am Rande gestreift werden kann.

An diesem Punkt hilft uns ein Blick in das in Zürich entstandene Studienbuch Linguistik (Linke et al. 52004):

Ziel der Sprachwissenschaft ist die Beschreibung und Erklärung sprachlicher Phänomene, und sie tut dies in vorwiegend theoretischer Absicht. Theoretisch bezieht sich hier nicht darauf, dass die Linguistik Beschreibungsmethoden und Theorien über ihren Gegenstand entwickelt – dies tut jede Wissenschaft. Als theoretische Wissenschaft besitzt die Linguistik im Unterschied zu den anwendungsorientierten Wissenschaften aber kein unmittelbar zugeordnetes Praxisfeld. […] Sie umfasst eine Vielzahl von Teilbereichen, die je bestimmte Aspekte von Sprache beschreiben und die zusammen ein komplexes Gebäude von aufeinander bezogenen Disziplinen bilden.“ (Linke et al. 52004: 1, Hervorhebung im Text).

In der Linguistik geht es also um sprachliche Phänomene, und als wissenschaftlich ist im obigen Zitat das systematisch‑methodologisch reflektierte Beschreiben und auch das theoretische Modellieren (in manchen Theorien gleichbedeutend mit dem Erklären) des Beschriebenen gefasst – völlig einleuchtend (siehe auch Dubois et al. 2012: 285). Das Studienbuch Linguistik bietet in seinem Einleitungskapitel auch eine knappe Fachgeschichte (siehe Linke et al. 52004: 4–5), die darauf hinweist, dass die Linguistik als Einzelwissenschaft erst seit etwa 200 Jahren existiert und in ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert nicht direkt Traditionen der antiken Rhetorik, Grammatikschreibung oder Philologie fortsetzt, sondern einen neuen eigenständigen empirischen und auf Verallgemeinerung der einzelnen (Text‑)Belege basierenden Fokus setzt: „die historische Erforschung der Sprachen, ihre Entwicklung, [sic!] und ihre Verwandtschaften.“ (Linke et al. 52004: 4, Hervorhebung im Text). Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wird sich die Emanzipation der Sprachwissenschaft von der wissenschaftlichen Sprachbetrachtung und ihre Entwicklung zu einer eigenen Disziplin, der Linguistik, endgültig vollziehen, wie im Cours de linguistique générale kurz skizziert (siehe de Saussure 1979: 13–16). Diese neue Disziplin, so de Saussure, entsteht aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den romanischen und germanischen Sprachen, was in einem Festschriftbeitrag einer Romanistin für eine Germanistin unbedingt erwähnt werden sollte: „La linguistique proprement dite […] naquit de l’étude des langues romanes et des langues germaniques.“ (de Saussure 1979: 18)

Zwei Aspekte dieser vergleichsweise jungen Disziplin finden sich als Definientia immer wieder, von denen vor allem der erste als grundlegend betrachtet werden kann, der zweite aber nicht weniger wichtig ist. Ich habe erstens bereits an anderer Stelle ausführlich darauf hingewiesen, dass die Linguistik sprachliche Phänomeneals solche untersucht, unabhängig von ihrem kommunikativen Zweck oder ihrer Funktion als Mittel oder Teil einer grösseren Interaktion (einer Werbekampagne, Schmähgedicht, Gesetzestext, Gedicht, siehe Stark 2018). Besonders erfreulich und besonders bezeichnend ist die sprachunabhängige Rekurrenz dieser definitorischen Autonomie des Objekts in verschiedenen Abhandlungen (siehe auch Oesterreicher 2011: 79, der als „paradigmatischen Kern der Linguistik“ die Beschäftigung mit den historischen Einzelsprachen und ihrer Varietäten als solche definiert), und besonders bemerkenswert, zweitens, die daraus resultierende einzelsprachunabhängige Natur der Linguistik:

Linguistique [adj., ES] renvoie au principe d’immanence qui consiste à étudier la langue comme formant un ordre propre, autonome, dont il est possible de décrire les structures par leurs seules relations. (Dubois et al. 2012: 265)

Diese Meinung wird auch von Linke et al. vertreten: „[…] dies ist aber der Anspruch der Linguistik. Sie stellt die Sprache selbst ins Zentrum und untersucht sie als Sprache, um ihrer selbst willen.“ (52004: 5)

Es herrscht nun aufgrund der einzelsprachlich unterschiedlichen historischen Ausprägungen der menschlichen Sprachfähigkeit, den (historischen) Einzelsprachen (siehe Coseriu 1988), auch innerhalb der Linguistik die Notwendigkeit der Spezialisierung. Daher gibt es sicherlich eine Linguistik der germanischen oder der romanischen Sprachen, so wie es in der Physiologie Abteilungen für Zell‑, Muskel‑ oder bestimmte Organphysiologie gibt. Dies wohlgemerkt mit genitivus objectivus. Es gibt also keine Deutsche Linguistik, die als Linguistik grundlegend anders wäre als eine Romanistische Linguistik – es ist das gleiche Fach.2

Die Linguistik unterscheidet sich, zusammenfassend, von anderen sprachinteressierten Disziplinen durch ihren Gegenstand, sprachliche Phänomene, Norm‑ und Regelgefüge als solche. Ich schlage vor, innerhalb und ausserhalb der Akademia diesen wesentlichen Unterschied zu beachten, wann immer es um disziplinäre Schärfe und/oder interdisziplinäre Zusammenarbeit geht: (Wissenschaftliche) Sprachbetrachtung (z. B. in der Literaturwissenschaft bei der Interpretation eines Gedichts, wenn dessen Reimschema auch phonetisch‑phonologisch analysiert wird, z. B. unter Berücksichtigung des Terminus’ Nasalvokal, siehe Jakobson/Lévi‑Strauss 1962) ist nicht das gleiche wie sprachwissenschaftliche Betrachtung sprachlicher Phänomene (die Lautung eines Gedichts sagt nichts über das Phonemsystem einer Sprache aus, die Datenbasis ist qualitativ wie quantitativ dafür ungeeignet). Letztere nimmt die sprachlichen Phänomene als solche in den Fokus ihres Interesses:

Keine andere Disziplin als die Linguistik kann diese Regel‑ und Normgefüge als solche, als überindividuelle, nur vom konkreten Diskurs oder Text abstrahierend erfassbare und eben auch nicht unmittelbar kommunikativ bedingte, erforschen, erfassen und erklären, keine andere Disziplin strebt aber auch danach (cf. Oesterreicher 2009: 102f.; […]). Das Forschen nach der überindividuellen einzelsprachlichen historischen Regularität, nicht nach dem Individuell‑Punktuellen, begründet meines Erachtens die von Wolf‑Dieter Stempel bereits 1988 festgehaltene „grundsätzliche Verschiedenheit von sprachwissenschaftlichem und literaturwissenschaftlichem Ansatz“ (Stempel 1988: 51), und der sprachwissenschaftliche ist durch seinen Gegenstand, die historischen Einzelsprachen und Varietäten als solche, eben auch grundsätzlich zu unterscheiden von einem kommunikations‑, kultur‑ oder sozialwissenschaftlichen (so Oesterreicher 2009: 87). (Stark 2018: 101)

Ein Beispiel aus der Germanistik mag diesen Punkt nochmals erhellen helfen. Die berühmte Selbstidentifikation des Mephistopheles aus Goethes Faust kann als sprachliches Einzelereignis auf vielerlei Arten betrachtet werden:

„Ich bin der Geist, der stets verneint.“

aus: Goethe, Faust – Der Tragödie erster Teil, Zeile 1338 (Mephistopheles). Historisch‑kritische Faustedition, Hrsg. von A. Bohnenkamp, S. Henke und F. Jannidis (2017). Beta‑Version 3. Frankfurt a.M./Weimar/Würzburg. Lesetext Faust I / 1 H.1, URL: beta.faustedition.net/print/Cotta_Ms_Goethe_AlH_C-1-12_Faust_I.7#l1338 , abgerufen am 7. Mai 2018. [www.http://beta.faustedition.net/]

Mögliche Fragen der Kultur‑ oder Literaturwissenschaft könnten folgendermassen lauten: Was will der Autor damit sagen? Welche Funktion hat die Aussage im Hinblick auf die Figurencharakterisierung? In welchem Handlungskontext steht sie? Wie hat sich dieses Goethezitat im Laufe der Jahrhunderte in unserer Gesellschaft entwickelt (geflügeltes Wort)? Wieso gerade diese Wortstellung? Wieso das kurze Adverb stets? Wieso eine identische Silbenzahl in Haupt‑ und Nebensatz? Letztere Fragen verwenden Beschreibungskategorien der Sprachwissenschaft, allerdings ist der Untersuchungsgegenstand hier der einzelne Text, ja das einzelne Zitat, es geht nicht um die Rekonstruktion einer gesamten Varietät des Deutschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts – deshalb bleiben auch solche Fragen stets literaturwissenschaftliche. Mögliche Fragen der Linguistik wären hingegen: Warum sind bestimmter Artikel und Relativpronomen (der) formgleich – handelt es sich möglicherweise um das gleiche Element? Wie verhält es sich in anderen Sprachen, in den Sprachen der Welt? Ist ein gemeinsames kognitives Prinzip erkennbar? Kann man die aus dem Sprachvergleich gewonnenen Erkenntnisse nutzen, z. B. für maschinelle Übersetzung dieses und anderer Texte? Warum kann man nicht sagen *Ich bin der Geist, der verneint stets? – oder doch, aber dann mit anderer Betonung? Und wie kann man so etwas wie ,Betonung‘ erforschen? Woher wissen wir, dass die Abfolge verneint stets seltsam ist, mitunter sogar falsch? Wann und wie haben wir das gelernt? Was passiert im Gehirn von SprecherInnen, wenn sie die beiden Wortstellungsvarianten hören und eine als ,falsch‘ ausschliessen, und warum? Wie häufig kommt die Wortform verneint in dieser Distribution in Korpora des Deutschen vor? Gibt es regionale Muster, historische, stilistische? Alle diese Fragen interessieren sich für Eigenschaften der Sprache(n) an sich, nicht für Interpretationen oder den künstlerischen Text, und können das Goethezitat allenfalls als Ausgangspunkt nehmen bei der Erstellung einer ausreichend grossen Datensammlung, eines Korpus, die zentrale empirische Basis sprachwissenschaftlicher Untersuchungen.

Die Linguistik beschreibt das Vorgefundene also empirisch, mit falsifizierbaren Ergebnissen, und sucht, wie im obigen Zitat von Stempel klar unterstrichen und anhand des Goethe‑Zitats illustriert, immer die Verallgemeinerung, die Reduktion der Komplexität in den Daten auf ihnen zugrunde liegende Gesetzmässigkeiten. Ich stelle dies unkommentiert dem folgenden Zitat von Peter Strohschneider zur Tätigkeit der Geisteswissenschaften im deutschen Hochschulsystem gegenüber:

Die Geisteswissenschaften entwickeln, erproben und bewahren Weisen der Weltauslegung und sie halten die historischen, kulturellen, normativen, ästhetischen Alternativen zum Gegebenen für die Wissenschaftsgesellschaft verfügbar. So steigern sie deren Komplexität und Kontingenz: Es könnte auch anders sein, als es ist. (Strohschneider 2009)

Es ziehe jede/r seine/ihre eigenen Schlüsse.

Warum, so mag man sich nun fragen, betone ich den Markenkern der Linguistik so emphatisch, ihre Einheit als Fach und ihre notwendige Abgrenzung von anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich ebenfalls mit Sprache befassen? Hier möchte ich aus einem weiteren, erst vor Kurzem erschienenen Einführungswerk aus der Schweiz zitieren, Jacques Moeschlers Buch Pourquoi le langage ?. Der Autor rechtfertigt die Existenz dieses Buches im Vorwort folgendermassen:

Mais il y a une autre raison à l’écriture de ce livre. Je l’ai écrit parce que le langage est généralement considéré comme allant de soi : d’une part, nous le maîtrisons, l’enseignement scolaire nous apprend sa codification écrite, et d’autre part, comme il est normé par des institutions dont c’est la fonction […], les normes grammaticales qui le régissent nous semblent non seulement légitimes mais surtout immuables. J’aimerais au contraire vous convaincre que la question du langage ne va pas de soi, qu’il fait l’objet de très nombreuses recherches […] ce qui montre qu’il y a des pans entiers de l’organisation du langage qui nous sont encore inconnus […]. (Moeschler 2020: 7)3

In seiner Einleitung greift der Autor dann unter vielem anderen Ergebnisse eines Projektes auf, das ich die Ehre hatte zu leiten und das ohne die tatkräftige Hilfe und Forschungskooperation mit Christa Dürscheid nicht zustande gekommen und nicht zu der Sichtbarkeit gelangt wäre, die es bis heute hat: „SMS communication in Switzerland: Facets of linguistic variation in a multilingual country“ (SNF‑gefördert, Sinergia, Projektnummer: CRSII1_136230, sms4science.ch ).4 Gemeinsam mit Marie‑José Béguelin, Neuchâtel, haben Christa Dürscheid und ich die Frage der syntaktischen Unvollständigkeit und grammatischen Variation im mobilen elektronischen Schreiben auf der Grundlage eines gemeinsam erstellten digitalen Korpus untersucht und unter anderem klar nachgewiesen, dass die vorhandenen Sprachproduktionsdaten in keiner Hinsicht auf einen Sprachverfall o.ä. hindeuten. Christa Dürscheid hatte ausserdem bereits in einem Vorgängerprojekt gezeigt (siehe Dürscheid et al. 2010), dass Jugendliche sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen verschiedenen Kommunikationssituationen und einem je adäquaten Sprech‑ oder Schreibstil. Die Fragestellungen, die wir entwickelt haben, die Methoden, die wir eingesetzt haben, und die Ergebnisse sind nur aus und in der Linguistik, also in der Disziplin, die sprachliche Phänomene als solche untersucht, denkbar: Die sprachwissenschaftliche Kategorie des Subjekts (siehe Robert‑Tissot 2018), die sprachwissenschaftliche Kategorie der Ellipse (siehe Frick 2017), die Kategorie der Fragekonstruktion und ihrer je grammatischen Eigenschaften (siehe Guryev 2017) sind nur innerhalb des Faches, das sie eineindeutig definiert, operationalisierbar. Das Wissen um die quantitative Validität von Aussagen ist der Linguistik zwar nicht ausschliesslich zu eigen, aber sie hat es, gerade in den letzten Jahren und zusammen mit einer starken technologischen Entwicklung im Bereich des Natural Language Processing, in ihrer Forschung und Lehre systematisch integriert. Verständnis von Sprachen als sich stetig wandelnden Objekten (im Unterschied zu dem allgemein Angenommenen, siehe das Zitat von Jacques Moeschler weiter oben), die Rolle von Sprachkontakt für den Sprachwandel, auch zwischen einzelnen Varietäten einer Sprache, das Verständnis von Schrift als abgeleitete und erlernte Modalität der sprachlichen Interaktion (während Lautsprache und Gebärdensprache natürlich erworben werden), die verschiedenen Strukturierungsebenen der Sprache vom Laut zum Satz mit ihren Eigengesetzlichkeiten und ihrer mehr oder weniger starken Interdependenz – all diese Dinge sind zentrale Erkenntnisse der Linguistik und in anderen sprachbezogenen Disziplinen nicht oder nur zufällig‑marginal vorhanden. Moeschler weist entsprechend explizit darauf hin, dass der laienhafte Eindruck des Sprachverfalls beim Betrachten einzelner SMS falsch ist, ebenso falsch wie die Überzeugung, dass die Sonne morgens aufgeht und nicht die Erde sich dreht. (Einzel‑)beobachtungen ohne wissenschaftliche Methodologie, also kontrollierte empirische Untersuchungen von geeigneten Daten und theoriegeleitete Auswertungen, ergeben eben keine wissenschaftlichen Fakten, geschweige denn generalisierbare Erkenntnisse. Schrift als eigene Manifestationsform des Sprachlichen hat erst in jüngerer Zeit das systematische Interesse der Linguistik auf sich gezogen (siehe die Vorbemerkungen in Dürscheid 42012: 11), und während die Beschreibung von Schriftsystemen und ihre Entstehung ebenso wie ihre gesellschaftliche und ökonomische Relevanz auch HistorikerInnen und im weiteren Sinne KulturwissenschaftlerInnen leisten können, kann nur eine Sprachwissenschaftlerin diesen Aspekten ein theoretisches Kapitel zur sprachwissenschaftlich fundierten Reflexion und Modellierung des Verhältnisses von Gesprochenem und Geschriebenem voranstellen. Schriftgeschichte, Orthographie und Typographie erfordern weiterhin eher wenig systematisches Wissen über die grundlegende Struktur menschlicher Sprache(n), wohl aber die Graphematik. Diese Teildisziplin der Linguistik umfasst die wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Regularitäten von Schriftsystemen auf segmentaler (= den Einzellauten entsprechend) und suprasegmentaler Ebene (= die einzellautübergreifenden lautlichen Ereignisse betreffend, z. B. Silbenstruktur, Pausenstruktur, Intonation; siehe Dürscheid 42012: 126f.). Im Unterschied zur Rechtschreibung, also der normativ festgelegten einzig korrekten Schreibung von sprachlichen Einheiten einer Sprache (= Orthographie), beschreibt die Graphematik „einen Lösungsraum möglicher Schreibungen für Lautungen […]“ (Neef 2005: 11). Um „mögliche Schreibungen für Lautungen“ erfassen zu können (mit „möglich“ ist hier ,systemkonform‘, also z. B. dem Schriftsystem des Deutschen entsprechend, gemeint), braucht man ein Inventar dieser Lautungen, eine empirisch fundierte Theorie über die Abbildung der vielen Lautereignisse auf viele Schriftereignisse, es muss an grossen Datenmengen systematisch verglichen, es müssen Verallgemeinerungen herausgearbeitet werden, und grundsätzlich vom Einzelfall abstrahiert. Der Schrifterwerb schliesslich steht zwischen zwei oder sogar drei Disziplinen: der Linguistik, der Psychologie und der Medizin.

3Gelingende Interdisziplinarität

In Abschnitt 2 wurden einige Beispiele genannt, in denen die Linguistik bzw. SprachwissenschaftlerInnen an Projekten beteiligt sind, bei denen sie für sich selbst keine Erkenntnis gewinnen können (v. a. die sprachliche Analyse künstlerischer Interaktionen und Texte im weitesten Sinne). Sie leisten quasi ,sprachwissenschaftliche Nachhilfe‘, wenn sie geeignete sprachwissenschaftliche Beschreibungskategorien für die Interpretation von Sprachkunstwerken bereitstellen, während sie selbst für ihren Beschreibungsgegenstand, die menschliche(n) Sprache(n) als solche, keine verwertbaren Daten, Fakten, Erkenntnisse erhalten oder erzeugen können. Für die historische Sprachwissenschaft, die häufig auf künstlerische Texte angewiesen ist als einzige Zeugen bestimmter Sprachstufen oder Sprachvarietäten, kann dieser Mangel einerseits durch die Bereitstellung grosser Datenmengen (d. h. es wird stets konsequent vom Einzelfall abstrahiert) und andererseits durch die reflektierte Zusammenstellung künstlerischer Texte mit möglichst grosser diskurstraditioneller Variation ausgeglichen werden (siehe Kabatek 2005, für das Französische z. B. Frantext (https://www.frantext.fr/) oder DWDS für das Deutsche (www.dwds.de)). Wo dies nicht möglich ist, hat die historische Sprachwissenschaft seit ihrem Beginn Methoden der Rekonstruktion entwickelt – erneut an Daten, die stets über das Einzelereignis hinausgehen und strukturelle Verallgemeinerungen erlauben.

Mit ihrem Wissen über eines der zentralen Definientia der menschlichen Spezies stellt die Linguistik nun eine Ansprechpartnerin für zahlreiche Disziplinen dar, in deren Forschungsgegenständen und ‑methoden auch echte Chancen für die Sprachwissenschaft liegen. Anzustreben ist interdisziplinäre Zusammenarbeit, in der keine Disziplin zur Hilfswissenschaft der anderen degradiert wird (oder sich, ohne es zu bemerken, selbst dazu degradiert). Übersetzt bedeutet das die Bewahrung der disziplinären Rigorosität, was bei einer oft anspruchsvollen Verständigung über grundlegende gemeinsam verwendete Begriffe und Konzepte beginnt,1 über den Respekt vor der allfälligen Unvereinbarkeit einzelner Methoden (etwa interpretativ‑hermeneutischer hie und empirisch‑quantitativer da) führt und in der sorgfältigen Abgrenzung der einzelnen Disziplinen in der Bearbeitung einzelner Aspekte gemeinsamer Forschungsprojekte gipfelt. In den seltensten Fällen haben die einzelnen Disziplinen den gleichen Untersuchungsgegenstand, auch wenn sie eine gemeinsame Fragestellung bearbeiten. Dies klar zu benennen und die Orientierung nicht zu verlieren, zeichnet gelingende Interdisziplinarität aus.

Bereits umrissen habe ich weiter oben ein interdisziplinäres Betätigungsfeld, in dem die Linguistik unverständlicherweise kaum gefragt wird – die (Fremd‑)Sprachenbildungspolitik. Hier kann sie Wissen bereitstellen über die Regularitäten der Phänomene, die in der Schule, aber auch in der Erwachsenenbildung, vermittelt werden, und sie kann ihrerseits an Daten gelangen, die Erkenntnisse erzeugen können, etwa in der Graphematik und im Schrifterwerb und allgemein im Fremdsprachenlernen (cf. Fehlerlinguistik, siehe Cherubim 1980, Lernerkorpora, siehe Granger 2008, allgemein zum L2‑Lernen, siehe Ellis 1994). Rekurrente Fehlertypen im Erwerb bestimmter zielsprachlicher Strukturen können bei sachkundiger Interpretation und quantitativer Analyse durchaus auch Eigenschaften der Zielsprache an sich offenlegen helfen, und die Linguistik weiss ihrerseits aus dem Sprachvergleich um fehleranfällige Domänen (beim Vorhandensein des Merkmals in L1 und L2, allerdings in unterschiedlicher Kodierung oder Distribution, z. B. Genus) und um Strukturen, deren Erlernen erheblichen Aufwand erfordern wird (weil das Merkmal der L2 in der L1 gar nicht als kodiertes vorhanden ist, siehe Schwartz/Sprouse 1994 oder Parodi 2014, wie etwa der romanische subjonctif/Konjunktiv als Präsuppositionsanzeiger, siehe Gsell/Wandruszka 1986). Die Sprachwissenschaft kann und sollte aufgrund ihrer Forschung falsche Annahmen und unrichtige, aber traditionell verbreitete Beschreibungsansätze in Lehrwerken korrigieren – wenn sie denn gefragt wird. Die naive Annahme des „langage allant de soi“ (siehe obiges Zitat von Jacques Moeschler) verhindert hier allerdings häufig eine systematische Interaktion zwischen Forschenden und EntscheidungsträgerInnen, übrigens auch bereits auf universitärer Ebene, aber es gibt dankenswerterweise Initiativen aus der Linguistik heraus und auch eine sprachwissenschaftliche Publikationstätigkeit (siehe Dürscheid 2014, Dürscheid/Sutter 2020, Dürscheid/Rödel angenommen), die innerhalb disziplinärer Grenzen verbleibt und gerade deshalb wertvoll ist für die Didaktik und Bildungsforschung.

Weiterhin kann nur die Sprachwissenschaft die naive Annahme über die Grundbausteine menschlicher Sprache(n) widerlegen im Dialog mit der Kultur‑ und Kommunikationswissenschaft (siehe Thurlow et al. 2020). Emojis etwa können menschliche Sprache(n)/Sprachzeichen nicht ersetzen, weil sie nur (ambige) Inhaltsabbilder sind und das Grundgerüst menschlicher Sätze, also die metasprachlichen Informationen über die Funktionen der Inhaltswörter im Satz, nicht mitkodieren (siehe Dürscheid/Siever 2017) – so einfach, so unbekannt. Während Äusserungen wie unter

(1)

a.

-koch-

-fisch-

b.

völlig ratlos zurücklassen, verstehen wir

(2)

Der _ hat ge-_t .

im Unterschied zu

(3)

Dem _ ist ein _ ver_t.

immerhin als Äusserung über eine Handlung (gegenüber (3), das eine Mitteilung über ein Ergebnis ist), die in der Vergangenheit stattgefunden hat. Die Linguistik kann ihrerseits in derartigen Interaktionen neben dem reinen Datenmaterial, das sie möglicherweise nicht selbst erschlossen hätte, beobachtbare Muster in hybriden Texten (Bild‑Text‑Bezug usw.) samt ihrer kulturwissenschaftlichen Erklärung verwenden, um rekurrente sprachliche Strukturen oder bestimmte pragmatische Phänomene besser zu verstehen.

Schliesslich ist die Linguistik – selbst eine theoretische im Sinne von nicht direkt anwendungsbezogene – Disziplin (siehe oben, das Zitat von Linke et al. 52004 am Beginn von Abschnitt 2) in der Lage, auch mit stark anwendungsbezogenen Disziplinen wie der Ergonomie, Arbeitspsychologie und der Übersetzungswissenschaft zusammenzuarbeiten – erneut, ohne sich zu verbiegen oder ihre Methoden und Fragestellungen zu verwässern. Ein interdisziplinäres Projekt zur Untertitelung im Schweizer Fernsehen unter der Leitung von Alexander Künzli, Genf („From Speech to Text“, www.unige.ch/fti/files/7815/4080/9511/Project_Description_Joint_Seed_Funding.pdf), versucht einen vierdimensionalen Blick auf Untertitel – als Prozess (hier kommt die ergonometrische Untersuchung der Arbeitsbedingungen der UntertitlerInnen ins Spiel), als Produktion (hier muss die Praxis übersetzungswissenschaftlich analysiert werden), als Produkt (hier geht es um Sprachstrukturen in den Untertiteln als solche, d. h. um eine linguistische Fragestellung, siehe Dürscheid 2021) und als Gegenstand eines Rezeptionsprozesses (aus neuropsychologischer Perspektive). Das Zusammenspiel von vier Disziplinen ergibt ein Ganzes, und wenn sich Linguistik und Übersetzungswissenschaft bis hin in die Korpuserstellung und Annotationskategorien gegenseitig befruchten können, bleiben Arbeits‑ und Neuropsychologie methodologisch in ihrer jeweils eigenen Welt – zu Recht und zum Wohle des Unterfangens.

4Die Relevanz der wissenschaftlichen Erforschung von Sprache(n) als solche

Im vorangehenden Abschnitt haben wir gesehen, wie sich die Wissenschaft von Sprache(n) als solche gewinnbringend interdisziplinär betätigen kann. Von Interdisziplinarität kann dagegen im Übrigen keineswegs dann die Rede sein, wenn germanistische und romanistische SprachwissenschaftlerInnen zusammenarbeiten – obwohl eine solche Kooperation durch die unglückliche institutionelle Gliederung vieler traditioneller Fakultäten häufig institutsübergreifend geschehen muss, was die Linguistik insgesamt schwächt. Abschnitt 2 hat gezeigt, dass es nur eine Sprachwissenschaft gibt, mit notwendiger Spezialisierung auf einzelne Sprachen oder Familien, da der Untersuchungsgegenstand in unterschiedlichen Ausprägungen auftritt. In diesem abschliessenden Abschnitt soll es darum gehen, die Relevanz des Markenkerns der Sprachwissenschaft und die Gefahr einer Aufgabe desselben zugunsten eines pseudo‑interdisziplinären (in aller Regel kommunikations‑ und kulturwissenschaftlich) verwässerten Breis. Es geht schlicht um den Verlust von Wissen und Verständnis für eines der zentralen Elemente menschlichen Lebens, um das Aufgeben von Forschungstätigkeit rund um die menschlichen Sprache(n) als solche, um ein Aufgehen in Bereichen, die Philosophie, Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft, aber auch Geographie, Evolutionsbiologie und Neuropsychologie besser als die krampfhaft zu moderneren Fragestellungen und Methoden ,geläuterten‘ LinguistInnen bearbeiten. Durch das willfährige Aufgeben des Markenkerns entstünde eine Lücke, die sich nicht mehr schliesst – in mancher Lehrprobe von (Fremd‑) Sprachenlehrpersonen wird das bereits unmittelbar ersichtlich.

Über die offensichtliche Anwendbarkeit sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse im Schulunterricht hinaus können am Beispiel von elektronischem Schreiben und der Schriftlinguistik – nicht zufällig gewählte Wirkungsbereiche der zu Ehrenden – die Folgen eines möglichen Aufgebens des Markenkerns der Linguistik, also der Beschreibung und Erklärung sprachlicher Phänomene als solcher (z. B. durch eine rein interpretierende kommunikationswissenschaftliche Auswertung der SMS‑basierten Interaktion zweier Jugendlicher), recht gut konkretisiert werden, in allgemeiner, sozialer und bildungspolitischer Hinsicht. 1. Die Menschheit wüsste auch weiterhin nicht, was ihr bevorzugtes Kommunikationsmittel, die menschliche Sprache, überhaupt ist, welche Bausteine sie konstituieren, welchen Regularitäten und Veränderungsmechanismen sie unterworfen ist und in welchen voneinander sich stark unterscheidenden Modalitäten sie sich manifestiert (Lautsprache, Gebärdensprache, Schrift). Die Tatsache, dass diese Dinge tatsächlich weit weniger bekannt sind als zum Beispiel das Phänomen der Schwerkraft, die Photosynthese oder die Reformation, weist auf einen grundlegenden Mangel in der (gymnasialen Schul‑)Bildung hin:1 Die menschliche Sprache an sich ist leider noch kein Gegenstand des Unterrichts; daraus erklären sich viele der von Jacques Moeschler monierten idées reçues, die im besten Falle einfach falsch, im schlimmsten Falle Ausgangspunkt verfehlter Bewertungen und Entscheidungen sind. 2. Punktuelle Betrachtungen von Sprachproduktionsereignissen können sehr schnell zu Fehlurteilen über ganze Bevölkerungsschichten führen – z. B. über die Jugend, in Unkenntnis der inhärenten Veränderlichkeit von Sprache(n), über Menschen mit Migrationshintergrund, in Unkenntnis ihrer Herkunftssprachen und der hohen Komplexität der zielsprachlichen, z. B. deutscher Strukturen, über ,Rechtschreibfehler‘, die sich aus graphematischer Perspektive im Schrifterwerb als korrekte Transferleistungen der SchülerInnen herausstellen könnten, wenn die Lehrpersonen ausreichend linguistisch ausgebildet wären, über die vermeintliche Schwierigkeit des Französischen im Vergleich zum Englischen (siehe hierzu https://www.linguistik.uzh.ch/de/easyling/faq/stark-franzosisch.html