Bruder Enno und die Hand des Störtebeker - Maike Salhofen - E-Book

Bruder Enno und die Hand des Störtebeker E-Book

Maike Salhofen

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Beschreibung

Ein furioser Ritt durch die friesische Geschichte. Ihlow, 1398: Der junge Mönch Enno kehrt als Rechtsgelehrter in sein Mutterkloster zurück und wird bald mit einem grausamen Mord konfrontiert, der die Unabhängigkeit seiner Abtei bedroht. Um das Kloster zu retten, muss Enno es mit ränkeschmiedenden Kaufleuten und einer friesischen Fürstin aufnehmen, die für ihren unstillbaren Rachedurst gefürchtet ist. Doch es sind die dunklen Geheimnisse innerhalb der Klostermauern, die Enno in einen tödlichen Konflikt mit der Hanse bringen und ihn direkt in die Feste des Seewolfes führen: zu Klaus Störtebeker und seinen berüchtigten Piraten

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Geboren 1972 in Hannover, kehrte Maike Salhofen nach einer Odyssee durch halb Deutschland nach Ostfriesland zurück und lebte dort bis zu ihrem Abitur in Aurich. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Münster und Leipzig; seit 2000 ist sie mit einem Althistoriker verheiratet. Geschichte ist in ihrem Alltag so präsent, dass dies auch Einfluss auf ihre Themenfindung beim Schreiben hat. Sie hat einige Jahre in Australien verbracht und lebt nun mit ihrer Familie im Gießener Land, wo sie an einem Gymnasium Deutsch und Geschichte unterrichtet.

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, andere nicht. Die Lebensdaten einer der Nebenfiguren, der Fürstentochter Ocka tom Brok, wurden aus dramaturgischen Gründen zwar nicht ausdrücklich, aber implizit um wenige Jahre vorverlegt. Was in der bekannten Sage einer Liebesbeziehung zwischen Klaus Störtebeker und Ocka tom Brok begründet, aber historisch so nicht vollkommen korrekt ist. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig. Im Anhang finden sich Wort- und Sacherklärungen.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-189-8

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Imke.Zeit ist nichts. Die Ewigkeit ist gleich nebenan.

PROLOG

Mit ausdrucksloser Miene starrte Klaus Störtebeker in die Dämmerung des weiten Kirchenschiffes vor ihm. Armdicke Wachskerzen erhellten den Altarraum und warfen goldene Lichtflecken auf das kunstvoll verzierte Steuerrad, das die Rückenlehne seines Stuhles bildete. Die Flammen setzten Lichter in seine Locken und ließen den breiten Goldreif um seinen Hals so lebhaft funkeln, dass es von Weitem so wirkte, als rege sich der geschuppte Reif auf dem dunklen Samt seines Wamses.

Der Altarraum von Marienhove war die einzige Lichtinsel in dem riesigen Bau. Ansonsten lag das Kirchenschiff in tiefer Dämmerung. Der Raum verlor sich in den Schatten eines Februartages, der mit Eisfingern an die Bleiglasfenster trommelte. Orkanböen heulten um die mächtigen roten Klinkermauern.

Vor langer Zeit hatten Friesen diese Trutzburg im Nirgendwo hinter der Küstenlinie errichtet: als Wahrzeichen ihres Glaubens, als Zeugnis ihres Stolzes, aber auch, um bei Überfällen und den gefürchteten Mandränken, den tödlichen Sturmfluten, Schutz zu finden.

Als dann die Piraten auf ihrer Flucht vor dem Deutschritterorden von Götland nach Ostfriesland kamen, da hatte Klaus Störtebeker diesen Dom als Stützpunkt erhalten. Von der Feste aus konnte er seine Raubzüge unternehmen. Seine Gönner, die ostfriesischen Hovetlinge oder Häuptlinge aus dem Hause tom Brok, dem mächtigsten Adelsgeschlecht der Friesen, verdienten an seinen Kaperfahrten nun kräftig mit. Aber das war ein Preis, den der berüchtigte Pirat gern zu zahlen bereit war für den Schutz, den eine Festung wie Marienhove ihm und seinen Männern bot.

Auch heute rüttelte der Sturm vergeblich an den mächtigen Eichentüren der Kirche. Die dicken Mauern schienen bisweilen unter den heranrasenden Böen zu erbeben, doch unerschütterlich trotzten sie ihnen.

Man hörte mehr, als man es sehen konnte, dass sich eine große Menge Menschen in dem Raum aufhielt. Ihr Raunen lag in der Luft. Der Atem von hundert Mündern verband sich in der Kälte zu einem Nebel. Silbrig schwebte er über den Köpfen dieser Schattengemeinde, wie Gespensternebel über einem vergessenen Friedhof.

Als die Tür aufsprang, fuhren alle herum: Der Sturm hatte sie einem stämmigen Bewaffneten aus der Hand gerissen und schmetterte sie nun gegen die Wand. Der Mann wartete, bis seine Gefolgsleute einen Gefangenen hereingeführt hatten. Dann packte er die Tür mit aller Kraft und schlug sie dem Ungewitter ins Gesicht. Die Männer, die der Tür am nächsten standen, waren vor den eisigen Böen zurückgewichen. Nun aber drängte sich alles dem Gang zu und blickte neugierig in das Gesicht des Gefangenen, der von den Wachen hereingezerrt worden war.

Die Hände des Mannes waren mit festen Seilen vor dem Bauch zusammengebunden. Sein rattenhaft spitzes Gesicht war von Schlägen entstellt. Helle Tränenspuren hatten sich in den Schmutz der Wangen gegraben. Das mausbraune Haar stand fettig nach allen Seiten vom Kopf ab, ganz so, als habe sich einer der immer wieder aufzuckenden Blitze seinen Weg durch den Körper des Mannes gebahnt. Sein linkes Auge war zu einer dunklen Masse zerschlagen. Halb blind stolperte der Gefangene in das Zwielicht der Kirche. Einer der Wachmänner packte ihn ungeduldig am Ellbogen und führte ihn. Roh stieß er den kleinen Mann auf die Knie. Unmittelbar vor dem Thron Störtebekers kam er zu Fall.

Der Anführer trat vor. Mit weit ausgestrecktem Arm ließ er einen Beutel vor Störtebekers Füße fallen. Als er auf dem steinernen Kirchenboden aufschlug, klirrte es. Drei Schritt vor dem hohen Kapitänsstuhl blieb der Bewaffnete stehen. Seine Faust schlug mit einer knappen Geste der Ehrerbietung vor die ledergepanzerte Brust, ehe er mit dröhnender Stimme zu sprechen begann.

»Wir ham diesen Mann hier, Eicko aus Pewsum, ausm Trupp Hansemänner rausgefischt! Die warn eben dabei, ihn nach Hamburg zu bringn. Jetzt lebt von denen bloß noch einer. Dem ham wa den Schwertarm abgeschlagn und ihn dann laufn lassn. Damit er den Räten von de Pfeffersäcke ausrichtn kann, was passiert, wenn se Schnüffler mit Beuteln voller Gold in die ostfriesischen Küstendörfer schickn. Up de Suche nach einem, der gierig genug ist, um Kriegsschiffe durch die Priele nach Marienhove zu lotsen.«

Er drehte sich zu der unsichtbaren Menge um, in der sich empörter Tumult erhob, und stieß dabei beide Arme in die Luft.

»Gerechtigkeit, Brüder! Darum soll’s heute gehn. Ich klag diese elende Ratte hier vor euch allen an! Weil er ’n Verräter is! Hab das Blutgold mit eignen Händn ausn Dieln in Eickos Hütte geborgn. An dem Beweis gib’s nix zu rütteln. Ich schwör’s bei meim Rang als Likedeelerhauptmann. Aber richtn müsst ihr! Wie’s sich bei uns gehört. Mit gleicher Stimme, nach gleichem Recht für alle! Auf Likedeelerart! Also fällt euer Urteil und möge unser Kapitän dazu das erste Wort führn!« Er stieß wieder kraftvoll seinen Schwertarm in die Luft.

Die friesische Piratenbruderschaft brach in zustimmendes Gejohle aus.

Störtebekers Hände hatten sich während der Rede des Hauptmannes so fest um die gedrechselten Armstützen geschlossen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Ein leises Zittern durchlief seinen Körper, während er auf den Mann zu seinen Füßen starrte. Einen Augenblick schien es, als wolle der Piratenfürst sich auf den Gefangenen stürzen. Doch dann holte er tief Luft, hob das Kinn und starrte über ihn hinweg zu seinen Vitalienbrüdern.

Langsam hob er den Arm. Senkte dann seinen Daumen. »Verräter!«

Nur dies eine Wort stieß Störtebeker zwischen seinen Zähnen hervor. Aber Hunderte von Stimmen nahmen es auf, warfen es aus der Dunkelheit des hohen Raumes zurück, bis es durch den Dom hallte: ein fluchender, ein verdammender Chor, unter dem der Gefangene sich krümmte.

Dann begannen die Ersten, mit ihren Schwertern und Dolchen in die hölzernen Lehnen vor sich zu hacken. Bald verstummten die Stimmen, während das Schlagen und Klopfen der Schwerter und Dolche anschwoll. Fordernd, mitreißend, gnadenlos: ein Trommelrhythmus des Todes.

Klaus Störtebeker stand auf. Unheilvoll überragte seine Gestalt den zusammengekauerten Eicko. Das blutrünstige Pochen verebbte, wich einer respektvollen Stille.

»Wir sind Wölfe!« Störtebekers Stimme füllte die Weite vor sich mühelos aus. »Seewölfe sind wir! Wir jagen im Rudel. Wir kämpfen und sterben gemeinsam. Wir fürchten niemanden und leben nur nach unseren eigenen Gesetzen. Diese Gesetze kennen nur eine einzige Sünde: den Verrat!« Er deutete auf das Bündel zu seinen Füßen. »Dieser Kerl hat unser Rudel verkauft. Der Wachtrupp hat ihn gestellt, ehe er Tod und Verderben über alle Likedeeler bringen konnte. Bevor er die mordenden Söldner der Hamburger zu unserer Feste, in unsere Dörfer, an die Betten unserer Frauen und die Wiegen unserer Kinder führen konnte.«

Mit flammenden Augen blickte er auf den Mann hinunter, der nun beide Hände vors Gesicht geschlagen hatte und laut stöhnte. Doch kein Mitleid regte sich in den Zügen von Klaus Störtebeker. Er hob lediglich die Stimme, um die Jammerlaute vor sich zu übertönen.

»Der da hatte keine Gnade mit seinen Wolfsbrüdern! Ihr wisst, was passiert, wenn Verräter wie Eicko ihr Werk vollenden. Oder muss ich es euch in Erinnerung rufen, was wir mit angesehen haben letztes Jahr, als wir nach Wangerooge kamen, nachdem ein verräterischer Lotse die Holländer dorthin geführt hatte?«

Er schüttelte traurig seine blonde Löwenmähne. »Bilder, die ausgewachsene Krieger zum Weinen brachten: die Kirche abgerissen! Rauchende Trümmer auf der ganzen Insel! Alte Männer, denen diese Tiere die Dreschflegel aus den Fäusten gewunden hatten, um sie ihnen auf den Schädeln zu zerbrechen!«

Er stockte kurz, versunken in die Bilder jenes Tages, aber seine Stimme zitterte nicht, als er fortfuhr. »Denkt an die Wiegen in den Bauernstuben! Diese Wiegen, aus denen das Blut unserer Jüngsten auf den Boden floss! Und dann erst die Frauen und die Mädchen! Das kann keiner beschreiben! Nicht umsonst nennen wir diese Söldnertruppen die Hanseschlächter! Sie sind die Geißel aller freien Friesen. Wehe ihnen!«

Er wies mit dem Zeigefinger vor seine Füße. »Und sieben Mal wehe einem, der solche Horden über uns kommen lässt! So viel unermessliches Leid«, er bückte sich und hob den schweren Lederbeutel hoch, »für solch einen Beutel Gold!«

Ein ohrenbetäubendes Heulen war das Echo auf diese Rede. Nur die Autorität der hoch aufragenden Gestalt vorn im Altarraum hielt die aufgebrachte Menge auf ihren Plätzen.

Störtebeker hob beide Arme. Stille senkte sich über den Raum. »Wir sind Wölfe!«, wiederholte er. »Aber wir sind keine gesetzlosen Mörder. Wir werden nach Likedeelerbrauch über das Schicksal eines Mannes abstimmen, der einmal zu uns gehört hat.«

Er gab einen Wink, und drei Männer schritten mit hölzernen Schalen durch die Reihen. In jede prasselte eine Flut schwarzer Bohnen.

Schließlich traten die Männer mit ernstem Gesicht vor ihren Kapitän und hielten ihm die Schalen hin. Störtebeker sah prüfend hinein und rührte eine ganze Weile darin herum. Dann wandte er sich der erwartungsvollen Menge zu.

»Nicht eine einzige weiße Bohne spricht dafür, das Leben des Verräters zu verschonen: Eicko aus Pewsum wurde von euch einstimmig zum Tode verurteilt!«

Die Menge johlte zustimmend.

Störtebeker betrachtete das graue Bündel Mensch zu seinen Füßen mit kalten Augen. »Weil der Verrat des Eicko über jedes normale Maß hinausgeht und euch alle betrifft, so werdet ihr auch alle euren Anteil an seiner Bestrafung haben.«

Ein grausames Grinsen verzerrte das gut aussehende Gesicht, als Störtebeker den Kopf schräg legte und in Richtung der schmalen Kirchenfenster lauschte. »Selbst der Himmel erkennt die Notwendigkeit dieser Strafe an. Für uns legt der Sturm eine Pause ein. Also nutzen wir sie!«

Wieder hielt Störtebekers Faust den großen Lederbeutel mit dem Gold in die Luft. »Getreu unserem Motto wird jeder von euch seinen Anteil von Eickos Blutgold bekommen. Aber nicht nur davon! Wir werden auch den Verräter selbst unter uns like-deelen: in gleiche Stücke teilen, wie es sich bei uns gehört! Jeder Mann, der zum Rudel gehört, darf sich ein Stück vom Verräter heruntersäbeln. Ob er es den Hunden oder den Möwen vorwirft, bleibt ihm überlassen.«

Die Gemeinschaft der Likedeeler tobte vor Begeisterung.

Der Gefangene brach in spitze Entsetzensschreie aus. Schon wurde er von dem bewaffneten Trupp auf die Füße gezerrt. Verzweifelt wand er sich und versuchte, die Beine in den Boden zu stemmen. Aber die Piratenwache schleifte ihn unbarmherzig durch die Kirche. Auf seinem langen Weg durch den Mittelgang waren nun keine Stimmen mehr zu hören, nur wieder das Pochen der Messer und Dolche. Erwartungsvoll. Wie von einem blutgierigen hundertschnäbeligen Specht.

Die Kirchentür fiel hinter dem Verurteilten zu. Das Pochen verstummte. Eine Stille senkte sich über den Ort, schwer vor Blutdurst. Die Spannung zwischen der Menschenmenge und ihrem Anführer war mit Händen zu greifen. Alle Augen warteten gebannt auf ein Zeichen ihres Kapitäns. Noch rührte sich kein Fuß.

Störtebeker blickte lange auf die Menge. Forschend glitt sein Blick über die rauen Gesichter, als prüfe er, ob sich noch mehr Verrat in ihren Reihen finden ließe. Dann hob er lässig die Hand. Sofort stürmten die Likedeeler hinaus zum Richtplatz. In wenigen Augenblicken war die Kirche geleert.

Nur Störtebeker blieb mit versteinertem Gesicht vor dem Altar zurück.

KAPITEL 1

Ein eisiger Nachtwind fegte um die Mauern der Schola Dei. Er trug die Glockenschläge aus dem mächtigsten Kloster des Nordens weit hinaus in die leere Moorlandschaft. Sie riefen die Mönche aus ihren Betten, damit sie nun, in der dunkelsten Stunde der Nacht, die Finsternis mit Psalmlesungen und mit ihren Gesängen erhellten.

Im Gästeschlafsaal der Schola fuhr der alte Frerk aus seinem Schlummer. »Müssn die ihre dicke Glocke bimmeln, als ob se die Totn selbs aus ihrn Gräbern herbeirufn wolln?«, murmelte er.

Stöhnend ließ er sich auf seinen Strohsack zurückfallen. »Wer braucht schon so ’ne riesige Glocke, hier mittn im Nirgendwo? Verdammt! Die spürt man ja bis in die Fußsohln!«

Zornig kratzte Frerk sich zwischen den Schulterblättern. Zieht eim glatt die Stiefel aus, das elende Ding, dachte er. Diese Zisterzienser, die ham einfach zu viel Geld. Weiß jeder, dass die genauso reich sin wie ihr Herrgott. Aber ebn doch zu geizich, um sich nebn dem Ungetüm da in ihrm Glockenturm noch wat Kleines, Leises für die Nacht zu gönnen: aus christlicher Rücksicht auf die richtichn Menschn, die einfach verdammt noch ma schlafn wolln, wie’s der Schöpfer vorgesehen hat für unsereins!

Wütend schnüffelte er an seiner grob gewebten Decke. »Oder vielleicht soll’s auch einfach bloß jeder mitbekommen, dass sich die frommen Brüder aus ihrn Bettn quäln!«

Frerk blinzelte zu dem Kreuz an der roh verkalkten Wand des Gästesaales. Dann blickte er die langen Reihen der Betten entlang, bis zur Stirnseite des Saales, wo in einer kleinen Mauernische eine Kerze flackerte.

Immerhin gab es im Kloster von Ihlow nur einen einzigen Schlafsaal für alle Gäste. Keine Extrawürste fürs eingebildete Kaufmannsvolk bei ’n weißen Brüdern. Den Dämpfer können se gebrauchn, das hochnäsige Gildemeisterpack von Auerk! Tut denen ganz gut, ma wieder ’n paar ehrliche Fuhrknechtsfürze zu schnüffeln, damit die Bäume nich gar zu steil innen Himmel wachsn!

In Wahrheit waren sie erst auf der allerersten Etappe einer schier endlosen Fernreise, bei der er und die anderen Fuhrknechte spuren und auch die Bewaffneten ihre Häute zu Markte tragen mussten, während die Kaufleute die unangefochtenen Herren über sie alle sein würden.

Noch dazu streichn se den ganzn Gewinn allein ein! Frerk schnüffelte wieder wütend. Lassn sich ’n Mors hinterhertragn und wern die ganze Zeit immerzu jammern, jammern, jammern: über die Preise fürs Essn, für die Unterkünfte, die Zölle, einfach alles! Dazu versuchn se, jede noch so kleine Verzögerung uns in die Schuhe zu schiem und uns vom Lohn abzuziehn. Gott, wie er dies Pack hasste!

Erbost sah er die Reihe der Schläfer entlang. Selbst hier, im Gästeschlafsaal des Klosters, hatte sich stillschweigend eine Hierarchie eingeschlichen. Je nach Stand und Vermögen lagen die Männer immer weiter weg von der Tür. Und immer näher dran am Licht.

Frerk zog sich grimmig die Decke über die Ohren. Hier an seinem Platz, so weit unten, zog es gewaltig unter der Holztür hindurch.

Und finster isses auch!

Er versuchte, die Schatten der anderen Knechte auszumachen. Aber seine Augen waren seit einiger Zeit schlechter geworden. So blieb ihm nur, auf ihr Schnarchen zu lauschen. Er wusste, dass er nun so schnell nicht wieder einschlafen würde. Verdammtes Mönchspack!

Eine Weile sah er zu, wie das Mondlicht verschwommen durch die straff gespannte Tierhaut eines Fensters schimmerte. Neben sich hörte er Bauko unruhig schnaufen. Auch sein Freund warf sich hin und her. Ihm wurde klar, dass der andere ebenfalls wach war.

Frerk seufzte. Sollte er überhaupt noch Hoffnung auf ein bisschen Schlaf haben, dann musste er jetzt wohl doch noch pissen gehen. Seit er die Lebensmitte überschritten hatte, machte ihm sein Wasserwerk zu schaffen. Ständig musste er schiffen, und bei Kälte hatte er Blut im Wasser. Bisher hatte die Hebamme immer helfen können mit ihren Tees. Aber heute Nacht war es wirklich eisig. Außerdem war Rixte mit ihren Kräutern in Auerkhove, eine halbe Tagesreise entfernt.

Unzufrieden rollte Frerk sich auf die andere Seite. Diese Stunden zwischen Mitternacht und der Morgendämmerung waren die schlimmste Zeit, um sich auf den langen Weg zu den Gästelatrinen zu machen. Entschlossen kniff er die Augen zusammen. »Schlaf einfach schnell wieder ein, Alter!«, flüsterte er sich aufmunternd zu.

Aber dann spürte er neuerlich diesen Druck auf der Blase. Ziehend, wie ein leichter Zahnschmerz. Er seufzte. Keine Schankse, alter Sack! Hoch mit ’m Mors!

Leise stand er auf und knuffte Bauko. Im Mondlicht sah Frerk, wie sein Freund ihm das Gesicht zuwandte und verstehend grinste. Alte Männer, alte Blasen.

Gern hätten sie sich einfach an die nächste Ecke gestellt. Aber jetzt hörten sie ganz deutlich den Wechselgesang der Psalmen aus der Kirche. Das ganze Kloster war auf den Beinen, und Abt Ansgar verhängte empfindliche Geldstrafen fürs Wildpinkeln. Frerk kannte einen Knecht, der sein Wasser im Innenhof abgeschlagen hatte – und prompt den Abt vor der Nase gehabt hatte, der ihm schneller einen Witten, einen ganzen verdammten Weißpfennig, abnahm, als der arme Tropf »mea culpa« sagen konnte.

Also holte er brav ein Wachsstümpfchen aus dem Beutel an seinem Gürtel, tapste durch den langen Gang auf die Kerze zu und brannte sein Licht an der großen Bienenwachskerze an. Dann huschte er lautlos an den Reihen der Schläfer vorbei, zur Tür hinaus, und Bauko schloss sich ihm an.

Still lag der mondübergossene Hof vor ihnen. Im klaren Silberlicht konnte Frerk die Stallungen mit ihren Holztoren erkennen, die Fuhrwerke, die kreuz und quer im Hof standen und durch die sie sich nun vorsichtig schlängelten, um dahinter, noch hinter dem Lager für Futtermittel, zu den Latrinen zu gelangen. Bauko verzog mürrisch das Gesicht. Trotz des Mondlichtes war es klug gewesen, die Kerze mitzunehmen.

»Die Latrinenecke is mit Sicherheit die dunkelste Ecke im ganzn Kloster! Da isses finster wie in ’nem Karnickelarsch!«, zischte Frerk und fluchte erschrocken, als er über einen Sack stolperte, der von einem der Fuhrwerke gefallen sein musste. Er konnte den Sturz zwar abfangen, aber das Licht in seiner Hand flackerte gefährlich. Schützend hielt er seine riesige Pranke um die kleine Flamme. Nich ausgehn, Licht, nich hier!

Vorsichtig packte er das Treppengeländer mit einer Hand und stieg die ersten fünf Stufen hinab. Als er den Nachtwind nicht mehr spüren konnte, klebte er das Licht mit zwei Tropfen Wachs auf dem Treppenholz fest, um für das, was nun anstand, die Hände frei zu haben.

Er nahm die restlichen paar Stufen und fluchte erneut. Er hatte gedacht, dass das Kerzenlicht von dort, wo er es zurückgelassen hatte, bis hierher reichen würde. Aber die Latrinen lagen ganz hinten an der Wand gegenüber. Vor ihm erstreckte sich eine erdrückende Dunkelheit. Verunsichert wandte er sich um. Sollte er das Licht doch mitnehmen?

Die Sache erledigte sich, weil Bauko die Treppe hinter ihm herabgepoltert kam. Misstrauisch schaute er Frerk aus seinen schlafverquollenen Augen an. »Was stehst’n hier noch rum? Brauchs wohl jemand, der dir’s Händchen hält im bösn, bösn Dunkeln.«

Frerk presste die Lippen zusammen. Einmal, im Suff, hatte er Bauko anvertraut, dass er sich vor der Dunkelheit fürchtete. Und es seitdem bitter bereut.

»Komm schon, Alterchen!« Bauko schlug ihm spöttisch auf die Schulter und schlurfte dann an ihm vorbei in Richtung Abort.

Frerk tapste vorsichtig hinterher. Als er den Raum zur Hälfte durchquert hatte, konnte er buchstäblich nicht mehr die Hand vor Augen erkennen. Er hätte es wissen müssen: Das kleine Kerzenlicht in seinem Rücken brachte hier so gut wie gar nichts, denn dummerweise stand sein Licht auf der oberen Stufe, auf Höhe des Bodens. Während die Latrine wie ein Keller in den Boden gegraben worden war, um der Rohrleitung, die vom Hof zu den Aborten führte, das nötige Gefälle zu verschaffen. Genug, damit das Wasser den Dreck aus der steinernen Rinne unter den Sitzen hinab in die Jauchegrube schwemmen konnte.

Vor sich, in der tintigen Tiefe des Raumes, hörte er Bauko pissen. Das Geräusch war dünn, mickrig und immer wieder unterbrochen von angestrengtem Ächzen. Frerk grinste hämisch. Der hat’s wirklich noch schlimmer am Wasserwerk als ich!

Aber in Kürze würde Bauko sich den Latz zubinden und ihn ganz allein in der Finsternis stehen lassen, um wieder unter seine warme Decke zu kriechen. Also sieh zu, verdammt!

Um Zeit zu sparen, begann Frerk hektisch nach den Hornknöpfen an seinem Hosenlatz zu tasten. Mit einer Hand riss er sich den Latz herunter, während er die andere vorstreckte, um nahezu blind tiefer und immer tiefer in die Dunkelheit zu stolpern. Auf keinen Fall konnte er schließlich seinen Freund bitten, noch ein bisschen in dem Gestank und der Dunkelheit herumzustehen, nur weil er allein Angst hatte.

Frerk verzog das Gesicht zu einer Grimasse und versuchte angestrengt, die Reihe der Latrinen zu erspähen. Dabei schimpfte er lautlos mit sich selbst: Elender Schisser! Was soll hier schon lauern? Sackrattn? Klar! Die werfn sich dir ans Gemächte und quietschn dabei wie ’n Schwein am Schlachttag. Er kicherte hysterisch.

Aus der Dunkelheit kam ein fragendes Knurren von Bauko.

»Alles gut, bin gleich so weit!« Angewidert bemerkte Frerk, wie hoch und atemlos seine Stimme klang. Mädchen!

Als seine Zehen an die steinerne Sitzkante stießen, spürte er zugleich Heu an den Fingerspitzen. Es hing in einer langen Raufe über den Sitzen an der Wand und diente zur Reinigung. Vorsichtig senkte Frerk die Arme und tastete. Hier ungefähr mussten in einer langen Reihe die Holzsitze mit dem Loch in der Mitte sein. Frerk versuchte, den Rand der Latrine zu erspüren, ohne mit den Fingern in das dreckige Loch zu fassen.

Plötzlich streiften seine Fingerspitzen seidigen Stoff. Glatt. Teuer. Überrascht fuhr er zurück. Da saß also schon jemand auf dem Sitz vor ihm. »Tut mir leid!« Er kicherte verlegen.

Diese verdammten alten Augen! Früher hatte er in der Dunkelheit gesehen wie eine Katze. Aber jetzt war er doch schon eine ganze Weile in dieser Finsternis und konnte die Umrisse des Mannes weiterhin nur erahnen, weil er wusste, dass er da war.

’nen vornehmen Kaufmann anzutatschn. Und das noch dazu mit runtergelassnen Hosen! Wunderbar! Er packte seinen Hosenlatz und machte sich auf eine Abreibung gefasst. Aber nichts geschah.

Irgendetwas war komisch an dem da vor ihm. Frerk spürte, wie sich die feinen Härchen an seinen Armen aufstellten. Hier stimmte was nicht. Der da vor ihm war einfach zu still. Da war etwas Unmenschliches um die verschwommene Gestalt.

Nichts.

Dieses Wort, das Frerk so plötzlich durch den Kopf schoss, war so untypisch für ihn, dass er spürte, wie das Blut in seinen Adern ganz kalt wurde. Der Platz hier direkt vor ihm war irgendwie dunkler als das Dunkel um ihn her. Lautloser als der stille Raum. Und all das ging von der Gestalt aus.

Dämon der Nacht.

Frerk fluchte und stolperte zurück. Fast wäre er dabei gefallen. Panik ergriff ihn, sprang ihn so plötzlich an wie eine tollwütige Katze. Er schwitzte trotz der Kälte. »Bauko!« Diese weinerliche Panik in seiner Stimme! Mehr ein Quieken als ein Ruf. Ihm war es egal. »Bauko! Bauko, komm her, um Gottes willen!«

Ein gereiztes »Was denn? Ich bin fertig. Ich geh schon ma vor!« erklang.

Kerzenlicht flackerte, als das Stümpfchen von der Stufe gerissen wurde. Bauko hatte sich das Licht gekrallt.

Der verfluchte Bastard will mich also wirklich hier untn allein lassn! Nun wurde Frerk wütend. »Komm her, verdammte Scheiße, und bring mein Licht mit!«

Dass der da vor ihm sich immer noch nicht rührte, wurde von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Frerks Nasenflügel blähten sich. Alles roch plötzlich hundertmal intensiver: Von Bauko kamen schweißige Schläfrigkeit und ein Hauch von Pissegestank zu ihm herübergewabert. Der Lehmboden unter seinen Füßen roch modrig. Sogar den brennenden Docht meinte Frerk mit seinen überreizten Sinnen erschnuppern zu können.

Vorsichtig witterte er in die Finsternis vor sich. Er fuhr zurück. Es half nichts. Ein neuer Geruch legte sich um ihn. Frerk keuchte, erkämpfte sich seinen Atem durch diesen bösartigen Gestank: metallisch, schwer, alarmierend.

Endlich war Bauko mit dem Licht da. Gleichzeitig beugten sie sich zu den Latrinensitzen vor: Der Mann, der da mit heruntergelassenen Beinkleidern auf seinem Sitz saß, wirkte sehr schlaff. Seine Arme ruhten neben dem Körper auf der Bank, der Rücken stützte sich gegen die Wand. Er saß nicht gerade, sondern war seitlich in sich zusammengesackt. Etwas Heu hing vor dem Gesicht mit dem weit aufgerissen Mund. In den Mundwinkeln stand roter Schaum. Das vornehme Seidenwams hatte vorn einen riesigen Fleck, der sich über die Mitte des Brustkorbes zog. In seinen Schoß hatte jemand ein Samtbarett gelegt.

Frerk hörte einen dünnen Schrei. Er wunderte sich, wie aus dieser leeren Hülle dort noch so ein erbärmliches, hässliches Geräusch kommen konnte. Es klang wie das Kreischen eines alten Weibes.

Erst als Bauko ihm die Hand auf die Schulter legte, begriff er, dass der Ton aus seiner eigenen Kehle kam.

KAPITEL 2

Es begann wie immer: Unter einem wolkenlosen Frosthimmel lag der Lambertihofplatz vor Enno im Mondlicht. Das silberkalte Licht schien in der eisigen Luft zu tanzen. Es zeichnete die Konturen der Kaufmannshöfe und Bürgerhäuser, die sich um die gedrungene Kirche zusammenkuschelten, mit scharfen Schattenschlägen nach. Zögernd setzte Enno einen Stiefel auf den glitzernden Pulverschnee. Und wie schon hundertmal zuvor begann der Boden unter seinen Füßen davonzugleiten. Wie auf einer Eisbahn schwebte Enno in einem weiten Bogen die Kirchstraße entlang, die sich um den Bau der Lambertikirche krümmte.

Schatten huschten an ihm vorbei: die Schatten der Nachbarshäuser aus seiner Kindheit in Auerkhove. Da war das schmale ärmliche Kaufmannshaus der Stieges, gleich neben dem behäbigen Haus von Wollhändler Claashen, dann das prächtige Bürgermeisterhaus von Wiard, dem Gildemeister. Und dann kam auch schon der anmutige Bau vom alten Koopmann und seiner blutjungen Gattin Fenna, an dem Enno nie ohne Herzklopfen und einen sehnsüchtigen Blick hinauf zu einem ganz bestimmten Fenster im zweiten Stock hatte vorbeigehen können. Auch nun huschte sein Blick gewohnheitsmäßig zu der linken Hausecke. Aber hinter den Butzenscheiben zeigte sich kein Lichtschimmer.

Natürlich nicht. Es war tief in der Nacht. Alle lagen wohl schlafend und in tiefen Frieden gehüllt in ihren Betten, während die Kamine ihrer Häuser behagliche Dampfwolken auspafften: Zeichen von Wärme und Leben in dieser stillen, kalten Nacht.

Bis – ja, bis der Boden unter ihm zum Stillstand kam vor dem einzigen Gebäude in diesem Kreis von Kaufmannshäusern, das keinen warmen Atem besaß: seinem Elternhaus.

Enno starrte an der zweistöckigen Klinkerfassade hinauf. Im Mondlicht wirkte sie dunkel wie geronnenes Blut und eigentümlich leblos. Mit weißer Kalkfarbe hatte jemand eine riesige, spiegelverkehrte Vier auf die Steine gemalt. Sie schien auf der dunklen Mauer zu schweben, sich an der Fassade auf und ab zu bewegen, kriechend nach Ritzen und Spalten zu tasten, um in das tote Haus zu gelangen. Ein bedrohlicher Spuk, eine Warnung und das bekannte Zeichen des Verderbens: Hütet euch vor der Pest!

Jetzt sah Enno auch die dicken Eichenbretter, mit denen jemand von außen Fenster und Türen, ja buchstäblich jede Öffnung an dem Haus vernagelt hatte. Gott erbarme sich über die armen Eingeschlossenen auf der anderen Seite dieser Mauern, dachte er so seltsam unbeteiligt, wie es ihm immer in diesem Traum widerfuhr. Und so war er auch gar nicht verwundert, als er im nächsten Augenblick im Inneren seines Elternhauses stand. In dem langen dunklen Eingangsflur, der zu den Lagerstätten im hinteren Bereich und dem Kontor führte.

Hier drinnen war die Leere fast mit Händen zu greifen. Eine überwältigende Abwesenheit, die sich wie ein Gewicht auf den Eindringling senkte, während der Wind um die Mauern wimmerte. Hier und da knackte der Frost in den Balken des ausgekühlten Hauses. Enno wappnete sich, während seine Füße unaufhaltsam die Treppe hinauf in Richtung der Wohnräume stapften. Als hätten sie einen eigenen Willen, gegen den Enno sich nicht zu stemmen vermochte, wie sehr er es auch versuchte. Ohne dass er sie daran hindern konnte, stieß seine Hand die erste Tür in dem langen Flur auf.

Die Leichen seiner Eltern waren so mit Raureif überzogen, dass er die schwarzen Beulen an ihren Hälsen und auf den gefalteten Händen kaum bemerkte. Die liebevolle Sorgfalt, mit der sie frisiert und in ihre besten Kleider gehüllt worden waren, hatte etwas Tröstliches: Hier war noch ein letzter Rest Würde zu spüren, selbst im Schrecken.

Im nächsten Zimmer verschwanden diese Spuren von Ordnung. Auf dem Bett lag die kleine Gestalt seines Neffen Ihno. Auch er war in sein bestes Wams gehüllt. Seine Hände waren mit dunklen Malen überzogen, die schwarz auf der gespenstisch bleichen Haut leuchteten. Jemand hatte dem Kleinen ein Holzpferdchen zwischen die erstarrten Finger geschoben.

Enno schluckte. Er selbst hatte dies Pferd für den kleinen Lausbuben geschnitzt, der die ganze Nachbarschaft mit seinem Hang zu Streichen auf Trab gehalten hatte. Wo immer Ihno auch war, hatte man das Pferd aus seiner Kitteltasche herausragen sehen und eine Zwille aus der anderen.

Uda hatte oft versucht, ihm die Schleuder abzuknöpfen. Aber der kleine Übeltäter hatte sich mit seiner treuen Gefolgschaft aus Nachbarsjungen immer schnell eine neue verschafft. Uda.

Enno blickte zu der Frauengestalt am Fenster. Seine Schwägerin hockte als gefrorener Leichnam neben einer Wiege. Sanft schob Enno den knisternden Schleier ihres frostüberzogenen Haares beiseite und sah hinab. Ein winziger Leichnam lag in dem Bettchen, gehüllt in ein Taufkleid. Seine Schwägerin hatte ein ziseliertes Silberfläschchen neben das Köpfchen gelegt. Enno erkannte die Reliquie: Sein Vater hatte das wertvolle Flakon, sorgsam mit Wachs versiegelt, aus Italien mitgebracht. Es war eine vom Papst selbst geweihte Weihwasserflasche, der kostbarste Besitz seiner Eltern.

Nun war das Wachssiegel zerbrochen. Offensichtlich hatte die sterbende Mutter das heilige Wasser dazu benutzt, ihr Kind zu taufen. Damit seine Seele Eingang in den Himmel finden und es neben ihr in geweihter Erde liegen konnte.

Udas blau gefrorene Hand lag noch immer segnend auf der Brust ihres Kindes. Enno fragte sich, ob sie es hatte spüren müssen, wie das rasche, zarte Klopfen in der winzigen Brust erstarb. Oder ob sie zuvor selbst von gnädiger Dunkelheit eingehüllt worden war. Sanft streichelte er ein letztes Mal über ihr herrliches silberblondes Haar. Uda war immer für ihn da gewesen. Und als sie dann, nach vielen Jahren, doch noch schwanger geworden war mit Ihno, da hatte sie Enno in die Arme geschlossen und ihn flüsternd um Verzeihung gebeten. Er hatte das Mitleid in ihren Augen gesehen, ihr hilflos den Rücken gestreichelt – und nichts verstanden. Da noch nicht.

Zärtlich legte er die Hand auf ihren frostglitzernden Scheitel. Uda war wie eine zweite Mutter für ihn gewesen. Sein Bruder Menno war so viel älter, dass Enno sich kaum an eine Zeit erinnern konnte, in der Uda nicht schon Teil der Familie gewesen war. Uda mit ihrer tiefen Singstimme und ihrem köstlichen Gebäck. Uda mit den fürsorglichen, warmen Händen. Sanft strich er über die erstarrte Hand der Frau, und der dicke Wollmantel, den jemand um ihre Schultern gelegt hatte, glitt mit einem dumpfen, schweren Geräusch zu Boden. Sicher war es Menno gewesen, der Uda seinen Mantel um den fiebernden Leib gelegt hatte.

Und dann stand Enno plötzlich in der Küche. Abwehrend schlug er die Hände vors Gesicht.

Ich will es nicht. Ich will nicht noch einmal deine Leiche sehen müssen, Bruder! Deinen starren Körper, auf der Seite liegend, vor der Feuerstelle. Wie du deine Hände vergeblich in Richtung des letzten Häufleins Reisig ausstreckst, das anzuzünden du nicht mehr die Kraft hattest. Bist du erfroren? Oder verbrannt im Feuer deiner schrecklichen Krankheit?

Doch diesmal lag die Gestalt in der Küche nicht still, sondern der Leichnam setzte sich auf und musterte Enno aus seinen milchigen Augen. Anklagend streckte er einen schwarz angelaufenen Finger aus. »Was kümmert es dich?« Die Stimme war nur ein trockenes Rascheln. »Der Lohn der Sünde, der Lohn der Sünde ist der Tod.«

»Was kann mein kleiner Neffe Ihno für unseren Zwist, Bruder? Was kann Mutter dafür oder Uda?«

Der Tote schüttelte mit ruckartigen Bewegungen den Kopf. »Bis ins zweite und dritte Glied!«

Enno spürte heiße Tränen auf seinen Wangen. »Ich habe dir verziehen, Bruder. Ich habe auch unserem Vater verziehen.«

Menno Wollner neigte sein farbloses Haupt. »Warum begräbst du uns dann nicht? Wir sind müde. So müde. Der Wind, der um dieses Haus streicht, gibt niemals Ruhe! Niemals …« Seine schwarze Zunge versuchte vergeblich, die eingetrockneten Lippen zu befeuchten. »Das Urteil wurde gefällt. Ich habe dich verraten. Vater hat dich verraten. Sogar unser Onkel hat dich verraten: Ansgar van Wiesede, der ehrwürdige Abt von Ihlow. Was ist mit ihm? Hast du dem auch vergeben?«

Enno versuchte zu antworten. Aber ganz plötzlich spürte er einen Kloß in seinem Hals, an dem die Worte einfach nicht vorbeischlüpfen wollten. Ärgerlich stieß er die Luft aus seinen Lungen. Aber der Knoten blieb.

Menno kicherte, hoch und unheimlich. »Doch nicht gar so heilig, unser weißes Brüderchen!« Mit seinen verwachsenen Krallen zeigte er auf Enno. »Dabei liegt es an dir! Alles lag an dir! Immer schon! Der zu spät Geborene mit dem Engelsgesicht! Kamst erst auf diese Welt, als dich niemand mehr gebrauchen konnte. Als ich mich lange schon daran gewöhnt hatte, der einzige Erbe zu sein. Eine eigene Frau hatte. Und Pläne. Wen wundert es da, dass einer in meiner Lage verteidigt, was er sicher glaubte? Du bringst die Menschen dazu, ihre hässlichsten Seiten zu zeigen, Kleiner! Stellst dich zwischen sie und das, was sie von ganzem Herzen wollen. Genau wie Luzifer, der Engel des Lichts! Du führst die Seelen der Menschen in Versuchung, damit sie verdammt werden können.«

Er ließ den Arm in einem weiten Bogen um sich schlenkern. »Ich wollte all dies! Und wer konnte es mir verübeln? Ich wollte es so sehr! Und nun? Sieh mich an!« In höchster Pein hob er den Kopf und drehte Enno seine linke Seite zu, sodass der das Pestmal betrachten musste, das wie eine schwarze Blüte auf Mennos Wange wucherte. Die langen Leichenkrallen kratzten über das graufleckige Gesicht und zerpflügten dabei die Beule. Eiter sickerte aus ihrem Krater. Voller Grauen sah Enno, wie der Pestsaft auf das verfärbte Hemd seines Bruders tropfte.

Der Tote hob den Blick und fletschte die Zähne. »Verrottet. Vergangen. Verloren. Doch was schert es dich, du satanischer Engel? Geh einen anderen verfluchen! Hier ist dein Werk getan.«

Er legte die Hände um seinen eingefallenen Mund. Der Laut, der nun aus seinem Schlund kam, war unmenschlich: ein Heulen, schrill wie der Winterwind, wenn er durch Kamine tobte. Ein eisiger Hauch blies Enno ins Gesicht, schob ihn aus dem Zimmer, hinaus auf den Flur und weiter auf die Straße, während er spürte, wie seine Brust von Raureif überzogen wurde und von einer Kälte, die nach seinem Herzen griff …

Keuchend fuhr Enno aus dem Traum hoch. Mit seinem Kuttenärmel wischte er sich die schweißnasse Stirn. Beim blutenden Herzen der Jungfrau! Ich dachte, ich hätte all das im Frankenland hinter mir gelassen.

Fröstelnd wickelte er sich in seine Kukulle und zog auch den dicken Wollmantel um sich, den ihm Vater Amias aus dem Collège zum Abschied geschenkt hatte. Nachdenklich sah er durch eine Lücke in der morschen Scheunenwand. Im Osten zeigte sich ein erster rosiger Schimmer auf dem Antlitz der Welt.

Die kälteste Stunde. Und die Zeit, in der die Anderwelt nach den Seelen der Träumenden greift.

Fröstelnd bekreuzigte er sich. Dann klopfte er etwas unentschlossen den Staub von seiner Kleidung. Eigentlich war es für eine Fortsetzung seiner Wanderung noch zu früh. Hier im hohen Norden schlenderte die Sonne des Morgens nur in sehr zögerlichem Tempo den Horizont hinauf, und das Dämmerlicht der ersten Stunden währte lang.

Enno spähte hinaus. Dort hinten beginnt irgendwo das Moor.

Er spürte, wie sich die feinen Härchen auf seinen Unterarmen aufrichteten. Das Moor, wo die Geister von Selbstmördern umgingen und die Irrlichter tot geborener Kinder: verlorene Seelen, die einen in die Tiefe führen wollen.

Ärgerlich schüttelte Enno den Kopf über sich selbst. Du denkst schon wie dieser abergläubische Uri, schalt er sich. Dabei mussten die dunklen Seelen im Licht der Sonne zurück in die Anderwelt.

Er lachte unsicher und griff nach seiner Tasche. Nachdenklich ließ er den ausgefransten Leinengurt durch seine Finger gleiten. Dann warf er ihn sich mit einem entschlossenen Ruck über die Schulter. Bis er in den wilden Mooren anlangte, würde es lange heller Vormittag sein. Zu dieser Stunde lauerten dort nur handfeste Gefahren. Und dafür hatte er schließlich seinen Stock.

Enno sah sich suchend nach seinem Eichenstab um. Mit beiden Händen wühlte er in dem staubigen Stroh, bis er den mannslangen Knüppel wiedergefunden hatte. Geschickt ließ er ihn in seinen Händen tanzen, machte dann einen blitzschnellen Ausfallschritt und tat, als ob er einen unsichtbaren Gegner erschlüge. Als er den Stock in die Luft stieß, rutschte sein Kuttenärmel zurück. Zufrieden betrachtete Enno das Spiel seiner Oberarmmuskeln.

»Danke, Vater Amias, für deinen Dispens. Vier Jahre blaue Flecken und Stürze in der Arena des Deutschritterordens waren nicht vergebens«, sagte er laut und grinste. Seine gletscherblauen Augen leuchteten kampflustig. Sollten sie nur kommen, die Räuber im Moor!

Mit einer Hand raffte Enno seine alte Decke zusammen, stopfte sie quer über seine Umhängetasche und schlenderte dann zur Stalltür. Prüfend streckte er den Kopf in die Morgenluft und blinzelte überrascht. Es war bereits heller, als er gedacht hatte. Entschlossen trat er über die Schwelle. Er zog die Stalltür hinter sich zu und blickte etwas betreten an sich hinab. Das Licht reichte eben aus, um den beklagenswerten Zustand seiner Kutte zu erkennen. Himmel!

Nach einem Blick auf den Dreck im Schankraum hatte Enno es am Vorabend nicht eingesehen, auch noch eine Münze für ein sicher völlig verlaustes Bett zu verschwenden. So hatte er sich auf das unwirsche Nicken der Wirtin hin lieber in den verlassenen Stall verzogen.

Ob das die beste Entscheidung war, in uraltem, staubigem Stroh zu schlafen, einen Tag bevor ich dem gestrengen Abt von Ihlow unter die Augen treten muss, das hätte ich mir wohl vorher überlegen sollen, dachte er.

Halbherzig rieb er an seinem Mantel herum. Andererseits blieb so alles, wie der Alte es ja ohnehin erwartete: Sein schwarzes Schaf kehrte zurück.

Noch einmal schüttelte er die verschmutzte Wolle aus. Aber er gab den Kampf schnell wieder auf und trottete von dem verlassenen Hof auf die Landstraße. Warum ich mich so beeile, weiß Gott allein …

Dennoch: Er wollte jetzt einfach nur weiterziehen. Die Bewegung im Stall hatte seine steif gefrorenen Glieder geschmeidig gemacht, und es war nur noch ein Marsch von wenigen Stunden. Außerdem war der Weg von Leer in Richtung Küste recht breit und nicht besonders löchrig. Wenn er stramm marschierte, konnte er noch im Tageslicht im Kloster sein.

Nachdem Enno endlich beschlossen hatte, Frieden zu schließen mit allem, was dort an bitteren Erinnerungen auf ihn wartete, konnte er es kaum erwarten, seine guten Vorsätze zu prüfen. Plötzlich erschien es ihm ganz und gar unerträglich, den Augenblick weiter hinauszuzögern, in dem er dem Abt Ansgar van Wiesede zum ersten Mal nach vier Jahren gegenüberstehen würde.

Nachdem er mich damals um ein Haar splitterfasernackt aus dem Kloster gejagt hätte … Ennos Herz begann wild zu klopfen. Er zwang sich, die frische Morgenluft in tiefen Zügen einzuatmen. Betete ein Vaterunser und spürte, wie sein Herz unter den vertrauten Worten zur Ruhe kam. Wie sich die Formeln wie Balsam über die wirren Bilder jenes letzten Tages in der Schola Dei legten, die es ihm nun so schwer machen wollten, wieder an die Pforten des Klosters zu klopfen.

Er strich sich über die pochenden Schläfen. Dachte an den heroischen Akt der Selbstüberwindung, den er sich abverlangen würde: Er, das Opfer einer fein gesponnenen Intrige, würde alles, was gewesen war, dem Allmächtigen überlassen. Statt weiter um sein Recht zu kämpfen, würde er sich nun in gottgefälliger Demut dieser skrupellosen Spinne in ihrem Netz beugen. Enno nickte zufrieden. Ja, wahrlich, er würde den Abt von Ihlow, seinen Onkel, beschämen mit seiner christlichen Großmut.

Entschlossen stellte er sich mitten auf den Weg. Die unbefestigte Straße war gesäumt von hohen Silberbirken. Fast meinte er, ihren jungen Saft erschnuppern zu können, wie er aus den Stämmen in die kräftigeren Äste schoss und sich von dort aus weiterverteilte bis hinauf in die wehenden Spitzen der feinen langen Ästchen weit über seinem Kopf. Schlanke Mädchen mit losem Haar, die träumend ihre Häupter in den Frühlingswind neigten. Baumnymphen aus der alten Zeit.

Enno lächelte und nickte den Birken zu. Dann packte er seinen Stock und marschierte los in Richtung Ihlow.

KAPITEL 3

Enno kam um die letzte Kurve seines Weges. Ungeduldig strich er die Zweige eines Haselnussbusches beiseite, die ihm bisher den Blick auf sein Ziel versperrt hatten. Im letzten Licht schien das mächtige Kloster ihn zu grüßen wie eine Mutter ihr verlorenes Kind. Er blinzelte, wischte sich dann verstohlen über die Augen. Das Gefühl von Heimkommen war einfach überwältigend.

Bewundernd nahm er das Bild auf, das sich ihm bot: Die dicken Ziegelmauern der Schola Dei, der Schule Gottes, wie ihre Gründer das Zisterzienserkloster zu Ihlow vor langer Zeit genannt hatten, wirkten trutzig, fähig, es mit jedem Feind aufzunehmen. Seine gewaltigen Eichentore waren nun, am Tag, geöffnet und erschienen Enno wie ausgebreitete Arme.

Gemächlich schlenderte er durch das weite Tor. Im Vorbeigehen spähte er in die Stube des Pförtners. Wie immer war der Wachraum dicht besetzt. Die bulligen Knechte, die die Schola notfalls gegen Strauchdiebe verteidigen sollten, hatten Enno den Rücken zugewandt und steckten aufgeregt die Köpfe zusammen. Doch ihr Herr, der schmächtige Pförtner Joost, erspähte Enno augenblicklich. Gleichmütig und ohne jedes Zeichen von Überraschung nickte er ihm zu und winkte ihn dann mit einer herablassenden Geste weiter.

Durch den hallenden Torweg erreichte Enno den ersten Hof des Klosters.

Augenscheinlich war hier ein Kaufmannszug in Vorbereitung. Bei der Aufregung, die herrschte, war es nicht schwer, sich unbeachtet durch die kreuz und quer abgestellten Fuhrwerke zu schlängeln. Konversen und Novizen eilten mit hochroten Gesichtern hin und her, um die Tiere des stattlichen Kaufmannszuges zu versorgen. Vor der Tür des Gästehauses standen Kaufleute in teurer dunkler Reisekleidung um einen Feuerkorb und blickten von Zeit zu Zeit zu den mächtigen Toren der Klosterkirche. Hinter denen aber Gott sei Dank alles ruhig blieb. Keine hagere, energische Gestalt erschien zwischen den mächtigen Türflügeln, und Enno beeilte sich, aus dem Schatten der Hauptfassade zu verschwinden, indem er den schmalen Pfad seitlich an dem Bau vorbei wählte.

Er bog in die Gasse zwischen dem Seitenschiff und der langen Reihe von Lagerhäusern, die den Platz nach Westen hin begrenzten. Hier war es dunkel und wohltuend still. Heute war kein Tag, an dem es irgendjemand in den Sinn kommen würde, in den Lagern des Klosters herumzustromern. Denn die Waren, die die Kaufleute für das Kloster verkaufen sollten, waren ja schon auf den Fuhrwerken.

Der schmale Durchgang lichtete sich und gab den Blick auf die innere Klosteranlage frei. Hier herrschte wie immer eine weihevolle Stille. Das Herz des Klosters war für Laien streng verboten. Auch dieser hintere Teil wurde vollkommen beherrscht von der mächtigen Klosterkirche, alle anderen Bauten auf dem Klostergelände waren rund um dieses Herz der Schola Dei angesiedelt.

Gerade weil Enno in Paris prachtvolle Kathedralen gesehen hatte, beeindruckte ihn die Schlichtheit dieses machtvollen Baus heute umso mehr. Nachdenklich folgte sein Blick der aufstrebenden Silhouette des Seitenschiffes. Wenn man nicht wusste, wie viele Funktionen eine zisterziensische Klosterkirche erfüllen musste, konnte man die Größe dieser Bauten kaum nachvollziehen.

Der Ordensgründer der Zisterzienser, der heilige Bernhard von Clairvaux, hatte einst gefordert, dass das ganze Leben eines Mönches ein einziger Gottesdienst sein solle. Wahrscheinlich hatte er dies in einem allgemeinen Sinne gemeint. Aber die Zisterzienser waren keine Theologen, die sich in Diskussionen verloren. Sie waren Praktiker. Deshalb neigten sie dazu, auch die seltsamsten Aussprüche ihres Gründungsvaters wortgetreu umzusetzen. Dementsprechend beherbergten ihre Kirchen nicht nur den Altarraum und das Kirchenschiff, sondern man hatte versucht, alle Räume, die ein Mönch im Laufe seines Tages nutzen musste, so geschickt in das Gebäude zu integrieren, dass sie die weihevolle Atmosphäre der Kirche nicht störten.

Nachdenklich kratzte Enno sich den Nacken. Es war eine gute Idee gewesen, das theologische Seminar in Paris zu meiden, denn theologische Fragen, die sich in einem Grundriss widerspiegelten, interessierten ihn nicht. Aber selbst er musste zugeben, dass es praktisch war, wenn man mitten in der Nacht einfach nur eine Treppe hinabsteigen musste, um die erste Messe zu begehen. So brauchte man wenigstens nicht erst hinaus in die eisige Finsternis zu stapfen.

Er betrachtete den mächtigen Ziegelbau. Nirgendwo in der Welt hatte er mehr gefroren als in diesem Gotteshaus, dessen Anblick ihn nun dennoch ganz unerwartet berührte. Er schüttelte den Kopf, belustigt über die eigene Rührseligkeit. Das Leben in der Schola Dei war kein Zuckerschlecken für einen jungen Mönch: ständiger Hunger, unterbrochene Nächte und dazu noch die harte Arbeit am Tag. Der heilige Bernhard hatte das so festgesetzt, weil, wie er messerscharf geschlossen hatte, seinen Zisterziensern dann nur übrig bleiben würde, sich warm zu arbeiten.

Fröstelnd wickelte sich Enno in seinen warmen Reisemantel, um noch ein paar kostbare Minuten Extrawärme zu genießen, ehe er ihn in der Kleiderkammer wieder abgeben musste. Niemand folgte heutzutage noch so unerbittlich den ursprünglichen Ordensregeln wie der Abt von Ihlow. Es würde also nicht ganz leicht sein, sich nach den Jahren in der Fremde wieder an den Klosteralltag zu gewöhnen.

Abt Amias im Collège in Paris hatte sogar die Studiersäle heizen lassen. Und auch die strengen Speisevorschriften nicht allzu ernst genommen. Enno hatte den Franken für seine menschenfreundliche Auslegung der Ordensregeln geliebt – und ihm auch seinen gewaltigen Bauch von Herzen gegönnt. Amias war ein Mann, der das Leben und seine Freuden liebte, und das hatte seiner Hirtenschaft einen warmen Glanz verliehen.

Enno seufzte ergeben. Es war kaum zu glauben, dass ein Mann wie Amias mit dem mageren und vor Energie vibrierenden Abt von Ihlow befreundet war. Einem Mann, der in der Kasteiung des Fleisches einen heilsamen Weg sah, auf dem die Seele eines Christenmenschen an Festigkeit gewinne. Aber es war wohl so, denn Amias hatte Enno bei seinem Aufbruch einen dicken Brief für seinen Jugendfreund mitgegeben.

Während Enno nun dem Weg an der Kirche vorbei folgte, huschten seine Blicke voraus. Für solch einen schönen Vorfrühlingstag lag dieser hintere Teil des Klosters heute ungewöhnlich still da. Beim Backhaus, das sich direkt an die trutzige Mauer der Kirche schmiegte, gab es keinerlei Anzeichen von Leben. Auch das Bade- und Waschhaus lag verlassen und still. Kein Mönch hatte seinen Zuber davorgestellt, um in den letzten Sonnenstrahlen des Tages seine Kutten zu schrubben.

Zu seiner Rechten lag verlassen und ruhig das Abthaus. Seine kostbaren Bleiglasfenster schienen träge in die Abendsonne zu blinzeln. Dahinter erstreckte sich die geschwungene Mauer des Klostergartens. Eigentlich sollten dort noch Dutzende von weißen Brüdern mit dem Obstbaumschnitt beschäftigt sein. Wilde Haufen mit geschnittenen Zweigen lagen bereits zu Füßen der Bäume, aber von den Mönchen selbst fehlte jede Spur. Auch im Kräutergarten dahinter rührte sich nichts. Und vor dem Siechenhaus saß kein Alter auf der verwitterten Bank, um sich die Glieder in der Sonne zu wärmen.

Gedankenverloren erklomm Enno die Stufen zum Abthaus und nestelte dabei den Brief aus der Tasche. Noch einmal atmete er tief ein. Dann öffnete er die Tür und betrat den Flur dahinter. Ungeduldig klopfte er gegen die Tür der Abtzelle und wartete.

Drinnen rührte sich nichts. Er klopfte ein weiteres Mal. Lauschte. Dann riss er die Tür auf und betrat mit entschlossenen Schritten den Raum. Er war leer. Zögernd schlenderte Enno durch die geräumige Zelle und strich sacht mit dem Finger über einen Scherenstuhl am Kamin. Offensichtlich war die Gicht des alten Abtes schlimmer geworden, denn jemand hatte den mit Leder bespannten Stuhl so dicht wie möglich vor den gemauerten Kamin geschoben. Wieder einmal kam Enno nicht umhin, die Schönheit dieser Feuerstelle zu bewundern. Sie war denkbar schlicht, aus rotem Backstein gemauert. Einzig die runde Öffnung war mit Schmuckfliesen verziert: Dort sprangen Hirsche aus weißem Ton in einem eleganten Bogen um das Feuer.

Enno hatte in den letzten vier Jahren in Paris viel verschwenderischen Prunk gesehen. Doch diese einfachen Schmuckziegel berührten mit der überwältigenden Energie, die von den geprägten Tierleibern ausging, sein Herz weit mehr als das Schaumgold und die grellen Farben in den Kirchen der Franken.

Es war dem Abt von Ihlow immer eine Herzensangelegenheit gewesen, die ursprüngliche asketische Nüchternheit der Zisterzienser für sein Kloster zu bewahren, die nur wenig Luxus zuließ. Selbst im Kirchenschiff waren deshalb aufwendiger Bildschmuck, Vergoldungen oder bunte Fenster verboten. Einzig die Muttergottes hatte inmitten der Nüchternheit der Kirche ihre eigene kleine Insel aus Farben und Licht in einem kleinen Nebenschiff.

Während der ersten Monate in Paris hatte sich Enno von den grellen Bildern in den palastähnlichen Kirchen wie geblendet gefühlt. Auch dies war ein Grund für seine Rückkehr gewesen: Er war ein Kind der Schola und ihrer schlichten Frömmigkeit. Und auch wenn er es nie vor seinem Onkel zugeben würde, so hatte er sich nach der Ruhe dieses Klosters im wilden Moor zurückgesehnt. Ansgar van Wiesede verteidigte die ursprünglichen Ideale der Zisterzienser mit Zähnen und Klauen. Hier, mitten in dieser friesischen Einsamkeit, umarmte die ruhige Ordnung der Schola Enno nun wieder wie ein gütiger Lehrer.

Im Kamin knisterte ein Feuer. Verstohlen taste Enno mit den Holzschuhen auf dem roten Backsteinboden umher. Trotz der Wollbandagen waren seine Füße eiskalt. Müde ließ er sich in den zweiten Scherenstuhl neben dem Feuer fallen und streckte die Füße dem Feuer entgegen. Erst als er seine Zehen wieder spüren konnte, sah er sich weiter um.

Außer den zwei Sesseln befanden sich in dem schlichten Zimmer mit den gekalkten Wänden und dem hohen Bleiglasfenster nur noch ein Bett aus dunklem Holz, ein Schreibpult und ein Betstuhl. Eifrige Novizen hatten das Holz der alten Möbel sorgfältig mit Bienenwachs bearbeitet. Selbst von seinem Platz am Feuer aus meinte Enno, den warmen Duft erschnuppern zu können.

Über dem Betstuhl an der Wand hing etwas, das nie recht zu den fein gearbeiteten dunklen Möbeln gepasst hatte: ein großes Kreuz aus hellem Birkenholz. Enno stand auf und schlenderte darauf zu. Sacht fuhr er mit einem Finger über die groben Spuren, die das Schnitzmesser hinterlassen hatte. Dies Kruzifix hing hier, seit er ein kleiner Novize gewesen war. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, das Holz zu glätten.

Das Gesicht der Christusgestalt trug die unverkennbaren harten Züge der Friesen. Es war kein schönes Gesicht. Ganz anders als bei den idealisierten Prachtkruzifixen, die Enno in den Kirchen von Paris so eingeschüchtert hatten. Wahrscheinlich war dieses hier gerade deshalb so ausdrucksstark. Dieser Christus hatte hagere Wangen, ausgemergelt vom Todeskampf. Die schweren Augenlider waren gerade so weit geöffnet, dass ein Beter darunter das Gefühl haben musste, der Blick des Gekreuzigten ruhe genau auf ihm und jede Bitte, jede Sorge dringe direkt an die großen, abstehenden Ohren unter der Dornenkrone.

Ansgar hatte das Kruzifix einem alten Moorbauern abgekauft. Enno wusste, wie sehr der Abt diese eindrückliche Christusfigur liebte. Schon oft hatte sein Onkel auf das Kruzifix gezeigt und dabei einen seiner liebsten Bibelsprüche in seinem Sinne erweitert: »… den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche … und den Friesen ein Friese.«

Enno nickte versonnen. Was immer man von Abt Ansgars Strenge halten mochte: Er lebte tatsächlich, was er predigte! Ein Mann, der die Armen der Umgebung mit Namen begrüßte, wenn er mittags half, ihnen an der Almosenklappe den Brei auszuschöpfen, und der ihnen in einer der wichtigsten Metten des Jahres, in der Osternacht, höchstpersönlich die Füße wusch. Der Kontrast zu den ränkeschmiedenden, prunksüchtigen Zisterzienserherren in Paris hatte es Enno schwer gemacht, seine Verbitterung gegen Ansgar aufrechtzuerhalten.

Dennoch strich er sich nun ärgerlich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Dass er gut zu den Armen war, hieß ja nicht, dass er nicht schäbig zu einem Verwandten sein konnte!

Trotzig wandte Enno dem gütigen Gesicht am Kreuz den Rücken, gerade als die Tür sich schwungvoll öffnete. Abt Ansgar kam herein. Offensichtlich war Ennos Ankunft doch nicht ganz so unbemerkt geblieben, wie er sich eingebildet hatte, denn Ansgar schien über den Besucher mitten in seiner Zelle nicht im Mindesten überrascht.

»Enno! Na endlich, lass dich ansehen, Junge!«

Für eine Schrecksekunde sah es so aus, als wolle der Abt seinen Neffen in die Arme reißen, aber dann baute er sich nur vor Enno auf. So nah, dass seine gebogene Nase fast an Ennos eigene stieß. Der spürte die Willensstärke, die in dem hageren Körper vor ihm pulste, und zwang sich, seinen Blick fest in dessen silbergraue Augen zu bohren.

Einen atemlosen Moment lang maßen die beiden sich mit Blicken. Dann erschlaffte die Spannung im Körper des Abtes. Leise ächzend hielt er sich das Kreuz, ging zur Feuerstelle hinüber und ließ sich in den Scherenstuhl fallen.

»Beim blutenden Herz der Jungfrau, das wurde aber auch Zeit! Ich rechne schon seit Tagen mit dir. Aber nein, der junge Herr schlendert mit einer Gemächlichkeit durch die Lande, als habe sein Kloster ihn auf eine Bildungsreise geschickt.«

Entgeistert starrte Enno seinen Onkel an. Aber nur einen Augenblick, dann fing er sich wieder. Zornig starrte er auf den Brief in seiner Hand. Danke, Amias!

Kühl lächelte er zum Abt hinüber. »Der Friede des Herrn sei mit dir, Onkel. Du scheinst ja nicht sehr überrascht über meine Ankunft. Wie kann das sein? Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ein einfacher Mönch auf dem Weg zurück in sein Kloster zwei so einflussreichen und bedeutenden Männern wie Abt Amias vom Collège in Paris und dem Abt von Ihlow einen reitenden Boten wert war. Schließlich bin ich kein Kronprinz, der zurückkommt, um seinen Platz an der Seite des Herrschers einzunehmen.«

Abt Ansgar lachte leise in sich hinein. »Wenn dir das klar geworden ist, dann haben wir schon viel gewonnen, Söhnchen!« Er seufzte vernehmlich und zwinkerte Enno dann plötzlich belustigt zu.

»Aber auch wenn weder das Collège noch die Schola teure Ressourcen verschwenden würden wegen eines kleinen Magisters der Rechte, so hindert doch nichts zwei so alte Freunde wie Amias und mich daran, unseren jeweiligen Berichten und Abrechnungen an das Mutterhaus in Burgund auch noch persönliche Nachrichten nach Paris oder nach Ihlow beizulegen. Die dann jeweils vom Boten des anderen bei dessen nächster Reise mitgenommen werden. Ich war also immer gut unterrichtet! Und zwar über jeden Schritt, den du in Paris unternommen hast, Magister!«

Ennos Mund klappte auf. Entgeistert starrte er den Abt an.

Ansgar blinzelte spöttisch und nickte. Seine grauen Augen funkelten. »Hast du wirklich gedacht, Amias würde es dulden, dass du dem Willen deines Abtes trotzt und auf Kosten des Ordens deine ganz eigenen Wege gehst? Ohne meine Genehmigung, dich die Rechte studieren zu lassen, hätte Amias dich höchstpersönlich am Kuttenkragen bei den Theologen abgeliefert. Doch als er mir von deinem leidenschaftlichen Wunsch berichtete, erschien mir das wie ein Wink des Himmels. Meine Idee, dich im fernen Frankenreich Theologie studieren zu lassen, war ja mehr meiner Ratlosigkeit erwachsen denn irgendeinem Glauben an deine seelsorgerlichen Begabungen! Aber nach Amias’ Brief wurde mir klar, dass du der Schola als findiger Rechtsgelehrter weit besser dienen kannst denn als unterdurchschnittlicher Theologe. Vor allem heutzutage!«

Sein Blick huschte wieder über Enno. »Es gibt immer Streitereien mit einem so großen Kloster wie unserem, und die Wahlrichter in Upstalsboom lassen mit ihren Gerichtstagen immer länger auf sich warten. Es sind ja alles Großbauern, und sie haben immer neue Ausreden, warum die Richttage ausfallen müssen. Da fühlt sich mancher versucht, seine Fälle lieber dem neuen Skelden in Auerkhove vorzutragen, denn der hat immer Dienst und hält seine Gerichtszeiten jede Woche.«

Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Und unser guter Wiard würde nur zu gern seinen Rechtsbereich auch auf unser Kloster ausweiten. Aber wenn sich nun herumspricht, dass die Schola einen eigenen Rechtsgelehrten hat, dann kann uns das nur nützlich sein!«

Enno sah glühende Lichter vor seinen Augen tanzen. Alle Vorsätze waren vergessen. Der alte Trotz flammte in ihm auf, als hätte Abt Ansgar in eine glimmende Glut geblasen.

Er hat alles gewusst. Alles gelenkt. Und ich war der Trottel, wie immer, dachte er. Voll Bitterkeit sah er seinen Onkel an. Nichts hatte sich geändert zwischen ihnen. Wie immer war er nur eine Schachfigur in Ansgars Spiel.

Er dachte an seine Studien in Paris. Mit welcher Genugtuung hatte er sich auf seinen selbst gewählten Weg gestürzt. All seine Kraft hatte er in diese Studien gegeben, die ihm zum allerersten Mal erlaubt hatten, sich aus eigenem Willen ein Stückchen Leben zu erobern. Die Rechtswissenschaft war seine Wahl gewesen. Nur seine.

Wie er das genossen hatte! Enno schnaubte wütend und mied den Blick der klugen silberfarbenen Augen. Wie müssen sie sich auf meine Kosten amüsiert haben, Amias und Ansgar, die alten Freunde. Gewiss haben sie hinter meinem Rücken über mich gelacht.

Seelenruhig hatte man ihn gewähren lassen. Während für ihn selbst ein erheblicher Reiz seines Studiums darin bestanden hatte, sich auszumalen, wie sein Onkel hinterher toben würde. Enno dröhnte der Kopf. Ohne es zu wissen, hatte er sich selbst zu einem Rädchen ausgebildet, das noch viel besser in die Maschinerie der Macht passte, mit der sein Onkel alles in seinem Kloster zusammenhielt.

Er schluckte. Plötzlich hatte er einen sauren Geschmack im Mund. Am liebsten hätte er ausgespien. Aber er unterließ es wohlweislich, hob das Kinn und starrte seinem Onkel herausfordernd in die Augen. »Ich habe mich nicht den Rechten zugewandt, um in deinem Namen besser mit Häuptlingen um irgendwelche Nutzwälder streiten zu können! Oder darum, wie wir das Stiftungsrecht so für uns auslegen können, dass es uns unabhängiger von den Spendern macht.«

»Ich weiß«, sagte Ansgar vergnügt. »Ich weiß ganz genau, was du im Schilde geführt hast, mein Jungchen. Genau deshalb hat mein alter Freund Amias ja begonnen, mir zu schreiben und mich über jeden deiner Schritte zu informieren. Denn auch er war zunächst ein wenig besorgt über deinen rebellischen Geist. Wir sind aber beide zu dem Schluss gekommen, dass wir dir die Zeit und die Möglichkeit gewähren sollten, dir durch deine eigenen Studien im Klaren zu werden darüber, dass es der Herr selbst war, vor dem du damals aus freien Stücken dein ewiges Gelübde abgelegt hast.« Er sah Enno eindringlich an.

»Und hier bist du nun also: vier Jahre später! Wie gerufen, in der schlimmsten Krise, die das Kloster seit hundert Jahren durchleben muss. Und hoffentlich endlich bereit und in der Lage, der Sache des Herrn zu dienen. Da kann ich doch nur mit dem heiligen Josef, dem berühmten Stammvater der Israeliten, sprechen, der seinen Brüdern gegenüberstand und sagte: ›Ihr gedachtet es böse zu machen, aber der Herr hat es gut gemacht.‹«

Ansgar nickte. »Er hat dich in die Ferne geführt, wie Josef in die Fremde geführt wurde von seinen Brüdern, die ihn als Sklaven verkauft haben. Wo er zum ersten Mann unter dem Pharao wurde. Und wie Josef hast du nun in der Zeit, da das Werk des Herrn in Gefahr ist, die Fähigkeit und das Wissen erworben, Gottes Eigentum zu schützen.«

Enno zog sarkastisch eine Braue hoch. »Interessant, dass dir in Bezug auf mich jemand einfällt, der von nahen Verwandten verraten und verkauft wurde!«

Der Abt seufzte. »Wirst du deiner nicht selbst langsam überdrüssig, Junge? Wie kann man nur jahrelang schmollen? Ich sehe immer noch keine Vorspiegelung von irgendwas. Die ewigen Weihen, die sind eine Sache zwischen dir und deinem Gott, Enno. Wir haben dich lange und sorgfältig darauf vorbereitet. Länger als die meisten Novizen. Und du warst es, der zu mir kam und sagte, du seist bereit. Weißt du noch?«

Enno wurde laut. »Aber doch nur, weil mein Bruder mir bei seinem Besuch gesagt hatte, dass Uda wieder schwanger sei, und ich bei gleich zwei Erben jede Hoffnung auf einen Platz im Kontor verloren glaubte!«

Der Abt musterte ihn mit einem müden Blick. »Und wer hatte dann also die wahrhaft fragwürdigen Motive für sein Handeln?« In einer entnervend belehrenden Geste hob Ansgar seinen langen Zeigefinger. »Ich habe dich gelehrt, dass keine weltlichen Dinge zwischen einen Mönch und seine Weihen kommen dürfen. Dass man sich nicht aus den falschen Gründen für ein Leben in ewigem Gehorsam, in Armut und in Keuschheit entscheiden darf, sondern sich wirklich sicher sein muss. Ich habe dir gesagt, dass du abwägen sollst. Und dass dein Leben hier auf dieser Welt nicht endet, wenn du die Weihen ablegst. Sondern dass du ein starkes, ein sinnerfülltes Leben als Zisterzienser führen kannst. Weil wir dir hier eine Gemeinschaft bieten, in der du dich mit deinen Gaben einbringen kannst. Und du hast mir gesagt, du seist bereit. Du. Hast. Es. Gesagt.«

Enno fuhr wütend auf. »Ich war achtzehn! Und nachdem meine Familie mich nicht mehr brauchte, wusste ich nicht, wohin mit mir! Aber dann hat Gott eingegriffen. Auf furchtbare Art, ja! Aber er hat zweifelsohne eingegriffen. Er hat mich zum einzigen Überlebenden werden lassen und zum einzigen Erben. Das hätte ich wissen müssen, ehe ich die Weihen ablegte!«