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Brynmor University – Geheimnisse E-Book

Dominik Gaida

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Beschreibung

Ein hochemotionaler queerer Liebesroman in einem atemberaubend schönen Dark-Academia-Setting. EINE ELITÄRE UNIVERSITÄT Als Samuel das erste Mal die Brynmor University sieht, ist er überwältigt: Die jahrhundertealten Gebäude thronen majestätisch auf den Klippen an Cornwalls Küste. Doch im Gegensatz zu den anderen Erstsemestern ist er nicht zum Studieren hier. EINE GEHEIME STUDENTENVERBINDUNG Samuel ist nur in Brynmor, weil er herausfinden will, was hier vor zehn Monaten passiert ist. Sein Bruder hatte damals einen Unfall, liegt seitdem im Wachkoma. Die Umstände wurden nie aufgeklärt. Samuel entdeckt allerdings Hinweise auf eine mysteriöse Studentenverbindung mit gefährlichen Aufnahmeritualen. EINE SCHICKSALHAFTE BEGEGNUNG Liebe ist das Letzte, wonach Samuel der Sinn steht. Doch als er Connor, einen anderen Studenten, kennenlernt, kann er sich nicht gegen das Herzklopfen wehren. Die beiden kommen sich langsam näher, nicht ahnend, dass die Schatten der Vergangenheit bereits nach ihnen greifen …

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Dominik Gaida

Brynmor University – Geheimnisse

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

EINE ELITÄRE UNIVERSITÄT

Als Samuel das erste Mal die Brynmor University sieht, ist er überwältigt: Die jahrhundertealten Gebäude thronen majestätisch auf den Klippen an Cornwalls Küste. Doch im Gegensatz zu den anderen Erstsemestern ist er nicht zum Studieren hier.

 

EINE GEHEIME STUDENTENVERBINDUNG

Samuel ist nur in Brynmor, weil er herausfinden will, was hier vor zehn Monaten passiert ist. Sein Bruder hatte damals einen Unfall, liegt seitdem im Wachkoma. Die Umstände wurden nie aufgeklärt. Samuel entdeckt allerdings Hinweise auf eine mysteriöse Studentenverbindung mit gefährlichen Aufnahmeritualen.

 

EINE SCHICKSALHAFTE BEGEGNUNG

Liebe ist das Letzte, wonach Samuel der Sinn steht. Doch als er Connor, einen anderen Studenten, kennenlernt, kann er sich nicht gegen das Herzklopfen wehren. Die beiden kommen sich langsam näher, nicht ahnend, dass die Schatten der Vergangenheit bereits nach ihnen greifen …

 

Ein hochemotionaler queerer Liebesroman in einem atemberaubend schönen Dark-Academia-Setting.

Vita

Dominik Gaida, 1989 geboren, arbeitet nach einem freiwilligen sozialen Jahr in Südafrika und seinem Psychologie-Studium heute als Psychotherapeut. Er hat bereits unter Pseudonym mehrere Hörbuchskripte geschrieben, mit der Brynmor-University-Reihe tritt er erstmals mit seinem eigenen Namen an die Öffentlichkeit. Ein zweiter Band der Reihe ist in Vorbereitung. Als Own-Voice-Autor möchte er zur Sichtbarkeit der LGBTQIA+-Community beitragen. Er ist auf Instagram (@dominikgaida) und TikTok (@dominik.gaida) zu finden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Kathinka Engel

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01806-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/brynmor1 eine Content-Note.

Für Felix

«Whatever our souls are made out of, his and mine are the same… If all else perished, and he remained, I should still continue to be; and if all else remained, and he were annihilated, the universe would turn to a mighty stranger.»

-

Emily Brontë, Wuthering Heights

Playlist

Ghost Lights – Woodkid

Anti-Hero – Taylor Swift

Flugmodus – Clueso

I want to hold your hand – Beatles

Meet me in the woods – Lord Huron

Someone to you – Banners

Achterbahn – Clueso

Iron – Woodkid

Snow on the beach – Taylor Swift/Lana Del Rey

Little dark age – MGMT

You want it darker (Solomun Remix) – Leonard Cohen

Half light – Banners

Two men in love – The Irrepressibles

Prolog

Connor

Das Blut klebt an meinen Händen wie Harz.

Ich versuche, nicht hinzusehen und nicht daran zu denken, wie es dorthin gelangt ist. Aber die Ereignisse der letzten Stunde haben sich bereits in mein Gedächtnis eingebrannt, und je mehr ich mich bemühe, die Erinnerungen beiseitezuschieben, desto stärker kehren sie zurück: angsterfüllte Augen, Tränen, Schweiß, ein markerschütternder Schrei und dann … Stille.

Blindlings stolpere ich durch den Wald. Die Bäume stehen so dicht beieinander, dass mir die Äste wie knorrige Finger über die Wangen streichen. Unter meinen Füßen raschelt das Unterholz, über mir pfeift der Wind durch die Laubkronen. Das Einzige, woran ich mich orientieren kann, ist der sichelförmige Mond, der allerdings immer wieder hinter den Wolken verschwindet.

Mein Herz rast. Mein Atem geht schnell, und in meinen Lungen kommt nicht genug Sauerstoff an. Von einer Sekunde auf die andere beginnt die Welt, sich zu drehen. Oben und unten vertauschen ihre angestammten Plätze, und mir bleibt nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben. Mich an einem Baum abzustützen. Und zu hoffen, dass mir jetzt nicht auch noch schwarz vor Augen wird.

Ich atme tief durch, wieder und immer wieder. So wie ich es auch vor wichtigen Wettkämpfen mache, um meine Nerven in den Griff zu bekommen. Aber das hier ist kein Wettkampf. Das hier ist etwas ganz anderes.

Keine Ahnung, wie lange es dauert, bis ich mich wieder halbwegs beruhigt habe. Es können nur Minuten sein, aber sie fühlen sich an wie Stunden. Ein letztes Mal ziehe ich noch scharf die Luft ein. Dann laufe ich weiter, wenn auch langsamer als zuvor.

Der Wald ist ein undurchdringliches Labyrinth. Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Oder habe ich mich in der Zwischenzeit vollkommen verlaufen? Die Antwort erhalte ich erst, als sich die Bäume endlich lichten und vor mir die Umrisse von Brynmor auftauchen.

So wie sich die Universität vor dem wolkenverhangenen Nachthimmel abzeichnet, erweckt sie den Anschein, als würde sie alle Zeit überdauern: altehrwürdig. Mächtig. Unbezwingbar. Die Klosteranlage wird von starken Mauern und hohen Rundtürmen umgeben. Außerhalb des Mauerrings liegen die Sportanlagen und der neue Campus, der erst in den letzten Jahrzehnten aus dem Boden gestampft wurde. Nur in wenigen Fenstern brennt noch Licht. Der Rest der Universität liegt in tiefem Schlaf.

Brynmor …

Noch nie hat es für mich einen Ort wie diesen gegeben. Einen Ort, an dem ich mich voll und ganz wohlfühle, an dem ich mich nicht verstellen muss und einfach nur ich selbst sein kann.

Und jetzt? Jetzt gehört das alles der Vergangenheit an.

Für einen Moment bleibe ich noch am Waldrand stehen. Dann streiche ich mir die Locken aus der Stirn und stapfe weiter. Obwohl ich vor dem, was vor mir liegt, genauso viel Angst habe wie vor dem, was im Wald passiert ist.

Kapitel 1

Samuel

10 Monate später

Ich hasse Abschiede. Selbst wenn sie nur auf Zeit sind. Vermutlich habe ich genau aus diesem Grund meinen Besuch bei Philipp bis auf den letzten Drücker hinausgeschoben.

Das Heim, in dem mein Bruder untergebracht ist, liegt inmitten einer weitläufigen Parkanlage und nur einen Katzensprung von der Alster entfernt. Die letzten, spätsommerlichen Strahlen tauchen die Fassade in goldenes Licht. Seit geschlagenen zehn Minuten stehe ich jetzt schon vor der Doppelflügeltür aus Glas und versuche, mich für das Unvermeidliche zu wappnen.

Na los. Worauf wartest du? Wenn du da jetzt nicht reingehst, steigst du morgen ins Flugzeug, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Willst du das?

Endlich – endlich! – erwache ich aus meiner Starre. Die Doppelflügeltür öffnet sich mit einem leisen Summen, und augenblicklich steigt mir der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase. Ich blinzle ein paar Mal, bis sich meine Augen an das dämmrige Halblicht gewöhnt haben. Dann höre ich plötzlich eine Stimme.

«Samuel. Was machst du denn hier?»

Hinter dem Empfangstisch sitzt Jutta. Scheiße. Hätte heute Abend nicht Helen Dienst haben sollen? Helen, die ziemlich entspannt drauf ist und es mit den Besuchszeiten nicht so genau nimmt? Das habe ich jetzt also davon, dass ich so lange mit diesem Besuch gewartet habe. Wenn Jutta mich nicht zu Philipp lässt … wenn sie mir gleich eine Predigt über die Sinnhaftigkeit von Besuchszeiten in Pflegeheimen hält … Allein die Vorstellung, unverrichteter Dinge abzuziehen, ist so grässlich, dass ich sie schnell in die hinterste Ecke meines Verstands schiebe.

«Hi», sage ich, versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie es in mir aussieht, und setze mein gewinnendstes Lächeln auf.

Jutta lässt sich davon nicht beeindrucken. Unbewegt erwidert sie meinen Blick über das rahmenlose Brillengestell. Ihre Lippen sind schmal wie ein Strich. Vermutlich würden sich ihre Mundwinkel nicht einmal nach oben bewegen, wenn ich ihr ein süßes Katzenvideo zeige.

«Ich …», setze ich unbeholfen an, rufe mich aber schnell wieder zur Vernunft. Statt herumzudrucksen, sollte ich ihr einfach sagen, was Sache ist. Und auf das Beste hoffen. Also … «Sie haben bestimmt schon gehört, dass ich ab diesem Herbst in England studieren werde. Genau genommen geht mein Flug schon morgen früh. Und na ja, weil ich erst in ein paar Monaten wiederkomme, wollte ich noch mal kurz bei meinem Bruder vorbeischauen.»

War Juttas Miene bislang reglos, sieht sie mich jetzt so entgeistert an, als hätte ich vorgeschlagen, mit Philipp eine Weltreise zu machen. Ihr rechtes Augenlid beginnt zu zucken. Was bedeutet das? Dass ich besser schnell auf dem Absatz umdrehen sollte, bevor sie mich eigenhändig rauswirft?

Bitte, lass mich zu Philipp. Bitte.

Die Sekunden verstreichen. Dann seufzt sie und lächelt gequält.

«Na, meinetwegen, Samuel. Weil du es bist. Ich gebe Bescheid, dass du kommst. Aber in einer halben Stunde bist du wieder draußen, verstanden?»

«Ja! Ja, klar», antworte ich und kann mein Glück noch kaum fassen.

Ich durchquere menschenleere Flure und passiere geschlossene Türen. Meine Schritte klingen seltsam gedämpft, und nicht zum ersten Mal beschleicht mich das Gefühl, dass dieser Ort alle Geräusche wie ein Schwamm aufsaugt. Nach ein paar Minuten erreiche ich das Zimmer meines Bruders. Ohne anzuklopfen, trete ich ein.

Das Licht der Neonröhren an der Decke ist gedimmt, und durch die heruntergelassenen Jalousien finden nur noch ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen ihren Weg. Wie immer, wenn ich hier bin, legen sich unsichtbare Hände um meinen Hals und schnüren mir die Luft ab. Ich versuche das beklemmende Gefühl zu ignorieren und setze mich auf den Stuhl neben dem Bett.

Philipps Augen sind geschlossen, und fast könnte man meinen, er schlafe nur. Aber die vielen Monitore und Geräte, die leise piepsend seinen Herzschlag, seinen Puls und seine Atmung überwachen, lassen keinen Besucher je vergessen, dass Philipp im Wachkoma liegt.

Vor seinem Unfall konnte ich mit Begriffen wie Wachkoma oder apallischem Syndrom nichts anfangen. Genauso wenig hätte ich die Frage beantworten können, in welchen Zeitabständen ein Mensch umgedreht werden muss, um nicht wund zu liegen – nicht einmal, wenn man mir eine Pistole auf die Brust gesetzt hätte. Mittlerweile bin ich zu einem waschechten Experten in solchen Dingen geworden, obwohl ich darauf gern verzichtet hätte.

«Hey, ich bin’s», sage ich, ohne eine Reaktion zu erwarten, und nehme seine kalte Hand in meine. Philipp hat nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem Bruder, den ich kannte. Früher war er ein sportlicher Typ, der es als Schwimmer fast bis in den Nationalkader geschafft hätte. Heute wirkt er klein und zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe, auf die man besonders gut achtgeben muss. Auf seinen eingefallenen Wangen zeichnen sich vereinzelte Bartstoppeln ab, und die dunkelbraunen Haare hängen ihm schlaff ins Gesicht.

Die unsichtbaren Hände drücken noch ein bisschen fester zu. Und wie bei jedem meiner Besuche prasseln auch jetzt die Erinnerungen wie Regentropfen auf mich ein.

Philipp und ich, wie wir stundenlang vor seiner Playstation sitzen und zocken.

Philipp, der mir bei meinen Mathehausaufgaben hilft.

Und dann die lebendigste und glücklichste Erinnerung von allen: Philipp, der mich nach meinem Coming-out in den Arm nimmt, an sich drückt und mir sagt, dass er mich lieb hat. Dass er froh ist, mein Bruder zu sein.

Ich schüttle den Kopf, als wollte ich eine lästige Fliege verscheuchen. Statt mich selbst zu quälen, indem ich unserer gemeinsamen Zeit hinterhertrauere, sollte ich mich viel eher darauf konzentrieren, was vor mir liegt. Ja, das hier ist ein Abschied. Aber es ist ein Abschied, der sich nicht vermeiden lässt. Denn jetzt, nach zehn quälenden Monaten, habe ich endlich wieder eine Aufgabe. Und die führt mich weg von Philipp und dahin, wo alles angefangen hat: an die Brynmor University am südwestlichen Zipfel Englands.

Langsam beuge ich mich zu Philipp hinunter. Von einem Pfleger habe ich erfahren, dass Patienten, die im Wachkoma liegen, durchaus etwas von ihrem Umfeld mitbekommen. Anfangs hat es sich noch ziemlich seltsam angefühlt, mit Philipp zu sprechen. Mittlerweile erscheint es mir vollkommen selbstverständlich.

«Du hältst hier die Stellung, bis ich wieder da bin, okay?» Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, und in meinen Ohren klingt sie kratzig und rau. «Mach keinen Scheiß und komm bloß nicht auf die Idee, mit dem Atmen aufzuhören. An Weihnachten bin ich wieder da. Und bis dahin habe ich herausgefunden, was passiert ist. Das verspreche ich dir! Hörst du? Wenn ich sonst schon nichts für dich tun kann, dann wenigstens das!»

Am liebsten würde ich die Zeit anhalten. Genau jetzt. Weil ich für diesen Abschied noch immer nicht bereit bin. Aber die Zeiger der großen Wanduhr über dem Bett bewegen sich so gnadenlos schnell voran, als würde sie jemand mit aller Kraft anschieben.

Nur noch ein bisschen länger. Nur ein bisschen …

Für ein paar Minuten bleibe ich an Philipps Bett sitzen, betrachte ihn und versuche, mir alle Einzelheiten seines Gesichts einzuprägen. Dann ist unsere Zeit endgültig abgelaufen. Auch wenn Jutta überraschenderweise Verständnis für meine Situation hatte, wird es jetzt bestimmt nicht mehr lange dauern, bis ein Pfleger aufkreuzt, um nach dem Rechten zu sehen.

«Ich bin bald wieder da», sage ich, lege Philipps Hand aufs Bett zurück und richte mich auf. «Ich bin bald wieder da.»

Tatsächlich schaffe ich es, das Zimmer zu verlassen, ohne mich noch ein einziges Mal zu ihm umzudrehen. Erst als ich draußen auf dem Flur stehe und das unerträgliche Piepsen der Maschinen nicht mehr hören kann, bemerke ich, wie mir die Tränen über die Wangen laufen.

Als ich gegen Mitternacht in unserem Haus in Eppendorf ankomme, liegen meine Eltern schon im Bett. Glück gehabt. Bis sie mich in ein paar Stunden zum Flughafen fahren, habe ich nämlich noch ein paar Dinge zu erledigen.

Auf Zehenspitzen schleiche ich die Treppe nach oben und ziehe leise die Zimmertür hinter mir zu. Wie meinen Abschiedsbesuch bei Philipp habe ich auch das Packen bis auf den letzten Drücker vor mir hergeschoben. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als wahllos T-Shirts, Jeans und Unterwäsche in meinen großen, geflickten Reiserucksack zu werfen und darauf zu hoffen, nichts allzu Wichtiges zu vergessen. Und falls doch: Brynmor liegt in der Nähe einer kleinen Stadt namens St. Keyne. Dort kann ich bestimmt alles kaufen, woran ich jetzt nicht gedacht habe.

Um kurz vor zwei habe ich auch das letzte Paar Socken in einer der vielen Seitentaschen verstaut. Ich setze mich auf das Bett unter der Dachschräge, ziehe meine Kopfhörer auf und scrolle so lange durch die Playlist meines Handys, bis ich auf ein älteres Albumvon Woodkid stoße. Sobald die ersten Töne von Ghost Lights erklingen, lege ich den Kopf in den Nacken und lasse meinen Blick noch ein letztes Mal durch mein Zimmer schweifen.

Früher, vor meinem Coming-out, fühlte es sich manchmal so an, als würden sich die Wände von allen Seiten auf mich zu bewegen. Es gab kaum etwas, das ich mir sehnlicher wünschte, als endlich hier rauszukommen. Mein eigenes Ding zu machen. Jetzt, wo meine Abreise unmittelbar bevorsteht, bin ich mir ziemlich sicher, die gewohnte Umgebung schon bald zu vermissen. Beinahe wehmütig betrachte ich daher die gerahmten Fotografien an den Wänden, Schnappschüsse aus dem Urlaub, dazwischen Bilder, die meine Freundin Luisa und ich in einer Fotobox am Hauptbahnhof gemacht haben. Mein Blick wandert von einem in die Jahre gekommenen Schlagzeug, das mir im letzten Jahr nur noch als Ablage für meine Wäsche gedient hat, zum Schreibtisch, wo sich zerfledderte Schulhefte und ein Dutzend Bücher stapeln – und die Unterlagen für Brynmor. Auf dunkelgrünem Untergrund prangt stolz das Universitätslogo, umgeben vom Leitspruch Ad nos respiciamus. Wir passen aufeinander auf.

Monatelang habe ich mich auf den großen Eignungstest vorbereitet, habe meine Freizeit geopfert und meine Eltern bekniet, mich ausgerechnet an den Ort gehen zu lassen, an dem Philipp seinen Unfall hatte. Nach endlosen Diskussionen waren sie schließlich eingeknickt und hatten zugestimmt, meine Studiengebühren zu übernehmen – vorausgesetzt natürlich, ich würde eine Zusage erhalten. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei Brynmor um eine der angesehensten Universitäten in Europa, ja vielleicht sogar der Welt handelt, war das nämlich alles andere als ein Selbstläufer. Aber jetzt habe ich meinen Studienplatz. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Das Vibrieren meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken, und vor Aufregung macht mein Herz einen Sprung: eine Nachricht von Luisa. Ausgerechnet Luisa.

Luisa: Na, schon bereit, ein paar heiße Kerle kennenzulernen?

Verwundert ziehe ich die Brauen hoch. Okay, ganz offenbar tun wir so, als wäre zwischen uns alles in bester Ordnung. Als hätte sie kein Problem mehr damit, dass ich nur nach Brynmor will, um die Wahrheit über den Unfall meines Bruders herauszufinden.

Samuel: Haha! Als ob! Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist noch ein Typ, der sich als Arsch herausstellt.

Während ich auf ihre Antwort warte, erinnere ich mich ein weiteres Mal an unseren Streit. Vermutlich hatte Luisa schon die ganze Zeit geahnt, was meine wahren Beweggründe sind, bis zuletzt aber gehofft, sich zu täuschen.

So sehr, wie wir uns an diesem Tag gefetzt haben, ist es jetzt wirklich seltsam, einfach so mit ihr zu schreiben.

Luisa: Ach komm schon, so vergisst du die Sache mit Milo vielleicht ein bisschen schneller.

Meine Finger fliegen über die Tasten.

Samuel: Nee. Ich hab wirklich nicht vor, mich in Brynmor auf irgendwas einzulassen.

Luisa:

Samuel: Außerdem bleibe ich ja nicht für immer da …

Ich lasse meinen Kopf aufs Kissen fallen. Trotz allem, was passiert ist und unausgesprochen zwischen uns steht, werde ich sie wohl ziemlich vermissen.

Luisa: Wenn ich du wäre, würde ich heute Nacht kein Auge zubekommen.

Samuel: Tu ich auch nicht.

Luisa: Samuel?

Samuel: Ja?

Luisa: Eigentlich habe ich mich nur gemeldet, weil ich dir noch was sagen wollte …

Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wird mein Magen flau.

Samuel: Okay?

Es dauert ein paar Sekunden, bis ihre nächste Nachricht auf dem Display erscheint.

Luisa: Pass gut auf dich auf, okay? Und vor allem: Mach! Bitte! Nichts! Gefährliches!

Ich schlucke. Dass Luisa mir keine weiteren Vorwürfe macht, ist ein Anfang. Vielleicht ist es sogar mehr als das. Sie sorgt sich um mich. So wie es auch meine Eltern tun. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Würde es mir nicht genauso gehen, wenn die Rollen vertauscht wären? Würde ich nicht auch mit allen Mitteln versuchen, meine beste Freundin von einem riesengroßen Fehler abzuhalten? Denn wenn es der Polizei von St. Keyne nicht gelungen ist, die Umstände von Philipps Unfall aufzuklären – wie soll ich es dann schaffen?

Kurz ringe ich mit mir, unschlüssig, was ich antworten soll.

Samuel: Mach ich nicht.

Kaum dass ich die Wörter getippt habe, lösche ich sie allerdings gleich wieder. Stattdessen schreibe ich:

Samuel: Ich pass auf mich auf. Versprochen.

Aber noch bevor ich die Nachricht abschicke, ist mir bereits klar, dass ich diesen Schwur lieber breche, als noch länger mit der Ungewissheit zu leben.

Kapitel 2

Samuel

Zwölf Stunden später sitze ich in einem Zug der Great Western Railway von Plymouth in Richtung St. Keyne. Mein Herz schlägt so schnell, als befände ich mich in einer Achterbahn.

Die anderen Plätze im Großraumabteil waren zu Beginn der Fahrt noch fast alle besetzt. Inzwischen haben sie sich geleert. Immer wieder strecke ich den Hals, betrachte die verbliebenen Fahrgäste und frage mich, ob irgendjemand von ihnen auch nach Brynmor unterwegs ist. Aber außer einer jungen Frau mit kurzen, schwarzen Locken, die ganz am anderen Ende des Waggons sitzt und deren Kopf im Schlaf immer wieder nach vorne fällt, sehe ich niemanden in meinem Alter. Bei den anderen Reisenden handelt es sich um Familien mit kleinen Kindern und ältere Paare, die offenbar einen Ausflug an die Küste machen.

Während ich aus dem Fenster blicke, will ich mich kneifen, um sicherzugehen, dass ich wirklich hier bin. Aber was ich sehe, ist kein Traum: Der Himmel ist wolkenlos, und die Sonnenstrahlen bringen die saftig grünen Wiesen, die vom letzten Regen noch feucht sind, zum Glänzen. Hinter hüfthohen, verwitterten Steinmauern grasen Schafe, und hin und wieder erhasche ich in der Ferne einen Blick auf das funkelnde Meer.

Ich ziehe das Handy aus meiner Jeans, knipse ein Bild von der Landschaft und schicke es Luisa. Dann nehme ich noch einmal die Brynmor-Unterlagen zur Hand. Mittlerweile habe ich mir die Hochglanzbroschüren mit ihrem seidenmatten Einband schon so oft angesehen, dass sie an den Ecken ganz abgegriffen sind. In der Hoffnung auf ein Detail, das mir die ganze Zeit über verborgen geblieben ist, kehre ich immer wieder zu ihnen zurück.

Brynmor wurde im 16. Jahrhundert auf dem Gelände eines von King Henry VIII. zerschlagenen Klosters gebaut. Im Gegensatz zu den Universitäten von Oxford und Cambridge, um die sich im Laufe der Zeit große Städte gebildet haben, zeichnet sich Brynmor bis heute durch seine abgeschiedene Lage aus. Neben den jahrhundertealten Gebäuden, in denen sich die Vorlesungssäle und Seminarräume befinden, wurde der Campus in den letzten Jahrzehnten um eine neue Bibliothek und moderne Labore erweitert. Ein besonderes Aushängeschild stellen die großzügigen Schwimm- und Sportanlagen dar. Im Laufe der Zeit hat sich Brynmor zu einer Eliteuniversität entwickelt, wobei vor allem das Institut für Sportwissenschaften einen herausragenden Ruf besitzt.

Während meine Augen die Zeilen überfliegen, muss ich daran denken, was nicht in den Broschüren steht, wovon mir Philipp aber in unseren Videocalls erzählt hat: einer exklusiven Studierendenverbindung namens Brynmor Dawn, deren Mitglieder die besten Kontakte haben, verbotene Partys feiern und sich zu gefährlichen Mutproben herausfordern. Vor seinem Unfall fand ich die Geschichten, die er mir über die Verbindung erzählte, ziemlich aufregend. Danach habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, ob das, was passiert ist, vielleicht die Folge einer fehlgeschlagenen Mutprobe war.

Mal abgesehen von ein paar Zeitungsartikeln und diversen Gerüchten, die in Internetforen die Runde machen, habe ich bisher nicht viel über Brynmor Dawn herausfinden können. Das wird sich hoffentlich bald ändern. Abhängig davon, was ich auf dem Campus so aufschnappe, werde ich mir dann überlegen, wie meine nächsten Schritte aussehen. Das ist zumindest der Plan.

«Hey! Du! Hast du die Durchsage nicht gehört?»

Ich hebe den Kopf. Vor mir steht die junge Frau, die bis vor ein paar Minuten noch geschlafen hat. Jetzt stützt sie sich lässig an einer der Sitzlehnen ab und sieht mich mit hellwachen, haselnussbraunen Augen an. Ihre schwarze Lederjacke hat sie über die Schulter geworfen, und mit der linken Hand hält sie einen Rollkoffer umklammert. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, dass sie an mich herangetreten ist. Und auch nicht, dass wir angehalten haben.

«Äh, was?», sage ich ganz automatisch auf Deutsch.

Die Frau sieht mich mit gerunzelter Stirn an.

«Du musst doch bestimmt auch nach Brynmor, oder?» Sie spricht jetzt deutlich langsamer, als wolle sie sichergehen, dass ich sie wirklich verstehe.

Endlich setzt mein eingerosteter Verstand wieder ein.

«Ja. Ja, ich muss auch nach Brynmor», antworte ich auf Englisch.

«Hab ich mir doch gedacht. Komm, beeilen wir uns besser, bevor der Zug weiterfährt.» Und ohne auf eine Antwort von mir zu warten, wendet sie sich von mir ab und geht zügig Richtung Ausgang. So schnell ich kann, stopfe ich die Brynmor-Unterlagen zurück in meinen Rucksack und folge ihr.

Draußen ist die Luft frisch und klar, und mir steigt ein salziger Geruch in die Nase. Ganz offenbar ist es von hier nicht mehr weit bis zum Meer.

«Na los, worauf wartest du denn?»

Die Frau ist bereits vorausgegangen und winkt mich zu einem kleinen Shuttlebus, der auf einem Parkplatz neben dem Bahnhofsgebäude steht. Ein schlaksiger Chauffeur mit Schirmmütze und Brynmor-Uniform, die aus weißem Hemd, grünem Strickpullover sowie schwarzer Krawatte und Stoffhose besteht, hat bereits ihren Koffer verstaut. Jetzt blicken beide erwartungsvoll zu mir herüber.

Ich zögere nicht lange und laufe ihnen entgegen. Sobald ich den Bus erreicht habe, begrüßt mich der Chauffeur und lädt meinen Rucksack ebenfalls in den Kofferraum. Dann holt er ein Klemmbrett vom Fahrersitz und erkundigt sich nach unseren Namen.

«Youma Dieme», stellt sich die Frau vor.

«Und ich heiße Samuel Harrington.»

«Dieme – gefunden. Und Harrington – ach ja, hier stehen Sie. Bitte steigen Sie ein, wir können gleich losfahren.»

Youma und ich setzen uns in die Reihe direkt hinter dem Chauffeur. Der erwartet fürs Erste offenbar keine weiteren Fahrgäste, sondern zieht schwungvoll die Tür zu und startet den Motor. Ich werfe einen letzten Blick zurück und sehe gerade noch, wie sich der Zug ratternd in Bewegung setzt. Dann fahren wir auch schon los.

St. Keyne ist eine kleine Ortschaft, die nicht mehr als ein paar tausend Einwohner hat. Wir passieren alte Häuser mit Schindeldächern und einen Marktplatz, in dessen Mitte sich ein Springbrunnen befindet. Weil die Straßen mit Kopfstein gepflastert sind, werden wir ordentlich durchgeschüttelt.

«Woher kommst du?», fragt Youma, nachdem wir die letzten Ausläufer von St. Keyne hinter uns gelassen haben. «Harrington klingt englisch. Aber dein Akzent … deutsch?»

«Ja, den werde ich wohl nie ganz los, obwohl sich mein Dad wirklich Mühe gegeben hat. Er ist in Schottland geboren. Ich komme aus Hamburg. Und du?»

«Aus dem Senegal. Aber eigentlich habe ich mein ganzes Leben in Südafrika verbracht.» Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus, und es dauert nicht lange, bis ich erfahre, dass Youma heute auch ihren ersten Tag hat. «Meine Eltern haben schon in Brynmor studiert und wollten unbedingt, dass ich denselben Weg wie sie einschlage. Eigentlich wollte ich in Kapstadt oder Durban studieren. Aber dann habe ich mich über Brynmor informiert. Und na ja, je mehr ich gelesen habe, umso mehr hat es mich dann doch gepackt hierherzukommen. Es ist einfach unglaublich, was Brynmor alles zu bieten hat!»

Verstohlen betrachte ich Youma. Ich kann gar nicht anders, als sie um ihre Vorfreude zu beneiden. Vor zwei Jahren, als Philipp sein Studium in Brynmor begonnen hatte, war es mir für ein paar Wochen ganz genauso gegangen. Während wir telefonierten, malte ich mir immer wieder aus, wie es wäre, bei ihm zu sein. Mit ihm den Campus und die alten Gebäude zu erkunden. In der großen Bibliothek durch eingestaubte Bücher zu blättern und an den Wochenenden im eiskalten Atlantik zu schwimmen. Vor zehn Monaten verwandelte sich Brynmor dann von einem Tag auf den anderen in den Ort, an dem das Leben meines Bruders ein abruptes Ende fand.

«Was studierst du?», fragt Youma jetzt.

«Sportwissenschaften.» Dass das Studium für mich nur ein Mittel zum Zweck ist, muss ich ihr ja nicht gleich bei unserem ersten Gespräch auf die Nase binden. Am Ende reagiert sie noch wie Luisa. «Vor ein paar Jahren habe ich mit Parkour angefangen. Lange still zu sitzen, war noch nie mein Ding.»

«Parkour?»

«Das ist eine Sportart, bei der du versuchst, möglichst schnell und geschickt die verschiedensten Hindernisse zu überwinden: Mauern, Treppen, Geländer. Eigentlich ist alles möglich. Du darfst nur keine anderen Hilfsmittel als die hier verwenden», antworte ich und halte meine Hände in die Höhe.

«Ich glaube, ich habe da mal was auf TikTok gesehen.»

«Und du? Wofür hast du dich eingeschrieben?»

«International Management.» Sie verzieht ihre Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. «Meine Eltern sind Manager in einem großen Konzern. Früher habe ich mir immer eingeredet, ganz anders als sie zu sein. Aber mittlerweile bin ich mir sicher, mir nur etwas vorgemacht zu haben. Ich bin auf jeden Fall schon ziemlich gespannt, was uns in Brynmor erwarten wird und – oh!»

Youma verstummt. Ihre Augen weiten sich. Und während sie sich nach vorne beugt, folge ich ihrem Blick.

Die Universität taucht am Ende einer schmalen Straße auf, die sich zwischen grasgrünen Hügeln die Klippen entlang nach oben schlängelt. Brynmor ist größer, viel größer, als ich es mir ausgemalt habe. Das Herz der Universität, das frühere Kloster, wird von einer hohen, massiven Mauer aus grob behauenem Sandstein umgeben. Hinter der Mauerkrone erspähe ich graue Schindeldächer und die Spitze des mächtigen Kirchturms. So wie ihr Ruf ist auch Brynmor immer weitergewachsen, und jedes Jahrhundert hat der Universität seinen eigenen Stempel aufgedrückt. Außerhalb der Klostermauern stehen gotische Gebäude mit filigranen Goldverzierungen und kleinen Spitztürmen. Gleich daneben befinden sich lang gezogene Bauten aus ockerfarbenem Backstein mit Sprossenfenstern und hohen Giebeln. Die jüngsten Erweiterungen, die erst ein paar Jahre alt sein können, lassen mich mit ihren geschwungenen Wänden und riesigen Glasfronten, in denen sich das Blau des Himmels spiegelt, an Wellen denken. Beeindruckt halte ich die Luft an.

Es dauert nicht lange, bis wir ein gusseisernes Tor erreichen, vor dem mehrere Bentley, Daimler und andere teure Fahrzeuge stehen. Der Chauffeur hilft uns noch dabei, unser Gepäck auszuladen, bevor er sich verabschiedet und Youma und ich durch ein großes Eingangsportal in einen lichtdurchfluteten Innenhof treten.

Die grauen Steinfassaden der angrenzenden Gebäude sind alt, verwittert und mit Efeuranken überwuchert. Die Sonnenstrahlen spiegeln sich in den hohen Buntglasfenstern der großen Kirche auf der anderen Seite des Hofs. Mehrere Arkadengänge zweigen von hier aus ab, vermutlich führen sie zu weiteren Innenhöfen.

Um uns herum wimmelt es von Menschen. Studierende aller Nationalitäten verabschieden sich von ihren Eltern, und die Luft ist von einem Durcheinander aus Sprachen erfüllt. Erstsemester wie wir lassen sich vom Universitätspersonal den Weg zu den Zimmern erklären. Staunend blicke ich mich um und komme mir vor, als hätte ich eine neue Welt betreten. Eine Welt, von der mir Philipp zwar erzählt hat und von der ich in den Broschüren gelesen habe, die aber doch ganz anders ist als alle Bilder, die im Lauf der Zeit in meinem Kopf entstanden sind.

Youma sieht sich verunsichert um. Ihr ist wahrscheinlich ebenso wie mir aufgefallen, dass wir offenbar als Einzige allein angereist sind. Allerdings vergehen nur ein paar Sekunden, bis sie sich fängt und wieder die Richtung vorgibt.

«Komm, lass uns mal da vorne nachfragen, wo wir hinmüssen.» Sie zeigt auf eine ältere Frau, um die sich eine Gruppe von Studierenden drängt. Nachdem sie ihnen den Weg durch einen Torbogen gewiesen hat, sind wir an der Reihe.

«Erstsemester?», fragt sie mit einem britischen Akzent, um den meine frühere Englischlehrerin sie bestimmt beneidet hätte. Sie hat ihre grauen Haare so streng zu einem Zopf zusammengebunden, als wollte sie damit die Falten auf ihrer Stirn glätten. Die grüne Brynmor-Uniform trägt sie wie eine Rüstung. Wir nicken und nennen ihr unsere Namen, die sie auf einer Liste überprüft.

«Ms Dieme. Und … Mr Harrington.» Für den Bruchteil einer Sekunde kommt es mir vor, als zögere sie bei meinem Namen. Oder bilde ich es mir nur ein? «Ich bin Mrs Thompson und darf Sie stellvertretend im Namen des Rektors, Professor Bellingham, und des gesamten Lehrkörpers in Brynmor begrüßen. Das Semester beginnt morgen früh um zehn Uhr mit der Eröffnungsrede des Rektors in der Tudor Hall. Heute können Sie in aller Ruhe in Brynmor ankommen und sich mit dem Campus und Ihren neuen Kommilitoninnen und Kommilitonen vertraut machen. Bitte begeben Sie sich als Erstes auf Ihre Zimmer. Ms Dieme, Ihres finden Sie im Ostflügel. Mr Harrington, Sie müssen zum Westflügel. Melden Sie sich bei Ihren Mentorinnen und Mentoren. Die werden Ihnen alles Weitere zeigen.» Sie reicht uns zwei gefaltete Lagepläne und erklärt erst Youma und dann mir den Weg. «Das Abendessen findet heute um achtzehn Uhr im Speisesaal statt. Wenn Sie sich verlaufen sollten, scheuen Sie sich nicht, nach dem Weg zu fragen. Ad nos respiciamus. In Brynmor passen wir gut aufeinander auf.»

Der Leitspruch. Wenn er wirklich zutreffen würde, wäre Philipp heute vielleicht noch hier. Aber ich hüte mich, etwas zu sagen, und presse stattdessen die Lippen aufeinander.

«Ach, da wären noch zwei Dinge. Erstens: Beim Abendessen und bei offiziellen Veranstaltungen sind Sie dazu verpflichtet, Ihre Brynmor-Uniform zu tragen. Diese wurde bereits in Ihren Zimmern für Sie bereitgelegt. Für die Seminare gibt es keine vorgeschriebene Kleiderordnung.» So vielsagend, wie Mrs Thompson sich räuspert, besteht kein Zweifel daran, dass es ihr lieber wäre, wir würden die Uniform immer tragen.Statt näher darauf einzugehen, reicht sie uns ein eng bedrucktes Blatt. Es ist in großen Buchstaben mit dem Wort Hausordnung überschrieben. «Zweitens», fährt sie fort, «haben Sie sich mit der Einschreibung an unserer Universität auch zur Einhaltung unserer anderen Regeln verpflichtet. Nach zwei Verwarnungen werden Sie von Brynmor verwiesen. Es gibt keine Ausnahmen, also lesen Sie sich die Hausordnung sorgfältig durch. Haben Sie noch Fragen?» Weil sich hinter uns ein paar weitere Erstsemester eingereiht haben, spricht Mrs Thompson jetzt schneller. So gestresst, wie sie uns ansieht, hofft sie wohl, dass wir sie nicht viel länger aufhalten.

Youma und ich schütteln einhellig die Köpfe. Wir verabschieden uns, schultern unser Gepäck und gehen noch ein paar Schritte in dieselbe Richtung. Als wir den Torbogen erreichen, an dem sich unsere Wege vorläufig trennen, bleiben wir noch einmal stehen.

«Hat mich wirklich gefreut, dich kennenzulernen, Samuel», sagt Youma strahlend. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, drückt sie mich an sich, wobei mir der blumige Duft ihres Parfums in die Nase steigt. «Wir sehen uns dann später beim Abendessen.»

«Bis später», antworte ich etwas überrumpelt, aber auch ziemlich erleichtert. Weil ich offenbar viel schneller als erwartet eine erste Bekanntschaft in Brynmor geschlossen habe.

Um den Westflügel zu erreichen, muss ich den halben Campus überqueren. In den Innenhöfen sitzen Studierende in kleinen Gruppen auf akkurat gestutzten Rasenflächen oder alten Steinbänken. Ihre Stimmen und ihr Lachen erfüllen die Luft wie das Summen eines Bienenschwarms. Umgeben von den jahrhundertealten, efeubewachsenen Mauern fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie bereits unzählige Generationen vor ihnen hier gesessen sind und sich auf den Beginn eines neuen Studienjahres gefreut haben.

Nachdem ich mehrere Arkadengänge durchquert habe, erreiche ich endlich den Westflügel. Ein lang gezogenes Gebäude mit zwei Stockwerken und einem Dach aus Tonziegeln. Es liegt außerhalb der Klostermauern auf der anderen Seite einer großen, flach abfallenden Wiese. Vor der Eingangstür steht ein Student, der den Neuankömmlingen den Weg zu ihren Zimmern weist.

«Erster Tag in Brynmor?», fragt er mich, als ich bei ihm ankomme. Seine kastanienbraunen Haare reichen ihm fast bis zu den Schultern, und sein Fünftagebart gibt ihm einen leicht verwegenen Anstrich. Irgendwie erinnert er mich an einen Rockstar aus den Sechzigern, der im falschen Jahrzehnt gelandet ist.

«Ja, erster Tag!»

«Ich bin Elliot. Elliot Wilson. Einer der Mentoren des Westflügels. Und du bist …?»

«Samuel Harrington.»

Bei Mrs Thompson war ich mir unsicher, ob mein Nachname in ihr etwas ausgelöst hat. Bei Elliot hingegen besteht kein Zweifel: Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet, seine Augen weiten sich, und statt etwas zu sagen, stockt er. Bevor ich mir einen Reim darauf machen kann, findet er die Sprache wieder.

«Harrington?»

«Harrington», bestätige ich.

«Bist du … hast du …» Er schluckt. «…hast du zufällig einen Bruder?»

«Ja. Philipp.» Ich versuche in seinem Gesicht zu lesen. «Kanntest du ihn?»

Elliot öffnet den Mund, schließt ihn und fährt sich durch den Bart. «Philipp … Philipp war im Jahrgang über mir. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun. Aber was im letzten Herbst passiert ist, habe ich natürlich mitbekommen. Das haben alle mitbekommen. Ließ sich auch gar nicht vermeiden. Ziemlich scheußliche Sache.»

Entgeistert sehe ich ihn an. Ziemlich scheußliche Sache? Ernsthaft? Philipp liegt im Wachkoma. Ein Zustand, für den ziemlich scheußliche Sache die Untertreibung des Jahrhunderts ist. Aber statt ihm zu sagen, was ich wirklich denke, reiße ich mich zusammen. Besser, wenn ich nicht gleich am ersten Tag zu viel verbrannte Erde hinterlasse.

«Wie geht es Philipp denn mittlerweile?», fragt Elliot jetzt.

«Er atmet», antworte ich, um eine ruhige Stimme bemüht. «An guten Tagen sieht es manchmal so aus, als würde er lächeln. Aber davon abgesehen? Sein Gehirn ist durch seinen Unfall ziemlich schwer beschädigt worden. Er kann nicht denken, nicht sprechen … nichts.»

Elliot windet sich bei meinen Worten. Es ist ihm sichtlich unangenehm, diese Dinge zu hören. Aber hat das etwas zu bedeuten? Oder ist es einfach nur eine ganz normale Reaktion? Vermutlich sollte ich nicht zu viel in meine Beobachtung hineininterpretieren, aber irgendwie hat Elliot etwas an sich, das mir Unbehagen bereitet.

«Das tut mir wirklich leid», sagt Elliot, um Anteilnahme bemüht. «Ich hoffe … ich hoffe, dass es ihm irgendwann wieder besser geht.»

«Unwahrscheinlich.» Spätestens jetzt ist mein Interesse daran, unser Gespräch fortzuführen, verflogen. Stattdessen will ich die Situation nur noch so schnell wie möglich verlassen.

Elliot zögert, als wolle er mir eine weitere Frage stellen. Dann fällt ihm offenbar wieder ein, warum wir überhaupt miteinander sprechen. «Hier. Dein Schlüssel. Die Zimmer der Erstsemester sind im ersten Stock. Deins ist ganz am Ende des Gangs.»

Er reicht mir einen großen, bronzefarbenen Schlüssel, der perfekt zu einem so altehrwürdigen Gebäude passt.

«Also dann … auf eine gute Zeit in Brynmor!»

«Danke. Dir auch einen guten Start ins neue Semester», bringe ich gerade noch so hervor und betrete den Westflügel.

Wenn ich bislang an die Wohnheime englischer Universitäten gedacht habe, kamen mir immer Bilder von kleinen, muffigen Räumen mit wenig Tageslicht in den Sinn. Als ich jetzt die Tür öffne, bin ich daher ziemlich überrascht. Mein Zimmer in Brynmor ist fast so groß wie das in unserem Haus in Hamburg. Durch zwei hohe Sprossenfenster fallen helle Sonnenstrahlen auf das frisch bezogene Bett, einen höhenverstellbaren Schreibtisch und einen Kleiderschrank aus Echtholz.

Ich stelle meinen Rucksack neben der Tür ab. Auf dem Weg zu den Fenstern knarrt der alte Dielenboden unter meinen Füßen, und mir steigt der Geruch von Holzwachs in die Nase. Als ich nach draußen blicke, sehe ich sanft abfallende Wiesen, die sich bis zu den Klippenkanten erstrecken. Dahinter liegt das endlose, ruhige Meer.

Die Aussicht ist so überwältigend, dass es mir schwerfällt, mich abzuwenden. Trotzdem kann ich schlecht für den Rest des Tages hier stehen bleiben. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, um zu checken, ob Luisa mir schon geantwortet hat, allerdings hat sie meine Nachricht noch nicht einmal gelesen. Dafür habe ich eine von meiner Mutter erhalten, die wissen will, ob ich gut angekommen bin. Kurzerhand starte ich einen Videocall. Nach ein paar Sekunden taucht ihr verpixeltes Gesicht auf dem Display auf.

«Sammi!»

«Hi, Mum!»

«Schatz … es ist Samuel. Komm doch mal schnell.» Jetzt erscheint auch mein Vater im Bild. Mit seinen blonden Haaren und dunkelgrünen Augen sieht er aus wie eine ältere Version von mir. Mit meiner Mutter habe ich, ganz im Gegensatz zu Philipp, nicht viel Ähnlichkeit.

«Wie war der Flug nach Plymouth? Hat mit dem Zug alles geklappt? Ist alles in Ordnung bei dir?», fragt mein Vater.

Ich verstelle die Kamera, sodass die beiden jetzt statt mir mein Zimmer sehen können. «Ja, es hat alles geklappt», antworte ich. «Und schaut mal hier, die Aussicht.»

Nachdem wir für ein paar Minuten miteinander telefoniert haben, verabschiede ich mich von ihnen – nicht ohne ihnen mehrmals zu versichern, mich bald wieder bei ihnen zu melden.

«Schick uns gern ein paar Bilder», sagt meine Mutter.

«Sieh zu, dass du mit dem Lernstoff nicht in Verzug gerätst», sagt mein Vater. Was keiner von ihnen über die Lippen bringt, was ich aber in ihren besorgten Augen ablesen kann: Pass bitte, bitte auf dich auf, Samuel.

Sobald ich aufgelegt habe, macht sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Ich will nicht, dass sie sich meinetwegen Sorgen machen. Aber nicht nach Brynmor zu kommen, wäre für mich auch keine Alternative gewesen …

Weil es bis zum Abendessen noch geschlagene drei Stunden sind und ich mich nach der langen Reise ziemlich zerknautscht fühle, beschließe ich, die freie Zeit für eine Runde Parkour zu nutzen.

Ich durchwühle meinem Rucksack, bis ich meine Laufschuhe, meine Trainingshose und ein zerknittertes Tanktop gefunden habe. Sobald ich umgezogen bin, trete ich in den Gang hinaus und ziehe die Tür hinter mir zu.

Am Eingang des Westflügels spricht Elliot gerade mit einem anderen Erstsemester. Als er mich sieht, tritt ein gequälter Ausdruck auf sein Gesicht, fast so als hätte er einen unangenehmen Geruch in der Nase. Obwohl es mir schwerfällt, tue ich so, als würde es mir nicht auffallen.

«Sag mal, weißt du, wo ich die Sportanlagen finde? Ich habe gelesen, dass es hier irgendwo ein großes Trainingsgelände gibt.»

Elliots Gesichtszüge entspannen sich. «Du musst einmal quer über den neuen Campus. Wenn du da vorne langgehst, kommst du zum Medard’s Square. Danach gehst du einfach immer geradeaus weiter.»

«Der Medard’s Square?»

«Das ist ein großer Platz. Wurde nach einem der Gründerväter benannt. Du kannst ihn nicht verfehlen.»

«Danke.»

Mit schnellen Schritten gehe ich in die Richtung, die er mir gewiesen hat. Es dauert nicht lange, bis ich den älteren Teil des Universitätsgeländes hinter mir lasse. Vor mir tauchen jetzt die modernen Gebäudekomplexe mit ihren riesigen Glasfronten auf, die ich bereits aus dem Shuttlebus gesehen habe. Neben dem ursprünglichen Brynmor wirken sie wie Fremdkörper.

Nach ein paar Minuten erreiche ich den Medard’s Square. In der Mitte des Platzes befinden sich eine Freilichtbühne und halbmondförmig angeordnete Sitzreihen. Mehrere Wege zweigen sternförmig vom Platz ab. Ich will bereits Elliots Anweisung folgen, einfach geradeaus zu gehen, halte aber abrupt inne. Einer der Wege führt zwischen den Seminargebäuden zu einer großen Wiese. Und gleich dahinter liegt …

Der Klosterwald.Beim Anblick der alten, knorrigen Bäume, die sich vor dem Himmel abzeichnen, halte ich unwillkürlich die Luft an. Da es nur einen Wald in der Nähe von Brynmor gibt, besteht kein Zweifel. Das ist der Ort, an dem Philipp mit einer schweren Kopfverletzung gefunden wurde.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, von meinem ursprünglichen Plan abzuweichen und zum Wald zu gehen. Damit ich sehe, wo es passiert ist, und mir es nicht mehr nur ausmale. Aber wenn ich ehrlich bin, hat das Gespräch mit Elliot die Vergangenheit fürs Erste genug aufgewühlt. Nein, es ist besser, wenn ich es sein lasse.

Ich straffe die Schultern und überquere den Platz. Kurz darauf erreiche ich die letzten Ausläufer des neuen Campus. Vor mir tauchen jetzt die Sportanlagen auf – und ich muss zugeben: Die Hochglanzbroschüren haben nicht zu viel versprochen. Es gibt eine Schwimmhalle, einen Reitplatz, ein Fitnessstudio und zwei Sportfelder. Eins für Rugby und eins für Cricket. Auf der anderen Seite des Cricketfelds ragt eine große Tribüne in den Himmel, die mindestens fünfhundert Zuschauern Platz bietet.

Für ein paar Sekunden bleibe ich am Rand der Sportanlagen stehen. Auf der roten Kunststoffbahn, die das Cricketfeld umgibt, dreht ein einsamer Läufer seine Runden. Offenbar bin ich nicht der Einzige, der den freien Nachmittag für eine Trainingseinheit nutzt.

Ich will mich schon abwenden, um mich nach einer geeigneten Trainingsstelle umzusehen, betrachte den Läufer dann aber doch noch einmal genauer. Und spätestens jetzt sind alle Gedanken an Philipp und die Vergangenheit wie weggeblasen.

Kapitel 3

Samuel

Er ist in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, und er rennt so schnell, als würde der Wind ihn tragen. Seine Bewegungen sind fließend, seine dunkelbraunen Locken wippen auf und ab, und seine Augen sind fest geradeaus gerichtet. Sie scheinen nichts als seine Laufrichtung wahrzunehmen. Er ist groß und schlank, und sein weißes T-Shirt ist so durchgeschwitzt, dass ich nicht viel Fantasie brauche, um zu sehen, wie trainiert er ist.

Schlagartig steigt mir Hitze ins Gesicht. Ich kann gar nicht anders, als ihn weiter anzusehen. Als Sportler ist es mein Ziel, immer besser zu werden, und daher weiß ich nur zu gut, was für ein kräftezehrender Kampf das sein kann. Der Läufer lässt das, was er tut, allerdings so leicht aussehen, dass ich mir nicht ausmalen möchte, wie viel Zeit, Schweiß und Entschlossenheit er investiert hat, um dieses Level zu erreichen.

Okay, tief durchatmen. Ja, er ist sportlich. Und ja, er sieht verdammt heiß aus. Aber nach allem, was mit Milo passiert ist, habe ich gehörig die Schnauze voll von Typen. Oder?

Obwohl ich mir meine Vorsätze vor Augen führe, dauert es ein paar Sekunden, bis es mir endlich gelingt, mich von ihm abzuwenden. Aber hey, besser spät als nie.

Ich wische mir die verschwitzten Hände an meinem Tanktop ab und verschaffe mir einen Überblick. Das Fitnessstudio ist geschlossen, und ein Trainingsgelände im Freien, das ich zum Parkour nutzen könnte, gibt es offenbar nicht. Dafür bleiben meine Augen an der großen Tribüne hängen. Zum Schutz vor Wind und Wetter ist sie von Betonmauern umgeben, auf denen ein paar Möwen sitzen und in der Nachmittagssonne vor sich hin dösen. Zwischen den roten Plastiksitzen führen mehrere Treppen nach oben. Die Tribüne bietet zwar keine optimalen Trainingsvoraussetzungen, aber für den Anfang ist sie besser als nichts.

Also los.

Der Weg entlang der Kunststoffbahn kommt mir extrem lang vor. Der Läufer überholt mich erst einmal und dann noch ein zweites Mal, wobei uns nur ein paar Schritte voneinander trennen und ich seine schwere Atmung höre. Irgendwie bin ich mir sicher, dass mein Gesicht mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hat. Ich schlucke, starre geradeaus und versuche, an etwas Unverfängliches zu denken. Hoffentlich ist dem Kerl nicht aufgefallen, welche Wirkung er auf mich hat.

Als ich endlich die andere Seite des Platzes erreiche, atme ich erleichtert auf. Um mich aufzuwärmen, mache ich ein paar Liegestütze und Kniebeugen und renne ein bisschen auf der Stelle. Statt noch länger an den Läufer zu denken, erinnere ich mich daran, wie ich ziemlich genau ein Jahr vor Philipps Unfall mit Parkour begonnen habe. Zuerst habe ich mich mit ein paar anderen Parkour-Läufern getroffen, und auf der Suche nach den besten Trainingsplätzen sind wir gemeinsam durch Hamburg gezogen. In den letzten Monaten war ich aber immer häufiger allein unterwegs und habe mich dabei auch in die ein oder andere gefährliche Situation gebracht. Und das, obwohl Sicherheit beim Parkour die allerhöchste Priorität besitzt.

Sobald meine Muskeln gelockert sind, atme ich noch ein letztes Mal tief durch. Dann sprinte ich los.

Die Treppenstufen, die zwischen den Sitzreihen entlang nach oben führen, sind flach, und ich überspringe mehrere von ihnen auf einmal. Je schneller ich werde, desto leichter fällt es mir, mich voll und ganz auf den Moment zu konzentrieren.

Es dauert nicht lange, bis ich das obere Ende der Treppe erreiche. Statt abzubremsen, laufe ich geradewegs auf die Betonmauer zu. Ziehe das Tempo sogar noch einmal an. Ich springe, so hoch ich kann, und mein Herz setzt für einen Schlag aus. Eine Sekunde später findet mein linker Fuß die Mauer. Mit aller Kraft stoße ich mich noch weiter nach oben und strecke die Arme aus. Meine Sehnen sind zum Zerreißen gespannt, und kurz befürchte ich, nicht genug Schwung zu haben, um die Mauerkante zu erreichen. Aber dann spüre ich den kalten Beton unter meinen Fingern und ziehe mich hoch.

Während die Möwen kreischend davonfliegen, bleibe ich in der Hocke. Die Mauer ist keinen halben Meter breit, und ein falscher Schritt könnte dazu führen, dass ich in die Tiefe stürze. Außerdem habe ich unterschätzt, wie kräftig der Wind hier oben weht. Verdammt. Erst als ich mir sicher bin, das Gleichgewicht halten zu können, richte ich mich auf und blicke mich um.

Die Aussicht ist noch überwältigender als aus meinem Zimmer. Ich sehe die altehrwürdigen Bauten von Brynmor, die sich vor dem Meer in der Sonne abzeichnen. Am Horizont erkenne ich die Konturen eines Frachtschiffs, das gen Westen fährt. Mein Blick fällt auf St. Keyne und ein paar andere Dörfer, deren Namen ich nicht kenne und die aus der Ferne so klein wie Miniaturen wirken. Und natürlich sehe ich die weiten grünen Wiesen, die zerklüfteten Felsvorsprünge und die versteckten Buchten mit ihren malerischen Sandstränden, für die Cornwall so berühmt ist. Die Welt dehnt sich in alle Richtungen aus, und für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich vollkommen frei. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft. Nur der Moment. Genau dafür liebe ich Parkour!

Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet habe und wieder zu Kräften gekommen bin, konzentriere ich mich auf meine nächsten Bewegungen. Vorsichtig balanciere ich auf der Mauer entlang, bis ich am anderen Ende ankomme. Dort lasse ich mich auf einen Vorsprung fallen, tänzele darauf entlang wie auf einem Schwebebalken und nehme wieder Anlauf. Dann springe ich über mehrere Geländer aus Metall, wobei ich beim Aufkommen fast den Halt verliere. In letzter Sekunde fange ich mich und komme nach einem weiteren Satz wieder am Fuß der Sitzreihen an.

«Was war das denn?»

Der Läufer hat sein Training unterbrochen und steht nur ein paar Meter von mir entfernt. Er hat die Hände in die Hüften gestemmt und sieht mich mit offenem Mund an.

Ich versuche, seinen Blick zu erwidern und nicht an seinem verschwitzten Oberkörper hinunterzusehen. Allerdings trägt sein Gesicht nicht gerade dazu bei, dass ich ihn weniger attraktiv finde. Im Gegenteil: Seine Wangen sind vom Rennen noch immer gerötet, und ein paar Sommersprossen auf der Nase lassen ihn jünger wirken, als er vermutlich ist. Am meisten faszinieren mich aber seine Augen. Sie sind so graublau wie ein aufgewühlter Ozean.

«Ernsthaft, das ist ziemlich hoch», fährt er fort, obwohl er noch ganz außer Atem ist. Offenbar hat er sein Training erst gerade eben unterbrochen. «Wenn du von da oben runtergefallen wärst …» Er schüttelt den Kopf. «Also, ich hab zwar mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, aber bei so einem Sturz hätte eine Mund-zu-Mund-Beatmung bestimmt auch nicht mehr viel gebracht.»

Schlagartig sehe ich das Bild vor mir, wie er sich über mich beugt und seine Hände auf meine Brust legt. Wie seine Lippen meinen näher kommen …

Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mein Mund fühlt sich staubtrocken an. Ernsthaft, warum führen sich mein Körper und mein Kopf so auf, als hätte ich in den letzten zwanzig Jahren noch nie ein anderes männliches Wesen gesehen? Ich meine, hallo? Erde an Samuel?!

«Das solltest du besser nicht zu oft machen», sagt der Läufer und reißt mich damit ins Hier und Jetzt zurück. «Oder dich zumindest nicht dabei erwischen lassen. Das verstößt zu hundert Prozent gegen die Hausordnung. Nach zwei Verwarnungen schmeißen sie dich raus. Und das wäre doch wirklich schade, oder?» Den letzten Satz sagt er mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Lippen.

Vielleicht ist es dieses Lächeln, das mir die Zunge löst. Vielleicht ist es aber auch das Adrenalin, das mich noch immer durchströmt und mir Mut verleiht. So oder so, jetzt, wo er mich angesprochen hat, kann ich gar nicht anders, als die Situation beim Schopf zu packen.

«Du verpfeifst mich doch hoffentlich nicht, oder?» Obwohl ich mit fester Stimme spreche, sind meine Knie butterweich.

Sein Lächeln wird eine Spur breiter.

«Lass mal überlegen. Was ist dir mein Schweigen denn wert?»

Keine der Antworten, die mir auf der Zunge liegen, ist jugendfrei.

Mir ist vollkommen klar, dass ich das Spiel nicht zu weit treiben sollte, aber nicht auf seine Vorlage einzusteigen … nein, das kann ich auch nicht bringen. «Sagen wir mal so: Heute ist mein erster Tag in Brynmor, und ich bin nicht gerade scharf darauf, gleich nach meiner Ankunft eine Verwarnung zu kassieren. Also wäre ich wohl bereit, einen ziemlich hohen Preis zu zahlen.»

Der Läufer streicht sich die Locken aus der Stirn. Es ist eine beiläufige Geste, über die er nicht wirklich nachdenkt, und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie sie ein fester Bestandteil seines Alltags ist: während der Vorlesung, beim Gespräch mit einer Kommilitonin, abends nach dem Duschen.

«Ein Erstsemester also. Und ein Parkour-Läufer noch dazu.»

Ich nicke.

«Wie wäre es, wenn du mir deinen Namen verrätst und …?»

«…wenn es weiter nichts ist …»

«…und ich mir währenddessen überlege, wie teuer mein Schweigen ist.»

«Von allen Leuten, an die ich geraten konnte, habe ich offenbar ausgerechnet den erwischt, der den Preis nach oben treibt.»

«Gut möglich.»

Wir schmunzeln uns an, länger als nötig. Kann es sein? Flirtet er mit mir? Oder bilde ich es mir nur ein, weil ich es mir wünsche, allen Vorsätzen zum Trotz?

«Ich bin Samuel.»

«Samuel.» So wie er meinen Namen ausspricht, klingt es gleichermaßen verspielt wie liebevoll.

«Und du?»

«Connor.»

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, kommt Connor auf mich zu. Unwillkürlich halte ich die Luft an, und erst als er an mir vorbeigegangen ist, atme ich wieder aus. Ich drehe mich um und beobachte ihn dabei, wie er sich auf einen der roten Plastiksitze setzt und eine Wasserflasche in die Hand nimmt, die er dort offenbar vor seinem Training platziert hat.

Für einen Moment bleibe ich stehen. Und jetzt? Was soll ich tun? Hier wie angewurzelt stehen bleiben? Oder …? Ich wische alle Zweifel beiseite und setze mich mit schnell schlagendem Herzen neben ihn. Wortlos reicht Connor mir das Wasser, als hätten wir schon häufiger hier gesessen und aus derselben Flasche getrunken. Ich nehme sie entgegen, wobei sich unsere Fingerspitzen flüchtig berühren.

«Warum bist du hier?» Obwohl ich um einen lässigen Ton bemüht bin, klingt meine Stimme seltsam aufgedreht. «Ich meine, heute. Nicht, dass es mich irgendetwas angeht. Aber alle anderen sitzen in den Innenhöfen und erzählen sich Geschichten aus den Semesterferien. Du nicht.»

Connor dreht den Kopf in meine Richtung. Ich bin mir sicher, dass er mich gleich ein weiteres Mal aufzieht. So wie er es mit dem Schweigegeld getan hat. Aber als er weiterspricht, klingt seine Stimme ernster als zuvor.

«Weil du ein Erstsemester bist, weißt du das bestimmt noch nicht. Aber jeden Sommer findet ein großes Turnier in Brynmor statt, bei dem die Sportlerinnen und Sportler in verschiedenen Disziplinen gegeneinander antreten. Schwimmen, Reiten, Laufen. Seit ich hier bin, ist es mein Ziel, den Langstreckenlauf zu gewinnen. Aber vor ein paar Wochen, als es dann endlich so weit war, habe ich meine Nerven nicht richtig im Griff gehabt und bin nur im Mittelfeld über die Ziellinie gekommen. Daher habe ich mir für dieses Semester vorgenommen, früher und härter als alle anderen zu trainieren. Im nächsten Jahr würde ich das Turnier wirklich gern gewinnen.»

«So wie du vor ein paar Minuten gerannt bist, kann ich mir nicht vorstellen, dass dich irgendjemand schlägt.»

«Die anderen sind auch nicht das Problem. Ich bin das Problem. Manchmal stehe ich mir selbst am allermeisten im Weg.» Mit den Fingerspitzen tippt Connor sich an die Schläfe.

Seine Offenheit berührt mich, und ich muss nicht lange darüber nachdenken, warum. Was er sagt, kommt mir bekannt vor. Obwohl ich dabei an etwas ganz anderes als an ein Turnier und an einen Langstreckenlauf denke.

«Ich glaube, ich weiß, was du meinst.»

Verwundert hebt er die Brauen. «Ach ja?»

«Ja.» Kurz halte ich inne. «Vor ein paar Jahren hatte ich mit Selbstzweifeln zu kämpfen. Ich hatte ziemliche Angst davor, nicht gemocht zu werden. Ich habe mich verstellt und versucht, die Erwartungen zu erfüllen, von denen ich geglaubt habe, dass andere sie an mich haben. Aber das ist auf Dauer immer anstrengender geworden. Und irgendwann … irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten.» Ich räuspere mich. «Wie sich später herausgestellt hat, hätte ich mir überhaupt nicht so viele Sorgen machen müssen. Ich hätte nicht an mir zweifeln müssen. Es waren nur meine Gedanken, die mir die ganze Zeit Angst gemacht haben. Und die hatten mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun.»

Ich überlege, ob ich noch mehr sagen, noch offener von meinem Coming-out sprechen soll. Oder hat Connor bereits eins und eins zusammengezählt? Kann er sich einen Reim darauf machen, wovon ich spreche? Einerseits will ich wissen, wie er darauf reagiert, dass ich schwul bin. Andererseits: Die Illusion, der ich mich hingebe, die Hoffnung, dass ich ihm gefallen könnte, so wie er mir auf Anhieb gefällt, kann auch wie eine Seifenblase zerplatzen. Und diesen Moment will ich unbedingt noch ein bisschen hinauszögern.

«Klingt, als würden wir uns beide mehr Gedanken machen als nötig», sagt Connor und betrachtet mich eingehend.

«Ja, gut möglich», erwidere ich. «Aber soll ich dir was sagen?»

«Hm?»

«Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass jemand schneller ist als du.»

Wir grinsen uns an. Kommt es mir nur so vor, oder ist er etwas näher an mich herangerückt? Nein, bestimmt nicht.

«Danke, Samuel. Das ist sehr lieb von dir. Auch wenn es leider nicht der Realität entspricht.»

Statt etwas zu sagen, halte ich ihm die Flasche hin. Bevor er nach ihr greifen kann, ziehe ich sie wieder zurück. So geht es ein-, zweimal hin und her, und als ich ihm die Flasche schließlich doch gebe, bin ich mir sicher, dass sich unsere Finger jetzt nicht mehr nur zufällig berühren.

Während Connor einen Schluck nimmt, sehe ich ihn an. Warum zweifelt er an sich? Er wirkt so selbstbewusst. Wie passt das zusammen? Ich will ihn gerade danach fragen, als er mir zuvorkommt.

«Ich weiß noch gar nicht, warum du heute Nachmittag hier bist. Hast du keine Lust, die anderen Erstsemester kennenzulernen?»

Seine Frage lässt mich viel zu abrupt wieder daran denken, warum ich in Brynmor bin. Etwas, das ich in den letzten Minuten vollkommen vergessen habe. Keine Ahnung, wie lange es her ist, dass ich an nichts anderes als das Hier und Jetzt gedacht habe. Zu lange auf jeden Fall.

«Ich …», setze ich an, schüttle aber den Kopf.

Beinahe besorgt sieht Connor zu mir herüber. Offenbar ist ihm nicht entgangen, dass mich seine Frage auf dem falschen Fuß erwischt hat. «Samuel?»

Ich schlucke und erwidere seinen Blick, unsicher, was ich antworten soll. Aber so wie ich Youma im Shuttlebus verschwiegen habe, nicht wirklich an einem Studium interessiert zu sein, halte ich auch vor Connor die Wahrheit geheim.

«Das Semester fängt gerade erst an», sage ich ausweichend. «Ich habe alle Zeit der Welt. Die anderen laufen mir schon nicht weg.»