Brynmor University – Versuchungen - Dominik Gaida - E-Book
SONDERANGEBOT

Brynmor University – Versuchungen E-Book

Dominik Gaida

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Elite-Uni an der rauen Küste Cornwalls, zwei junge Männer und eine verzweifelt intensive Liebe. Willkommen an der Brynmor University, einem Ort voller Geheimnisse. Eine Liebe gegen alle Regeln! Für Nate beginnt das neue Semester an der Brynmor University mit einem riesengroßen Schock. Denn plötzlich steht Lucas wieder vor ihm. Derselbe Lucas, dem er in den Semesterferien zufällig in London begegnet ist und mit dem er eine leidenschaftliche Nacht verbracht hat. Nur ist Lucas jetzt Dr. Lucas Murphy, sein neuer Dozent. Sich hier in Brynmor wiederzusehen, als Student und Dozent … schlimmer hätte es kaum kommen können. Zuerst zwingen sich die beiden, Abstand zu halten. Nur wird das mit jedem Tag und mit jeder weiteren Begegnung schwieriger. Doch wenn sie der Versuchung erliegen, könnte das ihre Zukunft zerstören … Band 2 der Brynmor-University-Reihe. Unabhängig lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 478

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Dominik Gaida

Brynmor University – Versuchungen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Liebe gegen alle Regeln!

Für Nate beginnt das neue Semester an der Brynmor University mit einem riesengroßen Schock. Denn plötzlich steht Lucas wieder vor ihm. Derselbe Lucas, dem er in den Semesterferien zufällig in London begegnet ist und mit dem er eine leidenschaftliche Nacht verbracht hat. Nur ist Lucas jetzt Dr. Lucas Murphy, sein neuer Dozent. Sich hier in Brynmor wiederzusehen, als Student und Dozent … schlimmer hätte es kaum kommen können. Zuerst zwingen sich die beiden, Abstand zu halten. Nur wird das mit jedem Tag und mit jeder weiteren Begegnung schwieriger. Doch wenn sie der Versuchung erliegen, könnte das ihre Zukunft zerstören …

 

Vita

Dominik Gaida, 1989 geboren, arbeitet nach einem freiwilligen sozialen Jahr in Südafrika und seinem Psychologie-Studium heute als Psychotherapeut. Er hat bereits unter Pseudonym mehrere Hörbuchskripte geschrieben, mit der Brynmor-University-Trilogie tritt er erstmals mit seinem eigenen Namen an die Öffentlichkeit. Alle Bände der Reihe sind unabhängig voneinander lesbar. Als Own-Voice-Autor möchte er zur Sichtbarkeit der LGBTQIA+-Community beitragen. Er ist auf Instagram (@dominikgaida) und TikTok (@dominik.gaida) zu finden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Kathinka Engel

Zitat auf Seite 174 aus dem Song «Moving On» von Leonard Cohen; Melodie und Text von Adam Cohen und Patrick Leonard

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01812-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Dieses Buch enthält potenziell belastende Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/brynmor2 eine Content-Note.

Für alle, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung unter Diskriminierung gelitten haben

«It is best to love wisely, no doubt: but to love foolishly is better than not to be able to love at all.»

William Makepeace Thackeray, Vanity Fair

Playlist

You know I’m no good – Amy Winehouse

I was a teenage anarchist – Against me!

Ache with me – Against me!

Coastline – Hollow Coves

Me and the devil – Soap & Skin

Moving on – Leonard Cohen

Nothing breaks like a heart (Dimitri from Paris Remix) – Mark Ronson ft. Miley Cyrus

Achilles come down – Gang of Youths

The woods – Hollow Coves

Wildest dreams – Taylor Swift

Delicate, Petite & Other Things I’ll never be – Against me!

The open road – Hollow Coves

Prolog

Hope

Die Angst umschließt mein Herz wie ein Schraubstock.

«Jean, warte! Verdammt noch mal, jetzt warte doch!»

Aber Jean hört mich nicht. Oder besser gesagt will sie mich nicht hören. Sie läuft einfach weiter, weg von den Lampions, vom Lachen und der ausgelassenen Stimmung, die mir plötzlich ziemlich seltsam vorkommt. Denn wie können die anderen einfach weiterfeiern, während Jeans Welt gerade in Scherben zerbricht?

«Jean, warte!»

Weil ich im Gegensatz zu Jean Absatzschuhe trage, bin ich nicht ganz so schnell wie sie, und der Abstand zwischen uns wird immer größer.

«Jean!»

Vor ein paar Monaten, als sie das letzte Mal so aufgewühlt war, konnte ich sie beruhigen. Aber jetzt dringe ich einfach nicht zu ihr durch.

Verdammt.

Jean durchquert den Innenhof mit seinen efeubewachsenen Fassaden und steuert geradewegs auf das große Eingangsportal zu.

Sie will doch nicht …? In ihrem Zustand?

«Jean!»

Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und ich bin vollkommen außer Atem. Trotzdem laufe ich weiter.

Bitte warte auf mich. Bitte sprich mit mir. Wir finden eine Lösung. Wir haben immer eine Lösung gefunden.

Aber mein stummes Flehen wird genauso wenig erhört wie meine verzweifelten Rufe. Stattdessen wird eine Autotür zugeschlagen und ein Motor gestartet.

Als ich den kreisrunden, mit Kopfstein gepflasterten Platz auf der anderen Seite der Klostermauern erreiche, legt Jean gerade den Rückwärtsgang ihres Ford Fiesta ein. Mit quietschenden Reifen schießt sie aus der Parklücke und streift dabei den Kotflügel eines silbernen Mercedes. Metall schrammt über Metall. Erschrocken über das Geräusch hält sie inne und wirft einen Blick aus dem Fenster.

Es sind nur ein paar Sekunden, in denen sie zögert. Aber mehr brauche ich nicht, um zu ihr aufzuschließen.

«Jean!», rufe ich und rüttle an der Beifahrertür. Der Ford ist von innen verschlossen, und weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, schlage ich mit der flachen Hand gegen die Scheibe. «Jean!»

Wie in Zeitlupe wendet sie sich von dem Mercedes ab und mir zu. Unsere Blicke treffen sich – und unwillkürlich zucke ich zusammen. In Jeans Augen lodert Enttäuschung. Ärger. Liebe. Hoffnungslosigkeit.

So viele Gefühle.

Zu viele Gefühle.

«Bitte, Jean, mach den Motor aus! Lass uns in aller Ruhe darüber sprechen!»

Jean sieht mich an. Für den Bruchteil eines Augenblicks kräuseln sich ihre Lippen zu einem schwachen Lächeln, und ich schöpfe noch einmal Hoffnung. Aber dann schüttelt sie den Kopf, legt den ersten Gang ein und tritt mit voller Kraft das Gaspedal durch.

Nein! Nein, nein, nein!

«Jean!»

Es dauert nur ein paar Sekunden, bis die Rücklichter des Ford kleiner werden.

Kurz darauf ist Jean in der Nacht verschwunden.

Einundzwanzig Jahre später

Kapitel 1

Lucas

«Du bist zum ersten Mal hier, oder?»

Ich nehme noch einen Schluck von meinem Guinness, bevor ich den Kopf nach links drehe, um zu sehen, wer mich angesprochen hat – und halte überrascht die Luft an. Ich meine, wie oft kommt es schon vor, vom vermutlich heißesten Typen in der gesamten Bar angequatscht zu werden?

Der Unbekannte setzt sich auf den Hocker neben mir. Er ist ein paar Jahre jünger als ich, hat breite Schultern und schmale Hüften. Wie ein Schwimmer. In seinen mitternachtsblauen Augen liegt ein verspielter Ausdruck, und seine dunkelbraunen Haare sind so perfekt gestylt, dass ich nicht wissen will, wie lange er dafür gebraucht hat. Das eng anliegende schwarze T-Shirt, die graue Chino und die strahlend weißen Sneaker unterstreichen mein Gefühl, dass er nichts an sich dem Zufall überlässt.

Früher hätte ich mir bestimmt verboten, ihn so unverhohlen anzusehen. Aber diese Zeiten sind lange vorbei.

«Was hat mich verraten?», erwidere ich mit vorgetäuschter Ernsthaftigkeit.

«Du bist mir vorhin schon aufgefallen, als du reingekommen bist.» Er zwinkert mir zu. «Um ehrlich zu sein, hast du einen ziemlich verlorenen Eindruck gemacht.»

Seine Offenheit ist entwaffnend, und plötzlich kann ich gar nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.

«Ich bin zum ersten Mal hier», sage ich und tippe auf mein Handy, das vor mir auf dem Tresen liegt. «Bin heute Nachmittag in Heathrow gelandet und habe auf der Fahrt in die Stadt nach ein paar Locations für heute Abend gesucht. Und das Comptons of Soho … na ja, irgendwie klang es ganz vielversprechend.»

«Das Comptons ist eine Institution.» Beinahe ehrfürchtig sieht der Unbekannte sich um. Für ein paar Sekunden lasse ich meine Augen noch auf ihm ruhen, dann folge ich seinem Blick. Obwohl es früh am Abend ist, tummeln sich um uns herum bereits etliche, überwiegend männliche Gäste. Das Licht goldener Kronleuchter erhellt ihre Gesichter, die Luft ist von lebhaften Gesprächen und heiterem Lachen erfüllt, und im Hintergrund läuft You know I’m no good von Amy Winehouse.

«Bist du häufiger hier?», frage ich.

«Früher, als ich noch in London gelebt habe – ja.» Sein Lächeln wird etwas wehmütig. «Mittlerweile komme ich nur noch ab und zu hier vorbei.»

«Wie heißt du?»

Der Unbekannte dreht sich wieder zu mir um – und sieht mir jetzt so fest in die Augen, dass mir heiß und kalt zugleich wird. «Nate. Und du?»

«Lucas.» Gerade, als ich ihm zur Begrüßung die Hand reichen will, legt er mir seine bereits auf die Schulter und beugt sich zu mir. Wir sind uns jetzt so nah, dass ich den süßlich-herben Duft seines Parfüms rieche. Ich kenne mich mit so etwas nicht aus, bin mir aber irgendwie sicher, dass es sich um ein teures Parfüm handelt. Ein ziemlich teures Parfüm.

«Ich habe eine Schwäche für Menschen, die keine Ahnung haben, was für eine Ausstrahlung sie besitzen», raunt er mir ins Ohr.

Mein Herz beschleunigt sich schlagartig. «Ach, und ich bin so ein Mensch?»

Nate lehnt sich wieder zurück, aber seine Hand bewegt sich nicht einen Millimeter von der Stelle. «Ich täusche mich selten.»

Verwundert hebe ich die Brauen. «Wie alt bist du? Zwanzig? Einundzwanzig? So ein Selbstbewusstsein hätte ich in deinem Alter gern gehabt.»

«In meinem Alter?», erwidert Nate schmunzelnd. «Ich bin einundzwanzig. Aber komm schon, so viel älter kannst du doch gar nicht sein.»

«Ich bin siebenundzwanzig.»

«Lucas, siebenundzwanzig, heute Nachmittag in Heathrow gelandet, zum ersten Mal im Comptons und ein bisschen verloren. Was hat dich hierher verschlagen?»

«Ich bin wegen eines neuen Jobs hier.» Der bringt mich zwar nicht nach London, sondern nach Cornwall, aber besser, ich langweile ihn nicht mit Details, für die er sich vermutlich ohnehin nicht interessiert.

«Und wann geht die Arbeit los?»

«Nächste Woche. Bis dahin will ich mir noch ein bisschen die Stadt anschauen. Ich war noch nie hier.»

Bei diesen letzten Informationen wird Nates Lächeln eine Spur breiter und mein Herzschlag noch etwas schneller. «Wenn du einen Guide brauchst, stehe ich gern zur Verfügung.»

Der Blick, mit dem er mich ansieht, verleiht seinen Worten eine ziemlich eindeutige Zweideutigkeit.

Wenn du einen Guide brauchst, stehe ich gern zur Verfügung … Das klingt verlockend. Das klingt sogar sehr verlockend. Gegen ein bisschen Spaß habe ich nichts einzuwenden, vor allem nicht dann, wenn der Spaß auch noch so unverschämt gut aussieht.

«Was hältst du davon, mir ein bisschen das queere Nachtleben in Soho zu zeigen?»

«Worauf stehst du denn so? Techno? Wenn ja, gibt es ein paar Straßen weiter einen ziemlich guten Club. Das Famous.» Seine Hand wandert von meiner Schulter über meinen Oberarm. Dann zieht er sie zurück. Obwohl er mich nur über dem Stoff meines Hemds berührt hat, glüht meine Haut vor Hitze. Wie es wohl wäre, wenn er mich darunter berührt? «Jetzt geht da noch nicht viel. Aber in ein oder zwei Stunden …»

Statt etwas zu sagen, nicke ich nur und nehme dann, weil sich mein Mund seltsam trocken anfühlt, einen Schluck von meinem Guinness.

Nate beobachtet mich. «Hätte ja nicht gedacht, dass einem Amerikaner so etwas schmeckt. Du kommst doch aus Amerika, oder?»

Mir ist klar, dass er nur ein bisschen Smalltalk machen will. Aber so belanglos und unverfänglich die Frage auch ist, erinnert sie mich doch unweigerlich an meine Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ich am liebsten für immer vergessen will.

«Ich komme aus Arkansas», sage ich, weil ich nicht nichts sagen kann.

«Irgendwo im Nirgendwo?»

«Sozusagen.»

«Könnte mir vorstellen, dass du es da als queerer Teenager nicht immer einfach hattest.»

Genau das ist der Grund, warum ich nicht gern über die Vergangenheit spreche. Immerhin fühlt sich mein Mund jetzt nicht mehr ganz so trocken an. «Da, wo ich aufgewachsen bin, ist jede Form von Sexualität, die von der Norm abweicht, für viele eine Sünde.»

Nate presst die Lippen aufeinander. «Scheiße. Ich war nie in Arkansas. Aber ich weiß ganz genau, wovon du sprichst.»

Ich öffne bereits den Mund, um ihn zu fragen, welche Erfahrungen er gemacht hat, aber genau in diesem Moment tritt ein Riese von einem Mann auf uns zu. Sein Vollbart wird von vereinzelten grauen Haaren durchzogen, und seine Augen sind fest auf Nate gerichtet. Von mir nimmt er nicht einmal Notiz.

«Mr. Cavendish, Sir», sagt der Riese beinahe unterwürfig.

«Mr. Jones», erwidert Nate, wobei seine Stimme plötzlich um einiges kühler klingt.

«Es ist viel zu lange her, dass Sie uns das letzte Mal die Ehre erwiesen haben.» Der Mann spricht mit einem Londoner Dialekt, der so stark ist, dass ich ernsthaft Mühe habe, ihn zu verstehen.

«Manche Leute sehen es nicht gern, wenn ich hierherkomme», sagt er, wobei sich ein Schatten auf sein Gesicht legt.

Der Riese – Mr. Jones – nickt mitfühlend. Im Gegensatz zu mir weiß er offenbar ganz genau, wovon Nate spricht.

«Nun, ich sehe es gern, wenn Sie hier sind. Und ich hoffe, dass es bis zu Ihrem nächsten Besuch nicht ganz so lange dauert.»

Nate zuckt mit den Schultern, was alles und nichts bedeuten kann.

«Wie lange sind Sie denn noch in London, Mr. Cavendish?»

«Eine Woche.»

Ich muss Nate nicht kennen, um zu merken, wie unwohl er sich gerade fühlt. Tatsächlich verfinstert sich sein Blick mit jeder Frage, die Mr. Jones ihm stellt, noch ein kleines bisschen mehr. Erst, als Mr. Jones sich verabschiedet und zwischen den anderen Gästen verschwindet, hellen sich Nates Gesichtszüge wieder ein bisschen auf.

«Wer war das?», frage ich interessiert.

«Ach, das war Freddie. Der Besitzer des Comptons. Wir kennen uns noch von früher.» Er räuspert sich. «Sag mal, wäre es für dich in Ordnung, wenn wir uns doch schon langsam auf den Weg machen?»

«Klar, meinetwegen gern», sage ich und greife ganz automatisch nach dem Portemonnaie in der Seitentasche meiner Jacke.

Nate legt seine Hand auf meinen Unterarm. Ein weiteres Mal spüre ich die Hitze, jetzt aber sogar noch stärker, weil Haut auf Haut liegt. «Lass stecken. Dein Guinness geht auf mich.» Er schiebt dem Barkeeper eine Zwanzig-Pfund-Note über den Tresen und nickt in Richtung des Toilettenschilds. «Ich bin gleich wieder da. Und du rührst dich solange nicht von der Stelle, okay? Meinem Ego würde es nicht gefallen, wenn ich zurückkomme und feststelle, dass du nicht mehr hier bist.»

«Ich glaube, dass dein Ego eine ganze Menge verkraftet.»

«Sei dir da mal nicht so sicher.»

Er zwinkert mir noch einmal zu, dann macht er sich auf den Weg zu den Toiletten. Die meisten Typen, an denen er vorbeikommt, werfen ihm interessierte, manche sogar beeindruckte Blicke zu. Keine Frage, wenn er es darauf anlegen würde, könnte er hier jeden haben. Er müsste nur mit dem Finger schnipsen, und sie würden reihum auf die Knie sinken.

Aber er will, dass ich auf ihn warte.

Ausgerechnet ich.

Wer ist dieser Kerl?

Kapitel 2

Nate

Fuck. Freddie, sein Mr. Cavendish, Sir und seine Fragen haben mich eiskalt erwischt. Normalerweise bin ich gut darin, eine Maske aufzusetzen und mir nicht anmerken zu lassen, wie es gerade in mir aussieht. Ich habe jahrelange Übung darin.

Dank Freddie ist meine Maske gerade allerdings gefährlich ins Rutschen geraten.

Ich schiebe mich an zwei Kerlen vorbei, die hemmungslos miteinander rumknutschen.

«Hey, pass doch auf», fährt einer der beiden mich an, als ich versehentlich mit meiner Schulter gegen seine stoße. Aber ich schenke ihm keine Beachtung, sondern laufe einfach weiter.

Am Waschbecken spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, was mich zumindest ein bisschen beruhigt. Gut. Ich bin ins Comptons gekommen, um ein paar entspannte Stunden und im besten Fall ein bisschen guten Sex zu haben. Nicht, um mich von Freddie wie ein Prinz behandeln zu lassen.

Sobald ich den Hahn zugedreht habe, stütze ich mich mit beiden Händen am Becken ab, betrachte mein Spiegelbild und atme erleichtert auf. Meine Maske sitzt wieder so fest wie eh und je.

Um einiges gelöster gehe ich zu Lucas zurück, der noch genau da sitzt, wo ich ihn zurückgelassen habe. Groß, trainiert, mit olivgrünen Augen, dunklen Haaren und einem Fünftagebart. Die beiden oberen Knöpfe seines Hemds sind geöffnet, und die Ärmel hat er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Er spielt am Verschluss seiner Armbanduhr herum. Genau wie vorhin wirkt er auch jetzt etwas verloren. Dass er keine Ahnung hat, wie süß und gleichzeitig heiß er aussieht, macht ihn verdammt attraktiv.

Unsere Blicke treffen sich, und wir beginnen fast gleichzeitig zu lächeln.

«Bist du so weit?», fragt er, sobald ich neben ihm stehe.

«Machen wir Soho unsicher», antworte ich, um eine feste Stimme bemüht.

Draußen schlägt uns eine klirrende Kälte entgegen, aber obwohl die Temperaturen nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt liegen, vibriert die Londoner Nacht vor Leben. An der Kreuzung zwischen der Old Compton Street und der Frith Street werden wir von einer Gruppe Frauen angesprochen, die einen Junggesellinnenabschied feiern. Nachdem wir mit ihnen auf die zukünftige Braut angestoßen und ein paar Tequila-Shots getrunken haben, laufen wir weiter. Es dauert nicht lange, bis wir das Famous erreichen. Vor dem Eingang hat sich bereits eine Schlange gebildet, die fast bis zur nächsten Straßenecke reicht.

Ohne lange darüber nachzudenken, strecke ich meine Hand aus und umschließe Lucas’ Finger. Behutsam fahre ich ihm mit dem Daumen über den Handrücken, woraufhin er den Druck um meine Hand verstärkt.

«Sieht aus, als müssten wir es noch ein bisschen in der Kälte aushalten.»

«Nein, müssen wir nicht. Komm.» Zielstrebig ziehe ich ihn an den anderen vorbei, bis wir beim Türsteher ankommen. Ich kenne ihn noch von früher. Im Gegensatz zu Freddie stellt er keine Fragen. Und im Gegensatz zu Freddie hat er mich auch noch nie mit Mr. Cavendish, Sir angesprochen.

«Kieran, was geht?»

«Nate.» Seine Augen weiten sich überrascht. «Ist verdammt lange her, Mann.»

«Ist es.» Mir entgeht nicht, dass Lucas mir einen Blick von der Seite zuwirft. Vermutlich fragt er sich gerade, ob es irgendjemanden in Soho gibt, der mich nicht kennt. «Können wir …?»

«Ja, klar», sagt Kieran schnell, hebt das samtrote Absperrseil hinter sich an und winkt uns mit einer knappen Handbewegung an sich vorbei.

Aus der Schlange der Wartenden höre ich ein paar verärgerte Rufe. Doch ich beachte sie ebenso wenig wie die Typen, die ich auf dem Weg zur Toilette angerempelt habe, und eine Sekunde später übertönt das Wummern des Basses alle anderen Geräusche.

Um uns herum ist es stockdunkel. Das einzige Licht kommt vom Blitzen der Stroboskope, die Luft ist stickig und die Musik so laut, dass der Beat jede Faser meines Körpers zum Pulsieren bringt.

Tanzen. Ich will tanzen. Und dann, in ein paar Stunden, wenn wir völlig fertig sind und uns vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten können, will ich Lucas mit zu mir nehmen und alles andere vergessen.

Ich führe ihn über den Floor, der zum Brechen voll ist, und eine gewundene Treppe nach oben. Lucas’ Finger glühen, und seine Hitze springt wie ein Funken auf mich über. Er läuft so dicht hinter mir, dass ich seinen warmen Atem in meinem Nacken spüre. Wenn mein Puls jetzt schon so rast, was wird dann erst passieren, wenn wir uns noch näherkommen?

Auch auf dem oberen Floor ist ziemlich viel los, aber es ist bei Weitem noch nicht so voll wie unten.

«Komm.» Es ist so laut, dass Lucas mich nicht hören kann, aber seine Augen kleben an meinen Lippen, von denen er das Wort abliest. In seinem Blick liegt ein fast schon greifbares Verlangen.

Er will mich.

Ich will ihn.

Jackpot.

Nur ein paar Sekunden später finden wir uns vor dem DJ-Pult wieder. Entschlossen mache ich einen Schritt auf ihn zu, sodass sich unsere Nasenspitzen berühren. Seine Hände wandern über meinen Rücken zu meinen Schultern, und ich lege meine auf seine Hüften. Dann drücke ich meinen Oberschenkel gegen seinen Schritt. Ich höre nicht, ob er keucht. Ich sehe nur, wie sich sein Mund zu einem überraschten O formt, und grinse ihn an.

Wir tanzen so eng umschlungen, dass nicht einmal ein Blatt zwischen uns passt. Nach ein paar Songs machen wir einen Abstecher zur Bar, wo wir zwei Shots bestellen. Sobald wir die Gläser geleert haben, ordern wir eine weitere Runde.

Gott, wie sehr ich das alles in den letzten Monaten vermisst habe. Nein, nicht nur vermisst. Ich habe mich danach verzehrt. London. Ein Kerl wie Lucas. Und eine Nacht, die wie ein verheißungsvolles Versprechen vor mir liegt. Ich habe viel zu lange das Gefühl gehabt, die Luft anhalten zu müssen. Jetzt kann ich endlich wieder atmen.

Nach der dritten Runde kehren wir auf die Tanzfläche zurück. Diesmal ist es Lucas, der mich mit sich zieht, und ich lasse es geschehen. Selbst, wenn er mich in einen der vielen Dark Rooms schleppt, würde ich es geschehen lassen. So sehr ich es auch mag, die Kontrolle zu haben – bei Lucas könnte ich mir vorstellen, sie abzugeben. Vielleicht ist das nur dem Alkohol geschuldet. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich in Lucas’ Verlorenheit ein Spiegelbild meiner eigenen Verlorenheit erkannt habe. Keine Ahnung. Und spätestens, als sich seine Arme ein weiteres Mal in meinem Nacken verschränken, ist es mir auch egal.

Alles verschwimmt. Zeit und Raum, Licht und Schatten, die wummernden Beats, unsere Bewegungen, und die Menge aus Feiernden, die sich wie ein einziger Körper über die Tanzfläche bewegt. Es muss schon weit nach Mitternacht sein, als ich einem plötzlichen Impuls folge.

«Komm», rufe ich ein weiteres Mal.

Hand in Hand bahnen wir uns einen Weg über den Floor, bis wir die Treppe erreichen. Statt zurück nach unten führe ich Lucas nach oben. Am Treppenabsatz erwarten uns ein schmaler Gang und eine doppelt verglaste Tür.

Kaum, dass ich sie aufgestoßen habe, schlägt uns ein weiteres Mal klirrende Kälte entgegen. Das Wummern der Bässe dringt jetzt nur noch gedämpft an meine Ohren.

Wir sind nicht die Einzigen, die es auf die Dachterrasse verschlagen hat, aber im Vergleich zum restlichen Club ist hier oben kaum etwas los. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein paar Typen in Lederharnischen. Dann zieht die leuchtende Londoner Skyline meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.

«Das ist …», setzt Lucas neben mir an, verstummt aber, während wir an das hüfthohe Metallgeländer herantreten. In der Ferne ragen der Big Ben und die Houses of Parliamentin den Nachthimmel auf, und dahinter strahlt das London Eye.

«… die tollste Stadt der Welt.» Ich verschränke die Hände hinter dem Kopf und hole tief Luft. Als könnte ich diesen Moment so für alle Zeit in mich aufsaugen.

Lucas lächelt. «Gleich nach New York.»

Statt etwas zu erwidern, lege ich meinen Kopf auf seine Schulter. Lucas zögert kurz, dann fährt er mir behutsam mit den Fingern über den Hinterkopf. Eine Geste, die mir ungleich intimer vorkommt als unsere bisherigen Berührungen.

«Nate?»

«Ja?»

«Darf ich dich was fragen?»

«Was willst du wissen?»

Er räuspert sich. «Machst du so etwas öfter? Typen in der Bar anquatschen? Und dann die Nacht mit ihnen verbringen?»

«Wenn es so wäre, hättest du ein Problem damit?»

«Wenn ich ein Problem damit hätte, würde ich nicht hier stehen. Es ist … es interessiert mich einfach nur.»

Eigentlich ist seine Frage ganz einfach zu beantworten. Ja, so etwas mache ich öfter. Zumindest vor meiner Zeit in Brynmor. Und bestimmt hätte es auch in Brynmor die ein oder andere Gelegenheit gegeben, wenn ich es gewollt hätte. Aber in Brynmor waren meine Augen nur auf eine einzige Person gerichtet.

Auf Samuel.

Samuel, der ebenfalls keine Ahnung hatte, welche Ausstrahlung er besitzt.

«One-Night-Stands machen Spaß», sage ich und schiebe Samuels Gesicht in die hinterste Ecke meines Verstands. «In den allermeisten Fällen zumindest. Sie sind unverbindlich. Ersparen Stress.» Außerdem schützen sie vor Enttäuschungen. Wenn du jemanden nicht kennst, erwartest du auch nichts von ihm. Und wenn du jemanden nicht wirklich an dich heranlässt, kann er dir auch nicht wehtun. Aber diese Sätze behalte ich für mich. Sie würden Lucas einen Blick auf mein wahres Ich ermöglichen. Würden ihm zeigen, dass sich hinter meiner Maske der Selbstsicherheit ein zerbrechlicher junger Mann befindet. Und ob er mit diesem zerbrechlichen jungen Mann in die Kiste steigen würde?

«Du magst Unverbindlichkeit?», fragt Lucas.

Ich hebe den Kopf und sehe ihm fest in die Augen, unschlüssig, was ich von seinen Fragen halten soll, aber zu neugierig, um ihn nicht darauf anzusprechen. «Das interessiert dich alles wirklich, oder?»

Beinahe ertappt zuckt Lucas mit den Schultern. «Ja, schon. Sonst würde ich ja nicht fragen. Aber … du musst nicht darauf antworten, wenn du das nicht willst. Du hast dich vor ein paar Stunden bestimmt nicht zu mir an die Bar gesetzt, weil du tiefschürfende Gespräche führen wolltest.»

Seine Worte entlocken mir ein Lächeln. «Ja, tiefschürfende Gespräche standen nicht unbedingt auf meiner Agenda.»

Lucas beißt sich auf die Unterlippe. «Dann hoffe ich, dass ich mit meinen Fragen nicht die Stimmung kaputt gemacht habe.»

Da ist sie wieder. Die Unsicherheit. Die Verlorenheit. Ich mustere ihn noch einmal, eingehender, als ich es bisher getan habe. Wenn ich ehrlich wäre, müsste ich ihm jetzt gestehen, dass er die Stimmung ganz und gar nicht kaputt gemacht hat. Wenn ich ehrlich wäre, würde ich ihm antworten, dass ich tief in meinem Herzen auf der Suche nach jemandem bin, der sich für mich interessiert.

Nicht für mein Aussehen. Nicht für meine Ausstrahlung.

Sondern für mich.

So wie er es ganz offensichtlich tut.

«Nur ein bisschen vielleicht», behaupte ich mit einem einstudierten Schmunzeln.

Lucas streicht sich mit der Hand über den Hinterkopf. Für einen Moment erweckt es den Anschein, als wolle er noch etwas sagen. Eine weitere Frage stellen. Und irgendwie, so seltsam das auch ist, hoffe ich plötzlich, dass er es tut. Dass er sich nicht einfach so von mir abwimmeln lässt. Dass er hartnäckig bleibt und versucht, mich aus der Reserve zu locken.

Innerlich schüttle ich den Kopf. Wie durcheinander ist das bitte alles? Kein Wunder, dass ich immer um Kontrolle bemüht bin, so verkorkst, wie es in mir aussieht.

«Komm, lass uns reingehen und noch was trinken», sagt Lucas jetzt – und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde schwappt eine unerwartet starke Welle der Enttäuschung über mich hinweg.

Ein kleines bisschen seinetwegen. Aber noch viel mehr meinetwegen.

Lucas macht bereits Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Bevor ich weiß, was ich tue, strecke ich meine Hand nach ihm aus und umschließe seinen Unterarm, der ebenso vor Hitze glüht wie alles andere an ihm.

«One-Night-Stands sind toll.» Für diesen einen, kurzen Moment lege ich meine Maske aus freien Stücken ab. «Aber eine Beziehung … eine Beziehung wäre noch viel besser.»

«Ja, das sehe ich ganz genauso», sagt er, und seine Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln.

Kapitel 3

Lucas

Von der Selbstsicherheit, die Nate bisher ausgestrahlt hat, ist nicht mehr viel übrig. Die Verletzlichkeit, die stattdessen in seinem Gesicht geschrieben steht, verleiht ihm etwas Zerbrechliches. Etwas Wahres. Etwas, das mir den Atem stocken lässt.

«Normalerweise erzähle ich meinen One-Night-Stands so etwas nicht», gesteht er.

«Dann fühle ich mich geschmeichelt.» Und das tue ich auch. Sehr sogar. Wie gern ich noch mehr über ihn erfahren würde, behalte ich für mich. Vielleicht habe ich die Stimmung bis jetzt noch nicht kaputt gemacht, aber es könnte gut sein, dass das passiert, wenn ich den Bogen überspanne. Und das möchte ich nicht.

«Komm, tanzen wir noch ein bisschen», sage ich daher.

Nate lächelt mich an. Spätestens jetzt wirkt er wieder so gefasst, als hätte es diesen flüchtigen Moment gerade eben überhaupt nicht gegeben.

Nach einem letzten Blick auf die Londoner Skyline folge ich ihm zurück in den Club, und sobald wir wieder auf der Tanzfläche sind, verliere ich jedes Zeitgefühl. Alles, was ich wahrnehme, sind Nates Blicke und seine Berührungen, die meinen Puls in die Höhe treiben. Immer wieder sind wir uns so nah, dass sein Gesicht mein gesamtes Sichtfeld einnimmt. Und immer wieder gibt es Momente, in denen ich mir sicher bin, dass er mich jetzt gleich küsst und ich seine geschwungenen Lippen endlich auf meinen spüre. Aber bevor es dazu kommt, zieht er sich jedes Mal aufs Neue zurück.

Ich lächle. Wenn sein Plan darin besteht, die Spannung zwischen uns ins Unermessliche zu treiben, geht er voll und ganz auf.

Stunden später stolpern wir auf die Straße. Die Schlange vor dem Eingang hat sich mittlerweile aufgelöst, die Luft ist noch einmal kälter geworden, und im Osten kündigt sich mit blassrosa Farben die Morgendämmerung an.

«Komm mit zu mir», flüstert Nate mir zu, schlingt die Arme um meinen Hals und streicht mit der Nasenspitze über meine Wange.

Es ist keine Bitte. Es ist eine Aufforderung – und ich zögere keine Sekunde, ihr nachzukommen. «Ja, gehen wir zu dir.»

Unsere Finger umschließen sich von ganz allein, während wir uns Hand in Hand auf den Weg zur nächsten Tube-Station machen. Auf den Straßen herrscht bereits jede Menge Verkehr. Rote Doppeldeckerbusse, schwarze Taxis und Lieferwagen verstopfen die Adern der Stadt, auf den Gehsteigen eilen Geschäftsleute ihrer Arbeit entgegen, aber hier und da sind auch noch vereinzelte Nachtschwärmer unterwegs.

«Wie kommt ein Junge aus Arkansas nach London?», fragt Nate.

Im Vergleich zu unserem Gespräch im Comptons finde ich es jetzt deutlich weniger schlimm, mit ihm über meine Vergangenheit zu sprechen. Als hätten die letzten Stunden und die gemeinsame Zeit meine Abwehrmechanismen dahinschmelzen lassen. «Ich wollte schon immer weg von zu Hause», sage ich. «Solange ich zurückdenken kann.»

«Was du ganz offenbar geschafft hast.»

«Ja. Aber es war ein ziemlich weiter Weg.»

«Und wie?»

«Wie was?»

«Wie hast du es geschafft?»

Ich lasse seine Frage auf mich wirken. «Das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte, war das hier», antworte ich schließlich und tippe mir mit der freien Hand an den Kopf. «Ich war gut in der Schule. Ich habe mich angestrengt. Während die anderen Football gespielt haben, saß ich stundenlang in der Schulbibliothek. Und dann gab es da eine Lehrerin, Mrs. Wesley, die Potenzial in mir gesehen hat und mich unterstützt hat. Mit ihrer Hilfe habe ich ein paar Jahre später die Möglichkeit bekommen, mich auf ein Stipendium zu bewerben.» Ich seufze. «Du hast ja keine Ahnung, wie aufgeregt ich vor dem Eignungstest war. Es war der Moment, auf den ich so lange hingearbeitet habe. Es war meine große Chance. Und die habe ich genutzt. Ich habe den Test bestanden und das Stipendium bekommen.»

Mittlerweile haben wir die Tube-Station erreicht. Während wir auf die nächste Bahn warten, lassen wir uns nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Niemand um uns herum nimmt auch nur die geringste Notiz von uns. Aber dann, ganz plötzlich, taucht auf der anderen Seite des Bahnsteigs eine Gruppe von Jugendlichen auf, die laut grölend in unsere Richtung gestolpert kommt. Wie von der Tarantel gestochen, ziehe ich meine Hand zurück – und verfluche mich noch im selben Moment dafür. Wäre ich mit einer Frau hier, hätte ich ihre Hand bestimmt nicht losgelassen. Und ob ich hier mit einer Frau oder einem Kerl stehe, sollte keinen Unterschied machen. Aber irgendwie tut es das leider doch.

Nate betrachtet mich aufmerksam, sagt aber nichts. Er macht auch keine Anstalten, ein weiteres Mal nach meiner Hand zu greifen. Als würde er befürchten, mich damit in Verlegenheit zu bringen. Schweigend warten wir, bis die nächste Bahn einfährt, und zwängen uns zusammen mit den Berufspendlern in den Waggon. Nach ein paar Sekunden sind die Jugendlichen aus unserem Blickfeld verschwunden.

Vom Leicester Square fahren wir mit der Piccadilly Line nach Westen, passieren die Haltestellen Piccadilly Circus und Hyde Park Corner. Dann kündigt eine helle Stimme Knightsbridge an.

«Da wären wir», sagt Nate, und wir steigen aus.

Spätestens, als wir ins Freie treten, ist mein Ärger wieder verraucht. Das Stadtbild, das sich uns bietet, ist ganz anders als das in Soho. Die Straßen sind sauber, die Häuser prächtig, die kleinen Vorgärten gepflegt. Wer immer hier lebt, hat Geld. Eine Menge Geld.

«Sieht ziemlich teuer aus», stelle ich überflüssigerweise fest.

«Ja, ist es auch», bestätigt Nate schulterzuckend. «Die Leute, die hier leben, haben mehr Geld, als sie in ihrem Leben ausgeben können. Aber glücklicher sind sie deswegen nicht. Und zu etwas Besserem macht es sie schon lange nicht. Komm, wir sind jetzt fast da.»

Auf den Straßen sind nur wenige Menschen unterwegs. Alles wirkt ruhig und friedlich. Nach ein paar Minuten bleiben wir vor einem großen, weiß gestrichenen Haus stehen.

Nate steigt die marmornen Stufen zu einer Doppelflügeltür nach oben. Direkt neben der Tür befindet sich ein kleines Zahlenfeld, in das er einen achtstelligen Code eingibt. Als er bemerkt, dass ich keine Anstalten mache, mich von der Stelle zu rühren, dreht er sich zu mir herum. «Was ist?»

Mir liegen so viele Fragen auf der Zunge, dass ich überhaupt nicht wüsste, wo ich anfangen soll. Vielleicht, warum der Türsteher uns einfach so in den Club gelassen hat? Oder was zum Teufel seine Eltern arbeiten, um sich so ein Haus leisten zu können? Oder …? So schwer es mir auch fällt, ich schlucke die Fragen schnell wieder hinunter. Weil das hier ein One-Night-Stand ist. Nicht mehr.

«Hoffentlich macht der Butler jetzt gleich kein schockiertes Gesicht», sage ich nur halb im Scherz und folge ihm nach oben.

Nate grinst. «Es gibt keinen Butler. Und wenn es einen gäbe, würde ich es darauf ankommen lassen.» Er zwinkert mir zu, dann wird er wieder ernst. «Keine Sorge. Es ist niemand da. Deswegen wird auch niemand ein schockiertes Gesicht machen.»

Mit der Fußspitze stößt er die Tür auf, und Sekunden später finde ich mich in einer schwarz-weiß-gekachelten Eingangshalle wieder. Das ist alles, was ich auf die Schnelle sehe. Denn kaum, dass die Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist, zieht Nate mich bereits zu sich heran.

«Das wollte ich schon die ganze Nacht lang tun», flüstert er und beugt zu sich mir.

Die Hitze, die von ihm ausgeht, raubt mir die Luft. Wir küssen uns schnell, fordernd und leidenschaftlich. Ich öffne meinen Mund für seine Zunge und umfasse seinen Hintern mit meinen Händen. Nate gibt einen tiefen, lustvollen Laut von sich und drückt mich gegen die Wand neben der Tür.

«Ich will dich», hauche ich zwischen zwei Küssen.

Nate lächelt und fährt mir mit dem Daumen über die Lippen. «Was genau?»

«Dich», wiederhole ich. «Dich, dich, dich.»

«Wenn das so ist, gehen wir besser nach oben.»

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

Von der Eingangshalle führt eine breite, mit einem purpurroten Läufer bedeckte Treppe in die oberen Stockwerke. An den Wänden hängen goldgerahmte Gemälde, Öl auf Leinwand, die offenbar schon lange verstorbene Familienmitglieder zeigen. Unter ihren strengen Blicken erreichen wir Nates Zimmer.

«Lucas.» Er zieht die Tür hinter uns zu und fährt mir mit den Händen durch die Haare. Sein warmer Atem kitzelt wie eine Feder auf meiner Haut. Dann küsst er mich ein weiteres Mal. Unsere Zungen umspielen sich und … Gott, Nate weiß, was er tut. Er weiß verdammt noch mal ganz genau,was er tut.

Von meinen Haaren wandern seine Hände über meine Schultern, meine Brust und meinen Bauch. Schließlich legt er eine von ihnen auf meinen Schritt und drückt zu. Ich stöhne unter der Berührung. Genieße es, wie er über dem Stoff meiner Hose an meiner Erektion entlangfährt.

Wenn wir doch nur schon nackt wären.

Wenn ich seine Haut doch nur schon auf meiner spüren könnte.

Ich spreize die Beine etwas, und sein Griff umschließt mich jetzt fast ganz.

«Ist das gut?», flüstert er und beißt mir ins Ohrläppchen.

«Ja, ist es. Mach weiter.»

Statt meiner Bitte nachzukommen, legt er die Hand, die mich gerade eben noch gestreichelt hat, auf meinen Hintern. Ich schiebe ihm meine Hüfte entgegen und spüre, dass er ebenso hart ist wie ich.

«Komm mit», weist er mich an, gibt mir noch einen letzten, innigen Kuss und führt mich zum Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.

Durch die hohen Fenster fällt schwaches Sonnenlicht. Flüchtig nehme ich ein Bücherregal wahr und einen Schreibtisch mit verschnörkelten Beinen, der ebenso gut in einem Antiquitätenladen stehen könnte. Nichts an diesem Zimmer weist darauf hin, dass hier ein Kerl Anfang zwanzig wohnt. Aber spätestens, als wir sein Bett erreichen und Nate sich an der Schnalle meines Gürtels zu schaffen macht, ist mir sein Zimmer vollkommen egal.

Sein Atem an meinem Hals. Seine Lippen auf meiner Haut. Seine Hände, die den Gürtel aus dem Bund ziehen, langsam einen Knopf nach dem anderen öffnen und vorsichtig unter den Bund meiner Boxershorts gleiten.

Ich stöhne und kralle mich an seinem T-Shirt fest, während seine Finger erst über meine Eichel fahren und dann meine Hoden umschließen.

«Bitte, mach weiter», sage ich erneut, und diesmal kommt er meiner Bitte nach.

Ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Hätte mir irgendjemand heute Nachmittag gesagt, dass ich die Nacht mit einem Typen wie Nate verbringen würde, hätte ich das als schlechten Witz abgetan.

Aber Nate ist hier. Ich bin hier. Und ich genieße jede Sekunde.

«Du bist so hart», stellt Nate fest.

«Wundert dich das?», entgegne ich, lasse meine Hände über seinen Rücken wandern und ziehe ihm in einer fließenden Bewegung das T-Shirt über den Kopf.

Er ist nicht aufgepumpt wie jemand, der fünfmal die Woche im Fitnessstudio Gewichte stemmt, sondern athletisch, mit einer wohlgeformten Brust und einem schlanken Bauch. Am liebsten würde ich jeden Millimeter seiner Haut mit meiner Zunge erkunden.

Seine Hände umfassen meine Schultern und drücken mich aufs Bett. Als ich Anstalten mache, ihm die Hose zu öffnen, umfasst er meine Hand und legt sie zwischen meine Beine. Mit einem Kopfnicken bedeutet er mir, dass ich weitermachen soll, wo er gerade eben aufgehört hat. Und während er in quälender Langsamkeit erst seine Hose abstreift und sich seine weißen Boxerbriefs auszieht, bis er schließlich komplett nackt vor mir steht, mache ich auch genau das.

Nate tritt auf mich zu, und ich sehe zu ihm auf. Ich will ihn bereits in die Hand nehmen, aber jetzt beginnt er damit, mir meine verbliebenen Kleidungsstücke auszuziehen. Die ganze Zeit über wechseln wir kein Wort. Alles, was in der Stille des Zimmers zu hören ist, sind unsere schnellen, tiefen Atemzüge.

Sobald ich komplett nackt bin, rutschen wir von der unteren Bettkante nach oben. Mit seinem Knie schiebt Nate meine Beine auseinander und legt sich auf mich. Ich genieße sein Gewicht auf meinem Körper, winkle die Beine an und verschränke sie über seinem Hintern. Nate entfährt ein tiefes Keuchen.

«Du sagst Bescheid, wenn ich etwas tue, das du nicht möchtest.»

«Ich glaube, dass du heute Nacht fast alles mit mir tun kannst», gebe ich zurück.

Mit seiner Nase stupst Nate gegen meine. «Im Ernst. Ich will, dass du das hier genießt.»

«Wenn du etwas tust, das ich nicht möchte, lasse ich es dich wissen, okay?» Ich streiche ihm ein paar Haare aus der Stirn und sehe ihm fest in die Augen. «Aber das gilt umgekehrt genauso.»

«Okay.»

Wir schließen die Augen und küssen uns ein weiteres Mal.

Und ich hoffe, nein, ich bin mir sicher, dass mir diese Nacht noch sehr lange in Erinnerung bleiben wird.

«Nathan!» Eine kratzige, tiefe Stimme reißt mich aus dem Schlaf. Sie klingt gedämpft, weit entfernt, kommt mit dem nächsten «Nathan!»-Ruf aber bereitsein bisschen näher.

Ich bin hundemüde, mein Kopf brummt, und ich will einfach nur weiterschlafen. Aber die Stimme macht keine Anstalten zu verstummen.

«Nathan!»

Spätestens jetzt gebe ich die Hoffnung auf, noch ein bisschen Ruhe zu finden. Ich blinzle mehrmals. Das helle Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fällt, brennt wie Feuer in meinen Augen.

«Scheiße.» Langsam rapple ich mich auf. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Zwei andere Dinge weiß ich dafür mit unumstößlicher Sicherheit.

Erstens: Ich befinde mich nicht im Zimmer des Hotels, in dem ich gestern Nachmittag eingecheckt habe.

Zweitens: Die lauter werdende Stimme sucht ganz eindeutig nach Nate. Und der liegt splitterfasernackt neben mir.

«Nate», sage ich, noch immer nicht ganz wach, und rüttle an seiner Schulter. Seine dunkelbraunen Haare fallen ihm ins Gesicht. Bestünde nicht die Gefahr, dass gleich jeden Moment jemand bei uns im Zimmer steht, würde ich sofort da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben. «Nate!»

Er gibt einen undefinierbaren Laut von sich, der mir ein kurzes Schmunzeln entlockt. Ein weiteres «Nathan!» macht mir den Ernst der Lage schnell wieder deutlich.

Hat er nicht gesagt, wir wären allein? Aber wer brüllt dann so laut durchs Haus, als würde es ihm gehören?

«Nate, mach schon, wach auf …», setze ich noch einmal an und jetzt blinzelt er wenigstens. Aber zu spät. Genau in diesem Moment wird die goldene Klinke nach unten gedrückt und die Tür aufgerissen.

«Nathan!»

Völlig entgeistert bleibt ein älterer Mann im Türrahmen stehen. Er hat helle Haut und ist mindestens siebzig, vielleicht sogar schon ein paar Jahre älter. Sein Blick ist glasklar und nimmt alles auf einmal wahr. Das Gleitgel und die benutzten Kondome neben dem Bett; Nate, der sich ganz langsam zu rühren beginnt; und mich, wie ich mir gerade noch so die Decke um die Hüften schlinge, um einen letzten Rest von Privatsphäre zu wahren.

Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Am liebsten würde ich vor Scham im Boden versinken. Gleichzeitig bin ich aber auch wütend. Unfassbar wütend.

Was fällt diesem Kerl ein, einfach so in Nates Zimmer zu stürmen?

«Wer sind Sie?» In der Stimme des Mannes liegt eine tödliche Ruhe. Ich öffne bereits den Mund, um etwas zu erwidern, aber da hebt er die Hand und bedeutet mir, zu schweigen. «Vergessen Sie es. Ich will es überhaupt nicht wissen. Ziehen Sie sich etwas an. Und dann verschwinden Sie aus meinem Haus. Unverzüglich.»

«Fuck, was soll der ganze Lärm?» Nate streckt sich, dreht sich zu mir um und lächelt. Dann fällt sein Blick auf den Mann und von einer Sekunde auf die andere gefriert sein Lächeln. «Arthur, was machst du hier? Ich dachte, du und Margaret kommt erst nächste Woche zurück.»

«Du erfährst noch früh genug, was ich hier mache. Aber jetzt verschwindet erst mal dieser Kerl aus meinem Haus.»

Nate funkelt ihn zornig an. «Ich entscheide, wann dieser Kerl geht.»

«Das ist mein Haus, Nathan. Du entscheidest hier überhaupt nichts.»

Statt weiterer Widerworte rappelt Nate sich auf und tritt dem Mann, noch immer splitterfasernackt, entgegen. Die beiden messen sich mit Blicken. So wie sie sich ansehen, befürchte ich, dass jeden Moment einer von ihnen dem anderen eine schallende Ohrfeige verpasst.

«Schon gut», sage ich, um die Situation zu entschärfen, und schlüpfe in meine Boxershorts, die glücklicherweise direkt neben dem viktorianisch anmutenden Schreibtisch liegen. «Ich sehe zu, dass ich von hier verschwinde.»

Nate dreht sich zu mir um. Er ist noch immer wütend, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich diese Wut nur gegen den alten Mann richtet oder auch gegen mich. Weil ich der Aufforderung Folge leiste, statt mich auf seine Seite zu stellen.

Erst, als ich fertig angezogen bin, sehe ich ihm wieder in die Augen. Das wütende Funkeln ist verschwunden. Dass er jetzt fast ein bisschen resigniert wirkt, versetzt mir einen Stich in die Magengrube. Ich habe nicht gewollt, dass wir ausgerechnet so auseinandergehen. Um ehrlich zu sein, wollte ich heute überhaupt nicht auseinandergehen. Nein, ich hätte mir gewünscht, noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Ihn noch ein bisschen besser kennenzulernen. Ich hatte in den letzten Jahren mehrere One-Night-Stands, aber mit Nate war es irgendwie … anders.

«Ich hoffe, dass du findest, was du suchst», sage ich in Erinnerung daran, was er mir auf der Dachterrasse offenbart hat.

«Sie sollen gehen!», fährt der Mann mich ein weiteres Mal an.

Aber ich ignoriere ihn und spreche einfach weiter. «Nicht nur One-Night-Stands. Sondern auch eine Beziehung.»

Der Mann schnaubt vor Wut. «Haben Sie mich nicht gehört? Wollen Sie, dass ich die Polizei rufe?»

«Keine Sorge, ich bin schon weg», sage ich. Und nach einem allerletzten Blick auf Nate stürme ich aus dem Zimmer.

Erst als die Eingangstür des Hauses hinter mir ins Schloss fällt und ich die kalte Januarluft auf meiner Haut spüre, bleibe ich stehen. Ich bin müde und hellwach zugleich.

Vor allem aber bin ich aufgewühlt.

Was bitte war das eben gerade?

Wer war dieser Mann?

Und was fällt ihm ein, so mit Nate zu sprechen?

Ich drehe mich noch einmal um und betrachte die weiße Fassade. Vermutlich wäre es das Beste, wenn ich so schnell wie möglich das Weite suche. Aber plötzlich kann ich gar nicht anders, als das Handy aus meiner Hosentasche zu ziehen. Ich entsperre den Bildschirm, ignoriere die acht verpassten Anrufe, die drei Nachrichten auf meiner Mailbox und die zehn anderen in WhatsApp. Und tippe Nate Cavendish in die Suchleiste des Browsers ein.

2,9 Millionen Ergebnisse. Okay, das ist eine ganze Menge. Es braucht ein paar Sekunden, bis ich meinen Nate gefunden habe – und jetzt setzt mein Herz für einen Schlag aus.

Sein Name ist Nathan Henry Cavendish. Und er ist der letzte Spross der Cavendish-Familie, einer der wohlhabendsten Familien des Landes.

Aufgeregt klicke ich ein Bild an, auf dem Nate ein paar Jahre jünger ist. Neben ihm steht ein grimmig dreinblickender Mann mit durchgestrecktem Rücken. Laut Bildunterschrift handelt es sich um seinen Großvater. Sir Arthur Cavendish. Es ist derselbe Mann, der mich gerade aus dem Haus geworfen hat. Im Hintergrund des Bildes sind die Schemen des jahrhundertalten Familienstammsitzes zu sehen.

Für ein paar Sekunden betrachte ich Großvater und Enkel. Dann schließe ich den Link und öffne einen anderen Eintrag. Es handelt sich um ein Interview, das die Times vor einem knappen Jahr mit Sir Arthur geführt hat. Anlass des Interviews war sein Ausscheiden aus dem House of Lords, dem Oberhaus. In einem Nebensatz erwähnt Sir Arthur seinen Enkel Nathan, von dem er sich wünscht, dass dieser eines Tages in seine Fußstapfen tritt und die jahrhundertealte Familientradition weiterführt.

Plötzlich finden alle Puzzlestücke den richtigen Platz.

Der Besitzer des Comptons, der Nate so unterwürfig mit Mr. Cavendish, Sir anspricht.

Der Türsteher des Famous, der jemanden wie Nate natürlich nicht in der Warteschlange stehen lässt.

Das Haus in dieser teuren Gegend.

Das alles ergibt jetzt einen Sinn.

«Nate Cavendish», murmle ich, noch immer etwas fassungslos. Atme tief durch. Und nach einem letzten Blick auf das Haus mache ich mich auf den Weg zur nächsten Tube-Station.

Kapitel 4

Nate

Nach allem, was in der letzten Woche passiert ist, wundert es mich nicht, dass Arthur darauf bestanden hat, mich persönlich in Brynmor abzuliefern. So kommt es, dass ich jetzt, an diesem nasskalten Januarmorgen, neben ihm auf der Rückbank des alten Bentleys sitze. Während Gregory, der Chauffeur, den Wagen die gewundene Straße entlangmanövriert, höre ich I was a teenage anarchist über meine Earpods. Die Musik habe ich so laut aufgedreht, dass sie bestimmt im ganzen Auto zu hören ist. Arthur lässt sich davon nichts anmerken. Stattdessen sieht er die ganze Zeit aus dem Fenster, als gäbe es dort, in den schlohweißen Nebelschwaden, irgendetwas Spannendes zu entdecken.

Ich sinke noch etwas tiefer in den Sitz und schließe die Augen. Das Verhältnis zwischen Arthur und mir ist nicht erst angespannt, seit er erfahren hat, dass ich durch mehrere Klausuren gefallen bin – und mich dann auch noch in flagranti mit einem meiner One-Night-Stands erwischt hat. Unser Verhältnis war schon immer angespannt. Ja, er und Margaret haben mir ein Dach über dem Kopf gegeben. Haben mich aufgezogen und auf die besten Schulen des Landes geschickt. Aber einen wirklichen Platz habe ich in ihren Herzen trotzdem nie gehabt.

Unwillkürlich schlage ich die Augen wieder auf und mache die Musik etwas leiser. Nach ein paar Minuten passieren wir eine weitere Hügelkuppe – und am anderen Ende der Straße tauchen die Umrisse von Brynmor auf.

Schicht für Schicht schälen sich die jahrhundertealten Gebäude, die mächtigen Mauern und der hohe Kirchturm aus dem Nebel. Selbst jemand wie ich, der nie hierher wollte, muss zugeben, dass die altehrwürdige Universität ziemlich beeindruckend ist. Auch bei einer Witterung wie dieser.

Ich beuge mich nach vorne, um einen besseren Blick zu erhaschen. Nach und nach erkenne ich auch die anderen Gebäude.

Die gotischen Bauten außerhalb der Klostermauern, in denen sich die Schlafsäle befinden. Den neuen Campus mit seinen Hörsälen, Seminarräumen und Forschungslaboren. Die weitläufigen Sportanlagen, das Rugby- und das Cricket-Feld und den Ort, der mir von allen der liebste ist. Die Schwimmhalle. Dort habe ich im letzten Semester fast jede freie Minute verbracht.

Es dauert nicht lange, bis wir den kreisrunden, mit Kopfstein gepflasterten Platz vor dem Eingangsportal erreichen. Gregory drosselt das Tempo und parkt den Bentley zwischen einem Mercedes-Maybach und einem Jaguar. Kaum, dass er den Motor ausgeschaltet hat, wendet Arthur sich mir zu und tippt sich ans Ohr. Eine unmissverständliche Aufforderung, dass ich meine Earpods rausnehmen soll. Weil ich nicht scharf auf einen weiteren Streit bin und die Verabschiedung einfach nur hinter mich bringen will, schalte ich die Musik aus und lasse die Earpods in einer Seitentasche meiner Lederjacke verschwinden.

«Bringen Sie das Gepäck meines Enkels auf sein Zimmer, Gregory.»

«Ich kann mich selbst darum …»

«Tun Sie, was ich sage», insistiert Arthur, als hätte er mich überhaupt nicht gehört.

«Sehr wohl, Sir.»

Gregory steigt aus und holt mein Gepäck aus dem Kofferraum. Schweigend sehen wir ihm hinterher, bis er auf der anderen Seite des Eingangsportals in einem großen Innenhof verschwunden ist.

Und dann passiert … nichts.

«Wenn du noch etwas loswerden willst, sag es einfach, okay? Ich bin keiner deiner Angestellten, die du mit deinem bohrenden Blick einschüchtern kannst.»

Arthur schweigt noch immer.

«Gut, wenn das alles ist …»

Erst jetzt, als ich meine Hand ausstrecke, um die Tür zu öffnen, stößt Arthur einen frustrierten Seufzer aus. «Nathan, deine Großmutter und ich wollen doch nur das Beste für dich. Warum um alles in der Welt musst du es uns so schwer machen?»

Das Beste? Ernsthaft? «Ich glaube, unsere Vorstellungen, was das Beste für mich ist, gehen ziemlich weit auseinander.»

«Das Beste besteht auf jeden Fall nicht darin, gleich im ersten Semester durch zwei von vier Prüfungen zu fallen und die Ferien damit zu verbringen, irgendwelche Schwulheiten auszuleben.»

Normalerweise sitzt meine Maske wie angegossen. Eine Maske, die ich vielleicht nie gebraucht hätte, wenn ich nicht bei Arthur und Margaret aufgewachsen wäre. Im Laufe der Jahre ist sie zu einer überlebenswichtigen Schutzstrategie geworden. Wie im Comptons kann ich jetzt allerdings nicht verhindern, dass sie ins Rutschen gerät.

«Schwulheiten?», frage ich tonlos.

Arthur verdreht die Augen. «Oder wie immer man das, was du da tust, auch nennen mag.»

«Ich bin pansexuell. Ich fühle mich zu Menschen hingezogen. Was für ein Geschlecht sie haben, spielt für mich keine Rolle.»

«Dann tu deiner Großmutter und mir bitte den Gefallen und fühle dich beim nächsten Mal wieder zu einer Frau hingezogen», sagt er mit einer sogar für seine Verhältnisse ungeheuerlichen Selbstverständlichkeit. Als könnte man Gefühle einfach wie eine Lampe ein- und ausschalten.

Spätestens jetzt halte ich es keine weitere Sekunde mehr im Bentley aus. Bevor Arthur mich zurückhalten kann, stoße ich die Tür auf und trete ins Freie, wo mir augenblicklich frische, salzige Küstenluft in die Nase steigt. Ich atme tief durch und genieße die wenigen Sekunden Stille, die mir bleiben, bis …

«Nathan, ich habe genug von dieser pseudo-rebellischen Phase.» Arthur macht keine Anstalten, um den Bentley herumzulaufen. Stattdessen stützt er sich mit den Unterarmen auf dem glänzend polierten Wagendach ab und sieht mich grimmig an. «Du führst dich schon seit Jahren so auf. Aber seit wir entschieden haben, dass du nach Brynmor gehst, hat dein Verhalten ein Ausmaß angenommen, das ich nicht mehr länger toleriere. Die nicht-bestandenen Klausuren. Dieser Kerl in unserem Stadthaus. Herrgott, sogar diese furchtbare Musik, die du die ganze Zeit hörst, und …»

«… nichts davon ist pseudo-rebellisch», schneide ich ihm das Wort ab. Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, breite ich die Arme aus. «Das bin ich. Das alles bin ich. Dir gefällt nicht, was du siehst? Das ist dein Problem. Nicht meins. So sehr du und Margaret es euch auch wünscht, ich werde mich für euch nicht noch mehr verbiegen. Das habe ich schon getan, indem ich zugestimmt habe, nach Brynmor zu kommen. Aber ich werde nicht versuchen, irgendjemand anderes zu sein. Weder heute noch morgen noch sonst irgendwann. Und früher oder später wird dir keine andere Wahl bleiben, als es akzeptieren.»

Unnachgiebig schüttelt Arthur den Kopf. «Ich bleibe mit Robert in Kontakt. Wenn mir auch nur ein Wort darüber zu Ohren kommt, dass du dich in deinem zweiten Semester mit irgendetwas anderem als mit deinem Studium beschäftigst, wird das ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Und glaub mir, wenn ich das sage, meine ich es auch so.»

Habe ich wirklich gehofft, mit meinen Worten zu ihm durchzudringen? Das hat in der Vergangenheit schon nicht geklappt, warum hätte es also jetzt funktionieren sollen? Nein, um ehrlich zu sein, überrascht mich seine Reaktion kein bisschen. Aber dass er mir mit Robert droht? Robert Bellingham, dem Rektor, der schon seit Jahren in seiner Gunst steht?

Statt etwas zu erwidern, nicke ich nur. Alles, was ich jetzt noch will, ist einen größtmöglichen Abstand zwischen uns zu bringen.

Arthur macht bereits Anstalten, wieder in den Bentley zu steigen, hält dann aber noch einmal inne. «Deine Mutter wollte damals genauso wenig in Brynmor studieren wie du, Nathan …»

Scharf ziehe ich die Luft ein. Wenn er jetzt auch nur ein falsches Wort sagt, laufen wir Gefahr, dass meine Maske nicht nur verrutscht, sondern auf den jahrhundertealten Pflastersteinen landet. Über meine Mutter zu sprechen, ist verdammt dünnes Eis. So dünn, dass ich für nichts garantiere, sollte es brechen.

«… sie hat geglaubt, dass wir sie mit einem Studium hier für ihre Aufsässigkeit bestrafen wollten.» Er schüttelt den Kopf. «Aber das wollten wir nicht. Das wollten wir nie.»

So wie Margaret und er in den letzten Jahren über meine Mutter gesprochen haben, erscheint mir das nur schwer vorstellbar.

«Sonst noch was?» frage ich gepresst.

Arthur schüttelt den Kopf. «Wir haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Beste für dich ist, Nathan. Aber vergiss nicht, dass du ein Cavendish bist. So – und nicht anders – werden wir dich auch immer behandeln.»

Obwohl das neue Semester offiziell erst morgen beginnt, ist auf dem Campus schon eine ganze Menge los. Auf dem Weg zu meinem Zimmer im Westflügel sehe ich Studierende, die sich von ihren Eltern verabschieden oder sich nach den Ferien in den Armen liegen. In den Arkadengängen herrscht ein reges Kommen und Gehen, und die Luft ist von einem lauten Stimmendurcheinander erfüllt.

In Gedanken bin ich noch immer bei meinem Gespräch mit Arthur. Ich achte nicht wirklich darauf, wo ich entlanglaufe, aber meine Füße finden auch so den richtigen Weg. Nachdem ich einen weiteren Torbogen passiert habe, tauchen vor mir eine flach abfallende Wiese und der Westflügel auf.

In den letzten Wochen ist es mir gelungen, Brynmor in die hinterste Ecke meines Verstands zu schieben. Statt mich über die vermasselten Klausuren zu ärgern, bin ich durch London gezogen, habe die Anonymität der Großstadt genossen und die Möglichkeiten, die sich mir dort bieten. Jetzt löst der Anblick des langgezogenen Gebäudes, in dem sich mein Zimmer befindet, ein unerwartet wohliges Gefühl aus. Wenn ich ganz ehrlich bin, war das erste Semester ja nicht nur schlecht. Ich habe viel Zeit in der Schwimmhalle verbracht, habe Zimmerpartys mit meinen Kommilitonen gefeiert und Samuel kennengelernt. Samuel, der sich nicht so für mich interessiert hat, wie ich mich für ihn, aber der im Laufe der Zeit zu einem guten Freund geworden ist.

Das wohlige Gefühl verstärkt sich, als ich ein paar Minuten später die Tür zu meinem Zimmer im ersten Stock öffne. Seit meiner Abreise hat sich hier nichts verändert. Das Bett, der Kleiderschrank aus Eichenholz, der Schreibtisch am Fenster. Alles ist noch genau so, wie ich es zurückgelassen habe. Weil Gregory seinen Job wie immer perfekt gemacht hat, stehen meine Koffer schon neben dem Schreibtisch.

«Willkommen in Brynmor», flüstere ich zu mir selbst.

Gerade, als ich damit anfangen will, meine Sachen auszupacken, höre ich ein Fluchen vom anderen Ende des Gangs.

Neugierig drehe ich mich um. Ich kenne diese Stimme. Ich kenne sie sogar sehr gut.

Ohne lange darüber nachzudenken, setze ich mich in Bewegung. Ich habe keine Ahnung, wie es sein wird, Samuel wiederzusehen. Im letzten Semester hat mein Herz bei jeder unserer Begegnungen ein kleines bisschen schneller geschlagen. Insbesondere bei unserem Gespräch vor der Bibliothek …

Eigentlich waren wir nur verabredet, um eine Präsentation für unser Sportpsychologie-Seminar bei Professor McIntyre vorzubereiten. Aber nachdem Samuel ein paar Tage zuvor im Speisesaal auf einen anderen Studenten losgegangen war, hatten wir ziemlichen Redebedarf. Wir waren so offen und ehrlich zueinander wie nie zuvor. Samuel erzählte mir, nur nach Brynmor gekommen zu sein, um die Unfallumstände seines Bruders aufzuklären. Und ich? Ich verstand ihn. Verstand ihn wirklich. Weil ich aus eigener Erfahrung wusste – und noch immer weiß –, wie es ist, nicht mit der Vergangenheit abschließen zu können.

«Alles in Ordnung?», frage ich und klopfe an Samuels offen stehende Zimmertür.

«Was …? Oh, hi! Ja, alles bestens. Komm doch rein.»

Ich folge seiner Aufforderung und trete ein. In der Mitte des Zimmers beugt sich Samuel gerade über einen großen, an mehreren Stellen geflickten Reiserucksack. Offenbar ist eine Naht gerissen. Auf dem Boden liegen Pullover, mehrere Jeans und Sportklamotten.

Als sich unsere Blicke treffen, beginnt Samuel zu lächeln und richtet sich auf. Die blonden Haare, die dunkelgrünen Augen, das kleine Grübchen am Kinn. Er sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Nur eine Sache ist anders, und die hat nichts mit ihm zu tun, sondern mit mir. Mein Herz schlägt ganz normal. Offenbar haben mir meine One-Night-Stands also über ihn hinweggeholfen.

«Warte, ich helfe dir.»

Samuel nimmt mein Angebot mit einem Nicken entgegen. «Werfen wir die Sachen erst mal aufs Bett. Ich kümmere mich dann später drum.»

«Bist du auch gerade eben angekommen?», frage ich, während ich mir ein paar Trainingsklamotten schnappe.

«Ich bin schon seit ein paar Stunden da.» Samuel errötet etwas. «Aber bis gerade eben war ich noch bei Connor.»

Ich grinse. Na klar, wo auch sonst? «Hattet ihr schöne Semesterferien?»