Buddhismus für Dummies - Jonathan Landaw - E-Book

Buddhismus für Dummies E-Book

Jonathan Landaw

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Beschreibung

Der Dalai Lama ist Kult und in der Nähe von Bordeaux scharen sich die Anhänger um Tich Nhat Hanh. Was macht den Buddhismus für viele so faszinierend? Jonathan Landaw und Stephan Bodian führen leicht verständlich in diese fernöstliche Lehre ein. Sie berichten vom Leben des historischen Buddha und von den unterschiedlichen Traditionen, die sich über die Jahrhunderte entwickelt haben. Die Leser erfahren, was es mit dem Kleinen (Hinayana) und dem Großen Fahrzeug (Mahayana) auf sich hat, wie sich der Zen-Buddhismus von der tibetanischen Schule unterscheidet und wie sich diese Lehre friedlich über ganz Asien verbreitet hat. Doch wer ein achtsames Leben im Sinne des Buddha führen möchte, muss nicht in Indien, Tibet, Thailand oder Burma leben. Die Autoren zeigen, wie der Buddhismus unseren Alltag bereichern kann und dass es auch in westlichen Kulturen möglich ist, dem Pfad der Erleuchtung zu folgen.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d‐nb.de abrufbar.

2. Auflage 2017

© 2017 WILEY‐VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Original English language edition © 2003 by Wiley Publishing, Inc.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This translation published by arrangement with John Wiley and Sons, Inc.

Copyright der englischsprachigen Originalausgabe © 2003 by Wiley Publishing, Inc.

Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechtes auf Reproduktion im Ganzen oder in Teilen und in jeglicher Form. Diese Übersetzung wird mit Genehmigung von John Wiley and Sons, Inc. publiziert.

Wiley, the Wiley logo, Für Dummies, the Dummies Man logo, and related trademarks and trade dress are trademarks or registered trademarks of John Wiley & Sons, Inc. and/or its affiliates, in the United States and other countries. Used by permission.

Wiley, die Bezeichnung »Für Dummies«, das Dummies‐Mann‐Logo und darauf bezogene Gestaltungen sind Marken oder eingetragene Marken von John Wiley & Sons, Inc., USA, Deutschland und in anderen Ländern.

Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie eventuelle Druckfehler keine Haftung.

Coverfoto: © iStock.com/LP7

Korrektur: Petra Heubach‐Erdmann, Düsseldorf

Satz: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

Print ISBN: 978‐3‐527‐71391‐2

ePub ISBN: 978‐3‐527‐81013‐0

mobi ISBN: 978‐3‐527‐81014‐7

Über die Autoren

Jonathan Landaw wurde 1944 in Paterson, New Jersey, geboren und besuchte das Dartmouth College in New Hampshire. Dort belegte er unter anderem einen Kurs über asiatische Religionen, der von Professor Wing‐tsit Chan, einem der führenden Experten auf dem Gebiet des chinesischen Denkens, abgehalten wurde. Dieser Kurs war Jon Landaws erster Kontakt mit den Lehren des Ostens und weckte sein lebenslanges Interesse am Buddhismus. Dieses Interesse ruhte, während Jon Landaw an der University of California in Berkeley englische Literatur studierte und danach im Dienst des amerikanischen Peace Corps im Iran drei Jahre Englisch unterrichtete.

Nicht lange nach seinem Dienst im Peace Corps lebte er wieder in Übersee, und zwar in Nordindien und Nepal, wo er den größten Teil der 1970er Jahre blieb. Dort lernte er zum ersten Mal die gelebte Tradition des Buddhismus kennen und wurde von ihr inspiriert. Diese Tradition war von den Flüchtlingen erhalten worden, die vor der chinesischen Unterdrückung aus Tibet geflohen waren. 1972 widmete sich Jon ganz dem Buddhismus und arbeitete als englischer Lektor der Texte, die vom Übersetzungsbüro seiner Heiligkeit des Dalai Lama von der Library of Tibetan Works and Archives in Dharamsala, Indien, herausgegeben wurden. Obwohl er während dieser Zeit auch in anderen Traditionen des Buddhismus unterrichtet wurde, leiteten vor allem tibetanische Lamas sein Studium an, insbesondere Geshe Ngawang Dhargyey (1925–1995), Lama Thubten Yeshe (1935–1984) und Lama Zopa Rinpoche.

Im Jahre 1977 kehrt Jon Landaw in den Westen zurück. Doch er hat Indien und Nepal seitdem immer wieder besucht. Er lebte zunächst in England und den Niederlanden und wohnt heute in den Vereinigten Staaten. Seine Studien des Buddhismus und seine Arbeit als Lektor buddhistischer Bücher hat er fortgesetzt. Außerdem hat er Bücher geschrieben, wie etwa Prince Siddhartha (deutsch Prinz Siddhartha), eine Erzählung der Lebensgeschichte des Buddha speziell für Kinder, und Images of Enlightenment (deutsch Bilder des Erwachens), eine Einführung in die heilige Kunst von Tibet. Außerdem hält er seit mehr als 25 Jahren in buddhistischen Zentren auf der ganzen Welt Meditationskurse ab. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Capitola in Kalifornien.

Stephan Bodian begann 1969 Zen‐Meditation zu praktizieren und wurde 1974 als Mönch ordiniert, nachdem er an der Columbia University Buddhismus und andere asiatische Religionen studiert hatte. Er hatte das große Glück, unter der Anleitung mehrerer Zen‐Meister zu studieren, darunter Shunryu Suzuki Roshi, Kobun Chino Roshi und Taizan Maezumi Roshi. Nach einer Zeit als Vorstand und Schulungsleiter am Zen Center of Los Angeles gab er 1982 sein mönchisches Leben auf, um Psychologie zu studieren. Kurz danach heiratete er und gründete eine Familie.

Er setzte seine spirituellen Übungen fort und studierte bei mehreren tibetanischen Lehrern, darunter Sogyal Rinpoche und Namkhai Norbu Rinpoche. 1988 traf er seinen Guru Jean Klein, einen Meister des Advaita‐Vedanta‐ und Kashmiri‐Yoga, bei dem er zehn Jahre verbrachte, um die Natur der Wahrheit zu erforschen. Später vollendete Stephan Bodian seine Zen‐Schulung und erhielt von seinem Lehrer Adyashanti, dessen Linie bis auf den historischen Buddha zurückgeht, die »Dharma‐Übertragung« (Lehrberechtigung).

Stephan Bodian hat mehrere Bücher geschrieben, darunter Meditation für Dummies, sowie zahlreiche Zeitschriftenaufsätze verfasst und arbeitete zehn Jahre als Cheflektor der Zeitschrift Yoga Journal. Zurzeit praktiziert er als Psychotherapeut, arbeitet als persönlicher Coach, als Fachlektor und spiritueller Berater und führt Intensivkurse und Retreats über spirituelles Erwachen durch.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Schummelseite

Titel

Impressum

Über den Autor

Einführung

Teil I: Einführung in den Buddhismus

Kapitel 1: Was Buddhismus ist

Ist der Buddhismus eine Religion?

Die Rolle des Buddha erkennen: Der Erwachte

Die Philosophie des Buddhismus verstehen

Die Praxis des Buddhismus richtig einschätzen

Das Leben dem Wohle aller Wesen widmen

Kapitel 2: Den Geist verstehen: den Schöpfer aller Erfahrung

Erkennen, wie der Geist die Erfahrung formt

Ein Vergleich von Körper und Geist

Sich dem Geist aus drei verschiedenen buddhistischen Perspektiven annähern

Einige Funktionen des Geistes identifizieren

Die grundlegende Reinheit Ihres Geistes verstehen

Den Pfad der Weisheit und des liebenden Mitgefühls nachvollziehen

Teil II: Der Buddhismus früher und heute

Kapitel 3: Das Leben und die Lehren des historischen Buddha

Buddhas frühes Leben

Der Beginn der Suche

Das Sitzen im Schatten des alten Bodhi‐Baums: Der Sieg über Mara

Zum Wohle anderer leben: Die Karriere des Buddha

Ein Blick in die Zukunft

Die Vier Edlen Wahrheiten verstehen

Kapitel 4: Die Entwicklung des Buddhismus in Indien

Die Einberufung des Ersten buddhistischen Konzils

Die friedliche Verbreitung der Lehren

Der Weg gabelt sich: Eine Spaltung der buddhistischen Gemeinde

Der Buddhismus als Volksreligion: König Ashokas Einfluss

Zwei Stufen der Praxis im frühen Buddhismus

Wechselnde Loyalitäten und neue Ideale

Der Aufstieg der Mahayana‐Lehren

Die Hauptthemen des Mahayana‐Buddhismus

Der Buddhismus außerhalb von Indien

Kapitel 5: Die Entwicklung des Buddhismus bis heute

Die beiden Routen des Buddhismus

Die Verbreitung des Wegs der Älteren über Südostasien in den Westen

Der Weg des Großen Fahrzeugs nach China und darüber hinaus

Eine Chronik der Reines‐Land‐ und anderer devotionaler Schulen

Teil III: Buddhismus in der Praxis

Kapitel 6: Buddhist werden

Im eigenen Tempo vorangehen

Den Dharma kennenlernen

Sich formell zum Buddhismus bekennen

Den Weg als Mönch beschreiten

Kapitel 7: Meditation: Die zentrale Praxis des Buddhismus

Einige Meditationsmythen ausräumen

Eine Definition der Meditation

Die Vorteile der Meditation

Die dreifache Natur der buddhistischen Meditation

Die Entwicklung der drei Weisheiten als Basis der Einsicht

Kapitel 8: Ein Tag im Leben eines Buddhisten

Die Rolle der Klöster im Buddhismus

Weltliche Bindungen aufgeben: Ein Tag im Leben eines buddhistischen Mönches im Westen

Einen Lotos im Sumpf heranziehen: Ein Tag im Leben eines Zen‐Praktikers

Sich den Drei Juwelen hingeben: Ein Tag im Leben eines Vajrayana‐Praktikers

Dem Geist von Amida vertrauen: ein Tag im Leben eines Reines‐Land‐Buddhisten

Kapitel 9: Auf den Spuren von Buddha

Die Hauptorte der Wallfahrt

Andere wichtige Pilgerstätten

Heute auf Wallfahrt gehen

Teil IV: Den buddhistischen Weg gehen

Kapitel 10: Was ist eigentlich Erleuchtung?

Die vielen Facetten der spirituellen Verwirklichung

Das Nirvana in der Theravada‐Tradition

Zwei Traditionen der Weisheit

Die Verwirklichung der wesentlichen Reinheit des Geistes in der Vajrayana‐Tradition

Zen: Das Nirvana auf den Kopf gestellt

Die gemeinsamen Aspekte der buddhistischen Erleuchtung

Kapitel 11: Eine Frage von Leben und Tod

Den Tod persönlich nehmen

Das Leben als seltene und wertvolle Gelegenheit begreifen

Sich der Wirklichkeit stellen: Die neun Stufen der Todesmeditation

Das Ergebnis der Todesmeditation ernten

Verschiedene buddhistische Einstellungen zum Tod

Mit dem Tod eines geliebten Menschen umgehen

Kapitel 12: Das eigene Karma ins Reine bringen

Das Gesetz des Karmas: Ursache und Wirkung

Karmische Konsequenzen erfahren

Buddhas ethischer Führung folgen

Die buddhistischen Verhaltensgebote

Mit Verstößen umgehen

Kapitel 13: Den Zyklus der Unzufriedenheit durchbrechen

Das Leben als Tretmühle

Das Rad des Lebens drehen: Das Wandern im Samsara

Das Leiden durchschneiden: Die drei Schulungen

Kapitel 14: Ihr höchstes Potenzial erfüllen

Eine Runde Glück für alles und jeden ausgeben

Sein Herz anderen widmen

Die Vier Göttlichen Verweilungszustände kultivieren

Die Sechs Vollkommenheiten eines Bodhisattvas kultivieren

Kapitel 15: Vier moderne buddhistische Meister

Dipa Ma (1911–1989)

Ajahn Chah (1918–1992)

Thich Nhat Hanh (geboren 1926)

Der Dalai Lama (geboren 1935)

Teil V: Der Top‐Ten‐Teil

Kapitel 16: Zehn Missverständnisse über den Buddhismus

Buddhismus ist nur etwas für Asiaten

Für Buddhisten ist Buddha Gott

Buddhisten sind Götzendiener

Weil Buddhisten glauben, Leben sei Leiden, freuen sie sich aufs Sterben

Buddhisten halten alles für eine Illusion

Buddhisten glauben an nichts

Nur Buddhisten können den Buddhismus praktizieren

Buddhisten sind nur an der Nabelschau interessiert

Buddhisten werden niemals wütend

»Das ist nur Ihr Karma; es gibt nichts, was Sie dagegen tun können«

Kapitel 17: Zehn Möglichkeiten, wie der Buddhismus im Leben helfen kann

Eine Auffrischung der Prinzipien

Die grundlegenden Prinzipien anwenden

Das Konkrete aufbrechen

Vorgeben, ein Buddha zu sein

Ihrem Auto beim Rosten zuschauen

Erkennen: Was Ihnen gehört, ist nicht wirklich Ihr Besitz

Mitleid mit einem Dieb empfinden

Bei Schmerzen nicht in Selbstmitleid versinken

Den Projektor abschalten

Mit ungebetenen Hausgästen umgehen

Kapitel 18: Zehn Buddhisten, die Sie kennen sollten

Nagarjuna

Asanga

Buddhaghosa

Bodhidharma

Shantideva

Padmasambhava

Atisha

Machig Labdron

Dogen

Dr. Ambedkar

Anhänge

A Ein Glossar nützlicher buddhistischer Begriffe

B Weitere Quellen zum Buddhismus

Das Leben des Buddha

Alte und neue buddhistische Klassiker

Moderne Meister

Sozial engagierter Buddhismus

Stichwortverzeichnis

Eula

Einführung

Der Buddhismus ist heute viel bekannter als bei unserem ersten Kontakt mit dieser Lehre vor mehr als 30 Jahren. Heute stehen Dutzende von Büchern über den Buddhismus in den Regalen der Buchhandlungen. In Deutschland gibt es zahlreiche buddhistische Zentren der verschiedenen buddhistischen Traditionen (siehe www.buddhismus.de/zentren.htm). Auch die breite Öffentlichkeit scheint den Buddhismus allmählich zu akzeptieren.

Doch trotz dieser gestiegenen öffentlichen Wahrnehmung des Buddhismus fragen wir uns immer noch, wie viel die Allgemeinheit tatsächlich über den Buddhismus weiß und von ihm versteht. Trotz der zahlreichen Bücher über das Thema glauben wir, dass abgesehen von den Leuten, die ihr Interesse ziemlich ernst verfolgt haben, die meisten immer noch keine klare Vorstellung davon haben, worum es im Buddhismus geht.

Über dieses Buch

Was können Sie also tun, wenn Sie mehr über den Buddhismus im Allgemeinen wissen wollen, aber die Bücher, die Sie sich bis jetzt angeschaut haben, das Thema zu eng behandeln und beispielsweise nur eine bestimmte Schule, einen bestimmten Aspekt oder eine bestimmte Praxis behandeln und Sie nicht bereit sind, in Ihrem lokalen buddhistischen Zentrum einen Kurs zu belegen (vorausgesetzt, es gibt ein solches Zentrum)? Nun, das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, könnte genau das sein, was Sie suchen.

In diesem Buch versuchen wir, die Hauptthemen und Strömungen des Buddhismus zu behandeln, ohne Sie mit zu vielen technischen Fachbegriffen zu überfordern. (Wenn wir technische Begriffe verwenden, erklären wir sie so klar und treffend wie möglich. Mit einem zusätzlichen Glossar können Sie sogar Ihr Gedächtnis auffrischen.) Wir sind überzeugt, dass Buddha seine Lehren als praktische Ratschläge verstanden wissen wollte, die auch heute nach 2.500 Jahren für das menschliche Leben noch genau so aktuell wie damals sind. Deshalb haben wir versucht, den Buddhismus nicht nur rein theoretisch zu beschreiben, sondern Ihnen zu zeigen, wie Sie seine Einsichten in Ihrem täglichen Leben anwenden können.

Konventionen in diesem Buch

Falls die geschichtlichen Daten in diesem Buch von den Daten in anderen Büchern über den Buddhismus abweichen, sollten Sie sich darüber keine Gedanken machen. Die Historiker sind sich über viele dieser Daten uneins, und deshalb haben wir einfach die Daten gewählt, die uns am plausibelsten erschienen.

In diesem Buch zitieren wir immer wieder (hoffentlich nicht zu oft) technische buddhistische Begriffe und Eigennamen aus den altindischen Sprachen Pali und Sanskrit (in denen die buddhistischen Lehren zuerst niedergeschrieben wurden) sowie aus diversen anderen asiatischen Sprachen wie Chinesisch, Japanisch und Tibetisch. Dabei haben wir die Schreibweise dieser Wörter möglichst so vereinfacht, dass sie ungefähr ihrer Aussprache entspricht, und wir haben die meisten Markierungen weggelassen, mit denen Sprachgelehrte diese Wörter üblicherweise mit dem lateinischen Alphabet schreiben. Falls Fachleute dieses Buch lesen, sollten sie diese Begriffe mühelos erkennen können, auch wenn sie nicht die üblichen Markierungen enthalten; unsere Meinung nach ist die einfachere, klarere Darstellung für alle anderen Leser benutzerfreundlicher.

Wie dieses Buch aufgebaut ist

Der Buddhismus ist ein riesiges Thema. Schon Buddhas eigene Lehren sind umfangreich (deren Übersetzung füllt allein über 100 Bände). Nach Buddha fügten zahlreiche Kommentatoren in Indien und anderen Ländern ihre eigenen Gedanken und Interpretationen hinzu. Dadurch entstand eine große Sammlung von Schriften und entwickelten sich unterschiedliche buddhistische Schulen und Traditionen. Außerdem entstanden bei der weiteren Verbreitung des Buddhismus von Land zu Land weitere Spielarten der Lehre. Beispielsweise unterscheidet sich der Buddhismus in Japan von dem Buddhismus in Thailand; und selbst in Japan gibt es unterschiedliche Formen der buddhistischen Praxis.

In diesem einführenden Werk konnten wir unmöglich all diesen verschiedenen Aspekten des buddhistischen Denkens und der buddhistischen Praxis gerecht werden. Stattdessen kombinieren wir einen allgemeinen Überblick über die unterschiedlichen Traditionen und Schulen mit einer tiefer gehenden Behandlung der wichtigsten Themen, die den Buddhismus insgesamt charakterisieren. In Anhang B finden Sie anhand der empfohlenen Literatur und anderen Ressourcen Verweise auf die Aspekte des Buddhismus, die Sie näher erforschen wollen. Um unsere Darstellung so klar und nützlich wie möglich zu gestalten, haben wir die Themen in die folgenden, jeweils ein übergreifendes Thema umfassenden Teile gegliedert:

Teil I: Einführung in den Buddhismus

Wir beginnen mit einem Überblick über den Buddhismus insgesamt und zeigen, wie er zugleich als Religion, als Lebensphilosophie und als praktische Lebenshilfe aufgefasst werden kann. Da der Geist im Buddhismus eine zentrale Rolle spielt, beschreiben wir dann, wie der Geist sowohl Glück als auch Leiden erzeugt, und wie Sie durch die zentralen buddhistischen Praktiken der Erkenntnis und des Mitgefühls in Kontakt mit Ihren spirituellen Ressourcen kommen können.

Teil II: Buddhismus einst und heute

Geschichte muss nicht langweilig sein, insbesondere wenn sie sich mit dem Leben und den Taten außerordentlicher Menschen befasst. In diesem Teil betrachten wir die Geschichte des Buddhismus. Wir beginnen mit dem Leben seines Begründers Shakyamuni Buddha und einer Zusammenfassung seiner frühesten und grundlegendsten Lehren. Danach untersuchen wir, wie sich der Buddhismus in Indien entwickelt und von dort weiter von Land zu Land über Asien verbreitet hat. Schließlich zeigen wir Ihnen, wie sich Theravada‐, Vajrayana‐ und Zen‐Buddhismus zu den drei führenden buddhistischen Traditionen entwickelt haben, die im Westen praktiziert werden.

Teil III: Buddhismus in der Praxis

In diesem Teil beantworten wir einige praktische Fragen: Wie wird man Buddhist? Was gehört zum Wesen eines Buddhisten? Wie beeinflusst der Buddhismus Ihren Lebensalltag? Kurz gefragt: Was machen Buddhisten tatsächlich? Um diese Fragen zu beantworten, betrachten wir, welchen Nutzen Leute aus den Angeboten des Buddhismus ziehen können. Wir erforschen die Meditation und zeigen Ihnen einige Meditationsübungen. Dann untersuchen wir, wie Anhänger der verschiedenen Traditionen den Buddhismus in ihren Alltag integrieren. Zum Schluss beschreiben wir die hauptsächlichen buddhistischen Pilgerstätten.

Teil IV: Den buddhistischen Weg gehen

Buddhas Lehren sind umfangreich und enthalten viele verschiedene Praktiken. In diesem Teil zeigen wir Ihnen, wie all diese unterschiedlichen Methoden zusammenpassen. Wir untersuchen die verschiedenen Interpretationen der Erleuchtung (Erwachung ist die korrekte Übersetzung des Pali‐Begriffs und trifft auch eher das, was der Buddhismus mitteilen möchte) und zeigen Ihnen, wie Sie die buddhistischen Lehren auf jeder Stufe des spirituellen Weges anwenden können. Schließlich beschreiben wir, wie sich die Erleuchtung im Leben von vier zeitgenössischen buddhistischen Meistern zeigt.

Teil V: Der Top‐Ten‐Teil

Wenn Sie Informationen gerne in mundgerechten, leicht verdaulichen Portionen serviert bekommen, sind Sie in diesem Teil genau richtig. Wir behandeln zehn verbreitete Missverständnisse über den Buddhismus (und versuchen, sie aufzuklären), zeigen zehn Methoden, um buddhistische Erkenntnisse im Alltag anzuwenden, und liefern Ihnen dann noch zehn Kurzbiografien älterer und jüngerer buddhistischer Meister.

Teil VI: Anhänge

Schließlich geben wir Ihnen in den Anhängen einige Informationen, die Ihnen helfen sollen, den Buddhismus besser zu verstehen und einzuschätzen. Sie finden dort ein Glossar mit vielen der gebräuchlichsten buddhistischen Begriffe sowie eine Liste mit Quellen, die Sie heranziehen können, wenn Sie mehr über die verschiedenen Aspekte des Buddhismus erfahren wollen, die Sie in diesem Buch kennenlernen.

Symbole, die in diesem Buch verwendet werden

Um Ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Informationen zu lenken, die wir für besonders wichtig oder interessant halten, verwenden wir in dem Text die folgenden Symbole:

Dieses Symbol kennzeichnet Vorschläge, wie Sie den jeweils behandelten Aspekt des Buddhismus besser verstehen können.

Dieses Symbol kennzeichnet Informationen, die zu wiederholen sich lohnt. Wir verwenden dieses Symbol, um einen Gedanken herauszuheben, der an anderer Stelle in dem Buch ausgedrückt wurde, oder um einfach auf etwas besonders Wichtiges hinzuweisen, das Sie sich unserer Meinung einprägen sollten.

Lassen Sie sich durch dieses Symbol nicht unnötig erschrecken. Wir wollen damit Ihre Aufmerksamkeit auf Punkte lenken, bei denen es leicht zu Missverständnissen kommen kann, damit Sie diese vermeiden.

Dieses Symbol kennzeichnet Zitate von berühmten buddhistischen Meistern der Vergangenheit – einschließlich Buddha selbst –, die den jeweiligen Aspekt des Buddhismus erhellen.

Dieses Symbol weist Sie darauf hin, dass wir eine traditionelle buddhistische Geschichte nacherzählen oder ein eher persönliches Ereignis schildern.

Wie es weitergeht

Sie können dieses Buch auf verschiedene Arten nutzen. Das Inhaltsverzeichnis und der Index sind so ausführlich, dass Sie spezielle Themen direkt finden und aufschlagen können. Oder weil jedes Kapitel des Buches ziemlich eigenständig ist, können Sie an beliebiger Stelle anfangen zu lesen und nach Gusto von Kapitel zu Kapitel springen. Unsere Querverweise zeigen Ihnen, wo Sie zusätzliche Informationen über ausgewählte Themen finden können.

Sie können dieses Buch natürlich auch auf herkömmliche Art von Anfang bis Ende durchlesen. Schließlich können Sie auch wie einige Leute das Buch am Ende öffnen und sich mit vielen Umwegen nach vorne durcharbeiten. Doch welche Form Sie auch wählen mögen − wir hoffen, dass das Material für Sie angenehm ist und Sie bereichert.

Teil I

Einführung in den Buddhismus

In diesem Teil …

Hier erfahren Sie, was Buddhismus tatsächlich bedeutet und ob er eine Religion oder eine Philosophie oder etwas anderes ist.

Wir führen Sie in die buddhistische Auffassung des Geistes und seiner Bedeutung ein und nennen Ihnen die Schätze in Ihrem Inneren, die zu entdecken der Buddhismus Ihnen helfen will.

Kapitel 1

Was Buddhismus ist

In diesem Kapitel

Die Gründe für die wachsende Beliebtheit des Buddhismus verstehen

Entscheiden, ob der Buddhismus eine Religion ist

Die buddhistische Philosophie kennenlernen

Die Bedeutung einiger wichtiger buddhistischer Begriffe entdecken

Vor nicht allzu langer Zeit war der Buddhismus im Westen praktisch unbekannt. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er kaum erwähnt. Natürlich hätte man buddhistische Begriffe und den Namen Buddhas beispielsweise in den Schriften von Arthur Schopenhauer und Paul Deussen oder den Werken der amerikanischen Transzendentalisten Thoreau und Emerson (die in der Mitte des 19. Jahrhunderts englische Übersetzungen buddhistischer Texte lasen) finden können. Doch tatsächlich wuchsen damals die meisten Angehörigen der gebildeten Mittelklasse auf, wurden alt und starben, ohne jemals einen praktizierenden Buddhisten zu treffen – außer vielleicht in einem asiatischen Restaurant. (Doch auch die waren damals sehr, sehr selten.)

Wenn Sie Näheres über den Buddhismus erfahren wollten, konnten Sie nur auf wenige, weit verstreute Quellen zurückgreifen. Abgesehen von seltenen Vorlesungen über östliche Philosophie an großen Universitäten hätten Sie Ihre örtliche Bibliothek gründlich durchforsten müssen, um mehr als die grundlegendsten Tatsachen über den Buddhismus herauszufinden. Die wenigen verfügbaren Bücher behandelten den Buddhismus eher wie ein exotisches Überbleibsel aus einer längst vergangenen Epoche in einem fernen Land, vergleichbar einer verstaubten Buddha‐Statue in einer dunklen Ecke der asiatischen Abteilung eines Museums. Und viel Glück, wenn Sie ein buddhistisches Zentrum suchten, an dem Sie studieren und üben konnten.

Heute könnte die Situation gar nicht gegensätzlicher sein. Buddhistische Begriffe scheinen überall aufzutauchen. Sie kommen in normalen Gesprächen vor (»Das ist nur Ihr Karma«), sie werden im Fernsehen verwendet (Dharma & Greg, eine amerikanische Soap, die von 1997 bis 2002 lief), und sie tauchen sogar in den Namen von Rock‐Bands auf (Nirvana). Berühmte Hollywood‐Stars, Avantgarde‐Komponisten, Pop‐Sänger und sogar ein sehr erfolgreicher, professioneller Basketball‐Trainer praktizieren die eine oder andere Form des Buddhismus. (Wir denken an Richard Gere, Philip Glass, Tina Turner und Phil Jackson, doch möglicherweise können Sie selbst eine andere Liste einschlägiger Berühmtheiten zusammenstellen.)

Überall präsentieren Buchhandlungen und Bibliotheken eine große Auswahl buddhistischer Titel, von denen einige – wie beispielsweise Titel des Dalai Lama – regelmäßig in den Bestseller‐Listen auftauchen. Und Zentren, in denen Leute den Buddhismus studieren und praktizieren können, gibt es inzwischen in den meisten Großstädten (und auch in vielen kleineren Städten).

Worauf ist dieser deutliche Wandel in nur wenigen Jahrzehnten zurückzuführen? Sicher hat dazu beitragen, dass asiatische Lehrer des Buddhismus und ihre Schüler die Tradition nach Nordamerika und Europa gebracht haben. (Näheres über die Verbreitung des Buddhismus im Westen finden Sie in Kapitel 5.) Doch die bessere Verfügbarkeit ist nicht der einzige Grund für den Wandel. In diesem Kapitel versuchen wir, den Reiz zu erklären, den diese alte Tradition auf die heutige säkularisierte Welt ausübt, indem wir einige Aspekte hervorheben, die für die wachsende Beliebtheit des Buddhismus verantwortlich sind.

Ist der Buddhismus eine Religion?

Zu fragen, ob der Buddhismus tatsächlich eine Religion ist, mag seltsam erscheinen. Schließlich wird der Buddhismus auf jeder Liste der wichtigen Weltreligionen neben dem Christentum, dem Islam, dem Hinduismus und Judentum an prominenter Stelle genannt. Niemand fragt, ob diese anderen Traditionen Religionen sind. Doch im Zusammenhang mit dem Buddhismus wird diese Frage immer wieder gestellt. Warum ist das so?

Wenn Sie Leute fragen, woran sie bei dem Wort »Religion« denken, antworten die meisten wahrscheinlich etwas über den Glauben an Gott. Unser Wörterbuch stimmt damit überein. Religion wird oft als ein »Glauben an eine göttliche oder übermenschliche Macht (oder Mächte), der zu gehorchen ist und die als Schöpfer und Herrscher des Universums zu verehren ist« definiert.

Wenn diese Definition die einzige Definition von Religion wäre, wäre der Buddhismus definitiv keine Religion! Warum? Nun, dafür gibt es zwei Gründe:

Kein Gott: Die Verehrung einer übernatürlichen Macht ist kein zentrales Anliegen des Buddhismus. Gott (im üblichen Gebrauch des Wortes) ist in den buddhistischen Lehren vollkommen abwesend – und zwar so sehr, dass einige Leute den Buddhismus halb im Scherz als eine gute Religion für Atheisten bezeichnen!

Kein Glaubenssystem: Buddhismus ist in erster Linie kein Glaubenssystem. Obwohl er bestimmte grundlegende Prinzipien enthält (siehe Teil III), ermutigen die meisten buddhistischen Lehrer ihre Schüler aktiv zu einer Einstellung, die das genaue Gegenteil eines blinden Glaubens ist.

Buddhistische Lehrer raten Ihnen, die empfangenen Lehren skeptisch zu betrachten, selbst wenn sie direkt von Buddha persönlich stammen. (Näheres über den Gründer des Buddhismus finden Sie in Kapitel 3.) Sie sollen das Gehörte oder Gelesene weder passiv akzeptieren noch automatisch ablehnen, sondern stattdessen Ihr Urteilsvermögen verwenden. Prüfen Sie selbst, ob die Lehren mit Ihren eigenen Erfahrungen und den Erfahrungen anderer übereinstimmen. Befolgen Sie dann den oft genannten Rat des Dalai Lama von Tibet (siehe Kapitel 15): »Wenn Sie meinen, dass die Lehren zu Ihnen passen, wenden Sie sie, so weit Sie können, auf Ihr Leben an. Wenn sie nicht zu Ihnen passen, lassen Sie sie einfach sein.«

Dieser undogmatische Ansatz (der kein rigides System von Doktrinen oder Glaubensvorstellungen enthält) stimmt sowohl dem Geiste als auch dem Buchstaben nach mit Buddhas eigenen Lehren überein. In einer seiner berühmtesten Aussagen erklärte Buddha: »Akzeptiert nichts, was ich sage, als wahr, einfach weil ich es gesagt habe, sondern prüft es, wie ihr Gold prüfen würdet, um zu sehen, ob es echt ist oder nicht. Wenn ihr nach der Prüfung meiner Lehren meint, sie seien wahr, setzt sie in die Praxis um. Aber tut dies nicht einfach aus Respekt mir gegenüber.«

Der Buddhismus ermutigt Sie deshalb, Ihre gesamten mentalen, emotionalen und spirituellen Fähigkeiten und Ihre Intelligenz zu benutzen – statt einfach mit blindem Glauben zu übernehmen, was Autoritäten in der Vergangenheit gesagt haben. Diese Haltung macht den Buddhismus besondere für viele Westler attraktiv; obwohl er 2.500 Jahre alt ist, appelliert er an den postmodernen Geist der Skepsis und der wissenschaftlichen Untersuchung.

Wenn der Buddhismus nicht primär ein Glaubenssystem ist und nicht die Verehrung einer höchsten Gottheit zum Mittelpunkt hat, warum wird er dann überhaupt als Religion klassifiziert? Weil der Buddhismus wie alle Religionen seinen praktizierenden Anhängern eine Methode an die Hand gibt, um Antworten auf die tieferen Fragen des Lebens wie »Wer bin ich?«, »Warum bin ich hier?«, »Was ist der Sinn des Lebens?«, »Warum leiden wir?« und »Wie kann ich dauerhaftes Glück erlangen?« zu finden.

Zusätzlich zu den grundlegenden Lehren über die Natur der Wirklichkeit bietet der Buddhismus eine Methodologie – einen Satz von Techniken und Praktiken – an, mit der seine Anhänger eine tiefere Stufe der Wirklichkeit selbst direkt erfahren können. In buddhistischen Begriffen ausgedrückt gehört zu dieser Erfahrung das Erwachen zur Wahrheit Ihres authentischen Wesens, Ihrer innersten Natur. Die Erfahrung des Erwachens ist das letztendliche Ziel aller buddhistischen Lehren. (Näheres über Erwachen, oder die Erleuchtung, wie es oft genannt wird, finden Sie in Kapitel 10.) Einige Schulen betonen das Erwachen stärker als andere (und einige weisen ihm sogar eine nachgeordnete Priorität zu), aber in jeder Tradition ist sie das endgültige Ziel der menschlichen Existenz – egal, ob es nun in diesem Leben oder erst in einem künftigen Leben erreicht wird.

Nebenbei: Sie müssen keiner buddhistischen Organisation beitreten, um von den Lehren und Praktiken des Buddhismus zu profitieren. Nähere Informationen über die verschiedenen Grade, sich auf den Buddhismus einzulassen, finden Sie in Kapitel 6.

Die Rolle des Buddha erkennen: Der Erwachte

Die buddhistische Religion gründet auf den Lehren, die vor 2.500 Jahren von einer der großen spirituellen Gestalten der menschlichen Geschichte, Shakyamuni Buddha, verkündet wurden. Wie wir ausführlicher in Kapitel 3 darlegen, wurde er in die Herrschaftsfamilie des Shakya‐Geschlechts in Nordindien hineingeboren und sollte eines Tages die Nachfolge seines Vaters als König antreten. Stattdessen gab Prinz Siddhartha (wie er zu dieser Zeit genannt wurde) im Alter von 29 Jahren das königliche Leben auf, nachdem er die Wirklichkeit des ausgedehnten Leidens und der Unzufriedenheit in der Welt erkannt hatte. Dann machte er sich auf den Weg, um eine Methode zur Überwindung dieses Leidens zu finden.

Schließlich erreichte Prinz Siddhartha im Alter von 35 Jahren sein Ziel. Als er unter einem Baum saß, der später als der Bodhi‐Baum – der Baum der Erleuchtung – bekannt wurde, erlangte er das vollkommene Erwachen der Buddhaschaft. Von diesem Zeitpunkt an wurde er Shakyamuni Buddha genannt, der vollkommen erwachte Weise (Muni) aus dem Shakya‐Geschlecht (siehe Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Shakyamuni Buddha

Buddha: menschlich oder göttlich?

Menschen, die den Buddhismus gerade erst kennenlernen, fragen oft: »Was für ein Wesen war Shakyamuni Buddha – ein Mensch, ein Gott oder etwas anderes?« Buddha selbst sagte; und alle buddhistischen Traditionen stimmen darin überein, dass er wie jedes andere erleuchtete Wesen, das in der Vergangenheit erschienen ist (oder das in der Zukunft erscheinen wird), einmal ein gewöhnliches, unerleuchtetes menschliches Wesen war und dieselben Defizite und Probleme wie jeder andere hatte. Niemand hat als ein Buddha angefangen; niemand wurde von Anfang an erleuchtet. Und Shakyamuni bildete keine Ausnahme.

Nur durch eine große Anstrengung, die er über eine lange Zeit – tatsächlich über viele Lebenszeiten – hinweg ausübte, konnte er schließlich all die verschiedenen Schichten wegräumen, die die klare Natur seines Bewusstseins bedeckten und dadurch zur Buddhaschaft oder vollkommenen Erleuchtung »erwachen«.

Die buddhistischen Traditionen unterscheiden sich jedoch durch die folgende Frage: »Wann erlangte Shakyamuni tatsächlich die Erleuchtung?« Einige buddhistische Traditionen besagen, dass er sie genau so erlangte, wie wir es in diesem Kapitel beschreiben – im Alter von 35 Jahren, als er vor 2.500 Jahren unter dem Bodhi‐Baum saß. Andere behaupten, dass er die Buddhaschaft lange Zeit davor in der weit zurückliegenden Vergangenheit erreichte. Gemäß dieser zweiten Interpretation hatte der Buddha, der als Shakyamuni bekannt wurde, die Erleuchtung erlangt, lange bevor er als Prinz Siddhartha geboren wurde. Seine gesamte Existenz auf dieser Erde, von seiner Geburt bis zu seinem Tod, war eine bewusste Demonstration für andere, wie der spirituelle Pfad gegangen werden sollte. Anders ausgedrückt: Sein Leben war eine Vorstellung, die aufgeführt wurde, um andere zu inspirieren, sich selbst auf die gleiche Art wie Buddha spirituell zu entwickeln.

Wichtiger als die Frage, wann Shakyamuni die Erleuchtung erlangte, ist die Tatsache, dass ernsthafte buddhistische Praktiker das Beispiel von Shakyamuni im Rahmen ihrer Fähigkeiten nachahmen können. Als hochstrebender Praktiker könnten Sie sich fragen: »Wenn Shakyamuni ursprünglich nicht anders als ich war, wie kann ich in seine Fußstapfen treten und die Befriedigung und Erfüllung finden, die er gefunden hat?«

Die restlichen 45 Jahre seines Lebens wanderte er durch Nordindien und lehrte jeden, der an dem Pfad interessiert war, der vom Leiden zur vollkommenen Erleuchtung eines Buddha führt. (Teil III bietet Ihnen einen Überblick über diesen gesamten Pfad.) Nachdem er sein Leben im mitfühlenden Dienst an anderen verbracht hatte, starb er im Alter von 80 Jahren.

Die buddhistische spirituelle Gemeinde (Sangha) unternahm große Anstrengungen, um seine Lehren so rein wie möglich zu erhalten und weiterzugeben, damit sie von einer Generation an die nächste überliefert werden konnten. Diese umfangreichen Lehren wurden letztlich niedergeschrieben, wodurch eine riesige Sammlung (oder Kanon) von mehr als hundert Bänden mit Buddhas Lehrreden (Sutras) und die doppelte Anzahl von Kommentaren (Shastras) von späteren indischen Meistern entstand. (Näheres über die Verbreitung und Entwicklung dieser Lehren finden Sie in den Kapiteln 4 und 5.)

Im Laufe der Jahrhunderte errichtete der Sangha auch Monumente (Denkmäler; Stupas), um die Hauptereignisse im Leben ihrer Lehrer zu ehren, was späteren Praktikern die Möglichkeit gab, diese ehrwürdigen Stätten als Pilger zu besuchen (siehe Abbildung 1.2) und die Inspiration des mitfühlenden Buddhas selbst direkt zu empfangen. (Nähere Informationen über buddhistische Rituale und Formen der Andacht finden Sie in den Kapiteln 8 und 9.)

Abbildung 1.2: Pilger, die den Bodhi‐Baum besuchen

Dank der Anstrengungen jeder Generation von Lehrern und Schülern ist die Kette der Lehren Buddhas (der sogenannte Dharma) bis heute im Grunde nicht unterbrochen worden. Deshalb ist der Buddhismus nach 2.500 Jahren immer noch eine lebendige Tradition, die jedem, der sich ernsthaft bemüht, Frieden, Glück und Erfüllung bringen kann.

Weil Buddha ein einfacher Sterblicher und nicht ein lebender Gott oder eine Art mythischer Superheld war (siehe den Einschub »Buddha: menschlich oder göttlich?« in diesem Kapitel), war er für Buddhisten mehr als eine ferne Gestalt; er ist ein lebendiges Beispiel dafür, was ausnahmslos jeder von uns erreichen kann, wenn er sich von ganzem Herzen dem Studium und der Praxis des Dharma widmet, das Buddha gelehrt hat. Tatsächlich besagt eine der primären Wahrheiten, zu denen er unter dem Bodhi‐Baum erwachte, dass alle Wesen das Potenzial haben, Buddhas zu werden. Oder, wie es einige Traditionen ausdrücken, dass alle Wesen in ihrem Wesenskern bereits Buddhas sind – sie müssen nur zu dieser Tatsache erwachen.

Die Philosophie des Buddhismus verstehen

Sokrates, einer der Väter der westlichen Philosophie, behauptete, dass ein Leben ohne Reflexion nicht wert sei, gelebt zu werden, und die meisten Buddhisten würden ihm sicher zustimmen. Wegen der Bedeutung, die sie dem logischen Denken und der rationalen Untersuchung beimessen, haben viele buddhistische Traditionen und Schulen einen starken philosophischen Einschlag. Andere betonen stärker die direkte, nicht‐konzeptionelle Untersuchung und Betrachtung bei der Meditation. Bei beiden Ansätzen gilt jedoch die direkte persönliche Erfahrung auf der Basis der Selbstbewusstheit als Schlüssel. (Näheres über die buddhistische Praxis der Meditation finden Sie in Kapitel 7.)

Obwohl der Buddhismus die direkte Untersuchung und Erfahrung betont, formuliert er bestimmte philosophische Grundsätze, die ein Grundverständnis der menschlichen Existenz umreißen und als Richtlinien und Inspirationen für die Praxis und das Studium dienen. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich im Buddhismus tatsächlich verschiedene Schulen und Traditionen, die jeweils ein eigenes, mehr oder weniger ausführliches und spezifisches Verständnis der Lehren Buddhas ausgeprägt haben. (Näheres über die Geschichte dieser unterschiedlichen Traditionen finden Sie in den Kapiteln 4 und 5.) Zusätzlich zu den Lehrreden, die zu Lebzeiten Buddhas von seinen Anhängern auswendig gelernt und nach seinem Tod aufgezeichnet wurden, tauchten viele Jahrhunderte später zahlreiche andere Schriften auf, die ihm zugeschrieben wurden.

Trotz all dieser philosophischen Differenziertheit bleibt der Buddhismus jedoch in seinem Kern eine außerordentlich praktische Religion. Buddha ist oft aus gutem Grund als der Große Arzt bezeichnet worden: Er vermied immer abstrakte Spekulationen und stellte die Identifizierung der Ursache des menschlichen Leidens und die Bereitstellung von Methoden zu seiner Überwindung in den Mittelpunkt. (Näheres finden Sie in dem Kasten »Das Gleichnis vom vergifteten Pfeil«.) Ähnlich gilt der Dharma, den er lehrte, als starke Medizin, um die tiefere Unzufriedenheit zu heilen, von der wir alle betroffen sind. Buddhas erste und bekannteste Lehre, die Vier Edlen Wahrheiten (siehe Kapitel 3), umreißt die Ursache des Leidens und die Mittel zu seiner Überwindung. Alle folgenden Lehren erweitern und erläutern nur diese grundlegenden Wahrheiten.

Der Kern aller echten Dharma‐Lehren ist die Auffassung, dass Leiden und Unzufriedenheit aus der Art und Weise entstehen, wie Ihr Geist auf die Lebensumstände anspricht und reagiert – und nicht aus den Fakten des Lebens. Insbesondere lehrt der Buddhismus, dass Ihr Geist Ihr Leiden verursacht, indem er Dingen Beständigkeit zuschreibt und ein separates Selbst konstruiert, wo in Wirklichkeit beides nicht existiert. (Näheres über die zentralen Lehren der Vergänglichkeit und der Selbst‐Losigkeit finden Sie in Kapitel 2.)

Die Wirklichkeit ändert sich dauernd; von dem griechischen Philosophen Heraklit stammt der Ausspruch, dass man niemals zweimal in denselben Fluss steigen könne. Erfolg und Misserfolg, Gewinn und Verlust, Wohlbefinden und Unbehagen – sie alle kommen und gehen. Und Sie können die Änderungen nur begrenzt kontrollieren. Doch Ihren plappernden, fehlgeleiteten Geist, der Ihre Wahrnehmungen verzerrt, sich vehement gegen die Wirklichkeit der Dinge auflehnt und Ihnen dabei sehr viel Stress und Leiden zufügt, können Sie bis zu einem gewissen Maß kontrollieren (und letztlich klären).

Glück ist, wie Buddha einmal sagte, tatsächlich recht einfach: Das Geheimnis liegt darin, zu wollen, was man hat, und nicht zu wollen, was man nicht hat. Doch so einfach dies sein mag, es ist keinesfalls leicht zu verwirklichen. Haben Sie jemals versucht, Ihren ruhelosen und widerspenstigen Geist wenigstens für einen Moment zu beherrschen? Haben Sie jemals versucht, Ihren Ärger oder Ihre Eifersucht zu zähmen, Ihre Furcht zu kontrollieren oder inmitten des unvermeidlichen Auf und Ab des Lebens ruhig und gleichmütig zu bleiben? Falls Sie dies versucht haben, haben Sie zweifellos entdeckt, wie schwierig selbst die einfachste Selbstkontrolle oder Selbstbewusstheit sein kann. Wenn Sie von der Medizin profitieren wollen, die Buddha verschrieben hat, müssen Sie sie einnehmen – das bedeutet, Sie müssen sie selbst in die Praxis umsetzen. (Zehn praktische Vorschläge zur Umsetzung von Buddhas Lehren in den Alltag finden Sie in Kapitel 17; zusätzliche praktische Ratschläge finden Sie in Kapitel 14.)

Die Praxis des Buddhismus richtig einschätzen

Jeder, der vom Buddhismus profitieren möchte – statt einfach nur interessante Fakten über ihn zu entdecken –, muss fragen: »Wie nehme ich diese spirituelle Medizin? Wie kann ich die Lehren von Shakyamuni so auf mein Leben anwenden, dass meine Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit verringert, neutralisiert und letztlich ausgelöscht werden?« Die Antwort ist die spirituelle Praxis, die im Buddhismus drei Formen annimmt:

Ethisches Verhalten

Meditation (und die daraus folgende Weisheit)

Verehrung

Ein ethisches Leben führen

Ethisches Verhalten bildete eine wesentliche Komponente des buddhistischen spirituellen Pfads, seit der historische Buddha seine Mönche und Nonnen erstmals ermahnte, bestimmte Verhaltensweisen zu unterlassen, weil diese sie von ihrem Streben nach Wahrheit ablenken würden. Zu Buddhas Lebzeiten sammelten und kodifizierten seine Anhänger diese Richtlinien, woraus letztlich der moralische Kodex (Vinaya) entstand, der mehr oder weniger in derselben Form das mönchische Leben für mehr als 2.500 Jahre geprägt hat. (Der Terminus mönchisch beschreibt sowohl Mönche als auch Nonnen.) Aus diesem Kodex entstanden kürzere Richtlinien für Laien‐Praktiker (nicht‐mönchische Buddhisten), die von Tradition zu Tradition bemerkenswert ähnlich geblieben sind. (Näheres über ethisches Verhalten finden Sie in Kapitel 12.)

Die ethischen Richtlinien des Buddhismus stellen keinesfalls einen absoluten Standard für richtig und falsch auf, sondern haben einen vollkommen praktischen Zweck – die Praktiker auf das Ziel ihrer Praxis fokussiert zu halten, das in einer befreienden Einsicht in die Natur der Wirklichkeit besteht. Während seiner 45 Jahre der Lehre fand Buddha heraus, dass bestimmte Aktivitäten dazu beitragen, die Begierden, die Anhaftung, die Ruhelosigkeit und die Unzufriedenheit zu steigern und persönliche Konflikte zwischen den Mitgliedern in der Gemeinde insgesamt auszulösen. Im Gegensatz dazu trugen andere Verhaltensweisen dazu bei, den Geist friedvoll und fokussiert zu halten sowie eine unterstützendere Atmosphäre für die spirituelle Reflexion und Verwirklichung zu schaffen. Es waren diese Beobachtungen und keine abstrakten moralischen Überlegungen, aus denen diese ethischen Richtlinien abgeleitet wurden.

Ihr Leben durch Meditation reflektieren

In der allgemeinen Vorstellung ist der Buddhismus definitiv die Religion der Meditation. Denn wer hat schließlich noch keine Statuen von Buddha gesehen, die ihn mit gekreuzten Beinen, halb geschlossenen Augen und tief in spiritueller Reflexion versunken zeigen, oder einen der vielen Titel in die Hand genommen, die heutzutage über die Grundlagen der buddhistischen Meditation angeboten werden?

Aber viele Leute missverstehen die Rolle, die die Meditation im Buddhismus spielt. Sie nehmen fälschlicherweise an, dass sie sich aus ihrem normalen Leben in einen friedvollen, abgelösten und unberührten inneren Bereich zurückziehen sollen, bis sie keine Emotionen mehr fühlen und sich nicht mehr um die Dinge sorgen, die einmal wichtig für sie waren. Doch nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. (Andere Missverständnisse über den Buddhismus und die buddhistische Praxis werden in Kapitel 16 behandelt.)

Der eigentliche Zweck der Meditation im Buddhismus besteht nicht darin, den Geist zu beruhigen (obwohl dieses Ergebnis eintreten kann und sicher den meditativen Prozess fördert). Er besteht auch nicht darin, sich abzulösen und sich keine Sorgen mehr zu machen. Stattdessen besteht ihr Zweck darin, die tiefe und letztlich befreiende Einsicht in die Natur der Wirklichkeit und Ihres Selbst zu erfahren, über die wir im Abschnitt »Die Philosophie des Buddhismus verstehen« weiter oben in diesem Kapitel geschrieben haben – eine Einsicht, die Ihnen zeigt, wer Sie sind und worum es im Leben geht, und die Sie ein für alle Mal vom Leiden befreit. (Näheres über diese Einsicht, die als spirituelle Verwirklichung oder Erleuchtung bezeichnet wird, finden Sie in Kapitel 10.)

Das Gleichnis vom vergifteten Pfeil

Weil die intellektuelle Aktivität eine so bedeutende Rolle in der Geschichte des Buddhismus spielte, könnte man tatsächlich versucht sein, den Buddhismus als Philosophie statt als Religion zu klassifizieren. Aber Shakyamuni Buddha selbst warnte davor, sich so in philosophischen Spekulationen zu verfangen, dass das letztendliche Ziel seiner Lehren aus dem Blickfeld verschwindet. Diese Einstellung kommt in der oft erzählten Geschichte eines Mönches namens Malunkyaputta (wir wollen ihn der Kürze halber Ehrwürdiger Mal nennen) deutlich zum Ausdruck. Dieser Mönch trat eines Tages an Buddha heran und beklagte sich, dass dieser nie bestimmte philosophische Fragen angesprochen hätte, wie »Hat das Universum einen Anfang oder ein Ende?« oder »Existiert der Buddha nach dem Tod?« Der Ehrwürdige Mal erklärte, dass er seine Ausbildung als buddhistischer Mönch aufgeben und in sein früheres Leben als Laie zurückkehren würde, falls Buddha diese Fragen nicht ein für alle Mal beantworten würde.

Als Antwort beschrieb Shakyamuni die folgende hypothetische Situation: Nimm an, sagte er, ein Mann wäre durch einen vergifteten Pfeil verwundet worden. Seine besorgten Verwandten finden einen fähigen Chirurgen, der den Pfeil entfernen kann, aber der verwundete Mann weigert sich, von dem Arzt operiert zu werden, solange er nicht zufriedenstellende Antworten auf zahlreiche Fragen bekommen habe. »Der Pfeil soll nicht rausoperiert werden«, erklärt der verwundete Mann, »bevor ich nicht die Kaste, den Namen, die Größe, den Wohnort und so weiter des Mannes kenne, der mich verwundet hat.« Klar, dass eine solch dumme Person längst tot wäre, bevor all ihre Fragen jemals beantwortet werden könnten.

»Auf dieselbe Weise«, erklärte Shakyamuni dem Ehrwürdigen Mal, »würde jeder, der sagt, ›Ich will kein spirituelles Leben führen, bevor der Buddha mir nicht erklärt hat, ob das Universum ewig ist oder nicht oder ob der Buddha nach dem Tod existiert‹, längst gestorben sein, bevor er jemals befriedigende Antworten auf alle seine Fragen bekommen hätte«. Das wahrhaft spirituelle oder religiöse Leben hängt nicht davon ab, wie diese Fragen beantwortet sind. Denn, wie Shakyamuni dann ausführte: »Egal ob das Universum ewig ist oder nicht, stehen Sie immer noch Geburt, Alter, Tod, Kummer, Schmerz und Verzweiflung gegenüber, für die ich jetzt das Heilmittel verschreibe.«

Die Meditation erleichtert diese Einsicht, indem sie die fokussierte Aufmerksamkeit fortlaufend auf die Arbeitsweise Ihres Geistes und Herzens lenkt. In den frühen Stufen der Meditation verbringen Sie die meiste Zeit damit, sich, so gut Sie können, Ihrer eigenen Erfahrung bewusst zu werden – eine fast universelle buddhistische Praxis, die als Achtsamkeit bezeichnet wird. Sie können auch positive, vorteilhafte Qualitäten des Herzens wie liebende Güte und Erbarmen entwickeln oder förderliche Gestalten und Energien visualisieren. Doch letztlich besteht das Ziel aller buddhistischen Meditation darin, herauszufinden, wer Sie sind, und damit Ihr ruheloses Suchen und Ihre Unzufriedenheit zu beenden. (Näheres über die Meditation finden Sie in Kapitel 7.)

Verehrung zum Ausdruck bringen

Obwohl Buddha sie nicht ausdrücklich lehrte, ist die Verehrung schon lange eine zentrale buddhistische Praxis. Zweifellos begann sie mit der spontanen Verehrung, die Buddhas eigene Anhänger ihrem sanften, weisen und mitfühlenden Lehrer entgegenbrachten. Nach seinem Tod richteten die Anhänger mit einem Hang zur Verehrung ihre Ehrerbietung auf die erleuchteten Älteren der mönchischen Gemeinde und die Reliquien Buddhas, die in speziellen Monumenten, den sogenannten Stupas, aufbewahrt wurden (siehe Abbildung 1.2).

Als sich der Buddhismus über Indien und letztlich über andere Länder verbreitete, entwickelten sich die sogenannten Drei Juwelen (Buddha, Dharma und Sangha) zum Hauptgegenstand der Verehrung – der große Lehrer (und seine Nachfolger), die Lehren selbst und die Gemeinde der Praktiker, die die Lehren erhalten und hochhalten. Bis heute nehmen alle Buddhisten, sowohl Laien als auch Mönche, Zuflucht zu den Drei Juwelen (auch Drei Kleinodien oder Drei Kostbarkeiten genannt). (Näheres über das Nehmen der Zuflucht finden Sie in Kapitel 6.)

Schließlich wurden aufgrund des natürlichen menschlichen Hangs, zu verehren und zu idealisieren, in bestimmten Traditionen des Buddhismus diverse transzendente Gestalten eingeführt, die besonders wünschenswerte spirituelle Qualitäten verkörperten. Indem Sie Ihre Verehrung dieser Gestalten aufrichtig zum Ausdruck bringen und dann imaginieren, sich mit ihnen zu vereinigen und dadurch ihre erwachten Qualitäten zu übernehmen, können Sie Ihre negativen Qualitäten allmählich in positive ändern und letztlich die vollkommene Erleuchtung zum eigenen Nutzen und zum Nutzen anderer erlangen – so lehren es jedenfalls diese Traditionen.

Das Studium und die Reflexion helfen, die buddhistischen Lehren klarer zu erfassen, aber die Verehrung schmiedet die innere Verbindung mit der Tradition und erlaubt Ihnen, Ihre Liebe und Wertschätzung für die Lehrer (und Lehren) auszudrücken und umgekehrt deren Liebe und Mitgefühl zu erfahren. Selbst Traditionen wie Zen, die die Verehrung zugunsten der Einsicht zurückzustellen scheinen, enthalten einen starken, der Verehrung gewidmeten Einschlag, der in Ritualen und Zeremonien zum Ausdruck kommt, aber für Neulinge nicht immer sichtbar ist. Für buddhistische Laien‐Praktiker, die möglicherweise nicht die Zeit oder Lust zum Meditieren haben, kann die Verehrung der Drei Juwelen sogar zur Hauptpraxis werden. Tatsächlich haben einige Traditionen wie der Reines‐Land‐Buddhismus hauptsächlich die Verehrung zum Inhalt. (Näheres über die unterschiedlichen Traditionen des Buddhismus einschließlich des Zen‐ und Reines‐Land‐Buddhismus finden Sie in Kapitel 5.)

Das Leben dem Wohle aller Wesen widmen

Bei näherer Betrachtung lehrt der Buddhismus, dass Sie und die Menschen in Ihrer Umgebung im Grunde miteinander verbunden und voneinander abhängig sind – dass jedes anscheinend separate Wesen oder Ding, Sie eingeschlossen, nur eine einzigartige Ausdrucksform einer riesigen, unteilbaren Wirklichkeit sind. Mit dieser Perspektive im Geist (und im Herzen) ermutigt der Buddhismus Sie, Ihre spirituellen Anstrengungen nicht nur für sich selbst und die von Ihnen geliebten Menschen, sondern auch zum Wohle und zur Erleuchtung aller Wesen zu unternehmen (die in Wirklichkeit untrennbar mit Ihnen verbunden sind).

Viele buddhistische Traditionen lehren ihre Anhänger, ihre Liebe und ihr Mitgefühl aktiv für andere zu kultivieren – nicht nur für die, die ihnen nahe stehen, sondern auch für die, die sie stören oder denen sie feindlich gegenüberstehen (anderes ausgedrückt: Gegner). Tatsächlich glauben einige Traditionen, dass diese Hingabe an das Wohl aller die Grundlage des spirituellen Weges bildet, auf der alle anderen Praktiken basieren. Andere Traditionen lassen es zu, dass sich Liebe und Mitgefühl natürlich entwickeln, wenn sich die Einsicht vertieft und die Weisheit reift, während sie ihre Praktiker anweisen, die Verdienste ihrer Meditationen und Rituale allen Wesen zu widmen.

Unabhängig von der Methode stimmen hier die Lehren im Wesentlichen überein, dass alle Wesen untrennbar sind; und einige Traditionen vertreten sogar die Auffassung, dass Sie letztlich erst dann ein dauerhaftes Glück und dauerhaften Geistesfrieden erlangen können, wenn auch alle anderen Wesen glücklich und friedvoll sind. Auf dieser Erkenntnis beruht der Eid des Bodhisattvas (Sanskrit für erwachtes Wesen), der sein Leben der Erleuchtung aller Wesen widmet (siehe Kapitel 14). Der Bodhisattva glaubt, dass seine Arbeit auf dieser Erde erst getan ist, wenn alle Wesen befreit sind. Obwohl nicht jede buddhistische Tradition den Bodhisattva auf dieselbe Art sieht, würden doch alle darin übereinstimmen, dass dieser Geist im Herzen des Buddhismus wohnt.

Kapitel 2

Den Geist verstehen: den Schöpfer aller Erfahrung

In diesem Kapitel

Mit dem Geist Freundschaft schließen

Die Eigenheiten des Geistes kennenlernen

Die eigene grundlegende Reinheit erkennen

Das Nicht‐Wissen durch Weisheit überwinden

Den Geist durch Mitgefühl verändern

In Kapitel 1 stellen wir den Buddhismus vor, indem wir das, was er nicht ist – ein strenges, starres System religiöser Glaubensvorstellungen –, mit dem vergleichen, was er tatsächlich ist – ein praktischer, auf Erfahrung basierender Weg zur Veränderung Ihres Lebens.

Im Zentrum dieser Veränderung steht der Geist. Aber Geist ist ein recht verschwommener Begriff: Obwohl wir das Wort immer wieder verwenden – »Sie ist geistreich«, »Er war geistig weggetreten« und so weiter – ist eine präzise Definition nicht leicht.

In diesem Kapitel erzählen wir Ihnen einiges darüber, was der Buddhismus über den Geist zu sagen hat, und achten dabei besonders darauf, wie die verschiedenen Funktionen des Geistes alles formen: von Ihrer spirituellen Entwicklung bis zu Alltagserfahrungen.

Erkennen, wie der Geist die Erfahrung formt

Bei vielen Gelegenheiten sagte Buddha, dass der Geist ausnahmslos alles erzeugt, formt und erfährt, was einem widerfährt. Deshalb ist nach buddhistischer Auffassung das, was in Ihrem Innern (in Ihrem Geist) vorgeht, viel wichtiger dafür, ob Sie glücklich oder unglücklich sind, als äußere Lebensumstände.

Haben die Funktionen Ihres Geistes tatsächlich eine größere Wirkung auf Sie als Ihr Besitz oder Ihre Umwelt? Schließlich versuchen große Unternehmen und Werbeagenturen jährlich mit Milliarden Euro, Sie vom Gegenteil zu überzeugen! Ging es nach ihnen, können Sie Ihr Glück am ehesten dadurch erlangen, dass Sie kaufen, was sie zu verkaufen haben. Jon bezeichnet diesen Appell der Werbung gerne als die »Wenn‐doch‐nur‐Mentalität«: Wenn Sie doch nur ein größeres Auto fahren, in einem größeren Haus wohnen, mit einem stärkeren Mundwasser gurgeln oder ein weicheres Toilettenpapier benutzen würden – dann wären Sie wirklich glücklich. Selbst wenn Sie der Werbung nicht alles glauben, hängt Ihr Wohlbefinden doch von äußeren Faktoren ab – oder etwa nicht?

Sie sollten neue Informationen nicht einfach akzeptieren. Aussagen in einem Buch, in einem Vortrag oder in einer Vorlesung zu hinterfragen, ist kein intellektuelles Spiel oder nutzloser Zeitvertreib. Die richtigen Fragen zur rechten Zeit werden zu einem wesentlichen Teil Ihrer spirituellen Entwicklung. Buddha selbst wies darauf hin, dass Sie nicht viel erreichen, wenn Sie bestimmte Aussagen einfach als wahr akzeptieren und andere als falsch verwerfen, ohne sie näher analysiert zu haben.

Hier ist die Analyse besonders wichtig. Denn es geht um die Frage, wie Sie Ihr Leben führen sollten. Sollten Sie Ihr Glück hauptsächlich in der Anhäufung von Besitztümern und anderen Äußerlichkeiten suchen? Oder sollten Sie in erster Linie Ihr inneres Haus in Ordnung bringen?

Das folgende Beispiel zeigt Ihnen, wie Sie dieses Problem angehen können: Zwei Freundinnen, nennen wir sie Sabine und Sonja, reisen im Urlaub gemeinsam nach Teneriffa. Sie bewohnen dasselbe luxuriöse Strandhotel, essen die gleichen Mahlzeiten, die von demselben Meisterkoch zubereitet werden, rekeln sich an denselben unberührten Stränden und führen dieselben Freizeitaktivitäten aus. Doch als sie zu Hause von ihrer Reise erzählen, hören sich ihre Geschichten an, als hätten sie in zwei ganz verschiedenen Welten Urlaub gemacht! Für Sabine war Teneriffa der Himmel auf Erden, aber für Sonja war es die reinste Hölle. Für jede wundervolle Erfahrung, die Sabine erwähnt, setzt Sonja zwei fürchterliche dagegen. Kommt Ihnen diese – natürlich hypothetische – Situation nicht bekannt vor? Ist Ihnen oder Ihren Freunden nicht schon Ähnliches passiert?

Betrachten wir ein anderes Beispiel. Im Krieg werden zwei Freunde in einem Gefangenenlager interniert. Wie in dem vorangegangenen Beispiel leben beide unter den gleichen Bedingungen, doch dieses Mal sind die äußeren Umstände elend. Ein Soldat erleidet aufgrund der schrecklichen physischen Bedingungen extreme psychische Qualen und endet verbittert und geistig gebrochen. Der andere schafft es, sich über seine Umgebung zu erheben, und wird sogar für die anderen Gefangenen zu einem Quell der Kraft. So ein Szenario kann durchaus Wirklichkeit werden. Wie also können Sie das erklären?

Diese Beispiele (und Ihre eigenen Erfahrungen) zeigen, dass die äußeren Lebensumstände nicht die einzigen – ja nicht einmal die wichtigsten – Faktoren für Ihre Zufriedenheit sind. Wenn die äußeren Bedingungen wichtiger als die Beschaffenheit Ihres Geistes wären, hätten sowohl Sabine als auch Sonja den Aufenthalt auf Teneriffa genossen, wären beide Gefangene gleichermaßen unglücklich gewesen und würde keine reiche und berühmte Person jemals an Selbstmord denken.

Je genauer Sie hinschauen, desto deutlicher werden Sie (falls die buddhistischen Lehren in diesem Punkt richtig sind) erkennen, dass vornehmlich Ihre mentale Einstellung die Qualität Ihres Leben bestimmt. Wir behaupten nicht, dass Ihre äußeren Umstände keine Rolle spielen. Wir meinen auch nicht, eine Person müsse ihren gesamten Besitz aufgeben, um ernsthaft auf die spirituelle Suche gehen zu können. Aber ohne die Entwicklung Ihrer inneren Ressourcen des Friedens und der geistigen Stabilität kann kein noch so großer weltlicher Erfolg – ob gemessen an Reichtum, Ruhm, Macht oder Beziehungen – jemals wirklich befriedigen. Oder wie einmal jemand sagte: »Geld kann kein Glück kaufen; es kann es Ihnen nur ermöglichen, Ihre ganz eigene Form des Elends zu wählen.«

Ein Vergleich von Körper und Geist

Selbst, wenn Sie eine Vorstellung davon haben, was der Geist ist, fällt es Ihnen möglicherweise schwer, ihn genau zu identifizieren. Schließlich können Sie nicht auf etwas zeigen und sagen: »Dies ist mein Geist.« Warum nicht? Weil Ihr Geist kein materielles Ding ist, das aus Atomen und Molekülen besteht. Im Gegensatz zu Ihrem Gehirn, Ihrem Herzen oder einem anderen Körperorgan hat Ihr Geist weder Farbe, Form oder Gewicht noch andere physikalische Eigenschaften.

Doch solange Sie leben, bleiben Ihr Körper und Ihr Geist eng miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Jeder weiß, dass zu viel Alkohol den Geist beeinträchtigen kann. Die chemische Verbindung Alkohol stumpft Ihre geistigen Fähigkeiten ab, verringert Ihre Hemmungen und kann sogar Halluzinationen auslösen.

Doch umgekehrt wirkt auch der Geist auf den Körper. Zu viele Sorgen können zu körperlichen Beschwerden wie Magengeschwüren, Kolitis (Dickdarmentzündung) und hohem Blutdruck führen. Diese Verbindung ist den Medizinern natürlich nicht entgangen. Immer mehr Ärzte erkennen an, dass der geistige Zustand eines Patienten erheblichen Einfluss auf seine Genesung haben kann. Viele Krankenhäuser bieten heute psychosomatische Behandlungen (wie Hypnotherapie, Gruppengespräche und Einzelberatungen) an, um ihren Patienten zu helfen, schneller gesund zu werden. Fast jede Buchhandlung bietet Bücher über die Bedeutung des Geistes für die Gesundheit sowie den heilenden Einfluss von Visualisierungen, Affirmationen und einer positiven geistigen Einstellung an. Ein bekannter Autor unterstützte sogar seine Heilung vom Krebs, indem er sich einen Film der Marx Brothers nach dem anderen anschaute! In seinem Fall war Lachen tatsächlich die beste Medizin.

Körper und Geist sind zwar verbunden, aber sie sind nicht identisch. Sonst würden Ihre geistigen Zustände nur aus den Nervenzellen, der elektrischen Aktivität und den chemischen Reaktionen Ihres Gehirns bestehen. Aber könnte man damit das Geschehen in Ihrem Geist befriedigend erklären? Können so vielfältige Erfahrungen wie das Sich‐Verlieben, das Gefühl der Verlegenheit und eine künstlerische Eingebung auf molekulare Interaktionen reduziert werden?

Der Buddhismus lehrt, dass Ihr Körper (einschließlich Ihres Gehirns) eine physische Form hat, aber Ihr Geist (der sich all Ihrer Erfahrungen bewusst ist) formlos ist. Deshalb können Sie Ihren Geist nicht sehen oder berühren. Aber die Formlosigkeit hält Ihren Geist nicht davon ab, zu tun, was nur er tun kann – Sie in die Lage versetzen, bewusst zu sein! Tatsächlich ist genau das die Aufgabe des Geistes: aufmerksam (oder bewusst) zu sein. Dieses Bewusstsein funktioniert auf vielen verschiedenen Ebenen, vom Weltlichen (Sie sind sich der Wörter auf dieser Seite bewusst) bis zum Außerordentlichen (eine Person mit einem »erweiterten« Bewusstsein kann im Geist einer anderen Person lesen oder Ereignisse sehen, die an einem anderen Ort der Welt stattfinden).

Sich dem Geist aus drei verschiedenen buddhistischen Perspektiven annähern

Die verschiedenen buddhistischen Schulen haben jeweils ihr eigenes Vokabular entwickelt, um den Geist und seine Rolle bei der spirituellen Entwicklung zu beschreiben. Die folgenden Ansätze der drei heute im Westen hauptsächlich vertretenen buddhistischen Strömungen sollen Ihnen einen Eindruck von der Vielfalt dieser Auffassungen vermitteln:

Die Theravada‐Tradition von Südostasien folgt der ausführlichen Analyse des Geistes, die in dem Abhidharma, oder »besonderen Lehre«, dem dritten Teil des buddhistischen Kanons enthalten ist. (Näheres über alle drei Teile oder »Körbe« von Buddhas Lehren finden Sie in Kapitel 4.) Diese umfangreichen Lehren teilen die Funktionen des Geistes in verschiedene Kategorien ein, wie primäre und sekundäre, geschickte und ungeschickte und so weiter. Diese psychologische Analyse kann Ihnen helfen, genau zu verstehen, welche der vielen verschiedenen mentalen Funktionen (ein Abhidharma‐System identifiziert fast 50 Funktionen!) in einem einzelnen Moment in Ihrem Geist entstehen. Je besser Sie die komplexe und sich ständig wandelnde Natur dieser mentalen Funktionen schon bei der Entstehung identifizieren können, desto gründlicher können Sie die schädliche Illusion einer festen, unveränderlichen Ich‐Identität durchschneiden (eine Erklärung finden Sie in Kapitel 13) und spirituelle Befreiung erlangen.

Viele Anhänger der Vajrayana‐Tradition studieren auch die Abhidharma‐Lehren über den Geist, die verschiedenen mentalen Funktionen und so weiter. Außerdem bietet die Vajrayana‐Tradition Techniken an, um Kontakt mit dem in dieser Tradition sogenannten Geist des Klaren Lichtes herzustellen, einem glückseligen Zustand des Bewusstseins, der sich im Kern Ihres Wesens befindet und der weit mächtiger als jeder gewöhnliche Zustand des Geistes ist. Indem sie die Kontrolle über diesen verborgenen Schatz gewinnen, können fähige Meditierende (oder Yogis des Klaren Lichtes) sich schnell und vollkommen durch mentale Hindernisse »hindurchbrennen«. Diese Aktion setzt sie von Angesicht zu Angesicht mit der ultimativen Wirklichkeit und führt sie schließlich zur höchsten Erleuchtung der Buddhaschaft.

Gemäß der Zen‐Tradition in Japan durchdringt der Große Geist oder die Buddha‐Natur das Universum. Alles, was Sie sowohl in Ihrem Innern als auch außen erfahren, ist nichts anderes als dieser Geist. Im Gegensatz dazu tendiert der Kleine Geist, der analytische, begrifflich arbeitende Geist, dahin, sich selbst als ein begrenztes, separates Ego oder Selbst zu identifizieren. Spirituelles Erwachen umfasst eine Verschiebung der Identität vom Kleinen Geist zum Großen Geist.

Wir werden die Ansätze dieser drei bedeutendsten Strömungen in diesem Buch noch eingehender behandeln (insbesondere in Kapitel 5). Doch im Moment möchten wir darauf hinweisen, dass diese drei Traditionen trotz ihrer Unterschiede in einem wichtigen Punkt übereinstimmen: Sie haben die Wahl, wie Sie Ihr Leben erfahren. Ihr Geist kann dunkel oder hell, begrenzt oder weitläufig sein. Erstes ist mit Frustration und Unzufriedenheit verbunden, Letzteres bringt Freiheit und Erfüllung. Auf dem spirituellen Weg können Sie Ihre Vision des Lebens vom Dunklen zum Hellen und vom Begrenzten zum Weitläufigen verschieben.

Einige Funktionen des Geistes identifizieren

Wer ein so komplexes Thema wie das Bewusstsein oder die Bewusstheit behandelt, kann schnell ins Unverbindliche und Abstrakte abgleiten. Deshalb wollen wir mit den beiden Funktionen des Geistes beginnen, mit denen Sie sich Ihrer Welt bewusst werden: Wahrnehmung (Perzeption) und Denken (Konzeption).

Wahrnehmung (Perzeption): Morgens beim Aufwachen beginnt Ihr Geist, sich die Welt durch ein Fenster anzuschauen – Ihre Sinne. (Näheres über diese physischen Sinne finden Sie weiter unten in diesem Kapitel in dem Abschnitt »Die sechs Hauptarten des Bewusstseins erkennen«.) Im Moment wollen wir nur das Sehen betrachten. Stellen Sie sich vor, dass Sie gerade die Nacht in einem fremden Hotelzimmer verbracht haben. Wenn Sie sich am Morgen den Schlaf aus den Augen reiben und sich umschauen, sehen Sie nicht sofort die verschiedenen Gegenstände in Ihrem Hotelzimmer. Sie sehen statt des Gemäldes an der Wand einfach nur eine Ansammlung verschiedener Formen und Farben. Das ist alles, was Ihre Augen direkt wahrnehmen: Formen und Farben. Dann tritt das Denken auf den Plan.

Denken (Konzeption): Einige Zeit nach der Wahrnehmung (dabei kann es sich um einen Sekundenbruchteil oder eine beträchtlich längere Zeitspanne handeln) identifizieren Sie die Ansammlung der Formen und Farben als Gemälde. Sobald Sie diese Verbindung herstellen, können Sie zusätzliche Gedanken über dieses Gemälde formen. »Das gefällt mir.« »Das ist das schlechteste Gemälde, das ich gesehen habe.« »Ich glaube, es ist ein Original.« »Vielleicht ist es eine Reproduktion.« »Ich würde gerne wissen, was es kostet.« »Ich glaube, das würde gut in mein Schlafzimmer passen.« Wenn Ihnen das Gemälde so gut gefällt, dass Sie es kaufen, denken Sie beim nächsten Mal vielleicht auch: »Dies ist mein Gemälde.« Begriffe wie ein gutes Gemälde, ein schlechtes Gemälde, ein teures Gemälde, mein Gemälde und so weiter sind Interpretationen Ihres Geistes.

Dieses Beispiel zeigt, dass hier ein zweistufiger Prozess abläuft. Der erste Schritt ist die bloße Wahrnehmung; Ihr visuelles Bewusstsein wird sich einfach einiger Sinnesdaten bewusst. Doch bald danach überzieht der denkende Teil Ihres Geistes die bloße Wahrnehmung mit einer Mischung aus Vorstellungen, Gedanken, Vorlieben und anderen dualistischen Beurteilungen. Begriffe werden als dualistisch bezeichnet, weil Sie nicht einige Dinge für »gut« halten können, ohne automatisch andere für »schlecht« zu halten. Diese dualistische Sicht der Dinge ist die Basis von Anhaftung und Ablehnung; in ihnen wiederum sieht der Buddhismus die Ursache all Ihrer Probleme.

Doch es gibt einen Moment, bevor der begriffsbildende Geist ins Spiel kommt. Dann kann Ihr Geist einen flüchtigen Blick auf das Objekt werfen, so wie es ist, ohne dass Beurteilungen, Interpretationen oder Geschichte dazwischenstehen. Um unser Beispiel vom Hotelzimmer fortzusetzen: In diesem Augenblick sehen Sie das Gemälde direkt, nicht‐dualistisch. Dies ist die Funktionsweise des erleuchteten Geistes – unbelastet von Konzepten wie gut oder schlecht, mein und dein und so weiter. (Näheres über die Bedeutung der Erleuchtung finden Sie in Kapitel 10.) Bei spirituellen Übungen geht es hauptsächlich darum, Dinge in dieser direkten, nicht‐konzeptionellen Art sehen zu lernen und diese Art der Betrachtung einzuüben.

Die sechs Hauptarten des Bewusstseins erkennen

Weil der menschliche Körper fünf Sinne hat, gibt es fünf Arten der sensorischen Bewusstheit, die manchmal als die fünf sensorischen Bewusstseinsarten bezeichnet werden. In einigen buddhistischen Texten werden sie mit den folgenden, recht technischen Namen bezeichnet, aber ihre Bedeutung ist ziemlich einfach, sodass Sie sich nicht mit den lateinisch klingenden Namen herumplagen sollten:

Auditorisches Bewusstsein: Nimmt Töne, Laute, Geräusche wahr (oder ist sich ihrer bewusst)

Gustatorisches Bewusstsein: Nimmt Geschmacksvarianten (wie bitter, salzig, süß und sauer) wahr

Olfaktorisches Bewusstsein: Nimmt Gerüche und Düfte wahr

Taktiles Bewusstsein: Nimmt Tastempfindungen (wie warm und kalt, rau und glatt und so weiter) wahr

Visuelles Bewusstsein: Nimmt Farben und Formen wahr

Diese fünf Arten der sensorischen Bewusstheit oder des sensorischen Bewusstseins hängen von der Gesundheit Ihres Körpers und Ihrer Sinnesorgane ab. Aber eine sechste Art von Bewusstheit hängt in ihrer Funktion nicht so direkt von Ihren physischen Sinnen ab. Dieses sechste Bewusstsein wird als das mentale Bewusstsein bezeichnet. Das mentale Bewusstsein kann sich aller oben genannten Dinge – Formen und Farben, Geräusche, Gerüche, Geschmacksvarianten und Tastempfindungen – und vieler anderer Dinge bewusst sein.

Verzerrte Erscheinungen

Die fünf Arten des sensorischen Bewusstseins hängen vom Zustand der zugehörigen