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»Deutschlands fröhlichste Regienull« Gerhard Stadelmaier/FAZ Leander Haußmann zeigt, wie man durch brillante Erzählkunst und umwerfende Komik aus Niederlagen und Skandalen Siege macht.Schillernde Figur? Ewiges Enfant terrible? Virtuoser Multitasker? Keine leichte Aufgabe, Leander Haußmann zu beschreiben: Theaterregisseur. Schauspieler. Intendant. Filmregisseur. Drehbuchautor. Komödienspezialist. Und wenn man weiter zurückblickt: Ossi-Jugend. NVA-Wehrdienst. Schauspielschule Ernst Busch ...Erfreulicherweise ist Leander Haußmann noch etwas anderes: ein hochorigineller, hochunterhaltsamer Schriftsteller, der in seinem ersten Buch zeigt, wie man durch brillante Erzählkunst und umwerfende Komik aus Niederlagen und Skandalen leuchtende Siege macht.In einem feuerwerkartigen Monolog, in raffinierten Sprüngen und überraschenden Assoziationsketten erzählt Leander Haußmann Szenen aus einem Leben, in dem sich Zeitgeschichte, Kulturgeschichte und eine turbulente Familiengeschichte überkreuzen: Theaterabenteuer in der tiefsten DDR-Provinz, kuriose Stasi-Überfälle und rekordverdächtige Alkoholexzesse, eine Druckerlehre mit gefährlichen Druckmaschinen, die missglückte Ehe der Großmutter mit Hermann Hesse, Ausreiseanträge und Mauerfall, Prügeleien und entsicherte Pistolen in der Bochumer Theaterkantine, Filmfestivaldepressionen, Burnoutkrisen und nächtliche Nacktszenen auf Leipziger Hotelfluren.Doch insgeheim ist das Buch ein nachgeholter Dialog – mit dem vor zwei Jahren verstorbenen Vater, dem Schauspieler Ezard Haußmann, dem der Sohn mit seinem Buch ein berührendes Denkmal setzt.
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Seitenzahl: 262
Leander Haußmann
Buh
Mein Weg zu Reichtum, Schönheit und Glück
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Früher haben wir immer gesagt: Egal, was die anderen sagen, Hauptsache, Mutti gefällt’s. Das habe ich auch überall, in Interviews, in Talkshows und offiziellen Verlautbarungen, kundgetan. Das hat mir natürlich nicht nur Lacher, sondern auch – neben dem schwerwiegend missverstandenen (oder richtig verstandenen, wie Sie wollen) Vorwort »Viel Spaß« zu meiner ersten Spielzeit in Bochum – viel Ärger und Kopfschütteln eingebracht. Es war nicht dieses ungefährliche Kopfschütteln meines Lehrmeisters, des Herrn Knippert in der Berliner Druckerei, als er Boris Naujoks und mich zum ersten Mal an der Maschine 5 sah, der wir (und damit ihm) zugeteilt waren. Nein, es war dieses bildungsbürgerliche Gymnasial-Kopfschütteln, eine Mischung aus Enttäuschung und der Erkenntnis, dass sich die Investition in meine Person, die auf der Basis von Hoffnung und Vertrauen sowieso schon auf sehr unsicheren Füßen gestanden hatte, als grundsätzlich falsch erwies. Viele meiner Förderer sahen in mir nun das Monster eines Frankensteins, den sie schnell wieder loswerden mussten, zumal nichts schneller aufgebraucht ist als der New-Comer-Bonus.
So war es die Mutter, die nichts anderes und nichts weiter als den Sohn in mir sah, was nicht heißt, dass diese Sichtweise beruhigender ist, nicht für eine Mutter.
Meine Mutter hat lange als Kostümbildnerin gearbeitet, alte Schule, von energischer Art. Eine, die den Faden selbst durchs Nadelöhr gezogen hat, eine, deren Schritt beim Einkauf eines Hutes, einer Hose oder eines für andere vielleicht banal erscheinenden Knopfes schneller wurde, fast in den Bereich Sturmschritt kam. Eine von altem Schrot und Korn, der Schrecken der Praktikanten, eine, die ohne Kollateralschäden Frauen wie Margit Carstensen in Kostüme steckte. Eine, die noch richtig zeichnen kann, wo man alles auf der Skizze sieht, was es im Theater so nicht mehr, im Film aber schon noch gibt. Eine Person also, die alles über Uniformen und über Krawattenknoten weiß, eine, die mit großer Leidenschaft ihr Wissen umgesetzt hat, auch in vielen meiner Arbeiten.
Dieser Mutter also, die, wenn man so will, drei Kinder hatte, meine Schwester, mich und meinen Vater, gab ich als Erstes die Druckfahne des Buches zu lesen. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht aufzählen möchte, und streckte am Ende der Lektüre beide Daumen nach oben. Das bedeutete, freie Fahrt, das bedeutete, alles ist gut.
Da diese wichtige Person, ohne die es die Haußmanns, so wie es sie heute gibt, nicht geben würde, in diesem Buch eher am Rande vorkommt, sei ihr also hier die erste Seite gewidmet und damit das ganze Buch. Und ich denke, darauf können wir uns alle, wenn wir ganz ehrlich sind, einigen: Hauptsache, Mutti gefällt’s.
P.S. Obwohl mich auch interessieren würde, wie es Meister Knippert gefällt, an den ich komischerweise in letzter Zeit oft denken muss.
Scharnweberstr. 67, Berlin-Friedrichshagen, 1980
Entschuldigung
Alle Menschen, die in diesem Buch vorkommen, haben meinen großen Respekt. Sie haben, so es möglich war, vorab die Stellen gelesen, in denen sie vorkommen. Ich habe ausschließlich über Menschen erzählt, die ich mag und die über ein gerüttelt Maß an Selbstironie verfügen. Sie wissen, dass ich ein guter Mensch bin (zumindest daran arbeite) und natürlich auch weiß, dass sie es auch sind. Danke euch allen.
Als ich einmal meinen Freund Frank Castorf fragte – er stand gerade (warum ich dabei war, weiß ich nicht mehr) unter einer Dusche –, wie er das denn alles hinbekomme mit den Freundinnen, über die er in einem fort jammert, und den vielen Kindern (sechs oder sieben sind es mittlerweile), und ob das nicht, vor allem organisatorisch, schwierig sei, musste er nicht einmal nachdenken, um mir zu antworten: »Weeste Leander, ick lass et einfach loofen.«
Ich verstand ihn sofort, war ein bisschen neidisch auf seine Freiheit und sage jetzt dasselbe: Ick lass et einfach loofen.
Beginnen wir in Portugal. Genauer gesagt, in Porto. Ich bin wegen eines Filmfestivals hier. Mit meinem neuen Film. Meine Laune ist nicht die beste. Das hier ist ein Horrorfilm-Festival, mein Film ist eine Komödie, ich komme mir deplatziert vor. Niemand unternimmt den Versuch, mir diesen Eindruck zu nehmen.
Schon am Tag der Vorführung habe ich eine Blue-Ray-Projektion über mich ergehen lassen müssen, bei der nicht nur der Sound albtraumhaft schlecht war, sondern auch das Bild an der spannendsten Stelle hängen blieb, dann musste die Disc gegen eine noch schlechtere ausgetauscht werden und die Zuschauer waren gezwungen, sich noch mal eine halbe Stunde von dem anzuschauen, was sie schon gesehen hatten. Vielleicht plagt die Organisatoren ein so schlechtes Gewissen, dass sie mich seitdem ignorieren. Für sie scheine ich nicht mehr da zu sein.
Nachdem ich also an diesem trotz des Sonnenscheins tristen Ort drei Tage lang herumgehangen, den Hafen und alle Shoppingstraßen besichtigt, hunderttausend Mal in das Schaufenster neben meinem Hotel geglotzt und wie eine verblühende Dame in der Hotelbar namens »Windsor« an meinem zwanzig Jahre alten Portwein genippt habe, ohne dass mir irgendein spannendes Wesen über den Weg gelaufen wäre, wird mir klar, wo ich mich auf der Karte des Lebens befinde.
Die Tür fliegt auf und herein kommt ein junger, schöner Mann. Er hat langes, volles Haar, seine Nase ist prächtig, seine Bewegungen sind schlaksig und seine Art ist laut. Er strebt mit schlafwandlerischer Sicherheit auf eine berühmte Schauspielerin der Ostberliner Volksbühne zu, die ihren wohlverdienten Premierenwein trinkt.
Ursula Karusseit hat gerade die Premiere eines Franz-Xaver-Kroetz-Stückes gestemmt. Der hübsche junge Mann ruft schon von Weitem »Hey, Uschi«, bevor er sich auf eine Weise vor ihr auf die Knie lässt, die er für charmant hält. »Du bist eine gute Schauspielerin, aber nicht in diesem Stück«, sagt er und zwinkert ihr zu.
Ursula schaut ihn an. Was fällt diesem Kerl ein, fragt sie sich. Obwohl: Hat sie sich das nicht selbst eingebrockt? Hat sie nicht, wenn sie mal ehrlich ist, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen versucht, als sie sich mit diesen Schauspielstudenten, den Freunden ihres Sohnes Pierre Besson, eingelassen hat, als seien sie Kollegen auf gleicher Ebene? Hat sie es nicht sexy gefunden, wie diese verwirrten Jugendlichen durch die Straßen Ost-Berlins gelaufen sind und irgendwas von einem »Berliner Boheme Theater« gebrüllt haben? Ist sie nicht selbst schuld, dass ihr da jetzt dieser Schnösel so auf den Sack geht? »Nicht jetzt«, sagt sie, »sonst immer gern, Leander.«
Der junge Mann rollt seinen Körper nach oben und mit einem »Alles klar, Uschi« trollt er sich.
An der Bar des grünen Salons in der Volksbühne steht sein Kumpel Uwe Dag Berlin, der in den nächsten Stunden noch seine Hose herunterlassen und sein Geschlechtsteil zeigen wird, woran er sich aber am nächsten Morgen nicht mehr erinnern wird. Er quasselt auf einen nicht mehr ganz jungen Schauspieler ein, der sich von dem Kroetz-Stück ein gigantisches Comeback erwartet hatte, aber schon beim Schlussapplaus spüren konnte, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen würde. Uwe Dag bearbeitet den armen Kerl nach allen Regeln der Dekonstruktion. Man hört Worte wie »geht gar nicht«, »langweilig« und »Kunst«.
Der junge Mann stellt sich dazu. »Ich musste es der Uschi sagen.« Er bestellt sich ein Glas Rotwein. Gegenüber der Bar ist ein Spiegel. Er prostet sich zu.
Uwe Dag ist ein Gérard-Depardieu-Typ mit einem Schuss Kinski. Auch er trägt das Haar lang. Und möhrenrot gefärbt. Wenn Uwe trinkt, wird er entgegen seiner Natur etwas lauter, vor allem aber unversöhnlicher.
Die beiden sind Freunde. Sie haben zusammen eine Theatergruppe gegründet. Das Berliner Boheme Theater. Damit sind sie auf den Straßen aufgetreten, in Kleingartenkolonien, Dörfern und auf öffentlichen Plätzen. Inoffiziell, an der FDJ vorbei, das war 1980. Dann beschlossen sie in einer Kneipe, es mal an der Schauspielschule Ernst Busch zu versuchen. »Wenn sie uns nicht nehmen, hauen wir ab in den Westen«, das war der Plan.
Nach diesem Entschluss rief er sofort volltrunken seine Eltern an. Seine Mutter war dran. »Was will er?«, rief es von hinten gegen das Gedröhn des Fernsehers, der immer sehr laut lief, denn sein Vater war schwerhörig.
»Er will jetzt doch Schauspieler werden«, kam es von seiner hilflosen Mutter zurück.
»Mit dieser Nase kriegt er nur komische Rollen«, nörgelte es aus dem Fernsehzimmer.
Ein hübsches dunkelhaariges Mädchen durchquert die Hotelbar in Porto. Sie schaut mich an und lächelt. Schöne Zähne hat sie, strahlend weiß. Unwillkürlich fahre ich mir mit der Zunge über die abbröckelnden Teile meines Provisoriums an den Vorderzähnen. Ich muss zum Zahnarzt, denke ich und lächle zurück, mit geschlossenem Mund. Das Mädchen geht zum Ausgang, auf die Shoppingstraße, die ich mittlerweile so gut kenne. Ein junger Mann folgt ihr. Er hat lange Haare, sieht gut aus. Er ist ein wenig schlaksig, auf jeden Fall sehr sympathisch. Er sieht mich. »Hallo«, sagt er.
Ich weiß nicht genau, wo ich ihn hinstecken soll.
»Du erinnerst dich nicht? Wir wurden uns mal vorgestellt.«
Jetzt erinnere ich mich: ein junger Filmregisseur, dessen Erstlingsfilm – ein Endzeitszenario – auch auf dem Festival läuft und im Gegensatz zu meinem Film wie Arsch auf Eimer passt. Ich sage ihm, dass ich seinen Film leider noch nicht gesehen habe, sehe, dass es ihn betrübt, und erkenne, dass er meinen Film sehr wohl gesehen hat und ihn beschissen findet. Ich bin trotzdem froh, hier wenigstens eine deutsche Nase anzutreffen, und frage ihn, ob er mit mir ein Bier trinken würde, heute Abend vielleicht.
»Na klar, sehr gerne«, sagt er und macht einen erfreuten Eindruck.
Das ermutigt mich, den Versuch zu unternehmen, in dieses Gespräch etwas mehr Tiefe zu bringen. Schließlich habe ich seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen, meine Kehle ist ganz steif vom vielen Schweigen, so kommt mich das Plappern an. Ich beklage mich über die beschissene Projektion meines Films vor drei Tagen und merke, dass der junge Mann etwas hibbelig wird. Seine Projektion, sagt er, sei sehr gut gewesen und die Reaktionen der Zuschauer auch.
»Die Reaktionen der Zuschauer waren bei mir auch super«, erwidere ich schnell.
Er wirkt erstaunt, dass die Reaktionen in meinem Film auch gut waren, er scheint zu argwöhnen, ich wolle mich mit ihm gleichstellen.
Ich trinke den Rest Portwein, hebe den Arm zum Kellner – er nickt mir verschwörerisch zu, schließlich will er seinen einzigen Tagesgast nicht verlieren – und lasse mich tief in die Polster fallen, um Folgendes mitzuteilen: »Das hier ist ja ein Horrorfilm-Festival.«
Der Jungfilmer nickt, das ist ihm bekannt.
»Dein Film passt hier ganz gut her«, sage ich. »Aber warum ich hier bin, weiß ich nicht.«
Ich gebe mal wieder dem Drang nach, mich vollständig fremden Leuten gegenüber zu öffnen. Er schaut zum Ausgang, wo seine hübsche Freundin auf ihn wartet. »Gestern habe ich einen Film gesehen«, sprudelt es aus mir heraus, »den habe ich überhaupt nicht verstanden.«
So wie andere auf die Armbanduhr schaut der junge Regisseur erneut zum Ausgang, er sieht seine Freundin im Gegenlicht der Vormittagssonne.
»Da ging es um eine Frau«, sage ich gemütlich aus meiner Sitzecke heraus, »die ihren Freund mit seinem besten Freund betrügt. Der Betrogene kauft sich daraufhin eine Pistole, geht zu seinem Freund und weißt du, was der tut? Er fickt den Freund mit vorgehaltener Waffe in den Arsch.«
Meinem Gegenüber entgleiten die Gesichtszüge, er sieht jetzt ein wenig altjüngferlich aus. Doch ich bin nicht mehr zu stoppen, halte meinen Zeigefinger an die Stirn und mache Klack: »Doch dann ist die Knarre nicht geladen.«
Der Jungfilmer verzweifelt, das kann ich jetzt deutlich sehen, ich kenne diesen Gesichtsausdruck von mir. Aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. »Nicht geladen!«, rufe ich aus. »Nicht geladen!« Etwas zu leidenschaftlich für diese Tageszeit (vielleicht liegt es an den Schmerztabletten, die ich wegen meiner Rückenschmerzen nehmen muss und die aus der Familie der Opiate stammen, die ja bekanntlich Euphorie erzeugen, vielleicht an dem Portwein, wahrscheinlich an beidem), ich könnte mich jetzt jedenfalls ganz in dieser Aufregung einrichten.
Der Körper des Jungregisseurs ist schon wie ein windschiefer Baum zum Ausgang hin gerichtet. Könnte er sich in irgendeine Substanz neutralisieren, zum Beispiel Quecksilber, und in dieser Form zum Ausgang fließen, er würde es tun.
Doch ich kenne keine Gnade. »Ich hasse es, wenn sich in Filmen Waffen als nicht geladen herausstellen. Das ist wie mit Sequenzen, bei denen es sich um Träume handelt, von denen man aber nicht weiß, dass es Träume sind. Da wird man in Aufregung versetzt, dabei hat der Held, um den man sich Sorgen macht, die ganze Zeit doch nur geschlafen, von wegen Ätsche-Bätsche, umsonst gebangt.«
Habe ich wirklich Ätsche-Bätsche gesagt und dabei auch noch die Ätsche-Bätsche-Geste gemacht?
»Ich muss dann mal«, sagt der Junghorrorfilmer, »muss mal meine Freundin suchen.«
»Warum suchen? Sie steht doch da am Eingang«, sage ich laut lachend und gebe ihm zum Abschied die Hand, wofür ich mich ächzend aus den Polstern heben und meinen Arsch in halbe Höhe halten muss: »Bandscheibe.«
»Klar«, sagt er, als würde er wissen, wovon ich spreche.
»Also dann, Bier?«, frage ich und schlage 17 Uhr vor.
»Da will ich mir noch einen Film angucken, einen bulgarischen …« Er wirkt jetzt etwas verlegen.
»Na klar«, sage ich, »den will ich mir doch auch angucken. Das ist ja das Geile an so einem Festival. Dass man mal Filme sieht, die man sonst nicht sieht. Lass uns mal Handynummern tauschen.« Ich gebe ihm meine Handynummer. »Also bis dann, im Kino.«
Ich sehe ihm nach. Sein Gang ist ganz Swing. Ich rufe hinter ihm her: »Nach dem Film trinken wir dann Bier, ja?«
Er dreht sich zu mir um. »Na klar, ich freu mich.«
Da sitze ich in der Windsor-Bar des Grand Hotel in Porto: rote Plüschmöbel, Tapete mit Bildern der Windsors und überall Spiegel, oben, unten, seitlich, sie zeigen mich aus allen Blickwinkeln. Ich kann den kreisförmigen Haarausfall sehen, den ich von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt habe. Ich setze meinen sauteuren grauen Hallhuber-Hut auf, den ich in München gekauft habe, und stecke mir, da es sich um eine Raucherbar handelt, eine Zigarette in den Mund. Erstaunlich, was so ein Hut ausmacht. Ich sehe ein bisschen aus wie Billy Wilder. Das macht die Sache besser, viel besser. Ich bestelle noch einen Portwein.
Ein paar Stunden später sitze ich im Kino und sehe mir einen bulgarischen Film an, mit traurigen Menschen in traurigen Situationen, die vor dem Hintergrund eines Endzeitszenarios traurige Sätze sagen und oft weinen. Mein Handy vibriert, ich lese die SMS: »Sind doch noch an den Strand gegangen, kommen sehr spät zurück.«
Ich gucke den Film bis zum Schluss, was soll ich sonst tun. Ein bisschen muss ich auch lachen. Wer hätte gedacht, damals, 1986, als ich mit Uwe die Volksbühnen-Premierenfeier betrat, dass ich fast dreißig Jahre später in einer Bar in Portugal mir selbst begegnen würde?
Und wo genau auf der Karte des Lebens befand ich mich jetzt?
Noch nie war mir so schlecht. Es war Angst. Die nackte. Natürlich auch Panik. Weiche Knie, Magenschmerzen. Auf dem Weg zum Theater musste ich mehrmals zum Kotzen anhalten. Dabei war es gar nicht weit zu meiner Arbeitsstelle. Eigentlich nur über den von Kohlenstaub geschwärzten Hof, eine Eisentreppe hinauf zu einer Rampe, durch die Eisentür mit der Aufschrift »Betreten und Rauchen verboten« – und schon war man auf dem, was man hier Bühne nannte. Die Brandmauer grenzte direkt an einen jahrhundertealten Bauernhof, dessen Besitzer sich seit ebenso langer Zeit einen Hahn leisteten.
Dieser Hahn war ein unkalkulierbares Risiko. Niemand konnte wissen, wann er zu seinem infernalischen Schrei ansetzte, der bis in die letzte Reihe des Zuschauerraumes gut zu hören war. Das Inszenieren von wirkungsvollen Pausen in dramatischen Situationen wurde so zu einem russischen Roulette.
Der Hahn war der persönliche Feind des Chefdramaturgen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, diesen auf allen Wegen, vor allem juristisch, zu vernichten. Das war nicht einfach, obwohl er als Chefdramaturg alle Karten in der Hand hielt. Sein größter Trumpf waren die Funktionen, die er angehäuft hatte. Schließlich war er der Bezirksparteisekretär und Volkskammerabgeordnete von Mecklenburg (Vorpommern gab’s nicht in der DDR-Sprachregelung) und saß damit am Drücker. Nach jahrelangen gerichtlichen Scharmützeln errang er im Namen der Kunst, der Partei und des Sozialismus dann einen Sieg über die Natur. Der Hahn wurde hingerichtet und landete in einem Suppentopf, die Bauern gingen zum Markt und kauften sich einen neuen Hahn. Der Kampf ging von Neuem los.
Unser Haus, die »Villa Kunterschwarz«, wie mein Mitbewohner Uwe Dag diese Bruchbude getauft hatte, befand sich, wie gesagt, am anderen Ende des Hofs. In Sichtweise des Landestheaters Parchim. Dennoch war der Weg an diesem Morgen vor der Premiere meiner ersten Inszenierung, zu der ich gekommen war wie die Jungfrau zum Kinde, beschwerlicher und länger, als je ein Weg, den ich zum Theater gegangen bin. Nie wieder in meinem Leben war ich so aufgeregt. Während ich mich in Begleitung von Uwe Dag (wahrscheinlich auch gestützt von ihm) zum Theater schleppte, ließ ich eine Spur Kotze hinter mir. Das lag natürlich nicht nur an der Angst vor der Premiere, sondern auch daran, dass wir uns seit der missglückten Generalprobe bis an diesen Termin herangetrunken hatten.
Und am Morgen meiner ersten Premiere als Regisseur sang der Hahn sein ahnungsvolles Lied vom Scheitern und vom Tod.
Von Berlin mit dem Auto zwei Stunden, mit der Bahn fünf Stunden. Die Schnellbahn hatten die reichen Bürger der Gründerzeit der Ruhe wegen weiträumig um Parchim herumfahren lassen, ließ ich mir sagen. Die einstmals weißen, nun grauen Villen, von sowjetischen Offizieren bewohnt, zeugten von vergangener Pracht. Die Stadt war geprägt von der sowjetischen Besatzungsmacht. Hängt die Wäsche weg, sperrt die Mädchen ein, der Russe hat Ausgang, hieß es.
Unser Publikum war überschaubar und so schielten wir nach Berlin, in die Hauptstadt der Avantgarde. Dorthin, wo Castorf war, und alles, was Rang und Namen hatte. Wenn es gut lief, spielten wir drei Aufführungen des Stückes vor Ort. Bei vier galt der Abend als Erfolg. Alle anderen Vorstellungen gaben wir auf dem Land: in Clubhäusern, Kasernen und Dorfkneipen. Die Bühnenbilder und Schauspieler mussten aus Gummi sein, so flexibel, dass sie auf jede Bühne passten.
An der Fußgängerzone gelegen, war das Landestheater Parchim ein ehemaliges Hotel, das die Russen zum Theater erklärt hatten. Das eigentliche Theater, ein prächtiger Jugendstilbau, wurde von den theaterbegeisterten Russen als Kommandantur, später dann von der Volkspolizei als Polizeiwache genutzt.
Hier arbeiteten Freaks. Für mich, Absolvent der renommierten Schauspielschule »Ernst Busch«, der seine vielversprechende Karriere als jugendlicher Liebhaber am Stadttheater Gera begonnen hatte, war Parchim nicht nur Abenteuer, sondern auch Abstieg. Das Ende meiner Laufbahn im Sibirien der DDR-Theaterlandschaft.
Denn Parchim war 1988 nicht nur einer der bevölkerungsärmsten Orte, nicht nur tiefste Provinz, sondern auch in den Fünfzigerjahren hängen geblieben wie die Nadel in der Rille einer Langspielplatte. Parchim war Weltanschauung. Parchim war der Gulag, in den die Überflüssigen, die Abgeschriebenen, die Über- und Unterbegabten abgeschoben wurden. Aber eben auch Experimentierküche für alles, was kommen würde. Konzentrierte Selbstbeschauung, Großkotzigkeit im Kleinformat. Parchim war wie das Kinderzimmer für unartige Kinder: abgeschlossen und Schlüssel weggeworfen.
In dem kleinsten Intendantenbüro der Welt thronte ein SED-Idealist im grauen Mischgewebeanzug, bei dem es einen schon beim bloßen Hinsehen juckte. Ein echter Künstlerfreund und ein trauriger Ermöglicher, das war Wolfgang Thiede, Intendant der Landesbühnen Parchim. In seinem Vorzimmer saß die eigentliche Chefin, Heide-Rose, nicht nur Zerberus, auch Mutter für alle Probleme. Heide-Rose war die Seele des Theaters, sie war das Zentrum. Was Heide-Rose nicht wusste, wusste niemand. In ihrem Wuschelpullover steckte sie in ihrem Drehstuhl und beherrschte das kleine Theater wie eine schwebende, pinkfarbene Fluse.
Das Krähen des Hahns und das Rumpeln, das schon seit meiner Ankunft hier in Parchim aus dem Magen des Theaters kam, als würde es eine schlechte Mahlzeit verdauen, prägte den Sound meiner ersten Probe als Regisseur. »Was ist das eigentlich für ein Rumpeln?«, fragte ich.
»Was für ein Rumpeln?« Michael Gitter, seit zwei Jahren Protagonist des Theaters, hörte in die Stille. Es rumpelte nicht. Nur der Hahn krähte. »Es ist der Hahn«, sagte Gitter. Und ich zweifelte an meinem Verstand, hatte ich es doch sehr genau gehört, dieses Rumpeln.
Schon am Anfang waren sie mir aufgefallen, die Männer. Sie saßen morgens in der Kantine, vertilgten billige Zigarren zum Frühstück, trugen Trainingsanzüge und glotzten die Leute vom Theater mit finsteren Mienen an. Um neun Uhr dreißig erhoben sie sich in Zeitlupe und verschwanden hinter einer braunen schmalen Holztür.
Eines Abends beschloss ich, herauszufinden, was hinter der braunen Tür war. Ich stieg vorsichtig die Treppe hinunter, machte das Licht an und da sah ich sie: eine dreistöckige, gigantische Kegelanlage mit mindestens zehn Bahnen.
»Na klar«, erklärte man mir später, als sei das nie ein Geheimnis gewesen, »den Kegelverein gibt es schon seit 1933. Uns gibt es hier erst seit dem Bitterfelder Weg.«
Seitdem beruhigte mich das rumpelnde Geräusch. Es trainierte der traditionsreiche Kegelverein von Parchim. Solange das so war, war die Welt irgendwie in Ordnung. Denn es bewies ja: Qualität hat Bestand.
Zunächst musste meine Rolle umbesetzt werden, damit ich bei Ibsens »Hedda Gabler« unten sitzen konnte. Ich rief Ralf Dittrich an, der damals schon so alt war wie heute. Er kam flink wie eine Feuerwehr und übernahm den Part von Hedda Gablers schlappem Ehemann. Wir hatten nur noch drei Wochen Zeit für eines der, wie man so sagt, schwierigsten Stücke der Weltliteratur.
Die Kostümbildnerin machte Dienst nach Vorschrift, denn sie war beleidigt. Die Bühnendekoration war erst halb fertig und auch erst zur Hälfte aufgebaut: der obligatorische Wintergarten mit seinen verglasten Gitterrosten, die aufgrund der gestutzten Maße der Bühne eher in die Höhe gebaut waren und deshalb bei jeder Bewegung hin und her schlabberten, und die Türen links und rechts, die die Wände ebenfalls zum Beben brachten, wenn einer von uns auftrat, was aufgrund unserer Jugend meist stürmisch geschah. Das dünne Holz der Seitenwände bog sich gefährlich, und mit jedem Schritt auf dem mit Fischgrätenparkett bemalten Bodentuch schien die ganze Schose jeden Moment in sich zusammenfallen zu wollen. Die eigentliche Schreckensnachricht aber war, dass es kein Holz mehr gab, um das Bühnenbild fertigzubauen. Und wir hatten nur noch zwei Wochen.
Unser Chefdramaturg, der Bezirksparteisekretär und Volkskammerabgeordnete, unterbrach seine juristische Vorbereitung zum Prozessbeginn der Causa Hahn und widmete sich nun mit ebenso großer Leidenschaft der Fertigstellung des Bühnenbildes von »Hedda Gabler«. Tatsächlich gelang es ihm, beim VEB-Amt für Forstwirtschaft eine Schlaggenehmigung zu erwirken, die die Belegschaft der Landesbühnen berechtigte, sich bewaffnet mit Beilen und Äxten in den Wald zu begeben, um geeignete Bäume zu fällen. Auf freiwilliger Basis versteht sich. So wurde es gemacht.
Als wir um sechs Uhr morgens, noch verkatert von der Tages- und Nachtprobe, mit einigen Kontergetränken im nahe gelegenen Wald standen, die Beile und Äxte in den schlappen Armen, gab Schortie Folgendes zu bedenken: »Wenn wir in zwei Wochen Premiere haben, das Holz aber noch abliegen, verarbeitet und zurechtgesägt werden muss, dann schaffen wir das ja gar nicht.« Schortie hieß eigentlich Steffen Schult und war als Schauspieleleve mit Regieassistentenverpflichtung auf dem besten Wege, nicht nur ein Faktotum des Landestheaters Parchim, sondern der gesamten DDR-Theaterszene zu werden. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war, dass er ein ganzes Stück Weges mit mir gehen, sich sogar Wohnungen mit mir teilen würde. Von Parchim nach Weimar, über Berlin bis nach Bochum. »Dann müssen wir also«, sagte Schortie an diesem Morgen im Parchimer Wald, »die Premiere verschieben.«
Da meldete sich auch Uwe zu Wort, der damals schon so viel wusste wie heute: »Das stimmt, Holz muss erst mal liegen.«
»Das ganze Harz muss da ja raus«, sagte Irmchen Kummerow, unsere Hauptdarstellerin.
Das Verschieben einer Premiere kam nie mehr so sehr nicht infrage wie in Parchim an den Landesbühnen. Die Vorstellungen waren nach einem seit dem Bitterfelder Weg bewährten Plan auf Mecklenburg verteilt. In wuchtigen Klubhäusern, winzigen Kaschemmen, ensemblelosen Theaterkästen, quadratischen Hallen und monumentalen Multifunktionsbauten, in schmucken Hoftheatern und Kurhäusern kämpften wir an vorderster Front für die Kunst. Wenn in den großen Städten Theatermachen war wie Auf-dem-Feldherrnhügel-Stehen, so befanden wir uns hier in den Schützengräben. Auch die zahlreichen Kasernen seien hier erwähnt, in denen es Theater auf Befehl gab, was ich, wenn ich ganz ehrlich bin, schon immer eine schöne antike Idee fand.
Als Irmchen Kummerow als Hedda Gabler später die Bühne im Armee-Klubhaus »Erich Weinert« betrat, herrschte Stille unter den eingerückten Kompanien. Es war nicht jene Stille, die sich normalerweise von einem theaterbegeisterten Zuschauer in Form wissender Konzentration dem Schauspieler als Interaktion mitteilt. Nein, es war etwas anderes. Es ließ sich nicht vermeiden, dass Irmchen sich vornüberbeugen musste, um ein Blumenbukett zurechtzuzupfen, wie ich es inszeniert hatte. Die Vase stand auf einem sehr niedrigen Tisch und der stand sehr weit vorne an der Rampe. Irmchen musste sich demzufolge sehr tief nach vorne beugen. Wer einmal in seinem Leben aus tausendfünfhundert trockenen Männerkehlen das Wort »Titten!« gehört hat, weiß, welche Emotionen Theater bei den Menschen auszulösen imstande ist. Da war der Bitterfelder Weg, wenn auch auf ganz spezielle Weise, dort angekommen, wo er nach den Landkarten der Funktionäre hatte hinführen sollen. Die Menschen da draußen sollten teilhaben an der Kultur, das war die Idee des Bitterfelder Weges.
Jede Verschiebung des Premierentermins hätte jedenfalls das komplexe und filigrane Planungsgewebe zerstört. So standen wir also bei morgendlichem Vogelgezwitscher im Tau des Waldes wie die Handwerker im »Sommernachtstraum« und dachten nach. Dann öffnete einer eine Flasche eines Getränks, das sich Halb und Halb nannte, da war es 9.30 Uhr. Enttäuscht sah der Chefdramaturg auf die Motorsäge, die er sich als Einziger beschafft, für die er als Einziger eine Genehmigung und auf die er sich so gefreut hatte. Um 13.30 Uhr waren alle sehr betrunken und um 15 Uhr zurück im Theater.
In jener Probe, die die letzte in Henri Wieses Leben als Regisseur werden sollte, ging es um eine Szene, in der eine neue Figur eingeführt wird: ein alter Freund Tesmans, des schlappen Ehemanns von Hedda Gabbler, ein wahrhaftiger Künstler, der im Gegensatz zum schlappen Ehemann ein wirklich gutes Buch geschrieben hat. Hedda wird, soweit ich mich erinnere, das Manuskript im vierten Akt verbrennen, bevor sie sich im fünften erschießt. Dieser dunkle Charakter, der der Story einen neuen »Beat« gibt, tritt am Ende des ersten Aktes auf und bringt die scheinbare bürgerliche Ordnung durcheinander. So jedenfalls sahen wir es damals. Er sollte von Anfang an eine Gefahr darstellen, die von den übrigen Protagonisten als solche wahrgenommen wird.
Dazu muss man wissen, dass wir damals unsere Aussagen gerne doppelt und dreifach unterstrichen. Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist bei den jungen Schauspielern und Regisseuren. Bei uns jedenfalls war es so. Eines unserer Stilmittel, das sich leider bis heute erhalten hat, war die Improvisation; damals, wie vorher und nachher und heute noch, sehr modern.
Wahrscheinlich hatte Uwe die Idee, ich weiß es nicht mehr. Hinter der Bühne stand ein Pappkarton. Er war gerade so groß, dass Uwe und sein Akkordeon hineinpassten. Also setzte er sich rein, ließ ein Geschenkband mit großer Schleife drum herumwickeln und sich mit einer Sackkarre auf die Bühne fahren. Dort öffnete ich, zu diesem Zeitpunkt noch Tesman, Hedda Gabblers schlapper Ehemann, gemeinsam mit Hedda den Karton – und siehe da, der Freund aus alten Tagen hatte sich selbst als Geschenk im Hause Gabler empfohlen. Uwe begann zart mit dem Akkordeon »Paint It Black« zu spielen. Was haben wir an diesem Vormittag alles hervorgebracht! Ich erinnere mich, dass wir improvisierten wie Sau: Wir bewarfen Uwe mit Gegenständen, bespritzten ihn mit Wasser, traten ihn, boxten ihn, stießen ihn von der Rampe, brüllten schmutzige Worte. So ging das vier Stunden lang, bis die Spieler selig erschöpft waren.
»Und? Was hast du gesehen?«, fragte Uwe.
Henri antwortete: »Arschlöcher!«
Ich brüllte: »Jetzt kannst du meinen Arsch von hinten sehen«, und ging nach Hause.
Uwe kam mit. Alle gingen.
Natürlich hatte Henri Wiese recht! Aber was nutzte es ihm?
Der Erste, der mir begegnet, ist ein Borderliner. »Hallo Arschloch«, brüllt er mir entgegen, »hoffentlich privat versichert!« Das Auto, das mich hierhergebracht hat, fährt weg. Mein Vater sitzt am Steuer. »Wenn du nach fünf Minuten nicht zurück bist, haue ich ab«, hat er gesagt. Typisch Papa. Nun schluckt ihn der Wald.
Auf dem Weg hierher haben wir wenig gesprochen. Am Bahnübergang gab mein Vater ein paar Autogramme, er war erkannt worden, irgendwo da draußen, in einer ländlichen Gegend, das freute ihn. Ich spürte seinen Blick, als ich dieses Haus betrat, das sich zwischen Kiefern, Fichten und Birken verbarg und zu dem kein Wegweiser führte.
Nun stehe ich vor einem strengen Herrn, der mir in die Pupille leuchtet. Komisch, denke ich, das habe ich doch gerade verfilmt, mit Christoph Waltz, Detlef Buck und Christian Ulmen, fehlt nur noch »Depeche Mode«.
»Sind Sie nicht dieser Regisseur, warten Sie mal, haben Sie nicht diesen Ostalgie-Film gemacht?«
Ich nicke, zu mehr bin ich nicht imstande.
»Warum sind Sie hier?«, fragt mich der Mann.
»Ich weiß nicht«, antworte ich.
»Sie haben sich doch selbst eingewiesen«, bohrt der Mann nach. »Sie müssen doch wissen, warum Sie hier sind.«
Ich zucke mit den Schultern.
»Na, dann zeig ich Ihnen mal Ihr Zimmer.« Der Mann fasst mich vorsichtig am Ellenbogen. »Der Professor kommt gleich.«
Ich sitze auf dem Bett. Das Zimmer ist nur für eine Nacht. Morgen bekomme ich ein anderes. Ich stehe unter Beobachtung, hat man mir gesagt.
Ich ziehe meinen Pyjama an. Auf dem Balkon bewegt sich etwas. Der Mond wirft einen Schatten auf die weißen zugezogenen Vorhänge. Ich öffne sie und schaue in das hagere Gesicht eines Mannes, der an einer Zigarette saugt wie ein Baby an der Mutterbrust.
»Alles schlimm«, flüstert er, »alles so schlimm.« Tränen kullern ihm aus den Augen. »Heroin«, sagt er und streckt warnend seinen Zeigefinger in die Luft.
Ich bitte ihn um eine Zigarette. Er dreht mir eine, mit zitternden Fingern. »Heimweh«, flüstert er. Er ist Holländer.
Ich ziehe an der Zigarette. Sofort wird mir schwindlig. Ich könnte umfallen. Der Holländer hört ein Geräusch, er versucht, seine Zigarette wegzuschnippen, doch sie klebt an seinen Fingern. Hysterisch schüttelt er sie ab und flieht in sein Zimmer.
Wieder leuchtet mir jemand in meine Pupillen. Das dritte Mal heute. »Was haben Sie genommen?«, fragt mich der junge Professor.
»Nichts«, sage ich wahrheitsgemäß.