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Als sein Lehrer ihm rät, sein komödiantisches Talent zu nutzen, nimmt Peter Rileys Leben eine Wende. Vom schwierigen, unbeliebten Schüler wird er zum gefeierten Schauspieler und entdeckt die Liebe zu seiner weitaus älteren Kollegin Nyrene. Obwohl der Altersunterschied die beiden zunächst trennt, finden sie schließlich zueinander und heiraten. Doch noch immer ist ihr Glück nicht perfekt und ihre Liebe wird auf harte Proben gestellt…
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Seitenzahl: 808
CATHERINE COOKSON
BÜHNE DES LEBENS
Roman
Aus dem Englischen
von Helmut Gerstberger
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Als sein Lehrer ihm rät, sein komödiantisches Talent zu nutzen, nimmt Peter Rileys Leben eine Wende. Vom schwierigen, unbeliebten Schüler wird er zum gefeierten Schauspieler und entdeckt die Liebe zu seiner weitaus älteren Kollegin Nyrene. Obwohl der Altersunterschied die beiden zunächst trennt, finden sie schließlich zueinander und heiraten. Doch noch immer ist ihr Glück nicht perfekt und ihre Liebe wird auf harte Proben gestellt…
Die Autorin
Catherine Cookson wurde 1906 in ärmlichen Verhältnissen als uneheliches Kind geboren. Seit sie mit 16 Jahren Kurzgeschichten zu schreiben begann, hat sie rund 80 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Welt. 1993 wurde ihr der Titel »Dame of the British Empire« verliehen. Im Wilhelm Heyne Verlag sind die meisten ihrer Romane erschienen.
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/13299
Die Originalausgabe RILEY erschien 1998 bei Bantam Press
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Deutsche Erstausgabe 05/2001 Copyright © 1998 by Catherine Cookson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München; Unter Verwendung von shutterstock/PHOTOCREO Michael Bednarek und thinkstock/stockbyteSatz: (3533) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
eISBN 978-3-641-18104-8V001
www.heyne.de
www.randomhouse.de
Miss Louise Barrington verschloss die letzte Schublade ihres Schreibtischs, strich das fleckenlose Blatt Löschpapier auf der großen Schreibunterlage glatt, rückte die Briefablage gerade, schob den Bleistiftbehälter quer in die obere Ecke des Schreibtischs und lehnte sich dann mit einem langen, leisen Seufzen im ledernen Drehstuhl zurück.
Im Januar hatte sie diesen Raum als neue Aushilfslehrerin für Physik und Chemie an der Giles Mentor School zum ersten Mal betreten. Sie war an der Schule die einzige Lehrerin in den naturwissenschaftlichen Fächern und unterrichtete die Mädchen, während Mr. Beardsley, der Oberlehrer der Fakultät, den Chemie- und Physikunterricht für die Jungen gab; beide waren sie dem Direktor unterstellt. Bevor Louise Barrington einige Zeit in der Industrie beschäftigt gewesen war, hatte sie an einer Mädchenschule Chemieunterricht gegeben. Was ihr sehr geholfen hatte, diese Anstellung hier zu bekommen, wenn auch nicht ohne den einen oder anderen Kommentar seitens der fest angestellten Lehrerschaft. Doch was solche Anstellungen als Aushilfslehrerin anbelangte, hätte sie es nicht besser treffen können. Dennoch spielte sie mit dem Gedanken, sich zu verändern, da sie sich immer wieder sagte, dass alles besser wäre, als sich mit solchen Kindern herumzuplagen, wie sie ihr in diese Schule begegneten. Bevor man die Schule in eine Gesamtschule umgewandelt hatte, war sie eine höhere Schule für Knaben gewesen, und die Kinder, die sie jetzt besuchten, kamen zum größten Teil aus den ärmeren Vierteln der Stadt. Doch andererseits wusste sie sehr wohl, dass ihre Ansichten nicht frei von Vorurteilen waren.
Jetzt lag eine seltsame Stille über dem Raum, über dem gesamten Gebäude, denn heute hatten die Sommerferien begonnen, und alle waren längst ausgeschwärmt. »Schöne Ferien für Sie«, hatte ihr der eine oder andere Kollege gewünscht, und manche hatten hinzugefügt »unten im Süden«, als sei der Süden so fern wie Hongkong.
Nun – sie hatte sich jetzt von allen verabschiedet, außer von Mr. Beardsley. Oh, ja … Mr.Beardsley.
Sie drehte sich zum offenen Fenster um, denn sie konnte die unverkennbare Stimme eben dieses Mannes vom Hof heraufschallen hören.
Sie stand auf, trat neben das Fenster und sah von ihrer Warte im ersten Stock auf das Eisengeländer hinab, das entlang der Stufen zum Heizungskeller verlief. Dort sah sie Mr. Beardsley und den Riley-Jungen stehen. In der stillen Nachmittagsluft drang jedes Wort ihres Gesprächs zu ihr empor.
»Dann waren Sie also beim Direktor?«
»Ja, Mr. Beardsley.«
»Nun, ich hoffe, Sie haben sich seinen Rat zu Herzen genommen.«
»Nein, Mr.Beardsley. Wie Sie immer so schön sagen: Es dringt nie weit genug bei einem Ohr hinein, um beim anderen wieder rauszukommen.«
»Vorsicht, Riley! Hüten Sie Ihre Zunge! Sie sind noch nicht aus dem Tor. Wissen Sie was, Riley? Ich wollte Ihnen das schon immer sagen: Ich habe mich nie daran gewöhnen können, dass Sie kein Katholik sind. Mit einem Namen wie Riley und einem Dad und einer Ma, die so irisch sind wie Ihre …, und trotzdem sind Sie kein Katholik. Oh, wenn Sie es nur gewesen wären, dann hätten Sie in die St. Joseph’s Schule gehen können. Aber andererseits, Riley, warum sollte ich den Nonnen so etwas wünschen? Die haben mir nichts Böses getan, und wenn Sie an ihrer Schule gewesen wären, dann hätten Sie im Handumdrehen dafür gesorgt, dass sie reihenweise für immer ihre Tracht von sich werfen. Na, na! Nicht so, wie Sie denken, Riley. Und lassen Sie das Grinsen! Sie hätten allesamt ihrer Berufung entsagt, nur um Sie nicht mehr sehen zu müssen. Davon einmal abgesehen, hab ich mir sagen lassen, dass sie ein strenges Regiment führen. Wie auch immer, Riley – hier trennen sich unsere Wege. Und wissen Sie was, ich wünsche mir, dass Sie mir nie wieder unter die Augen kommen – weder in diesem noch im nächsten Leben. Allerdings scheint Ihre Mutter eine vernünftige und um Ihr Wohl besorgte Frau zu sein; zumindest hatte ich diesen Eindruck an dem Tag, an dem ich Ihnen die Hosen strammgezogen und den Hintern versohlt habe.«
Miss Louise Barrington zuckte betroffen zusammen.
»Danach haben Sie mir keine Streiche mehr gespielt, hab ich Recht? Aber Sie sind nach Hause gerannt und haben Ihrem Dad was vorgeflennt, und er kam angestürmt mit seinen ganzen Einssechzig und brüllte, dass er mir verdammt noch mal die Fresse polieren werde. Ihre Mutter folgte ihm dicht auf den Fersen, und nachdem sie ihn mit ihrer scharfen Zunge zum Schweigen gebracht hatte, dankte sie mir … ja, sie dankte mir dafür, dass ich Sie übers Knie gelegt habe, und sagte, ich solle Ihnen, wann immer ich es für angebracht halte, die Hosen strammziehen und den Hintern versohlen bis Sie nicht mehr sitzen können.«
»Meine Ma hat sie nicht alle; sie is’ immer gleich auf der Palme, und das fast ständig.«
»Aber sie sorgt für Sie und ihren Dad, oder nicht? Und für die anderen drei Plagen, die sie großzuziehen versucht. Ich weiß nicht, warum sie das tut. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich euch allesamt windelweich prügeln.«
»Na ja, manchmal rutscht ihr die Hand aus, und sie versucht es. Aber Sie wissen nichts über sie, nicht wirklich. Aber Sie, Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Mr Beardsley.«
»Merkwürdig? Finden Sie?«
»Ja. Mein Dad sagt, Sie könnten selber ’n Ire sein und ’n Katholik.«
»Oh ... Wie schade, dass ich weder das eine noch das andere bin. Was hätte ich nicht alles tun können, wenn ich Ire und Katholik wäre, während ich mich jetzt nur abmühe und versuche, aus Ihnen und Ihresgleichen zivilisierte Menschen zu machen, die nicht Jungs verprügeln, die halb so groß sind wie sie selber.«
»Das tu ich nicht. Ich verprügle keinen, der halb so groß ist wie ich.«
»Aber Sie haben es getan, als Sie an diese Schule gekommen sind.«
»Ich hab ’ne Menge getan, als ich hierher gekommen bin, Mr. Beardsley, was ich zuvor nicht getan hatte. Das hab ich alles hier gelernt.«
Es entstand eine so lange Pause, dass Miss Louise Barrington sich näher an den Vorhang schob. Ja – sie waren noch immer da,starrten sich jetzt aber nur stumm an.
»Ah! Endlich mal eine offene Antwort. Das kam aus dem Teil in Ihrem Dickschädel, von dem mir klar ist, dass er existiert, und wenn Sie ein wenig schlauer gewesen wären, hätten Sie in all den Jahren daraus Nutzen gezogen, denn ich weiß und Sie wissen es auch, dass Sie kein Dummkopf sind, Riley. Ihr hauptsächliches Bestreben in Ihrem Leben scheint es zu sein, die Leute zum Lachen zu bringen – nicht auf Ihre Kosten, sondern auf die der anderen. Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen. Sie haben das Talent, witzig zu sein und haben sogar Sinn für Humor, aber diese Gabe ist bei Ihnen fehlgeleitet. Sie sind ein Witzbold und ein Possenreißer, und Sie wissen, dass der Einzige, der dabei seinen Spaß hat, der ist, der die Witze macht. Der, auf dessen Kosten sie gehen, kann nur grinsen und es ertragen; er muss vielleicht sogar lachen oder schmunzeln, weil ein Witzbold ein Publikum braucht und auch immer ein Publikum für ihn da sein wird. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, Riley – Sie könnten es im komödiantischen Fach weit bringen. Versuchen Sie, Ihren Sinn für Humor auf sich selbst zu richten. Versuchen Sie, sich selbst zur Zielscheibe des Spotts zu machen. Wenn Sie eine Begebenheit beschreiben, die Ihnen möglicherweise passiert ist, versuchen Sie, den Witz darin zu sehen, dass es Ihnen passiert, nicht einem anderen. Das wird die Leute zum Lachen bringen. Denken Sie an die Komiker, die es bis ganz nach oben geschafft haben. Sie sind nie diejenigen, die sich selbst auf die Schulter klopfen; wenn sie die Bühne betreten, wirken sie immer verloren und hilflos, sie appellieren an unser Mitleid, weil sie naiv oder etwas beschränkt sind, oder ihnen passieren Dinge, die den Zuschauern niemals passieren würden. Man kann beim Missgeschick anderer Vergnügen empfinden, vor allem, wenn es jemand es witzig rüberbringt.«
Miss Louise Barrington sah jetzt nicht mehr auf den Hof hinunter, sie stand mit dem Rücken zum Vorhang, den Kopf lauschend zur Seite gelegt. Er hatte den Jungen ganz richtig eingeschätzt; Riley war in der Tat ein Witzbold und Spaßvogel, der seine Scherze oft auf Kosten anderer trieb, und es gab Kinder, die vor ihm Angst hatten. Sie hob den Kopf etwas, als sie Mr. Beardsley sagen hörte:
»Denken Sie darüber nach, Riley: Ein Komiker auf der Bühne zu sein wäre doch ein angenehmeres Leben, als wegen Autodiebstahl oder dem Klauen von Stereoanlagen aus Autos erwischt zu werden und irgendwann im Knast zu landen, oder nicht? Wie Sie sich aus dieser letzten Auto-Geschichte herausgewunden haben, weiß Gott allein, und Er wird Sie nicht verpfeifen. So wie Ihr Dad Sie nie verpfeifen würde oder seine Kumpane oder die anderen Stammkunden aus dem Bull and Spear; nicht mal Ihre Mutter würde diesmal so was tun. Aber Sie waren es trotzdem, Sie haben es getan, und die Polizei weiß, dass Sie ’s getan haben: Sie sind dort gesehen worden, und es gab Zeugen, aber der Wagen ging in Flammen auf, und sie konnten es Ihnen nicht beweisen.«
»Nein, Mr. Beardsley, weil sie meine Fingerabdrücke nicht gefunden haben.«
»Oh, wie es mich in den Fingern juckt, Sie an den Ohren zu ziehen, Riley. Jedes Mal, wenn ich dieses Grinsen in Ihrem Gesicht sehe, verspüre ich ein furchtbares Jucken in den Fingerspitzen: und jetzt schreien sie förmlich danach, Kontakt mit Ihren Ohren herzustellen. Wie auch immer – wie ich schon sagte, werden wir uns nicht wiedersehen. Und ich hoffe, Sie nehmen sich zumindest vor, dass wir uns nicht wieder begegnen, ja?«
»Ich werd mein Bestes tun, Mr. Beardsley, und entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt nicht aus eigener Überzeugung sage. Was ich sagen soll, hat mir meine Ma befohlen zu sagen, und das ist … danke. Aber so wie ich es sehe, sage ich auch noch danke dafür, dass Sie mich an den Ohren gezogen und mein Gesicht ins nasse Gras gedrückt haben, weil Sie dachten, Sie hätten ein Foul gesehen, dass Sie mich nachsitzen ließen und mich fast eine halbe Stunde ohne ein Wort angestarrt und mich damit fast die Wände hochgejagt haben, und zu guter Letzt auch dafür, dass Sie mich so oft in den Hintern getreten haben. Ich frage mich, wofür ich mich bedanken soll? Aber wie auch immer … Sie hat gesagt, ich soll danke sagen.«
In dem darauf folgenden Schweigen schob Miss Louise Barrington ihr Gesicht wieder hinter dem Vorhang hervor und sah zu ihrem Erstaunen, wie die beiden Gestalten einander die Hände schüttelten. Dann rannte der junge Mann von dem Lehrer weg, wobei er Luftsprünge vollführte und mit den Armen fuchtelte. Sie sah ihm nach, bis er durch das Eisentor verschwunden war, ehe sie wieder zu ihrem Stuhl zurückkehrte und sich setzte.
Wirklich und wahrhaftig! Ihr Kollege war ein merkwürdiger Mann. Bislang hatte es zwischen ihnen, außer im Büro des Direktor oder bei diesem oder jenem Elternabend, sehr wenig Kontakt gegeben. Bei solchen Gelegenheiten war er ein völlig anderer Mensch, dessen Benehmen und Sprache die eines Gentleman waren. Es schien, als stamme er aus guter Familie. Doch von all dem war in seinem Umgang mit den Schülern nichts zu bemerken, denn allein schon sein Gebrüll jagte einigen von ihnen Angst ein. Doch was für eine merkwürdige Unterhaltung hatte er mit diesem Jungen gehabt! Manchmal hatte es geklungen, als sei er ebenso mit allen Wassern gewaschen wie der jugendliche Missetäter.
Wie mich immer … Sie würde durch ihr Laboratorium gehen und sich vergewissern, dass alles in Ordnung war, bevor sie nach Hause ging und das Feld der Putzkolonne und dem Pedell überließ. Im Übrigen konnte sie nur hoffen, wenn sie aus den Ferien zurückkam die halbe Schule verwüstet oder völlig niedergebrannt vorzufinden – etwas, das immer wieder vorkam.
Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, nahm sie einen leichten Staubmantel vom Haken an der Tür, ehe sie sie öffnete und dem Mann in die Arme rannte, um den sich ihre Gedanken gedreht hatten.
»Oh … Oh, ich wollte gerade klopfen«, sagte er.
Brauchen Sie etwas Mr. Beardsley?«
»Nein, ich wollte Ihnen nur schöne Ferien wünschen.«
»Oh – vielen Dank.« Sie lächelte jetzt und fügte hinzu: »Ich bin froh, dass Sie nicht ’unten im Süden’ gesagt haben.«
»Oh. Das haben Sie heute sicherlich einige Male zu hören bekommen, nicht?«
»Einige Male, ja.«
»Der Hadrianswall existiert nun mal offenbar nach wie vor – vor allem auch in den Köpfen der Leute.«
Als sie den Korridor entlang gingen, sagte sie: »Ist das nicht angenehm … die Stille?«
»Sie mögen das?« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu.
»Ja. Sie nicht?«
»Nein. Ich habe Angst vor einer Stille wie dieser. In einer Schule mag ich Lärm und Geschrei.« Sie fing jetzt seinen Blick auf, und angesichts des Ausdrucks in seinen Augen erwartete sie, dass er gleich sagen würde:
Wenn Sie Stille suchen, haben Sie den falschen Job, doch stattdessen sagte er: »Bei dem Elterntreffen neulich abends bin ich hinter Ihnen gesessen. Sie haben sich mit Florrie ... mit Miss Quail unterhalten und erwähnt, dass Sie sich für ein sehr amüsantes Buch interessieren, das von einem Mann handelt, der jedes Wochenende mit dem Fahrrad aufs Land fährt, wo er, ich glaube, seine Freundin besucht, aber Sie sagten, Sie hätten den Namen des Autors vergessen und er wolle Ihnen einfach nicht einfallen. Und Miss Quail, die in ihrem langen Leben von Horace bis zum Hotspur so ziemlich alles gelesen hat, konnte es auch nicht sagen. Nun, äh, ich dachte mir, es könnte vielleicht Cooper sein.«
»Oh.« Sie wandte sich ihm zu, ein Strahlen auf dem Gesicht. »Ja, von ihm ist es. Von Cooper, richtig, und er hat auch eine Fortsetzung geschrieben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, worum es in den beiden Romanen ging, ich weiß nur noch, dass ich mich köstlich amüsierte, als ich sie damals gelesen habe. Aber das ist Jahre her, und mit dem Alter hat sich möglicherweise auch mein Geschmack verändert.«
Er nickte bekräftigend und meinte: Oh, ja – ihr ungeheuer fortgeschrittenes Alter könnte Ihren Geschmack durchaus verändert haben.«
Wie galant. Dies war seine charmante Seite, vor der sie Miss Elder und Miss Turner gewarnt hatten, als sie beobachtet hatten, wie sie ein paar Worte mit ihm über ihren Unterrichtsplan wechselte. Die beiden hatten ihr kichernd erzählt, dass er immun sei gegen alle weiblichen Reize, und sogar zugegeben, dass sie das selbst ausprobiert hätten, allerdings ohne Erfolg. Sie hatte sich nie nach seiner Vergangenheit erkundigt, da es sie schlichtweg. nicht interessierte, doch man hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er verheiratet gewesen und nach kurzer Zeit wieder geschieden worden sei.
»Wollen Sie mitkommen und es holen?«
»Was?«
»Ich sagte, wollen Sie mitkommen und das Buch holen – es ist in meinem Zimmer.«
»Oh. Ja, danke.«
Sie wurde in einen Raum komplimentiert, der nicht viel größer als ein Wandschrank war, voller Bücher, die aus den Regalen quollen und in der Ecke auf dem Boden gestapelt wären. Sie sah sich noch erstaunt um, als er sagte: »Ich sehe, dass Sie noch nie hier drin waren; dies ist mein kleines Kabäuschen, mein sanctum sanctorum. Es war mal eine Abstellkammer, und ich habe sie vor ein paar Jahren für mich konfisziert. Setzen Sie sich doch für ’ne Minute.« Er zog einen Stuhl unter einem kleinen, verschrammten Schultisch hervor, und sie ließ sich vorsichtig darauf nieder: Wenn sie den Kopf nur ein wenig drehte, war sie in Augenhöhe mit einer Reihe von Büchern, die allesamt mathematischen Inhalts waren.
Sie wandte, ihm das Gesicht zu und sagte: »Weshalb so viele Mathematikbücher?«
»Oh, mathematische Physik ist mein Steckenpferd. Ich war mir lange unschlüssig, für welche Fachrichtung ich mich entscheiden sollte.«
Dann überraschte er sie mit der Frage: »Wie alt sind Sie? Siebenunddreißig, nicht wahr?«
Sie holte kurz Luft, bevor sie antwortete: »Fünfunddreißig.«
»Fünfunddreißig. Das macht die Kluft zwischen uns noch größer: Ich bin achtundvierzig. Übrigens hasse ich es, alleine zu trinken. Ich habe eine ganze Reihe hemmungsloser Laster, das weiß ich, aber dieses halte ich einigermaßen in Schach: Ich trinke nur in Gesellschaft. Täte ich das nicht, wäre ich inzwischen längst Alkoholiker.«
Er hatte mit angezogenen Knien auf der oberen Stufe einer Bibliotheksleiter gesessen. Jetzt stieg er herunter, hob die Platte des kleinen Schulpults an, nahm eine Flasche, ein Glas und eine Tasse samt Untertasse heraus und stellte sie auf den flachen oberen Rand des Pults. Dann ließ er die Tischplatte wieder sinken, hielt ihr die Flasche vors Gesicht und sagte: »Illegal und auf dem Schulgelände strikt verboten. Aber zweimal im Jahr breche ich das Verbot: bei Beginn der Sommerferien und Weihnachten. Möchten Sie einen Port?« Dann goss er, ohne ihre Antwort abzuwarten, das Glas voll und reichte es ihr.
Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie es nahm. Sie konnte die warnend erhobene Stimme ihrer Mutter, näselnd und schrill wie eine dünne Violinensaite, hören: »Wenn du in Gesellschaft bist, Louise, trinke niemals Port; er ist das übliche Frauengetränk – Port. Ich kann es nicht mehr ertragen, mir Mrs. Saunders Geschnatter darüber anzuhören, was sie in der letzten Nacht getrieben hat und wann oder bei welcher Gelegenheit sie ihren Port mit Zitrone genommen hat. Bitte nie um ein Glas Port, Louise. Er ist alles andere als ein Frauengetränk. Port trinken Gentlemen nach dem Dinner.« Nun – ihre Mutter hatte sicherlich ganz genau gewusst, was Gentlemen nach dem Dinner tranken. Wenn nicht sie, wer dann? Denn schließlich hatte ihr lieber Papa, um den Ansprüchen seiner Frau gerecht zu werden, mit einer solchen Hingabe den Gentleman spielt, dass er Bankrott ging, bevor sie selbst zehn Jahre alt gewesen war.
»Wissen Sie, was der beste Muntermacher ist, wenn Sie niedergeschlagen sind, den Blues haben oder nach der nächsten Brücke suchen, die hoch genug ist, sich hinunterzustürzen?«
»Nein.«
»Brandy und Port gemischt. Ja, Brandy und Port gemischt. Natürlich nur in moderaten Mengen und gewöhnlich nicht vor dem Schlafengehen. Als Medizin sozusagen.«
Sie lächelte zustimmend: »Natürlich … als Medizin.«
Er hatte ein tiefes, wie Donnergrollen klingendes Lachen; und jetzt streckte er ihr seine Tasse entgegen, und als sie ihr Glas dagegen klirren ließ, sagte er: »Auf erholsame Ferien.«
Sie hatte dem nichts hinzuzufügen, neigte nur den Kopf und nippte an ihrem Port. Er hatte einen angenehmen Geschmack, fast wie Likör. Wie seltsam! Sie war fünfunddreißig und hatte noch nie zuvor Port probiert.
»Wohin gehen Sie? Nach Hause?« fragte er.
»Nicht im eigentlichen Sinn. Ich habe kein Zuhause mehr, zumindest nicht das, was man gewöhnlich darunter versteht. Meine Eltern sind gestorben, und ich habe nur eine einzige Schwester. Ich schlage bei ihr, ihrem Mann und den drei Kindern meine Zelte auf, wenn ich das Bedürfnis nach einem Zuhause empfinde, und meistens verbringen wir die Ferien gemeinsam, aber wir haben uns noch nicht entschieden, wohin wir dieses Jahr fahren.« Sie nahm noch einen Schluck von dem Port und fragte dann: »Fahren Sie nach Hause?«
»Nein. In meinem Leben gibt es kein Zentrum oder festen Punkt mehr … Wo wohnt denn Ihre Schwester?«
»In Rye.«
»Oh, Rye. Das kenne ich gut. Vor ein paar Jahren habe ich dort zwei oder dreimal die Ferien verbracht, hab mir im Hafen ein Boot gechartert und schöne Segeltörns unternommen. Nettes kleines Städtchen, Rye. Und sehr interessant. Und es ist nicht weit nach Winchelsea und Hastings. Ich verstehe nicht, warum Sie die Ferien irgendwo anders verbringen wollen; Rye ist doch ein hübscher Ort.«
»Ich verstehe das auch nicht ganz, aber sie wollen mal was anderes sehen – und die Kinder ebenfalls.«
Er stand jetzt dicht vor ihr und beugte sich, die Flasche in der Hand, über sie. »Lassen Sie mich Ihr Glas nachfüllen.«
Sie zog das Glas zurück und sagte: »Oh, nein. Nein, danke.«
»Kommen Sie … Wenn Sie nicht mehr stehen können, helfe ich Ihnen aus dem Wagen und bringe Sie bis zur Tür Ihrer Wohnung.«
»Also wirklich! Aber … aber ich bin es nicht gewohnt, Port zu trinken.« Sie fügte nicht hinzu »oder sonst irgendwelchen Alkohol«.
»Was sind Sie dann gewöhnt?« Er goss jetzt seine Tasse bis zum Rand voll, dann setzte er sich wieder auf die Leiter und fragte noch einmal: »Was sind Sie dann gewöhnt?«
»Nun, eh … Vielleicht ein Glas Sherry hin und wieder.«
»Nur hin und wieder?«
»Ja«, entgegnete sie mit Bestimmtheit. »Nur hin und wieder, Mr Beardsley.«
»Okay, Miss Barrington.« Er imitierte ihren Tonfall, dann lachte er auf und fuhr fort: »Wissen Sie, ich frage mich oft, warum ich kein heimlicher Trinker bin, wie mein Vater einer war. Er war vieles, nicht nur ein heimlicher Trinker unter anderem war er ein überzeugter und engagierter Hochkirchler.«
»Wirklich?« Sie lächelte ob seiner Freimütigkeit. Sie fühlte sich entspannt und von einer angenehmen Wärme erfüllt. Aber schließlich war es ein warmer Tag.
»Wollen Sie damit sagen, es überrascht Sie, dass er ein Hochkirchler und latenter Alkoholiker war?«
Dies war eine dieser provokativ rhetorischen Fragen, derer sich manche Leute bedienen, um einen tiefer ins Gespräch zu verstricken, doch im Augenblick fühlte sie sich nicht in der Verfassung, ihm darauf eine Antwort zu geben – weder so noch so, deshalb erwiderte sie nur: »Ich meinte das eher allgemein.«
»Oh.« Er lachte erneut – und zwar über sie; dann nahm er einen tiefen Schluck aus der Tasse und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, ehe er den Faden wieder aufnahm: »Sie müssen wissen«, sagte er, »mein Vater war ein Mann, der nicht müde wurde zu predigen, man müsse in allen Dingen Mäßigung üben. Wenn Leute so etwas ständig von sich geben, können Sie Ihr Leben drauf verwetten, dass es sich dabei in neun von zehn Fällen um Tarnung handelt. Das war es auch in seinem Fall. Von wegen Mäßigung! Wir waren alles in allem vierzehn Kinder: drei wurden tot geboren, und vier starben, bevor sie zwanzig waren. Es blieben also noch sieben: meine drei älteren Brüder, zwei ältere Schwestern, ich, und dann« – er warf mit einer kurzen, ruckartige Bewegung den Kopf zur Seite, ehe er den Satz beendete – »Gwendoline. Mäßigung in allen Dingen! Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären wir zwanzig gewesen, aber Mutter hat ihn sitzen lassen und ist gestorben. Oh, ja – er hat ihr einen pompösen Abschied bereitet, und hat höchstpersönlich von der Kanzel herab die Predigt gehalten.«
»Sie mochten Ihren Vater nicht?«
»Nein. Ich mochte meinen Vater nicht, Miss Barrington, und daraus mache ich auch kein Hehl. Trotzdem« – er drehte den Kopf zur Seite und ließ den Blick über das von Büchern überquellende Regal schweifen – »geschieht es nicht oft, dass ich ihn in seiner selbstgerechten Ruhe störe, und ganz bestimmt nie, wenn ich meinen Muntermacher intus habe« – er hob die Tasse in ihre Richtung – »nein, dafür ist gewöhnlich ein konkreter Anlass nötig, wie vor einigen Minuten, als ich eine letzte Auseinandersetzung mit meinem Erzfeind Riley hatte. Oh, Sie wissen sicher über Riley Bescheid, jeder tut das. Ich nehme an, das Gespräch hat mir wieder deutlicher vor Augen geführt, wie ungerecht das Leben ist. Nehmen Sie Riley; er ist ein Tunichtgut, ein ziemliches Früchtchen, und stammt aus einer armen Familie. Sein Vater ist arbeitsunfähig, weil er einen schlimmen Rücken hat, obwohl seine Frau ihm das nicht abnimmt; sie sagt, er wäre arbeitsscheu. Außer dem Jungen haben sie noch drei Kinder, alles Mädchen. Und trotzdem hätte ich als Junge jederzeit den Platz mit ihm getauscht, trotz arbeitsscheuem Vater und allem, weil wir in unserem protzigen Haus droben in den Bergen unter der Fuchtel unseres Vaters im Vergleich zu ihnen ein Leben in der Hölle führten. Und zwar so sehr, dass ich nicht der Einzige unter uns war, der fand, dass diejenigen von uns, die früh gestorben waren, Glück gehabt hatten, weil wir alle wussten, dass er heimlich trank und sich geradezu fanatisch dem Bibelspruch widmete, seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan … Was er auch tat, indem er meine Mutter jedes Jahr schwängerte und sie sich auf diese Weise untertan machte. Unterdrückung ist das Wort. Oh, schauen Sie nicht so betroffen, meine Liebe. Es tut mir schrecklich Leid, ich langweile Sie zu Tode.«
»Oh, nein. Nein, bitte … Sie langweilen mich nicht zu Tode. Es ist nur sehr merkwürdig …« Sie sah jetzt auf ihr fast leeres Glas hinab, und ihre Stimme war nur ein Murmeln, als sie sagte: »Die Gefühle, die Sie ihrem Vater gegenüber haben, empfinde ich gegenüber meiner Mutter.«
»Nein! Wirklich?«
»Ja, wirklich. Meine Schwester und ich erstickten in bigottem Mittelklasse-Snobismus. Aber erzählen Sie doch weiter. Bitte, erzählen Sie weiter, Mr. Beardsley.« Sie hob den Kopf und lächelte ihm zu. »Erzählen Sie mir mehr über ihre Familie.«
»Oh, da gibt es nicht viel zu erzählen, außer dass wir alle so schnell wie nur irgend möglich fortgingen, nachdem Mutter gestorben war. Einer meiner Brüder verschwand nach Hongkong. Er kommt alleine sehr gut zurecht. Die beiden anderen sind nach Australien ausgewandert und haben es sogar noch besser getroffen: Sie besitzen eine Ranch und reiten Pferde zu. Und was die Mädchen betrifft, so könnte man sagen, dass die eine sich sehr gut verheiratet hat, die andere weniger. Die eine hat in die Upperclass eingeheiratet, die andere hat einen Mann geehelicht, der seine Hose mit einem Gürtel festzurrt.«
Als er polternd loslachte, dachte sie, jetzt gehe es wieder mit ihm durch, doch es machte ihr nichts aus. Nein, es störte sie nicht im Geringsten. Sie hatte ihn nie in diesem Licht gesehen. Er war wirklich ganz anders.
»Aber ich wette, dass Lucy glücklicher ist als May«, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. »Er ist ein wirklich guter Kerl, Robbie.« Er schürzte nachdenklich die Lippen, ehe er weiterredete. »Wissen Sie, dass Sie eine seltsame Wirkung auf mich haben, Miss Barrington? Normalerweise kann ich vier Gläser trinken, bevor ich warm werde. Und hier sitze ich und erzähle Ihnen von meiner Familie. Das ist merkwürdig, denn normalerweise rede ich nie über sie, außer mit einem Familienmitglied. Und ich war bereits an dem Punkt angelangt, wo ich Ihnen über Gwendoline erzählt hätte. Das ist eine wirklich sehr ungewöhnliche Geschichte, die einigermaßen aus dem Rahmen fällt.«
»Wieso? Was ist mit ihr? Ist sie krank?«
»Nein. O nein – weit gefehlt.«
Sie wartete, dass er weitererzählte, doch als er stumm blieb, fragte sie leise: »Ist sie verheiratet?«
»Verheiratet? O nein – nun, ich sage nein, denn im behördlichen Sinn ist Gwendoline nicht verheiratet, aber in gewisser Weise war Gwendoline schon viele; sehr viele Male verheiratet. Sie schauen verwirrt drein? Nun, das ist auch kein Wunder, und Sie würden gerne fragen, womit sie ihren Lebensunterhalt verdient, hab ich recht?«
»Also ich …«, begann sie, unterbrach sich und fügte mit einem Lachen hinzu: »Ja, bitte.«
Seine Antwort kam ohne Zögern. »Nun, um es klar und deutlich auszudrücken: Sie ist eine Hure.«
Das einfältige Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand, und ihr Körper versteifte sich etwas. Er hatte soeben gesagt, dass seine Schwester eine Hure sei. Und das ganz offen und ohne Umschweife.
»Jetzt sind Sie schockiert.«
»Oh, nein. Nein, ich bin nicht schockiert, nur … überrascht. Das ja, aber nicht schockiert – nein.«
»Ich bin froh. Ich bin froh, dass …« Seine Stimme klang jetzt nüchtern, und auch sein Gesicht wirkte ernüchtert, als er sich auf der Leiter etwas zur Seite drehte, auf dem Regal ein paar Bücher wegschob und, den Kopf in die Hand gestützt, den Ellenbogen auf das Bett lehnte und dann, als würde er zu sich selbst sprechen, fortfuhr: »Oh, ja, sie war ein wunderschönes Mädchen. Gwendoline war wirklich sehr schön – nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrer Seele; und sie hatte Charme eine Menge davon. Ihr größtes Verlangen im Leben war es, zu geben – allerdings nicht nur einem … nun, eh – einem Mann. Nein. Sie muss von Anfang an gewusst haben, dass es für sie fatal wäre zu heiraten und dass sie sich nicht nach Männern umzusehen brauchte. Sie waren hinter ihr her – wie die Bienen hinter dem Nektar. Und das gefiel unserem lieben Papa natürlich überhaupt nicht. Sie war sein jüngstes Kind, und er wollte sie für sich haben. Sie wusste das, und, was glauben Sie, hat sie getan? Sie ist von zu Hause fortgegangen, sobald sie mit der Schule fertig war. Sie hatte alles vorbereitet, und da sie nun mal Gwendoline war, ging sie nicht alleine fort. Als er hörte, mit wem sie durchgebrannt war, und drohte, er werde den Mann fertig machen, was hat sie da getan? Sie kam nach Hause zurück! Und dort saßen wir alle vier,und die alte Eliza, die seit ihrer Kindheit bei unserer Familie gewesen war, beim Essen beisammen, als plötzlich Gwendoline in der Tür zum Esszimmer stand. Eliza hatte gerade das Dinner serviert, und uns allen blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Wir Jungs wollten aufspringen, aber mein Vater brüllte ›Sitzenbleiben!‹, und einen Moment lang blieben wir reglos, wo wir waren, und starrten dieses wunderschön gekleidete Wesen an, das zu uns sagte: ›Hallo, ihr Rasselbande!‹ Dann wandte sie sich Vater zu und zischte: ›Wenn du es wagst, einen Finger gegen John oder sein Geschäft zu heben, stelle ich dich vor der versammelten Gemeinde bloß, von der Kanzel herab – von derselben Kanzel, von der du dein salbungsvolles Geschwafel herunterlaberst. Und was, glaubst du, werde ich ihnen erzählen, wenn ich dort oben stehe? Ich werde ihnen erzählen, dass ich auf den Strich gehe oder es bald tun werde, weil ich bestimmt nicht lange mit John zusammen bin. John ist nicht der erste, bei weitem nicht, Papa!‹, sagte sie. ›Oh, nein; ich habe es vor deiner Nase getrieben, weil ich nun mal so bin: Ich möchte geben, nicht nehmen und raffen und Angst verbreiten und ein falsches Leben leben wie du. Und ich werd’ die versammelte Gemeinde fragen, was sie glauben, dass ihren Diakon zu seinen regelmäßigen Besuchen nach York gezogen hat? Ganz sicher nicht das vierteljährige Treffen mit seinen Anwaltskollegen. Außerdem werde ich die Gemeinde fragen, woher das Geld kam, mit dem Mary Addisons Familie der Umzug nach London schmackhaft gemacht wurde. Nun – wer weiß? Vielleicht hat sie inzwischen meinen Beruf ergriffen, oder ich ihren – wie herum auch immer. Nur du kannst diese Fragen beantworten, Papa.‹
Als er zum Kamin stürzte und den Schürhaken packte, hielten wir ihn fest, die beiden anderen Jungs und ich, und Eliza musste Gwendoline hinausschaffen. Wir reden oft über diesen Tag, sie und ich.« Er nickte ihr zu, doch sie blieb stumm. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte, und dass es Mr. Beardsley war, der es ihr erzählte. Es war, als würde er ein dunkles Geheimnis aus seinem tiefsten Inneren hervorzerren.
»Sagen Sie was.«
»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Na ja, fragen sie mich, warum ich ausgerechnet jetzt darüber rede, obwohl ich überhaupt nicht betütert bin; es braucht mehr als zwei große Port, dass ich einen sitzen habe. Ich frage Sie, denn wenn ich mich selbst fragen würde, ›Warum, zum Teufel, erzähle ich ihr das alles?‹ müsste ich die Antwort Stück für Stück suchen. Ich würde mir wahrscheinlich sagen: ›Vielleicht tu ich das, weil sie ein verschwiegener Mensch ist und – wie ich auch – im Moment ein wenig einsam. ‹ Gwendoline hätte das im Nu und mit ein paar wenigen Worten klargelegt. Sie würde nicht um den heißen Brei herumschleichen wie ich. Sie würde mir den wahren Grund nennen können, warum ich eine alte Wunde aufreiße.«
Sie ertappte sich dabei, wie sie ihr Glas mit einem Schluck leer trank, und als sie sich vorbeugte und das Glas auf das Pult stellte, sagte er: »Ich biete ihnen jetzt nichts mehr an. Zwei Glas sind genug für jemanden, der noch nie Port getrunken hat – oh, ja.«
Sie ging nicht weiter darauf ein und ersparte sich die Floskel »Ich hätte auch kein drittes mehr akzeptiert«. Stattdessen sagte sie: »Ist Ihre Schwester … ich meine, lebt Ihre Schwester noch?«
»Gesund und munter wie eh und je und gut situiert. Wir sehen uns, so oft wir können – und immer in den besten Hotels, das können Sie mir glauben, oder in ihrer Wohnung, obwohl es mir lieber ist, da nicht hinzugehen, weil ich nicht derjenige sein will, der Lord Soundso oder Sir Sonstwen im Treppenhaus erkennt – oh, ja.« Er nickte bekräftigend. »Sie sehen überrascht drein, aber Gwendoline hat sich nie mit weniger als dem Besten abgegeben. Sie nennen sie heutzutage Freunde oder Freundinnen, aber sie hat kein Problem, ihrem Part bei dem Handel dem richtigem Namen zu geben: Mätresse. Und wohlgemerkt: Sie ist sechsundvierzig.. Sie war zehn Jahre lang die Mätresse eines in der Öffentlichkeit sehr bekannten Mannes, und seit er vor drei Jahren gestorben ist, dringe ich nicht weiter in sie.«
Sie saßen sich jetzt schweigend gegenüber und betrachteten einander, und er wäre möglicherweise überrascht gewesen, wenn er ihre Gedanken hätte lesen können, denn sie fragte sich, ob sie selbst jemals geliebt hatte. Und die Antwort war nein. Obwohl sie einmal gedacht hatte, sie würde bald zu leben beginnen. Das war vor Jahren gewesen. Vor wie vielen? Acht, neun? Achteinhalb. Damals war sie sechsundzwanzig. Sie waren seit drei Jahren verlobt gewesen, und einen Monat vor ihrem Hochzeitstermin hatte er ihr offenbart, dass er sich Sorgen wegen ihrer Zukunft mache; er wisse nicht, ob er bereit sei, sich für immer zu binden. Und … oh, nein! Was für ein sensibler Vorschlag: Er würde nicht mal im Traum daran denken, sie zu fragen, ob sie mit ihm zusammenleben wolle. Was würden ihre Freunde denken und seine Mutter und Father Ramshaw nicht zu vergessen, und, weißt du, die Ehe ist etwas, das in der Katholischen Kirche nicht auf die leichte Schulter genommen wird. Für seine Mutter sei Scheidung auch nie in Frage gekommen, und er teile ihre Ansicht.
Sie konnte ihn vor sich sehen und fragte sich, wie es ihr je möglich gewesen war, ihn zu lieben. Ja, sie wusste, dass seine Mutter nichts von Scheidung hielt, weshalb sein armer Vater noch immer beträchtliche Unterhaltszahlungen an sie leisten musste und sich deshalb den Buckel krumm arbeitete, um seine neue Familie über Wasser zu halten. Und sie erinnerte sich jetzt auch wieder, dass sie sich gefragt hatte, weshalb sie nicht schon zuvor gesehen hatte, wie ähnlich er seiner Mutter war. Zwar war ihr aufgefallen, dass er über viele Dinge bigotte Ansichten hegte, doch sie hatte über diese Seite seines Charakters hinweggeschaut; niemand ist vollkommen. Und darum war, wenn Sie zurückblickte, die Tatsache, dass er ihr den Laufpass gegeben hatte, längst nicht so schmerzhaft wie es für sie gewesen wäre, hätte sie ihn mit wahrer Leidenschaft geliebt. Weshalb also hatte sie so reagiert? Er war sprachlos gewesen vor Verblüffung, vor fassungslosem Staunen, nachdem sie ihn zuerst rechts und links geohrfeigt, dann angeschrien und schließlich eine Vase auf seinem Kopf zertrümmert hatte. Als sie das Blut sah, das über seine Stirn herablief, war in ihrem Kopf nur noch Chaos und Verwirrung gewesen, und ihr Vater hatte sie in die Arme genommen und sie getröstet, als sei sie wieder ein kleines Kind, während ihre Mutter damit beschäftigt war, sich um ihren ramponierten Ex-Verlobten zu kümmern. Nach diesem unerfreulichen Erlebnis hatte sie einen, wie sie es nannten, kleineren psychischen Zusammenbruch erlebt, auf den eine Reihe von kurzzeitigen Anstellungen als Lehrerin gefolgt war, bis sie schließlich den Job in der Industrie gefunden hatte. Und nun saß sie in diesem winzigen Kabuff mit diesem Mann, der sich als ein ganz anderer Mensch entpuppte, als der reservierte Kollege, für den sie ihn in den Vergangenen Monaten gehalten hatte.
Er nahm ihre Hand und sagte: »Sind Sie in Ordnung? Ich bin ein solcher Idiot! Ich habe Sie mit meinem Gerede in Verlegenheit gebracht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist! Es tut mir Leid.«
»Ich bitte Sie … Es braucht Ihnen nicht Leid zu tun. Sie haben damit etwas für mich getan.«
»Ja?«
Sein Gesicht war jetzt dicht vor ihrem, und sie nickte und erwiderte: »Ja. Sie haben eine alte Wunde aufgerissen und sie sauber gekratzt … Gütiger Gott! Jetzt benutze ich auch schon Ihre Metaphern!« Sie lächelte.
»Oh, meine Metaphern … Die müssen die Leute zu Tode langweilen.«
»In meinem Fall haben sie sich als sehr konstruktiv erwiesen.«
»Ich will nicht behaupten, dass ich aus allen Wolken falle vor Überraschung, dass Sie eine alte Wunde quält, denn ich dachte mir, dass dem so ist, und wenn ich – wie Sie sagen – sie sauber gekratzt habe, freut mich das umso mehr. Dann ist unser kleiner Umtrunk nicht ganz nutzlos gewesen.«
Er zog die Leiter näher zu ihr heran, und während er sich wieder darauf niederließ, fragte er: »Wann fahren Sie?«
»Morgen irgendwann.«
»Ich auch.«
»Haben Sie … haben Sie schon konkrete Pläne?«
»Nein, eigentlich nicht. Zumindest habe ich nichts gebucht. Gewöhnlich fahre ich viel in der Weltgeschichte herum, aber dieses Jahr, denke ich, werde ich mir einen Platz irgendwo in Südeuropa suchen und länger dort bleiben. Ich tue dann das, was mir Spaß macht, werde viel spazieren gehen und wandern und mir ein netteste kleines Hotel in der Nähe von einem hübschen Strand suchen, wo ich schwimmen kann und vielleicht sogar ein bisschen segeln und all das.«
Sie sahen einander direkt in die Augen, und er fragte: »Waren Sie schon einmal verliebt?«,und sie antwortete:
»Ja. Zumindest glaubte ich vier Jahre lang, dass ich es sei.«
»Waren Sie verheiratet?«
»Nein, aber kurz davor.«
»Und Sie haben es sich anders überlegt?«
»Nein. Er hat es sich anders überlegt.«
»Dieser blöde Schwachkopf.«
Nun war sie es, die zuerst lauthals und schallend loslachte, doch dann stimmte auch er mit ein, wenn auch fast ein wenig widerstrebend. Sie wischte sich die Augen trocken, als er sie mit leiser Stimme fragte: »Wie lange ist das her?«
»Oh ... sieben, acht Jahre. So in etwa.«
»Und Sie haben es die ganze Zeit, tief in Ihrem Innern vergraben, mit sich herumgeschleppt?«
Sie sah einen Moment lang nachdenklich zu Boden, dann entgegnete sie: »Ja, ich schätze, so könnte man sagen.«
»Ich weiß, wie das ist; ich habe es genauso gemacht.«
Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen, ehe sie sagte: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie jemand sind, der dasitzt und grübelt.«
»Nun, das nicht gerade.« Er grinste schief. »Gegrübelt hab ich nicht unbedingt – eher das Gegenteil: Wegen meiner Reaktion wäre ich um ein Haar hinter schwedische Gardinen gewandert.«
»Sie meinen, ins Gefängnis?«
»Richtig. Wir waren vier Jahre lang verheiratet. Man sagte von uns, wir seien jung und dumm. Aber ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie wirklich jung gefühlt,und dumm ebenfalls nicht. Ich hatte das abschreckende Beispiel meiner Eltern vor Augen und wusste wie ich es nicht machen wollte, also verfiel ich ins andere Extrem: Ich war zu rücksichtsvoll, zu nett, zu vertrauensselig, und außerdem war ich eines Tages drei Stunden früher aus London zurück, als von ihr erwartet, und da entdeckte ich die beiden. Ich war leise nach oben gegangen, weil ich ein besonderes Geschenk für sie hatte und dachte, sie hätte sieh ein wenig hingelegt. Sie war eine blasse und sehr zerbrechliche Frau, ein Rühr-mich-nicht-an-Typ, die verwöhnt und umsorgt werden musste und viel Schlaf brauchte. Aber das, was sie in diesem Augenblick trieben, brauchte – rundheraus gesagt – eine ganze Menge Energie.«
Als sie den Kopf senkte, sagte er: »Entschuldigen Sie …«
Rasch hob sie den Kopf wieder. »Aber nein. Weshalb denn? Bitte, erzählen Sie weiter.«
»Und wissen Sie, was dann passierte? Mir blieb das Herz stehen. Wirklich – es hörte tatsächlich auf zu schlagen. Ich bin überzeugt, wenn es noch ein paar Sekunden langer stillgestanden hätte, wäre es zu einer Schädigung des Gehirns durch Sauerstoffentzug gekommen. Ganz sicher wäre es das. Anscheinend muss es bei mir aber trotzdem ausgehakt haben, zumindest kurzzeitig, denn was ich mit dem Kerl und ihr – ja, und ihr – gemacht habe, will ich gar nicht im Einzelnen erzählen. Geht ja auch niemanden was an. Er war übrigens nicht mein bester Freund oder etwas in der Art. Ich kannte ihn nicht einmal, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Wie sich herausstellte, war er irgendein Verflossener von ihr, einer ihrer ersten. Zuletzt packte ich sie beide bei den Haaren – sonst gab es nichts, wo ich sie hätte packen können –, schleifte sie die Treppe hinab und warf sie aus dem Haus.«
»Oh, nein. Das haben Sie nicht getan!« Sie schüttelte entsetzt den Kopf.
»Oh, ja. Das habe ich getan. Ich sagte Ihnen doch schon, mein Herz war stehen geblieben, und das muss sich wohl vorübergehend auf mein Gehirn ausgewirkt haben: Ich sah rot, und, jawohl, ich hab sie beide aus dem Haus geworfen. Zum Glück der beiden gab es einen kleinen Vorgarten mit einem Eisenzaun davor, und es war schon fast dunkel, aber es war alles andere als ein warmer Tag. Doch Mrs Bradley und Mrs Newbank, die beiden Nachbarinnen rechts und links von unserem Haus, wussten offenbar, was unter meiner Nase vor sich ging, denn sie hatten hinter ihren Rüschenvorhängen gelauert und genug gesehen, und da sie mitfühlende Menschen waren, brachten sie den beiden Decken und riefen den Krankenwagen.«
»Den Krankenwagen?«
»Ja, den.Krankenwagen. Sein Kiefer war gebrochen, und er hatte ein paar Zähne verloren. Außerdem hatte er überall diverse Prellungen und kleinere Blessuren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob sie von meinen Füßen oder von meinen Fäusten stammten. Was sie anging, die Arme, so konnte sie ein paar Tage nicht mehr aus den Augen sehen, und sie hatte ein gebrochenes Handgelenk. Die Sache wurde in den Zeitungen zu einer Sensationsgeschichte aufgeblasen. Sogar die überregionale Presse hat landesweit darüber berichtetet, zwar nur auf der dritten Seite, aber immerhin.«
»Und wie endete die Geschichte? Ich meine, weil Sie gesagt haben, dass Sie fast ins Gefängnis gekommen wären.«
»Oh … Natürlich wurde die Polizei eingeschaltet, und ich wurde wegen schwerer Körperverletzung verurteilt, bekam aber eine Bewährungsstrafe. Dann verschwand der Fall aus der Presse. Ich glaube, da steckte seine Familie dahinter, vielmehr die seiner Frau … Oh, ja. Denn wie sich herausstellte, war er verheiratet und hatte vier Kinder, und die Familie, die ziemlich gut betucht ist – sie haben irgendeinen Lebensmittelgroßhandel – wollte offenbar unterbinden, dass ihr Name im Zusammenhang mit diesem Skandal um ihren Schwiegersohn durch den Schmutz gezogen wurde. Später hat sich seine Frau von ihm scheiden lassen.«
»Haben Sie damals hier gelebt?«
»Nein. In York. Ich war zweiundzwanzig, als ich mit der Uni fertig war, und hab im Jahr darauf geheiratet. Mit siebenundzwanzig war ich frisch geschieden und wieder frei; inzwischen hatte ich auch mein Haus und meinen kleinen Buchladen verkauft.« Er nickte erneut. »Ja. Ich hatte einen Buchladen, in dem ich nichts außer Bücher verkauft habe; keine Zeitungen, Zigaretten, Süßigkeiten oder sonst irgendwas – nur Bücher. Buchhandlungen wie diese gibt es heute nicht mehr viele: diese kleinen, hübschen Läden in Seitenstraßen; es sei denn sie haben sich auf seltene Ausgaben oder antiquarische Bücher spezialisiert oder auf Technik und bestimmte Wissenschaftsgebiete. Das folgende Dreivierteljahr oder so habe ich im Ausland verbracht und habe mir all die Städte und Orte angesehen, die ich nur aus Büchern kannte. Dann kam ich zurück und fing hier« – er deutete mit dem Finger auf den Fußboden – »als Lehrer an. Das ist jetzt fast zwanzig Jahre her.«
Ihre Stimme war sanft und leise, als sie sagte: »Sie sollten längst Rektor sein; alle hier scheinen das zu denken.«
»Ja, einschließlich meiner Wenigkeit. Eigentlich sehe ich das genau so.«
»So viel ich mitbekommen habe, seit ich an der Schule bin, haben Sie einer ganzen Reihe von Jungs sehr geholfen, versetzt zu werden oder Perspektiven für die Zukunft zu finden.«
»Die, die sich für den Lehrstoff interessiert haben, hätten es auch so geschafft; den Gescheiten zu helfen, ist leicht. Die schwierigen Fälle sind solche wie Riley, aber am Ende ist die Befriedigung umso größer, wenn sie es auf dem einen oder anderen Gebiet fertig bringen nach oben zu kommen, außer natürlich in der Kunst des Autoknackens.« Sie lächelten einander an, und er sagte: »Das Thema bewirkt jedes Mal, dass ich mich alt fühle. Schauen Sie sich mein Haar an: Es wird weiß.«
»Nein, das tut es nicht. Es ist nur etwas grau.«
»Tja, mit achtundvierzig sollte man sich damit abfinden, dass man ein bisschen angraut … Sie wollen nur nett zu mir sein.«
»Ja, so könnte man das ausdrücken.«.
Sie lachten erneut, und, sich zu ihr beugend, meinte er:
»Wissen Sie, worauf ich im Augenblick am meisten Lust hätte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Auf eine Tasse Tee.«
»Wirklich?« Auf ihrem Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln. »Ich auch.«
»Nun, warum sitzen wir dann noch hier herum? Wir können entweder ins Lehrerzimmer gehen und uns einen machen – wenn wir Glück haben ist auch noch etwas Milch übrig –, oder wir gehen wie zivilisierte Menschen in ein Café. Was meinen Sie?«
»In einem Café könnten wir nicht reden.«
»Nein, das könnten wir nicht. Also kommen Sie.«
Als er ihre Hand ergriff und sie auf die Beine zog, widerstrebte ihr Körper ihm einen Augenblick lang, nicht, weil sie nicht mit ihm gehen wollte, sondern weil sie gern noch länger gelacht hätte …
Sie setzten sich an einen kleinen Tisch vor dem offenen Fenster und nippten an ihrem Tee. Schweigend sah sie auf die Spielfelder im Schulhof hinab, als er sagte: »Wie lange ist es her, dass wir im Korridor zusammengestoßen sind, als Sie aus Ihrem Zimmer kamen?«
Sie sah auf ihre Uhr. »Ungefähr eine Stunde, oder etwas mehr.«
»Das kann nicht sein.«
Sie sah noch einmal auf die Uhr. »Doch, ja. Ich würde sagen, es war vor genau einer Stunde.«
»Ihre Uhr sagt das, der Stand der Zeiger sagt das, aber für Sie selbst – nach Ihrem eigenen Zeitempfinden, wie lange ist es da her, dass wir ineinander gerannt sind?«
Sie sah ihn mit großen Augen an, den Kopf leicht zur Seite geneigt, doch als sie nicht darauf antwortete, erklärte er: »Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, weil ich in der Zeit, die Sie eine Stunde nennen, so mit Ihnen gesprochen habe, wie seit Jahren mit niemandem mehr, und das ist die reine Wahrheit. Sie sind die einzige in dieser Stadt oder sonst irgendwo, die weiß, womit Gwendoline ihren Lebensunterhalt verdient; Sie sind die einzige, die weiß, dass ich meinen Vater noch immer hasse – auch sein Tod vor drei Jahren hat meinen Hass nicht mindern können; Sie sind die einzige in dieser Schule, der ich die andere Seite von Grizzly Beardsley, wie mich die Schüler nennen, gezeigt habe. Und noch etwas, das Ihnen vielleicht gar nicht aufgefallen ist: Sie haben von sich aus über die Fassade gesprochen, die sie wie ein Schutzschild um sich aufgebaut haben, auf dem mit großen Buchstaben steht: Bis hierher und nicht weiter. Ich glaube, ich bin der einzige, der hinter diesen Schutzschild geschaut hat. Hab ich recht?«
Ein langer Augenblick verstrich, in dem nur ihre Blicke stumme Zwiesprache hielten, dann murmelte sie: »Ja – ja, Sie haben recht.«
»Also sagen Sie: Wie messen Sie die Zeit wirklich, die Sie als eine Stunde bezeichnet haben und in der ich Sie kennen lernen konnte und Sie mich, und ich Sie trotzdem noch immer nicht Louise genannt habe, oder Sie mich Fred?« Er beugte sich näher zu ihr, fast bis über ihre Hände, die, Tasse und Untertasse umschließend, vor ihr auf dem Tisch ruhten.
»Wissen Sie was? Wir werden nie mehr dieselben sein – Sie und ich, nach dieser nicht kalkulierbaren und messbaren Spanne von Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben. Sind Sie soweit mit mir einverstanden?«
Sie nickte fast unmerklich und erwiderte leise: »Ja, das bin ich, Fred.«
Er holte tief Luft, zog dann seinen Stuhl näher an den Tisch, damit er seine Hände auf die ihren legen konnte, und fuhr fort: »Ich möchte Sie zwei Dinge fragen. Die zweite Frage hängt von Ihrer Antwort auf die erste ab. Und die ist ganz einfach: Wären Ihre Schwester und deren Familie sehr enttäuscht, wenn Sie nicht mit ihnen in den Urlaub kämen?«
Sie erwiderte seinen Blick und sah ihm fest in die Augen, während sie sich fragte: Würden sie sehr enttäuscht sein? Ja – in gewisser Weise schon. Ja, sie wären enttäuscht. Aber weshalb? Weil die beiden öfters ausgehen konnten, wenn Tante Louise im Haus war und auf die zwei Kleinen aufpasste, die neun und zehn waren. Mit den beiden Kleinen kam sie gut zurecht; es war die fünfzehnjährige Susan, mit der sie Schwierigkeiten hatte. So sehr sie sich auch bemühte, sie mochte ihre älteste Nichte nicht besonders. Obwohl sie es sich nie hatte anmerken lassen, zumindest hoffte sie das. Auch ihre Schwester hatte Probleme mit der Ältesten, und ihre Standardantwort auf Susans ständiges Gemaunze war: »Du kannst ausgehen, wenn Tante Louise mitkommt.« Aber welche Fünfzehnjährige geht schon gerne mit ihrer Tante, die so alt ist wie ihre Mutter, in die Disco? Und darum antwortete sie ihm: »Nein. Sie sehen es nur gern, wenn ich ihr Haus als mein Zuhause betrachte. Es ist nichts Besonderes, wenn ich auf Besuch bin, und außerdem«, sie fuhr ohne einen Hauch von Bitterkeit in der Stimme fort, »sind ledige Tanten bestens geeignet, wenn es darum geht, jemanden um den Finger zu wickeln: man kann sie um Dinge bitten, die man von seinen Freunden niemals verlangen würde.«
»Oh, Louise. Ihr Scharfblick ist bewundernswert. Ich glaube, Sie haben damit die zweite Frage auch schon beantwortet: ›Würde ihnen etwas fehlen, wenn Sie nicht zusammen mit Ihrer Familie Ferien machen würden?‹«
Als sie nicht sofort antwortete, zog er fragend die Augenbrauen in die Höhe, bis sie erwiderte: »Na ja, in meinem Fall hängt das davon ab, ob ich stattdessen etwas Besseres habe, womit ich meine Zeit ausfülle.«
Sie sah, wie er sich auf die Lippe biss, dann sagte er: »Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen, das helfen könnte, die Zeit auszufüllen, Louise ... Obwohl ich Sie jetzt besser kenne als sonst irgendwer, und obgleich ich den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen, schon von dem Augenblick an hatte, als ich Sie das erste Mal sah, war mir der Grund, warum ich das wollte, lange nicht klar. Ich habe nie gewagt, dies mir selbst gegenüber in Worte zu fassen, bis mich vorhin in Ihrer Gegenwart dieses seltsam komprimierte Zeitempfinden überkam, denn ich weiß genau, dass mir nichts so Bedeutendes in nur einer Stunde widerfahren kann. Nein, der Samen dazu wurde schon vor langer Zeit – nun, äh, im Januar dieses Jahres – gepflanzt und er fiel, das kann ich Ihnen versichern, auf sehr harten und steinigen Boden. Auf kargen Boden, auf Boden, der gegen das Gedeihen von Gefühlen immun war. Oh, ja. Alle Emotionen wurden von den langatmigen Tiraden, dieser Beardsley über alle möglichen Themen erstickt, und von dem Gerücht, dass er mit Frauen – ob in oder außerhalb der Schule – nicht viel anfangen kann. Er war immer höflich zu ihnen, manchmal sogar charmant, besonders bei Elternabenden, aber man hatte Kolleginnen vor seiner scharfen Zunge gewarnt. Sie wussten, wie weit sie gehen konnten, und machten es sich zur Aufgabe, andere Kolleginnen zu warnen – wie sie Sie gewarnt haben, nicht wahr, Louise?«
»Ja, das haben sie, Fred.« Sie hatte das Fred betont, und sie kicherten beide albern.
»Sie haben sich gefragt, Louise, warum die Kolleginnen sich überhaupt mit diesem grauhaarigen Kerl beschäftigen. Er ist sicherlich schon in den Vierzigern – wahrscheinlich schon Ende Vierzig, haben Sie sich sicherlich gedacht.«
»Nein, das habe ich nicht. Ich hab das nie gedacht. Ich dachte, Sie sind Ende Dreißig.«
»Dann waren Sie in der Tat sehr freundlich. Aber im Augenblick geht es um alles oder nichts. Na ja – vielleicht nicht um alles oder nichts, aber darum, ob wir noch einmal diesen Zustand erreichen können, in dem die Zeit ihre Bedeutung verliert. Nur darum geht es. Morgen früh steige ich in mein Auto und fahre runter nach Dover. Ich nehme mitsamt Wagen die Fähre nach Frankreich und fahre dann quer durchs Land nach Süden, wobei ich die ganze Zeit darüber nachgrübeln werde, warum ich alleine bin … Aber diesesmal frage ich mich, frage ich Sie, ob ich auf dieser Reise eine Begleiterin haben werde. Es kann …«, er hob jetzt die Hand wie ein Verkehrspolizist, der den Verkehr stoppt, »…es kann vollkommen platonisch sein oder auch das völlige Gegenteil. Das entscheiden allein Sie. Und wenn Sie nicht möchten, dass irgendjemand davon erfährt, dann liegt das auch ganz bei Ihnen. Ich könnte Sie morgen früh abholen, und schon wären wir unterwegs. Falls nicht, dann bleibt alles beim alten: Beardsley fährt alleine in die Ferien, und Miss Barrington besucht ihre Schwester in Rye.«
Sie presste ihren Rücken fest gegen die Stuhllehne und starrte ihn aus großen Augen an. Er bot ihr für sechs Wochen seine Begleitung an. Sie würden in Hotels übernachten und an Stränden faulenzen. Sie würden Orte besuchen, von denen sie noch nicht einmal geträumt hatte, und ihre Beziehung konnte – wie er noch einmal betonte – platonisch sein oder auch nicht. Platonisch oder auch nicht. Sie würde klar sagen müssen … Was würde sie sagen müssen? Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so gefühlt. Sie fühlte sich großartig, von freudiger Erregung erfüllt, anders, so völlig anders, so frei. Vielleicht war das nicht das richtige Wort, denn das Gefühl der Ablehnung, das sie Jahre lang mit sich herumgeschleppt hatte, existierte jetzt nicht mehr. Jemand wollte und begehrte sie. Man sagte nicht zu ihr: »Ich habe vier Jahre mit dir gelebt und kann mir eine Ehe mit dir nicht vorstellen«.
Denn wenn man dir solche Dinge sagt, fühlst du dich wie ein Nichts und deine Gefühle erstarren wie im ewigen Frost und tauen nur in der Dunkelheit der Nacht auf, wenn deine Sehnsucht nach Liebe überwältigend wird.
Platonisch oder auch nicht.
Ihre Stimme war so sanft wie der Blick in ihren Augen, als sie erwiderte: »Wieso bis morgen warten? Bis zehn Uhr oder so ist es doch hell.«
Sie beobachtete, wie sein Kopf für einen Augenblick auf seine Brust sank, und sie hörte ihn murmeln: »Oh, Louise, meine liebe, liebe Louise.« Dann erschreckte er sie, als er ihre Hand packte, sie auf die Füße, um den Tisch herum und in seine Arme zog. Obwohl er sie fest an sich presste, küsste er sie nicht, und seine Stimme war heiser vor Emotionen, als er sagte: »Das nennt man die Dinge überstürzen, und das ist mehr als nur platonisch, und Sie haben sich noch nicht mal entschieden.« Er ließ die Arme sinken, ergriff wieder ihre Hand und war im Begriff loszurennen, als sein Blick an der gebrauchten Teetasse und dem Glas auf dem Fensterbrett hängen blieb. »Oh, zum Teufel damit«, brummte er. »Ich spreche mit Robson, wenn ich aus dem Haus gehe, und erkläre es ihm.« Dann, als sie bereits aus dem Raum stürmten, fügte er hinzu. »Aber ich sollte besser nicht zu viel erklären, oder?«
»Wohin gehen wir?«,keuchte sie.
»In mein Zimmer zurück, um das Buch zu holen, wegen dem Sie mitgekommen sind, Miss Barrington, und den Rest von dem Port. Das dauert nur fünf Minuten.«
Und wenn es fünf Stunden gedauert hätte – es war ihr egal. Sie fühlte sich so lebendig. Sie lebte, sie rannte. Sie rannte Hand in Hand mit Mr. Fred Beardsley, und sie fuhren nach Frankreich und sie würden fünf oder sechs Wochen zusammen sein. Sie war wieder jung, und sie war verliebt. Ja, sie war verliebt! Oh, ja, das war sie, und in einen solchen Mann. Und er war in sie verliebt. Oh, ja, er war bis über beide Ohren in sie verliebt, und alles war innerhalb einer Stunde passiert. Sie versuchte, sich einzureden, dass das nicht geschehen sein konnte. Doch es war geschehen … Es war geschehen. Wie er gesagt hatte: Was bedeutete schon Zeit?
»Ich sage dir, ich hab ihn aus dem Lehrerzimmer stürmen sehen, und er zerrte Miss Barrington hinter sich her; sie rannten den Korridor runter und verschwanden in seinem Kabuff. Als ich mit dem Abwaschen der Tassen, die sie im Lehrerzimmer haben stehen lassen, fertig war und wieder auf den Gang rauskam, flitzten sie gerade durch den Haupteingang und liefen, noch immer Hand in Hand, rüber zum Parkplatz.«
Mrs. Robson sah aus ihrem Küchenfenster und sagte: »Ich bin hier am Fenster gestanden und hab die Backsachen abgewaschen. Daher habe ich sein Auto rausfahren sehen, aber ich hab nur ihn drin erkannt.«
»Von hier aus kannste ja auch gar nicht mehr sehen.«
»Kann es sein, dass du schon wieder getrunken hast?«
»Wie kommste jetzt auf so was, Frau? Ich sag dir, ich hab ihn mit ihr in sein Zimmer rennen sehen!«
»Ja, ja. Ich weiß, was du gesagt hast. Aber bei ihm, mit seinem Geschrei und Gebrülle und seiner Flucherei und noch dazu, dass ihm manchmal die Hand ausrutscht, is’ es ’n Wunder, dass sich noch niemand von den Eltern beschwert hat. Und du sagst, er ist mit dieser steifen Etepetete-Zicke an der Hand aus dem Schulhaus gerannt? Erst gestern haben sie im Lehrerzimmer darüber geredet – ich hab’s gehört, wie ich ihr Teegeschirr abgewaschen hab, dass sie nicht überrascht wären, wenn sie in den Ferien ihre Kündigung einreichen würde. Sie hat nicht viel mit den Kollegen zu tun und bleibt meistens für sich. Sie is’ ’n bisschen hochnäsig, wenn du mich fragst.«
»Mir gegenüber war sie nie hochnäsig. Sie is’ immer sehr höflich zu mir gewesen und sie kommt immer gut angezogen zum Unterricht, nicht so wie einige dieser anderen Flittchen, die überhaupt keine Lehrerinnen sein sollten, wennste mich fragst.«
»Setz dich jetzt und trink deinen Tee.«
»Du glaubst mir nicht, wie?«
»Das kann ich nicht. Wie denn auch? Wenn es tatsächlich er war, den du gesehen hast, dann kann sie es nicht gewesen sein, und wenn sie es war, die du gesehen hast, dann kann er es nicht gewesen sein. Beardsley und Miss Barrington! Ich bitte dich! Wo hast du nur deinen Verstand, Joss?«
Joss Robson ließ sich mit einem Seufzen am Tisch nieder, doch anstatt nach Messer und Gabel zu greifen und sich über den Schinken-Zunge-Salat herzumachen, starrte er nur gedankenverloren darauf hinunter. Es war schon so, wie sie sagte. Es war einfach unglaublich: Der alte Grizzly Beardsley und die junge Miss Barrington. Andererseits jedoch – ganz so alt war er auch wieder nicht, und sie war ja auch nicht mehr ganz so taufrisch. Schließlich hatte er beide beobachtet, oder? Oder etwa nicht?
Das Gebrüll, das ihr Ehemann ausstieß, ließ Mrs. Robson zusammenfahren, und beinahe hätte sie die beiden Tassen fallen lassen, die sie aus dem Geschirrregal nahm: »Willste mir jetzt einreden, dass ich Kuhfladen auf meinen Augen habe, Frau? Ich hab sie gesehen, basta!«
Jetzt wieder ganz ruhig, ging sie zum Tisch, drückte ihn auf seinen Stuhl zurück und meinte: »Wenn du sagst, du hast sie gesehen, dann hast du sie gesehen. Ich streite es ja gar nicht ab. Und jetzt trink deinen Tee.«