Bulldozer Bolsonaro - Andreas Nöthen - E-Book

Bulldozer Bolsonaro E-Book

Andreas Nöthen

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Beschreibung

2018 wurde der Populist Jair Bolsonaro zum Staatsoberhaupt des größten Landes von Südamerika gewählt. Der frühere Offizier versprach den Brasilianern einen radikalen Neuanfang, die Beseitigung von Korruption und die Bekämpfung der Gewalt. Doch auf Besserung wartet die Bevölkerung bis heute vergeblich. Die soziale Lage verschärft sich weiter, in Amazonien treibt der Präsident den Raubbau an der Natur brachial voran, und rücksichtslos geht er gegen Linke, ethnische Minderheiten und politische Gegner vor. In der Corona-Krise spielte er die Gefahr herunter und verhinderte rechtzeitige Schutzmaßnahmen, um die Wirtschaft nicht zu belasten.
Wer ist dieser Mann, wo kommt er her, und wie konnten seine Parolen bei den Bürgern verfangen? Andreas Nöthen hat den Aufstieg Bolsonaros aus der Nähe miterlebt. Er zeichnet das Porträt eines rechten Populisten, der als vergleichbarer Typ auch andernorts auf der Welt anzutreffen ist.

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Andreas Nöthen

BULLDOZER BOLSONARO

Wie ein Populist Brasilien ruiniert

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Juli 2020

entspricht der 1. Druckauflage vom Juli 2020

© Christoph Links Verlag GmbH

Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Lektorat: Hinnerk Berlekamp, Berlin

Umschlaggestaltung: Burkhard Neie, xix,

unter Verwendung eines Fotos von Brandrodungen

im Amazonas-Regenwald (dpa, Wildlife/M. Edwards)

Karte: Christopher Volle, Freiburg

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-096-4

eISBN 978-3-86284-482-1

INHALT

BRASILIEN STÜRZT AB. PROLOG

ZEIT FÜR EINEN NEUANFANG

Die Dreifachkrise

Wendepunkt Lava Jato

Nichts wird besser

AUS KLEINEN VERHÄLTNISSEN

Die italienischen Wurzeln

Ein junger Offizier mit Potenzial

Ein Zeitungsartikel und die Folgen

AUS DER KASERNE INS PARLAMENT

Achtundzwanzig Jahre Hinterbänkler

Gesucht: Die passende Partei

Ein Anschlag entscheidet die Wahl

DIE MEHRHEIT WÄHLT RECHTS

Brasilien will den Wechsel

Der Hoffnungsträger der Underdogs

Whatsapp und Co. entscheiden die Wahl

DER PRÄSIDENT JAIR BOLSONARO

Macht ist Familiensache

Die Säulen der Regierung: Militärs, Evangelikale, Lobbyisten

Brasilien über alles

Noch mehr Korruption, noch mehr Gewalt

Die Spur führt zu den Milizen

Kulturkampf gegen Links

Zankapfel Amazonien

Capitão Corona

WAS WIRD AUS BRASILIEN?

ANHANG

Anmerkungen

Übersicht über wichtige Personen

Literatur

Abkürzungen

Übersichtskarte Brasilien

Der Autor

BRASILIEN STÜRZT ABPROLOG

Die Christusstatue von Rio mit Raketenantrieb – »Brazil takes off«, titelte am 14. November 2009 das britische Finanzmagazin The Economist. Es war eine passende Beschreibung: Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends war Brasilien ein wirtschaftlicher Shootingstar mit solidem Wirtschaftswachstum.1 Binnen kurzer Zeit schafften Millionen Brasilianer aus den ärmsten Teilen der Bevölkerung den Sprung in die untere Mittelschicht2 und erlangten bescheidenen Wohlstand. Nach Daten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) sank zwischen 2003 und 2009 der Anteil der in Armut lebenden Menschen von 38,7 Prozent auf 24,9 Prozent.3 In extremer Armut lebten statt 13,9 nur noch 7,0 Prozent der Bevölkerung. Es ging bergauf. Brasilien, das ewige Land der Zukunft, schien es endlich gepackt zu haben. Die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 würden Zeugnis davon ablegen.

Zehn Jahre später ist vom damaligen Optimismus nichts mehr zu spüren. Brasiliens Wirtschaft kommt nach mehreren Jahren Rezession nicht in Fahrt. Die Wälder am Amazonas stehen in Flammen, die Abholzung nimmt immer dramatischerer Züge an. Man muss schon eine ganze Weile zurückdenken, sucht man nach positiven und erfreulichen Nachrichten aus Brasilien. Das größte Land Südamerikas, das fünftgrößte der Erde, taumelt von einer Krise in die nächste.

Politisch hat sich eine Kehrtwende vollzogen. Mehr als ein Jahrzehnt lang, von 2003 bis 2016, steuerten links geführte Regierungen der Arbeiterpartei (PT) das Land, zunächst unter Luiz Inácio Lula da Silva, dann unter Dilma Rousseff. Dann enthob das Parlament die gewählte Präsidentin ihres Amtes, eine rechte Übergangsregierung unter dem bisherigen Vizepräsidenten Michel Temer übernahm die Amtsgeschäfte. Am 1. Januar 2019 zog der rechte Politiker Jair Bolsonaro als Präsident in den Palácio do Planalto in Brasília ein. Wie ein Bulldozer rollt er seither über das Land hinweg und versucht plattzumachen, was immer ihm im Wege steht – Gesetze, Institutionen, Verträge, Menschen. Sein Motto im Endspurt des Wahlkampfs hatte gelautet »Brasilien über alles, Gott über allen« (Brasil acima de tudo, Deus acima de todos) – ein Slogan, der zumindest in deutschen Ohren ganz ähnlich klingt wie »Deutschland über alles«. So nationalistisch wie die Losung ist auch seine Politik. Nicht nur Brasilianer reiben sich verwundert die Augen und fragen sich: Was ist passiert? Wie konnte es dazu kommen?

Titelseite des britischen Magazins The Economist vom 14. November 2009

Brasilien ist nicht das einzige Land, in dem in jüngerer Vergangenheit rechte Populisten an die Macht gelangt sind. In den USA regiert Präsident Donald Trump, zu dem Jair Bolsonaro eine besonders enge Beziehung aufzubauen versucht. Auf den Philippinen herrscht Rodrigo »Rody« Roa Duterte, der als Präsident ähnlich fragwürdige Mittel einsetzt, um die Kriminalität einzudämmen, wie zuvor als Bürgermeister von Davao City. Auch in einer Reihe von Ländern Europas sind Rechtspopulisten an die Macht gelangt. Einer der ersten war in den 1990er-Jahren der italienische Medienunternehmer Silvio Berlusconi, dem es gelang, den Vertrauensverlust der Bevölkerung in das demokratische System seines Landes in politische Macht umzumünzen. In der Türkei träumt Recep Tayyip Erdoğan nach gemäßigtem Start inzwischen von einer Art zweitem Osmanischen Reich. Die Fidesz-Partei von Victor Órban in Ungarn hat es verstanden, sich mit EU-kritischer, nationalistischer Politik eine komfortable Machtposition zu schaffen. Und einer dreisten und ganz offen mit Lügen und Halbwahrheiten gespickten Brexit-Kampagne gelang es, die Mehrheit der britischen Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen und damit das Vereinigte Königreich über Jahre ins politische Chaos zu stürzen.

Diese grob angerissenen Beispiele deuten bereits an, welche Voraussetzungen es braucht, damit Populisten mit ihrer Politik Erfolg haben, und welche Mechanismen dort greifen: Den idealen Nährboden bieten eine Krisensituation und die daraus resultierende Verunsicherung und Angst. Um Identität zu stiften,4 wird der Wunsch nach einer (Wieder-)Gewinnung nationaler Souveränität gehegt und auf nationale Selbstbestimmung gepocht. Auch die Abkehr von supranationalen Einheiten (UNO, EU, Mercosul) und die Ausgrenzung von ganzen Bevölkerungsteilen – Indigene, Schwarze, LGBT5 oder auch »die Eliten« – gehören zu den klassischen populistischen Instrumenten. Auf diese Weise soll einerseits eine Art Homogenität (»das Volk«) erzeugt werden, während andererseits gleichzeitig die Gesellschaft nachhaltig gespalten wird. Populisten stiften also Chaos, um sich hinterher als Retter präsentieren zu können.

Auf den kommenden Seiten wird anhand des Werdegangs von Jair Messias Bolsonaro zu zeigen sein, wie der zurzeit weltweit zu beobachtende rechte Populismus auch in Brasilien relativ schnell wieder Fuß fassen konnte. Diese »Mischung aus Neoliberalismus, religiös aufgeladenem Kreuzzug wider aufgeklärtes Denken, Korruption und Klientelismus«, wie es Ursula Prutsch analysiert,6 hat »Brasilien um Jahrzehnte – in manchen Bereichen um nahezu ein Jahrhundert« zurückgeworfen und das Land damit zu einem »warnenden Lehrstück für das rasche Kippen vermeintlich stabiler Demokratien« gemacht.

ZEIT FÜR EINEN NEUANFANG

Die Dreifachkrise

Um ein ganzes Land für Populismus und vermeintlich einfache Problemlösungen empfänglich zu machen, braucht es zunächst eine handfeste Krisensituation, die möglichst weite Teile der Bevölkerung umfasst, im Idealfall das gesamte Land. Diese Krise muss dann noch ein weiteres Kriterium erzeugen: politische Unzufriedenheit, die sich nicht nur gegen eine einzelne Partei oder die Regierung richtet, sondern besser auf die gesamte politische Klasse oder die sogenannten Eliten. Beide Voraussetzungen waren in Brasilien schon mehrere Jahre vor der Wahl von Jair Bolsonaro gegeben. Brasilien leistete sich sogar eine Dreifachkrise.

Nicht nur, dass die Wirtschaft schwächelte; nicht nur, dass die Politik nach dem fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff zunehmend handlungsunfähig wirkte. Wirtschaft und Politik gemeinsam hatten den Grundstein gelegt für eine dritte, eine moralische Krise: Mehrere große Korruptionsskandale erschütterten nachhaltig das ohnehin eher geringe Vertrauen in die politische Klasse, weil praktisch alle politischen Parteien und politischen Ebenen betroffen schienen. Brasilien blieb eigentlich nur ein Ausweg: ein radikaler Neuanfang.

Sicht- und greifbar wurde dieser Krisencocktail erstmals im Juni 2013. Die Fußballwelt freute sich auf einen sportlichen Vorgeschmack auf den FIFA World Cup 2014, der Brasilien weit über die Klischees von Samba, Sonne und Lebensfreude hinaus als moderne, aufstrebende Demokratie präsentieren sollte. Der Confederations Cup 2013 sollte eine große Feier werden, und sportlich erfüllte er alle Erwartungen der Gastgeber: Brasilien schlug im Endspiel in Salvador de Bahia den amtierenden Weltmeister Spanien klar mit 3:0. Der junge Neymar Jr. wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. Torhüter Júlio César erhielt den goldenen Handschuh als bester Torhüter. Angreifer Fred teilte sich den Ruhm des besten Torjägers mit dem spanischen Stürmerstar Fernando Torres. Die Schlagzeilen, die während des Turniers um die Welt gingen, galten jedoch nur zum Teil den Sportlern. In nicht geringerem Maße galten sie Hunderttausenden Protestierenden, die auf die Straße gingen.

Die Welt war erstaunt – war dieses Brasilien nicht die aufstrebende Wirtschaftsmacht des neuen Jahrtausends? Woher kam die Unzufriedenheit?

Tatsächlich besaß Brasilien zwischen 2000 und 2012 laut dem Wirtschaftsmagazin Forbes eine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Mit im Schnitt fünf Prozent jährlichem Wirtschaftswachstum katapultierte sich das Land zwischenzeitlich auf den sechsten Rang der stärksten Volkswirtschaften. 2012 überholte das Schwellenland, das endlich sein gewaltiges Potenzial auszuschöpfen schien, sogar Großbritannien. Doch 2013 begann Brasilien zu kippen, und die Demonstranten in den Metropolen schienen es bereits irgendwie zu spüren. Nur ein Jahr später – ausgerechnet im WM-Jahr 2014, das mit dem sechsten Titel gekrönt werden sollte, woraus bekanntlich nichts wurde – rutschte Brasilien sogar in eine Rezession, die bis 2017 anhalten sollte und von der sich das fünftgrößte Land der Erde bis zum Ende des Jahrzehnts nicht wirklich erholen würde.

Die einfache Bevölkerung spürte den beginnenden Abschwung zuerst, und ihr Zorn richtete sich auf die Politiker, die sich mit den baulichen Großprojekten der Boomjahre – WM-Stadien, Olympia-Sportstätten für 2016 und damit verbundene Infrastrukturprojekte – die Taschen gefüllt hatten. Die Wut auf »die da oben« wuchs. Begriffe wie »corrupto« oder »ladrão« (Dieb) begannen, sich nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch im politischen Diskurs zu verankern. Zugleich traten politische Versäumnisse zutage: In eine qualitativ bessere Bildung zum Beispiel war kaum investiert worden, die Ergebnisse brasilianischer Schüler bei der OEDC-Vergleichsstudie Pisa stagnierten weitgehend auf unterdurchschnittlichem Niveau.7

Ein teuer erkaufter Aufstieg

Doch bleiben wir zunächst bei der Wirtschaft. Brasilien galt in der Vergangenheit als reiner Rohstofflieferant – es produzierte Holz, später Gold, Kautschuk, Kaffee, auch heute noch sind Fleisch, Soja oder Früchte wichtige Exportartikel. Die Veränderungen setzten in den 1930er-Jahren ein, als unter Präsident Getúlio Vargas die Industrialisierung forciert wurde. In den 1950er-Jahren begann die verarbeitende Industrie, nicht allein die Importabhängigkeit des Landes von gewissen Produkten zu reduzieren und ausländische Produkte durch einheimische zu ersetzen, sondern auch selbst im Ausland nach Marktnischen zu suchen. Bis heute gelten viele brasilianische Produkte allerdings im internationalen Vergleich als wenig konkurrenzfähig, von einigen Ausnahmen – etwa den Flugzeugen von Embraer – ausdrücklich abgesehen.

Als Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT, in Brasilien nur kurz Lula genannt, Ende 2002 zum Präsidenten gewählt wurde, stand die Wirtschaft relativ gut da. Die Inflation war niedrig, die Währung stabil. Lulas Politik zielte zu Beginn vor allem darauf ab, die Lebenssituation der ärmeren Schichten der Bevölkerung zu verbessern, und er legte zahlreiche Sozialprogramme auf. Ein Familienprogramm, die Bolsa Família, gab Familien kurzfristig mehr finanziellen Spielraum. Gleiches galt für die Anhebung des Mindestlohns. Laut Daten der Weltbank8 schafften es 29 Millionen Brasilianer, die Armut in Richtung Mittelschicht zu verlassen. Das Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung stieg zwischen 2003 und 2014 um durchschnittlich 7,1 Prozent pro Jahr, für den Rest der Bevölkerung im Schnitt um 4,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit halbierte sich.

Es waren vor allem Menschen aus den untersten Schichten, die nun ein paar Reais mehr in der Tasche hatten und dieses Geld in den privaten Konsum steckten. Doch nachhaltig war das nicht. Im Gegenteil: Billige Kredite befeuerten diese Tendenz zum Konsum noch, zumal in Brasilien praktisch alles auf Pump gekauft werden kann. Selbst an der Supermarktkasse wird der Kunde gefragt, ob er den Einkauf gleich in einem Rutsch bezahlen möchte, also »à vista«, oder verteilt auf bis zu zwölf Monatsraten – ein verlockendes Angebot, zumal dies ohne große Bonitätsprüfung geschieht. Viele Brasilianer landeten so in der Schuldenfalle.

Um die mangelnde Nachfrage nach brasilianischen Industrieprodukten anzukurbeln, setzte die von der PT geführte Regierung ein Binnenkonjunkturprogramm in Gang. Die öffentliche Hand stützte die Wirtschaft durch große Bau- und Infrastrukturaufträge, schließlich standen die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 in Rio vor der Tür. Stadien und Sportstätten entstanden oder wurden teuer saniert, in Rio de Janeiro wurde zudem die Erweiterung des Metronetzes in Angriff genommen. Unter dem Strich lief es zunächst gut. Selbst die Immobilienkrise von 2008/09 ließ die brasilianische Wirtschaft relativ unbeeindruckt. Die Binnennachfrage erwies sich als stabil und groß genug, um Schlimmeres zu verhindern. Um sicherzugehen, dass die Nachfrage nicht abriss, schuf die Regierung Steuervergünstigungen für den Kauf von Autos, Elektrogeräten oder Baudienstleistungen.

Doch die Stabilität war trügerisch. Denn der Boom beruhte nicht zuletzt auf der Verheißung gewaltiger Öleinnahmen. 2006 waren vor der Küste Brasiliens riesige Ölvorkommen gefunden worden, sogenanntes Vorsalzöl9 zwar, das wesentlich tiefer in der Erde lagert und dadurch teurer in der Gewinnung ist, doch das schien in Zeiten hoher Rohstoffpreise keine Rolle zu spielen. Welch ein Irrtum.

Denn zu dieser Zeit begannen die USA, mit der ökologisch hoch umstrittenen Fracking-Methode ihre eigene Förderung stark auszuweiten, ihr Öl in den Weltmarkt zu pumpen und damit für ein Überangebot zu sorgen. So sank der Ölpreis. Das traf nicht nur das sozialistisch regierte Venezuela, dessen Wirtschaft nahezu ausschließlich auf der Ölförderung basierte. Auch die noch immer stark rohstoffabhängige Wirtschaft Brasiliens kam ins Taumeln. Das war den USA durchaus genehm, galt es doch, die linke Regierung in Brasilien nicht zu stark und zu selbstbewusst werden zu lassen.

Der Ölpreis blieb eine ganze Zeit lang im Keller. Ausbaden musste das nicht Lula, sondern seine von ihm selbst ausgewählte und parteiintern durchgesetzte Nachfolgerin Dilma Rousseff, die zum Jahreswechsel 2010/11 ihr Amt antrat. Die langjährige Weggefährtin Lulas und frühere Widerstandskämpferin gegen die Militärdiktatur versuchte, seiner Linie zu folgen, bewies jedoch wenig staatslenkerisches Geschick. Kritiker behaupten gar: Sie tat nichts.

Um Kosten zu senken, fror Rousseff die Gehälter in den öffentlichen Unternehmen wie bei den Energieversorgern ein – mit begrenztem Erfolg. Die Unternehmen gaben den Druck an die Verbraucher weiter, die Preise stiegen. Rousseff versuchte, wie Lula den Markt mit Subventionen und Steuererleichterungen stabil zu halten. Doch viele Menschen verloren ihre eben erst gewonnenen Jobs wieder, der informelle Sektor wuchs. Im Straßenbild tauchten verstärkt fliegende Händler auf.

Alle Erfolge der Regierung bei der Eindämmung der Armut hatten nichts daran geändert, dass unter der dünnen Schicht des allgemeinen Aufschwungs weiterhin eine riesige soziale Ungleichheit bestand. Das Wirtschaftsmagazin Forbes platzierte Brasilien jüngst auf Rang zwölf der Länder mit der höchsten Milliardärsdichte. Gerade einmal fünf Prozent der Bevölkerung besitzen demnach so viel wie der gesamte Rest von 95 Prozent. Die sechs reichsten Milliardäre des Landes haben so viel wie die 100 Millionen Ärmsten – fast die Hälfte der Bevölkerung. Angesichts so gewaltiger sozialer Spannungen genügte 2013 die bloße Ankündigung, die Fahrpreise im Nahverkehr leicht anzuheben, um die fragile, mühsam hergestellte Stabilität wieder zu zerstören und die Menschen auf die Straße zu treiben.

Allen Grund zur Unzufriedenheit hatten nicht nur die Ärmsten, die ihren kurzfristig erworbenen, bescheidenen Wohlstand fast genauso schnell wieder verloren, wie er ihnen zugefallen war, und nicht selten auch noch auf einem zusätzlichen Schuldenberg saßen. Der etablierten Mittelschicht war durch die vorübergehenden Aufsteiger aus den unteren Schichten plötzlich eine Konkurrenz erwachsen. Das ließ bei den Betroffenen Verlustängste aufkommen. Viele mussten sich statt nach oben plötzlich nach unten orientieren. Und die dünne Oberschicht musste vorübergehend damit leben lernen, dass plötzlich auch Schwarze und farbige Brasilianer sich Konsum wie Reisen leisten konnten. Quer durch die Bevölkerungsschichten wuchs damit die Sehnsucht nach jemandem, der den Karren wieder aus dem Dreck zieht. Neben das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit traten dabei ganz existenzielle Dinge wie der Wunsch nach mehr Ordnung und Sicherheit und weniger Korruption oder die Nostalgie nach der »guten alten Zeit« mit gewachsenen Hierarchien.10

Bei der turnusmäßigen Wahl 2014 schaffte es Dilma Rousseff noch einmal, sich im zweiten Wahlgang mit knappem Vorsprung gegen Aécio Neves von der Mitte-Partei PSDB durchzusetzen und Präsidentin zu bleiben. Noch hielt eine Mehrheit des Wahlvolks der PT die Stange. Vor allem im armen Norden und Nordosten, wo viele Menschen von den Sozialprogrammen der Linksregierung profitiert hatten, gaben die Menschen Dilma Rousseff ihre Stimmen.

Doch im Parlament hatte die PT nie eine eigene Mehrheit besessen. Sie war stets auf die Stimmen der Mitte-rechts-Partei PMDB angewiesen gewesen, die seit den 1990er-Jahren ununterbrochen mit am Kabinettstisch in Brasília gesessen hatte und auf einer völlig anderen Wellenlänge lag als die einst sozialistische und mittlerweile eher sozialdemokratische PT. Zur Mitte der Legislaturperiode zeichnete sich ein politischer Stillstand ab. Die verschiedenen Kräfte blockierten sich gegenseitig. Gleichzeitig nahm die wirtschaftliche Krise immer bedrohlichere Züge an. Und die Regierung Rousseff unternahm kaum erkennbare Schritte, sich gegen diese Entwicklung zu stellen.

Dilma muss weg

So reifte bei den Gegnern Rousseffs und der PT der Entschluss, einen personellen Wechsel zu vollziehen. Sie schmiedeten Pläne, wie man den Abgang der Präsidentin beschleunigen könnte. Ein erster Schritt: Die PMDB, geführt vom gewählten Vizepräsidenten Michel Temer, kündigte ihr die Koalition auf. Plötzlich stand Rousseff im Parlament ohne Verbündete da. Das bedeutete im brasilianischen Präsidialsystem zwar nicht das Ende der Regierung, reduzierte ihren Gestaltungsspielraum aber praktisch auf Null.

Rousseff klammerte sich an die Macht. Auch wenn ihre Beliebtheitswerte in Umfragen nur noch einstellig waren, wähnte sie ihre Position offenbar stark genug, dass sie es riskieren konnte, Neuwahlen ins Spiel zu bringen. Darauf aber ließen sich ihre Widersacher nicht ein. Zu stark schien vielen noch die Unterstützung der Bevölkerung für die Politik der PT zu sein. Zu groß die Gefahr, vielleicht doch zu scheitern. Und dann? Rousseff oder ein anderer Kandidat der PT wäre möglicherweise mit neuer Legitimation aus den Wahlen hervorgegangen.

Doch der Druck aus der Bevölkerung wuchs. Die Proteste, die 2013 begonnen hatten, rissen nicht ab. Immer lauter und deutlicher wurden die Forderungen, endlich etwas zu tun und das Siechtum zu beenden. Viele forderten den Rücktritt Dilma Rousseffs oder, sollte sie sich weigern, ein Amtsenthebungsverfahren.

Die brasilianische Verfassung bietet eine Amtsenthebung, auch Impeachment genannt, als ultimativen Schritt an. Die Latte für die Begründung eines solches Verfahrens liegt sehr hoch – ähnlich hoch wie in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, die der brasilianischen Verfassung als Inspirationsquelle diente. Es muss schon ein Fall von Verrat oder Bestechung vorliegen, ein Kapitalverbrechen oder ein ähnlich schweres Vergehen. In der jüngeren Geschichte war diese Karte bereits einmal gezogen worden: 1992 wurde Präsident Fernando Collor de Mello aus dem Amt entfernt. Sein eigener Bruder hatte ihn der Korruption bezichtigt.

Um das Staatsoberhaupt seines Amtes zu entheben, muss zunächst die Abgeordnetenkammer mit Zweidrittelmehrheit einen entsprechenden Antrag annehmen. Stimmt anschließend auch der Senat für die Aufnahme des Verfahrens, wird der Präsident beziehungsweise die Präsidentin zunächst für 180 Tage suspendiert. In dieser Zeit klärt der Oberste Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal, STF) die erhobenen Vorwürfe juristisch. Zur endgültigen Entscheidung geht der Fall dann wieder in den Senat, der dann jedoch mit Zweidrittelmehrheit für die Amtsenthebung stimmen muss. Tut er es, hat anschließend der gewählte Stellvertreter des Präsidenten – im Fall von Dilma Rousseff war das Michel Temer – das Recht, die Legislaturperiode zu Ende zu regieren. Naturgemäß ist das Amtsenthebungsverfahren für die Antragsteller mit einem gewissen Risiko verbunden. Scheitert es, geht der im Amt bestätigte Staatschef möglicherweise gestärkt daraus hervor. Das ist in Brasilien nicht anders als etwa in den USA, wo 2019/20 Donald Trump das von den Demokraten gegen ihn angestrengte Impeachment-Verfahren in aller Ruhe aussaß.

Das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff beruhte auf dem Vorwurf des fiscal pedaling – ein Begriff, für den es im Deutschen keine wirklich griffige Übersetzung gibt. Es ging um Folgendes: Die Regierung hatte anscheinend Geld staatlicher Banken dazu benutzt, laufende Ausgaben zu begleichen, ohne diese Ausgaben jedoch offiziell als Kreditaufnahme zu deklarieren. Derartige fiskalische Tricks, mit denen Haushaltslücken überbrückt, verschleiert oder verschleppt werden, sind ohne Frage ein ernstes Vergehen.

Ob sie aber tatsächlich so schwer wiegen, dass sie es rechtfertigen, eine Präsidentin aus dem Amt zu entfernen – darüber wird noch heute leidenschaftlich gestritten. Denn ein Impeachment ist im Kern kein juristischer, sondern ein politischer Vorgang. So weigern sich Anhänger der Arbeiterpartei PT nach wie vor, die Amtsenthebung von Dilma Rousseff als rechtmäßig zu akzeptieren. Sie sprechen bis heute von einem »Golpe«11, einem Putsch oder Staatsstreich der Mitte-rechts-Parteien. Unter dem Strich bleibt es eine Glaubensfrage.

Rein formal wurde das Impeachment schulmäßig durchgeführt. Die Abgeordnetenkammer stimmte nach langer Debatte mit 367 Ja- zu 137 Nein-Stimmen für die Aufnahme eines Amtsenthebungsverfahrens – ein deutliches Ergebnis. Es folgten die Abstimmung im Senat, die Suspendierung der Präsidentin und schließlich die endgültige Entscheidung am 31. August 2016, bei der 61 Senatoren gegen und nur 20 für sie votierten. Dilma Rousseff war ihres Amtes enthoben.

Ein Detail soll an dieser Stelle erläutert werden. In der Aussprache in der Abgeordnetenkammer, bei der jeder Abgeordnete das Recht hat, seine Entscheidung zu begründen, hatte sich auch Jair Bolsonaro zu Wort gemeldet, von dem zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand vermutet hätte, er könnte in wenigen Jahren selbst Präsident werden. Bolsonaro hatte die Plattform des Parlaments schon öfter für seine Ausfälle genutzt. Dieses Mal fiel seine Provokation besonders geschmacklos aus: Er widmete sein Votum nicht der Familie, der Wahrheit oder Gott, wie es viele seiner Kollegen taten. Er widmete es General Carlos Alberto Brilhante Ustra. Dieser war 1970 während der Militärdiktatur der Leiter des Militärgeheimdienstes DOI-CODI. Jener Institution also, von der die damalige Widerstandskämpferin Dilma Rousseff gefoltert wurde.

Korruption, wohin man schaut

Das Amtsenthebungsverfahren, das parallel zu den Olympischen Spielen in Rio abgehalten wurde, spaltete die Gesellschaft in diejenigen, die das Impeachment für rechtmäßig und überfällig hielten, und diejenigen, die darin einen stillen Staatsstreich erkannten. Um die politische Dynamik dieser Zeit zu verstehen, ist jedoch ein zweiter Komplex zu berücksichtigen: die Korruption der politischen Klasse und der wirtschaftlichen Eliten in Brasilien.

Korruption hat es in Brasilien schon immer gegeben. Sie wirkt langsam, aber nachhaltig. Sie »korrodiert die Säulen der Demokratie, untergräbt das Prinzip, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind«, wie die brasilianische Ökonomin Maria Cristina Pinotti12 die Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft definiert. Auch die linken Regierungen der PT wurden von der Korruption infiziert. Das wurde zum ersten Mal deutlich, als 2005 der Mensalão-Skandal publik wurde.

Weil die PT im brasilianischen Kongress nicht über die alleinige Mehrheit verfügte und weil Koalitionen und Allianzen wegen der Zersplitterung des Parlaments schwierig zu bewerkstelligen waren, hatte sich José »Zé« Dirceu, Kabinettschef und rechte Hand von Präsident Lula, die graue Eminenz der Partei, einen besonderen Trick einfallen lassen: Er suchte mehrere Abgeordnete anderer Parteien, die die Vorschläge der PT unterstützten und bei Abstimmungen für sie votierten, und er wurde fündig. Auf diese Weise gelang es der PT sogar, die Verfassung um mehrere Anhänge zu erweitern. Für ihre Mühe wurden diese Abgeordneten mit einem finanziellen Obolus entschädigt. Monat für Monat (daher der Name Mensalão) erhielt jeder rund 30 000 Reais, damals etwa 10 000 Euro. Doch der Schwindel flog auf.

Zwar versuchte die PT noch, mit allerhand Tricks die Ermittlungen und Recherchen der Strafverfolger zu behindern und zu verschleppen. Am Ausgang des Verfahrens änderte das jedoch wenig. 2012 wurden 33 Personen zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Der Strafprozess war ungewöhnlich für brasilianische Verhältnisse. Zum ersten Mal wurde ein solches Verfahren von viel Öffentlichkeit begleitet. Das sicherte dem Richter, Joaquim Barbosa, in der Bevölkerung eine breite Unterstützung. Man darf nicht außer Acht lassen, dass er dabei war, Politiker der Regierungspartei PT zur Verantwortung zu ziehen.

Zudem begnügte er sich tatsächlich nicht mit ein paar Bauernopfern, sondern er schickte zugleich die großen Drahtzieher hinter Gitter. Plötzlich schienen auch die Unantastbaren antastbar. Der Justiz, der wie eigentlich allen Staatsgewalten immer ein wenig der Ruch anhing, sie koche insgeheim ihr eigenes politisches Süppchen, brachte dieser Prozess enormes Ansehen in der Bevölkerung. Vielleicht verschaffte er ihr sogar den nötigen Rückenwind, den sie brauchte, um nicht einmal zwei Jahre später ein noch viel größeres Rad zu drehen.

Selbstkritik ist unerwünscht

In der Zwischenzeit verabschiedete das brasilianische Parlament jedoch zunächst am 1. August 2013 ein Antikorruptionsgesetz, das in den weiteren Entwicklungen eine bedeutende Rolle spielen sollte. Das Gesetz 12 846, Lei Anticorrupção oder Lei Empresa Limpa genannt, sah vor, dass nicht mehr nur demjenigen Strafe droht, der Schmiergelder erhält, sondern auch demjenigen, der meinte, Schmiergelder verteilen zu müssen. Bis zum Mensalão war das möglich, ohne groß dafür belangt zu werden. Bestechung war ein Kavaliersdelikt. Niemand regte sich groß darüber auf, es sei denn, ein Politiker trieb es auf die Spitze. So wie der bereits erwähnte Fernando Collor de Mello, der erste nach dem Ende der Militärdiktatur gewählte Präsident Brasiliens. Gegen ihn wurden bereits nach 100 Tagen im Amt die ersten Korruptionsvorwürfe laut. 1992 wurde er vom Parlament abgesetzt.

Enstanden war die Lei Anticorrupção im Ergebnis einer internationalen Initiative der OECD im Kampf gegen die Korruption, ein spätes Echo der Enthüllungen der Watergate-Affäre13. Für die Regierung Rousseff, die gerade erst den Mensalão-Skandal hinter sich gebracht hatte, war das Gesetz zugleich auch ein innenpolitischer Befreiungsversuch, eine Reaktion auf die einsetzenden Massenproteste gegen die Regierung. Die Zustimmungswerte für Dilma Rousseff waren stark im Fallen begriffen. Im März 2013, also vor Beginn der Proteste, hatten sie noch bei starken 79 Prozent gelegen. Binnen nicht einmal vier Monaten waren sie jedoch auf nur noch 31 Prozent abgerutscht. Es bestand also akuter Handlungsbedarf.

Nicht auszudenken der Gesichtsverlust, hätte Rousseffs sich geweigert, ein so fortschrittliches Gesetz zu unterschreiben. Endlich, so konnte man meinen, packte eine Regierung das Problem bei der Wurzel. Es schien, als habe die PT aus ihren bitteren Erfahrungen im Mensalão-Skandal gelernt.

Doch geläutert war die PT keineswegs. Weder zu diesem Zeitpunkt noch später, als die Ermittlungen im Fall Lava Jato ein noch größeres Netzwerk der Korruption aufdeckten, waren von Seiten der Partei selbstkritische Töne zu hören. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die PT jenes Antikorruptionsgesetz schuf, das sie am Ende selbst zerlegen würde.

Wendepunkt Lava Jato

Lava Jato nahm seinen Anfang, als in der ersten Jahreshälfte 2014 Brasiliens damaliger Generalbundesstaatsanwalt Rodrigo Janot in seinem Büro Renita Cunha Kravetz, leitende Bundesstaatsanwältin im Bundesstaat Paraná, empfing. »Sie war gekommen, um mich zu fragen, ob sie eine Sonderermittlungsgruppe gründen könne«, erinnert sich Janot in seinem Buch Nada menos que tudo, was sich sinngemäß übersetzen lässt mit »Alles – und kein bisschen weniger«. »Es ging um einen Geldwechsler, dessen Fall beim 13. Bundesstrafgericht in Curitiba anhängig war. Sie sagte nur etwas von einer ›großen Sache‹, für die sie viele qualifizierte Kräfte und eine gute Infrastruktur brauche«, schreibt Janot.14

Den Namen gab der Operation eine Tankstelle mit angeschlossener Waschanlage in der brasilianischen Hauptstadt Brasília:15Lava Jato, übersetzt »Hochdruckwäsche«. Diese Tankstelle war, wie die Polizei herausgefunden hatte, Ausgangspunkt dubioser Geldüberweisungen. Zur prägenden Figur dieses größten Antikorruptionsverfahrens in der Geschichte Brasiliens und vielleicht sogar ganz Lateinamerikas wurde Bundesrichter Sérgio Moro aus Curitiba im Bundesstaat Paraná. Er war von 2014 an der zuständige Ermittlungsrichter im Fall Lava Jato.

Moro gehörte zu einer neuen Generation von Juristen Brasiliens, die an den besten Universitäten in den USA ausgebildet worden waren und sich in ihren Seminaren dort die modernsten Ermittlungstechniken im Kampf gegen die Korruption angeeignet hatten. 1998 hatte er an der Harvard Law School ein Ausbildungsprogramm für Anwälte besucht und an einem vom US-Außenministerium geförderten Studienprogramm zum Thema Geldwäsche teilgenommen. Schon mit Mitte 20 zum Bundesrichter ernannt, hatte Moro bereits mit beträchtlichem Erfolg die Ermittlungen in einem anderen Korruptionsprozess geführt, bei dem es um Devisenschiebungen in der in Paraná ansässigen Bank Banestado ging. Das Verfahren mündete damals in knapp 100 Verurteilungen. Lava Jato sollte aber viel größer und spektakulärer werden.

Das Prinzip war simpel, es ging um Zahlungen nach dem sogenannten Kickback-System: Drei (oder noch mehr) Partner schließen ein Geschäft ab, der Käufer der Ware oder der Dienstleistung überweist den vereinbarten Geldbetrag an den Verkäufer, und der überweist einen Teil der Summe an den dritten Partner – üblicherweise ohne dass derjenige, von dem dieses Geld ursprünglich stammt, davon erfährt. Das ist zunächst einmal nicht verboten, sofern dieser dritte Partner dafür selbst eine Leistung erbracht hat, zum Beispiel als Berater oder Vermittler.

Doch der Kickback eignet sich auch hervorragend für Praktiken, die nur als Korruption eingestuft werden können. Zum Beispiel dann, wenn der Auftragnehmer dem Auftraggeber einen Preis in Rechnung stellt, der über dem Marktpreis liegt beziehungsweise über dem Preis, der bei einer regulären, korruptionsfreien Ausschreibung ermittelt worden wäre, und wenn er diese Differenz dann unter der Hand an einflussreiche Beamte oder Politiker weiterleitet. Nach genau diesem Prinzip wurden in Brasilien mehrere Jahre lang Dutzende Politiker verschiedener Parteien mit Beträgen in Milliardenhöhe geschmiert. Hauptsächlich waren es Bauunternehmen, die die Zahlungen leisteten. Ein beträchtlicher Teil dieses Geldes verschwand auf Nimmerwiedersehen auf Schweizer Privatkonten.

Zugang zu diesem gigantischen Netzwerk der Korruption fanden die Ermittler von Lava Jato über Alberto Youssef, einen professionellen Geldwäscher, der bereits beim Banestado-Skandal seine Finger im Spiel gehabt hatte. Bei ihm fanden sie eine E-Mail, die belegte, dass der frühere Chef des halbstaatlichen Erdöl-Unternehmens Petrobras, Paulo Roberto Costa, einen Luxus-SUV geschenkt bekommen hatte. Die Ermittler schlugen zu, und Youssef packte bereitwillig aus. Immerhin bot ihm die neu eingeführte Kronzeugenregelung die Aussicht auf eine stattliche Hafterleichterung, sofern er sich bereit zeigte, involvierte Politiker vor den Kadi zu bringen. So drangen die Staatsanwälte Schritt für Schritt ins Innere des Skandals vor.

Deltan Dallagnol, leitender Staatsanwalt am Bundesgericht in Curitiba, und sein Team legten ein atemberaubendes Tempo vor. Es ging Schlag auf Schlag. Kein Jahr nach Beginn der Untersuchungen stießen sie auf die ersten ganz großen Namen: Otávio Azevedo, CEO des Baukonzerns Andrade Gutierrez, und Marcelo Odebrecht, Chef des gleichnamigen Baukonzerns, der bis dahin das größte Unternehmen Brasiliens war. Beide hatten über Jahre hinweg systematisch Schmiergeld an die Regierung gezahlt und im Gegenzug dafür den Zuschlag für zahlreiche große Bauprojekte erhalten: für diverse Fußballstadien für die WM 2014, für den Staudamm Belo Monte, das Kernkraftwerk Angra 3 oder die U-Bahn-Erweiterung in Rio de Janeiro.

Das italienische Vorbild: Mani Pulite

An dieser Stelle bietet sich eine kleine Abschweifung an, und zwar ins Italien der frühen 1990er-Jahre. Dort hatte die Justiz in der Operation Mani Pulite, übersetzt »saubere Hände«, einen durchaus vergleichbaren Fall von Korruption aufgedeckt. Ausgangspunkt der Ermittlungen war keine Tankstelle, sondern ein kleines Reinigungsunternehmen. 4200 Urteile fällten die Richter am Ende. Vier ehemalige Premierminister gehörten zu den Abgeurteilten, unter ihnen Bettino Craxi, der vor dem Zugriff der Justiz nach Tunesien floh, ferner zwölf ehemalige Minister und 130 Abgeordnete. Das Vertrauen der Italiener in ihre Politiker war restlos zerstört.

Der Skandal hatte Auswirkungen auf die politische Landschaft, die bis heute nachwirken. Nach den Wahlen 1994 waren fünf Parteien komplett von der Bildfläche verschwunden, allen voran die Christdemokraten, die die Politik Italiens in der Nachkriegszeit dominiert hatten. Stattdessen betrat der Medienunternehmer Silvio Berlusconi das politische Parkett. Statt auf Inhalte setzten Berlusconi und die von ihm gegründete Partei Forza Italia ganz auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen System. Sein populistischer Wahlkampfslogan: »Weg mit der alten Politik, wir wollen eine andere, neue, saubere Politik«, traf den Nerv der Zeit. Viele Italiener verlangten einen drastischen Bruch mit der Vergangenheit und einen politischen Neuanfang, in welche Richtung auch immer. Am Ende gewann Berlusconi die Wahl und wurde neuer Premierminister Italiens. Ein für Europa neuer Typus des Populismus war geboren.

Für die Staatsanwälte und Richter des Mani Pulite, die sich bis dahin eines großen Rückhalts in der Bevölkerung sicher sein konnten, wendete sich nach der Wahl das Blatt. Berlusconi hatte wenig Interesse an einer wachsamen und starken Justiz, die möglicherweise auch die Politik der neuen Regierung kritisch begleitet hätte. Also galt es, sie wieder zu entwaffnen.

Berlusconi gelang dies, indem er die Justiz systematisch diffamierte. Zunächst attackierte er die Strafverfolger. Schnell machte die Verschwörungstheorie die Runde, die Richter verfolgten eine ganz eigene Agenda, planten insgeheim, die Politiker generell zu verdrängen und selbst die Führung des Landes zu übernehmen. Konkrete Hinweise darauf gab es natürlich nicht. Aber Berlusconis Plan ging auf: In der Bevölkerung machte sich eine diffuse Verunsicherung breit.

Daraufhin ging der Premier noch weiter. Er begann, die Rechte der Justiz bei der Verfolgung von Korruptionsfällen systematisch zu beschneiden. Er reduzierte das Strafmaß für verschiedene Delikte und strich Handlungen, die bislang strafbar gewesen waren, aus dem Katalog der strafbaren Vergehen. Ein zentraler Bestandteil der Gesetzesänderungen war, Bilanzfälschungen künftig nicht mehr als strafbar zu bewerten. So schlug er den Ermittlern genau jenes Instrument aus der Hand, mit dessen Hilfe sie bei Mani Pulite erst den Betrügern auf die Schliche gekommen waren. Unfreiwillig hatten die Staatsanwälte den Politikern gezeigt, welche Türen diese zu schließen hatten, um künftig vor lästigen Ermittlungen geschützt zu sein.

Ermittler lassen Politiker zittern

All dies war Sérgio Moro bestens bekannt. Immerhin hatte er 2004 in einem juristischen Fachaufsatz die Operation Mani Pulite ausdrücklich gelobt, und er war mit dem Fall bis ins Detail vertraut. Für ihn stellte sich die Situation in Brasilien ganz ähnlich dar wie einige Jahre zuvor in Italien: Jeder wusste (oder ahnte zumindest), dass es im Land ein strukturelles Problem der Korruption gab, das den Staatsapparat auf allen Ebenen durchsetzt hatte und in dem die Wirtschaft einen vollwertigen Mitspieler abgab.

Dank des italienischen Anschauungsunterrichts wussten Moro und die involvierten Staatsanwälte auch, welche Fußangeln bei den Ermittlungen zu umgehen waren. Deshalb legten sie besonderes Augenmerk darauf, die Bevölkerung mitzunehmen. Es gab kaum einen Schritt, den sie nicht medienwirksam zu inszenieren wussten. Spektakuläre Festnahmen hochrangiger Akteure wurden live im Fernsehen übertragen. Richter Moro und Bundesstaatsanwalt Dallagnol präsentierten sich regelmäßig in der Öffentlichkeit. Neue Ermittlungsschritte wurden via Twitter angekündigt. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses extrovertierte Auftreten auch dem Selbstschutz Moros dienen sollte. Wer die Mächtigen und Einflussreichen derart frontal anging wie er, musste sich in Brasilien durchaus Sorgen um Leib und Leben machen. Öffentliche Bekanntheit bot wenigstens eine gewisse Sicherheit.

Die Medienauftritte zeigten Wirkung. Moro wurde zeitweilig wie ein Popstar gefeiert. Zweimal hintereinander, 2014 und 2015, wählten ihn die Medien zum Mann des Jahres. Immer mehr Menschen forderten ihn auf, bei der nächsten Wahl für das Präsidentenamt zu kandidieren. Moro gelang es bei alledem, stets bescheiden und zurückhaltend zu wirken und gar nicht wie ein beißlustiger Hund, der endlich von der Kette gelassen worden war. Bei sehr vielen Brasilianern kam das gut an.

Glaubwürdigkeit erwarb sich Moro nicht zuletzt dadurch, dass er anscheinend niemanden verschonte und keine Angst vor großen Namen zeigte. Nach Azevedo und Odebrecht ließ er auch den Milliardär Eike Batista und den früheren Petrobras-Chef Nestor Cerveró verhaften und aburteilen. Nicht weniger spektakulär verlief die Operation Lava Jato auf Seiten der Politiker. Mehr als 150 frühere Minister, Abgeordnete, Senatoren und Gouverneure landeten im Gefängnis. Viele, aber durchaus nicht alle kamen aus den Reihen der PT. Unter denen, die Moro schließlich zur Strecke brachte, waren auch Eduardo Cunha, zuvor noch Präsident der Abgeordnetenkammer, und Renan Calheiros, bis unmittelbar vor seiner Verhaftung Senatspräsident, die beide der Mitte-rechts-Partei PMDB entstammten.

Nach und nach stellte sich in der Öffentlichkeit jedoch eine gewisse Müdigkeit ein. Allen Ermittlungserfolgen zum Trotz kam hier und da sogar Kritik auf. Anwälte kritisierten, Richter Moro missbrauche das Instrument der Untersuchungshaft, um Verdächtige zu Aussagen zu bewegen. Andere Stimmen bemängelten wiederum, die Ermittler konzentrierten sich zu sehr auf die PT und die PMDB. Andere Parteien, die im Verdacht standen, kein bisschen weniger korrupt zu sein, spielten bislang noch überhaupt keine Rolle, vor allem die rechte PSDB und deren prominentester Repräsentant Aécio Neves. Zur Verteidigung der PT erhoben sich allerdings nur wenige Stimmen. Lava Jato spielte schließlich perfekt auf der Klaviatur des Antikorruptionsgesetzes, das die Partei 2013 selbst mitverfasst hatte. Wollte die PT nun etwa die Justiz dafür kritisieren, dass sie das Gesetz auch anwandte?

Lava Jato