Bürgerkriegstheorien - Daniel Bultmann - E-Book

Bürgerkriegstheorien E-Book

Daniel Bultmann

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Beschreibung

Das Buch versteht sich als erste deutschsprachige Einführung in aktuelle Bürgerkriegstheorien der Sozial- und Politikwissenschaften. Als im Anschluss an den Kalten Krieg und entgegen mancher Erwartungen bewaffnete Konflikte und Bürgerkriege nicht beendet sondern in weiten Teilen sogar noch verstärkt wurden, suchte man nach den Ursachen für Gewalt, die nicht dem Kalkül eines Stellvertreterkrieges folgten und anhand derer sich die Intensivierung und Brutalisierung der Konflikte erklären ließ. Auch weiterhin versinken ganze Regionen im Bürgerkrieg, und die Welt stürzt von einer Krise in die nächste. Ob Syrien, Kongo, Ukraine, Zentralafrikanische Republik, Philippinen, Afghanistan, Irak und die Ausbreitung des IS – Kriege erscheinen heute präsenter und gefährlicher denn je. Das Buch gibt einen Überblick über aktuelle Theorien, wie Bürgerkriege entstehen, warum sie fortdauern, wie sie sich mit der Zeit wandeln und warum die Gewalt gegen Zivilisten immer brutaler zu werden scheint. Darüber hinaus führt es in die neueste Forschung zur internen Organisation und zu Struktur bewaffneter Gruppen ein.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Das Ende der Kalten Kriegslogik

2 Wut

2.1 Blinde Wut

2.2 Begründete Wut

2.3 Relative Wut

2.4 Religiöse Wut

3 Gier

3.1 Rationale Gier

3.2 Verfluchte Ressourcen

3.3 Vernetzte und Neue Gier

4 Mikro-Logiken

4.1 Räume

4.2 Rekruten

4.3 Wetter

5 Staatlichkeit

5.1 Regierungstypen und –wechsel

5.2 Schwache – gescheiterte Staaten

5.3 War Making, State Making

5.4 Intervention

6 Kampf der Emotionen

6.1 Angst

6.2 Lust und Autotelik

6.3 Hass, Scham und Rache

6.4 Nation, Männlichkeit und Stolz

6.5 Orientalismen

7 Politische Ordnungen

7.1 Legitimation

7.2 Massen, Psychosen und andere temporäre Ordnungen

7.3 Flüchtlingslager

8 Wissen und Kommunikation

8.1 (Social) Media

8.2 Wissensproduktion

8.3 Der Dritte

9 Felder

9.1 Struktur des Feldes

9.2 Zugänge: Rekruten, Kameraden und Zwang

9.3 Initiation, Gehorsam und Habitualisierung

9.4 Symbolische Ordnung und Disziplinierung

10 Figuren

10.1 Kindersoldaten

10.2 Warlords

10.3 Terroristen

11 Schluss: Versicherheitlichung

Literaturliste

1 Einleitung: Das Ende der Kalten Kriegslogik

Mit dem Ende der Sowjetunion begann die Bürgerkriegsforschung. Zwar konnte man bereits nach 1945 einen deutlichen Anstieg innerstaatlicher Konflikte beobachten. Eine Interpretation für diese Entwicklung war allerdings schnell gefunden: In Zeiten des Systemwettbewerbs führten die Großmächte immer mehr Stellvertreterkriege in Asien, Afrika und Lateinamerika. Wer sich daher mit den Konflikten auseinandersetzte, sah ihre Ursache zumeist in der weltpolitischen Wetterlage und im Wettkampf zweier Wirtschaftssysteme und Ideologien begründet. Konflikte waren Teil des Weltsystems und vollständig aus ihm heraus erklärbar. Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion hinterließ ein theoretisches Vakuum, denn die Kriege gingen weiter. Manche meinen sogar, sie seien inzwischen blutiger als je zuvor. Trotz des Wegfalls der Finanzspritzen der Großmächte und trotz eines „Endes der Geschichte“ – wie es Francis Fukuyama im Jahr 1992 mit Blick auf den scheinbaren Sieg liberal-kapitalistischer Demokratien verkündete – versanken auch weiterhin Staaten und ganze Regionen in Bürgerkriegen. Schnell kamen neue Erklärungsansätze auf, neue Konzepte: Ethnizität, Religion und unter dem Deckmantel des Kalten Kriegs lodernder, urzeitlicher Hass.

Während die Konflikte in den 1990er noch ganz fern waren und nur über die Nachrichten im Fernsehen und in den Zeitungen die heimische Öffentlichkeit erreichten, rückte das Geschehen in den letzten fünfzehn Jahren immer bedrohlicher an den Westen heran. Einen zweiten Anschub und paradigmatischen Wandel erfuhr die Bürgerkriegsforschung durch den internationalen Terrorismus. Seit dem 11. September 2001 sind Bürgerkriege nicht mehr bloße Scharmützel auf anderen Kontinenten, sie sind vielmehr ein akutes Sicherheitsrisiko für alle. Politik, Medien, Wissenschaft und Öffentlichkeit blicken vermehrt in Sorge um die eigene Sicherheit auf die Konflikte dieser Welt. Überall scheinen Räume ohne staatliche Kontrolle zu entstehen, die einen Rückzugsraum für terroristische Gruppen bieten. Der Eingriff in Bürgerkriege ist nicht mehr nur ein humanitäres Anliegen, sondern die eigene Sicherheit wird nunmehr – mit den Worten des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck – „am Hindukusch verteidigt“. Bürgerkriege werden zu Netzwerkkriegen, die keine Grenzen und kein Territorium mehr zu kennen scheinen. Syrien liegt neuerdings mitten in Deutschland, genauer noch: in der salafistischen Hochburg Dinslaken. Absolut alles wird dabei auf mögliche Sicherheitsrisiken hin befragt: sich scheinbar viral ausbreitende Konflikte in verschiedensten Regionen dieser Welt, die globale Erderwärmung, Migrations- und Flüchtlingsströme sowie die Ausbreitung von Armut, Staatszerfall und Krankheiten wie Ebola. Doch mit der Suche nach und Schaffung von Sicherheit scheint zeitgleich die Produktion – wenn nicht sogar die Potenzierung – von Unsicherheiten einherzugehen: Zunehmend wähnt man sich in einer Welt voller Gefahren, deren Kollaps jederzeit bevorstehen könnte.

Je genauer die Wissenschaft hinschaut, desto unklarer wird indes das Phänomen Bürgerkrieg, desto problematischer seine zeitliche, räumliche und konzeptuelle Abgrenzung. Ab wann ist ein Krieg überhaupt ein Krieg? Das Correlates of War Project (POW) setzt eine klare Schwelle an: erst ab 1.000 Gefechtstoten im Jahr gilt ein bewaffneter Konflikt als Krieg. Und ein Bürgerkrieg liegt dann vor, wenn es sich um einen Konflikt zwischen der Regierung und einem nichtstaatlichen Militär auf dem eigenen Territorium handelt und wenn beide Seiten „effektiven“ Widerstand leisten (vgl. Sarkees und Wayman 2010). Das Center for Systemic Peace an der University Maryland setzt die Schwelle dagegen bereits bei 500 Gefechtstoten an. Und die Political Instability Task Force formuliert gar zwei Schwellen: 1.000 mobilisierte Kämpfer, Demonstranten oder Protestteilnehmer und 1.000 Gefechtstote – allerdings über den gesamten Konfliktverlauf, über den hinweg mindestens ein Jahr 100 Tote aufweisen muss. Fearon und Laitin (2003) setzen ebenfalls 1.000 Gefechtstote an, jedoch mit einem jährlichen Durchschnitt von 100 Gefechtstoten und mindestens 100 Opfern auf jeder Seite – aud diese Weise sollen Massaker und andere Formen einseitiger Gewalt von der Definition ausgeschlossen werden. Schwellenwerte sind jedoch in ihrer Genauigkeit trügerisch. Das Problem liegt nicht nur in Latenzen, zwischenzeitlichen Friedensschlüssen sowie formellen wie informellen Waffenstillständen, sondern auch in der Uneindeutigkeit der Kategorie „Gefechtstote“ sowie in der Ausweitung von kriegerischer Gewalt, die sich nicht mehr als Gefecht im engen Sinn klassifizieren lässt (Bombenanschläge, Minen, etc.). Zudem fallen viele Konflikte heraus, die nur knapp unter der Schwelle liegen. Dabei ist es durchaus möglich, dass unterhalb der Schwelle ein massiver Anstieg an „Kleinstkriegen“ stattfindet, der keinerlei Eingang in die Statistiken findet.

Das Uppsala Conflict Data Program (UCDP) spricht nicht von Krieg, sondern von Konflikttypen (vgl. Themnér und Wallensteen 2014). Dabei ist Konflikt wahrscheinlich ein noch komplexerer Begriff als Krieg (vgl. Bonacker 2008). Allgemein liegt ein bewaffneter Konflikt für das UCDP bereits ab 25 Gefechtstoten im Jahr vor. Das UCDP unterscheidet dabei unterschiedliche Konflikttypen anhand der jeweils beteiligten Akteure: 1) zwischenstaatliche Konflikte (zwei oder mehr Regierungen), 2) innerstaatliche Konflikte (Regierung und mindestens eine nicht-staatliche Organisation), 3) innerstaatliche Konflikte mit ausländischer Beteiligung (Regierung oder Opposition erhalten personelle Unterstützung durch ausländische Truppen) 4) nicht-staatliche Konflikte (keine der kämpfenden Gruppierungen ist staatlich), 5) einseitige Gewalt (staatliche Organe wenden Gewalt gegen Zivilisten an) sowie 5) extra-systemische Konflikte (im wesentlichen seit 1974 beendete Kolonialkriege, bei denen eine Regierung eine nicht-staatliche Gruppe außerhalb ihres Territoriums bekämpft, um die Kontrolle über eben jenes Territorium aufrechtzuerhalten).

Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Universität Hamburg definiert Krieg dagegen als einen „gewaltsamen Massenkonflikt“, der drei Merkmale aufweisen muss:

(a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;

(b) auf beiden Seiten muß ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.);

(c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern. (AKUF 2013)

Alle gewaltsamen Auseinandersetzungen, die diese Merkmale nicht in vollem Umfang erfüllen (vor allem das der Kontinuität), bezeichnet AKUF als bewaffneten Konflikt. Die AKUF unterscheidet hieran anschließend verschiedene Kriegstypen primär anhand ihrer Zielsetzung: Antiregime-Kriege, Autonomieund Sezessionskriege, zwischenstaatliche Kriege, Dekolonialisierungskriege und ‚sonstige Kriege‘. Unter ‚sonstige Kriege‘ fallen alle Mischformen, die sich nicht mehr eindeutig einem Typus zuordnen lassen und / oder bei denen sich der Charakter der Kampfhandlungen im Verlauf des Konfliktes grundlegend gewandelt hat. Zuletzt unterscheidet die AKUF noch, ob es sich um Kriege mit und ohne unmittelbare Fremdbeteiligung handelt (entscheidendes Kriterium ist auch hier die aktive Teilnahme ausländischer Streitkräfte – und nicht nur die finanzielle, logistische oder anderweitige Formen von Unterstützung). Auffällig ist, dass für den AKUF letztlich alle Formen von Krieg bereits per definitionem politisch sind: Es geht immer um unterschiedliche Formen der Neuordnung von Herrschaft. Für alles andere ist bestenfalls unter der Kategorie ‚sonstige Kriege‘ Platz.

Das Problem ist, dass es sich zumeist – wenn nicht gar immer – um Mischformen handelt, bei denen es sich nicht unvoreingenommen festlegen lässt, was beispielsweise als innerstaatlicher, internationalisiert innerstaatlicher, Sezessions- oder Antiregimekrieg gilt. Das ist nicht ohne Bedeutung, denn die Wahl des jeweiligen Begriffs lenkt bereits den Blick der Analyse, da jeder Begriff ein ganzes Arsenal an unterstellten Ursachen, Motiven und Dynamiken mitsichbringt, die dann einer in sich höchst komplexen, mit widersprüchlichen Zielen behafteten Gruppierung unterstellt werden. Begriffe sind bereits Theorien. Das gilt auch für scheinbar neutrale Begriffe wie dem des ‚innerstaatlichen Konflikts‘. Auch wenn Kriege zentrale internationale und weltpolitische Ursachen haben oder eine teils massive finanzielle wie logistische Unterstützung, Trainings und militärische Beratung stattfindet, gilt der Krieg als innerstaatlich. Ursachen und Dynamiken werden dann zuallerst im Container-haften Inneren vermutet. Und wenn man Deutsche fragt, ob sie im Frieden leben, würde sicherlich ein Großteil zustimmen. Dabei befindet sich das deutsche Militär derzeit in mehreren Militäreinsätzen – nicht nur in Afghanistan. In einer interdependenten Welt ist des einen innerer Frieden des anderen innerer Krieg. Globale Zonen des Friedens sind dabei mit Zonen des Krieges auf vielfältige Weisen nicht nur militärisch, sondern auch sozial, ökonomisch und politisch kausal miteinander verknüpft. Diese Verpflechtungen lassen sich nicht einfach anhand der numerischen Präsenz ausländischer Truppen fassen. Solche überaus komplexen und folgenreichen transnationalen Verknüpfungen und Entstehungsbedingungen kriegerischer Konflikte gehen durch den Fokus auf die Innerstaatlichkeit häufig verloren (vgl. Barkawi und Laffey 1999).

Darüber hinaus sind auch die Ziele einer bewaffneten Gruppe nicht eindeutig bestimmbar: Kann man sie aus dem offiziellen Programm einer Gruppe, ihrem Gründungsmythos oder ihrer Symbolpolitik herauslesen? Oder ist es bloße, nichtssagende Propaganda und die Gruppen verfolgen in Wirklichkeit eine ganz andere Agenda? Geht es um die biografischen Wurzeln oder inoffiziellen Verlautbarungen der Führung und / oder der Gefolgschaft? Oder legen Beobachter fest, was die ‚wahren‘ Ziele einer Gruppe sind (Sezession, Selbstbereicherung, Regierungsmacht, Vernichtung religiös oder ethnisch gefasster Feinde, ein Kalifat)? Und wie legen sie sie fest – etwa mit Blick auf die vorherrschende Finanzierungsweise: Stichwort Blutdiamanten? Und lässt die Finanzierung über Blutdiamanten oder andere Mineralien und Rohstoffe ausschließlich einen Schluss auf rein ökonomische Motive zu? Motive wandeln sich im Laufe des Konflikts – vor allem wenn er über einen langen Zeitraum geht. Formen und Handlungslogiken von Kriegen können sich über die Jahre je nach der sozialen, (welt)politischen und wirtschaftlichen Lage teils massiv wandeln (ehemals hehre Ziele, eine neue soziopolitische Ordnung umzusetzen, machen vermehrt Platz für Motive der Selbstbereicherung oder schlicht einer Aufrechterhaltung des Krieges um des Krieges willen). Zumeist koexistieren unterschiedliche, manchmal kaum miteinander vereinbare Ziele in einer Gruppe. Je nach Konfliktzeitpunkt und interner Dynamik können dann ehemals weniger einflussreiche Akteure Überhand gewinnen und die Strategie der Gruppe (um)prägen. Während zu Beginn beispielsweise noch eine neue gesellschaftliche Ordnung angestrebt wurde, übernehmen immer mehr Kommandeure das Ruder, die sich über ein Kriegercharisma legitimieren und denen kaum an einer Sozialutopie gelegen ist, sondern eher an dem Erhalt eines sie legitimierenden Kriegszustandes. Um bewaffnete Gruppen von kriminellen Organisationen abgrenzen zu können, sehen einige Autoren auch die Existenz eines „bedeutungsvollen“ politischen Programms als zentrales Kriterium an (vgl. Newman 2014a: 60-62). Was jedoch als bedeutungsvoll, legitim, illegitim, ideologisch oder aber politisch zählt, hängt massiv von der Interpretation Dritter ab.

Andere Begrifflichkeiten sind wesentlich offensichtlicher ideologisch konnotiert. Mitglieder bewaffneter Gruppen und Sympathisanten kollektiver Gewalt sprechen von Widerstand, Aufstand oder Rebellion und legen damit gleich den eigenen und den vom anderen gewünschten Interpretationsrahmen vor. Kritisch gestimmte Beobachter würden dann eher mit disqualifizierenden Klassifikatoren arbeiten und von irregulärer Kriegsführung, neuen Kriegen, kriminellen Netzwerken oder gleich von Terrorismus sprechen (oder Sprachblüten kreieren wie kriminell-terroristische Organisation). Der größte Anachronismus liegt wahrscheinlich im alltagssprachlich am weitesten verbreiteten Begriff des Bürgerkrieges, der – zusammen mit innerstaatlichem Konflikt – hier im Buch wahrscheinlich am häufigsten verwandt wird und den Titel prägt. Ein Bürger im klassischen Verständnis steht sicherlich nicht unbedingt für transnationale Netzwerke, Migration, Staatenlosigkeit, brutale Gewalt, Tötungslust oder Irrationalität. Der Grund dafür, den Begriff trotzdem zu verwenden, ist nicht nur seine populäre Verbreitung und eine sprachliche Bequemlichkeit des Autors. Der Hauptgrund ist der Umstand, dass es keine neutralen, in sich abgeschlossenen und konzeptuell eindeutigen Begriffe gibt. Die Wahl des Vokabulars ist immer schon eine subjektive Entscheidung, bei der es letztlich zuallerst darauf ankommt, wie man mit den Begriffen arbeitet, wie man sie nutzt, was man in sie einbezieht und welche Zugänge zu Phänomenen man wählt und als legitim anerkennt. Begriffe sind wie Vexierbilder, die Sichtbarkeiten produzieren und dabei zeitgleich Aspekte in den Hintergrund treten lassen und Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und offene Fragen generieren. Zugleich bieten Begriffe eben auch Sichtbarkeiten in Form von erschließenden Perpektiven auf ein Phänomen an – und die gilt es zu nutzen. Um dieses Spiel mit Sichtbarkeiten, ihren Produktionsbedingungen und Argumentationsfiguren geht es in diesem Theorieüberblick zu Bürgerkriegen, der keine abgeschlossenen Wahrheiten zu präsentieren gedenkt und sich entlang verschiedener im Diskurs über Bürgerkriege immer wiederkehrender Begriffe entfaltet. Der Text lässt dabei das Spiel mit verschiedensten Begriffen zu und lotet ihre Perspektiven aus.

Die zugrundeliegende Definition von Bürgerkrieg soll dabei eine unabgeschlossene Arbeit an dem Begriff ermöglichen und ist daher eine möglichst Minimalistische. In Anlehnung an die Definition von Krieg als organisierte kollektive Gewalt, an der mindestens ein staatlicher Akteur beteiligt ist (Bonacker und Imbusch 2010: 111), wird Bürgerkrieg im Folgenden als organisierte kollektive Gewalt verstanden, an der mindestens ein nicht-staatlicher Akteur beteiligt ist. Entscheidend ist also die Frage nach dem Aufkommen von nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, in denen sich vormals zivile Akteure zu einer militärischen Formation zusammenschließen (oftmals jedoch unter maßgeblicher Beteiligung von ehemaligen Mitgliedern der Regierung und des staatlichen Militärs). Die Definition umfasst also auch Konflikte, in denen kein staatlicher Akteur auftritt – entweder weil er vollständig fehlt oder weil sich die Gruppen kaum mehr klar zuordnen lassen. Es geht um das Aufkommen und den Fortbestand solcher militärischer Formationen, die eine – ganz im Sinne der AKUF-Definition – gewisse Konstanz und Regelmäßigkeit in ihren Aktivitäten aufweisen. Es geht explizit nicht darum, ihnen eine bestimmte Zielsetzung zu unterstellen (Sezession, Revolution, Selbstbereicherung). Solche Ziele sind komplex und können in einzelnen Gruppen – letztlich gar für einzelne Personen – koexistieren. Indirekte oder direkte Interventionen anderer Staaten oder transnational operierender Militärs sind dabei beständig relevant, aber in ihrer Thematisierung nicht an Quota gebunden. Bewaffnete Gruppen selbst sind auch nicht an Staatsgrenzen gebunden. Im Gegenteil operieren viele von ihnen überregional und transnational, in Grenzregionen, entlang nur schwach bis gar nicht klar markierter Zwischenräume und in Flüchtlingslagern. Zudem setzen sie sich – vor allem in der Führungsriege – häufig aus Mitgliedern mit Migrationshintergründen und starken biografischen Wurzeln in Diasporagemeinschaften zusammen. Der Fokus des Buches liegt allerdings nicht allein auf einzelnen Gruppen, sondern auf Kriegszuständen, in denen solch ein Akteur auftritt. Der Grund für diese zunächst Minimal anmutende Differenz ist einfach: Die Forschung beginnt erst seit knapp zehn Jahren damit, den Fokus verstärkt auf die Entstehungs- und Funktionsweise von nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen zu verlegen (in diesem Zusammenhang fällt dann überhaupt erst verstärkt auf, dass der Fokus auf einzelne Staaten verengt ist, wenn man die regionalen und internationalen Aktivitäten und Wirkungen der Gruppen fassen will). Zu Beginn lag der Fokus noch auf einzelnen als abgeschlossene Container verstandenen Nationalstaaten, in denen ein Bürgerkrieg aufkommt sowie auf der Frage nach den Ursachen, die wiederum mittels nationaler Statistiken beantwortet werden sollten.

Der Inhalt des Buches gestaltet sich entlang dreier Ordnungsprinzipien. Erstens beginnt der theoretische Überblick mit Theorien, die im Anschluss an den Kalten Krieg aufkamen und sich mit aktuellen Bürgerkriegen und ihren Ursachen auseinandersetzen. Die Literatur zu Konflikten wie dem Amerikanischen Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert wird also nicht thematisiert. Die Kapitel sind dabei zweitens grob chronologisch geordnet. Nur grob chronologisch sind sie, weil sie drittens jeweils einzelne Argumentationsfiguren in sich zusammenfassen, die seither immer wieder aufgenommen, modifiziert, kritisiert, verbessert oder radikalisiert werden. Argumentationsmuster kamen zwar zu gewissen Zeiten auf und markieren auch diskursive Umbrüche, zugleich wirken sie jedoch auch fort, gehen Verbindungen ein und berufen sich auch auf geistige Vorfahren. Wichtig ist daher vor allem, jeweils die zentrale Argumentation der Theorie- und Analysefiguren, ihre Abgrenzungsbewegung von anderen Ansätzen, ihren Beitrag zur Sichtbarmachung von Zusammenhängen und ihren Zugang zum Phänomen darzustellen.

Die erste Figur, die im Diskurs zirkulierte und erklären sollte, warum es trotz Ende des Kalten Krieges noch Krieg gab, war ethnische, religiöse oder einfach nur irrationale Wut (Kapitel 2). Die Wut entspringt hier einer entweder einer realen oder aber imaginierten Verletzung der eigenen Identität und einer soziopolitischen Ungerechtigkeit. Scharf kritisiert wurde der Ansatz von Theoretikern mit Wurzeln in den Wirtschaftswissenschaften, die Gier an der Wurzel kriegerischer Aktivitäten sehen (Kapitel 3). Für sie sind die Wut-Theoretiker letztlich nur auf die Propaganda der Gruppen hereingefallen, die ihre wahren Motive hinter sozial-reformistischen Programmen oder ethnoreligiösen Argumenten und Animosiäten verstecken, die sie als Feigenbaltt für ihre wahren Motive nutzen. In die Riege der Gier-Theorie gehört dabei auch die Theorie einer Ausbreitung ‚neuer Kriege‘, in denen ehemals politische Motive zunehmend durch ökonomisches Gewinnstreben ersetzt wird. Beide Ansätze wurden für die Nutzung von Statistiken auf nationalstaatlicher Ebene kritisiert. Neuere Forschung verlegt den Fokus dagegen auf kleinteiligere Datensätze, die eine räumliche Verteilung von Gewalt oder ihre situative Anwendung durch einzelne Gruppen in den Blick nimmt (Kapitel 4). Hier geht es um die Logik, wann welche Akteure wie und vor allem wo Gewalt anwenden. Krieg zerfällt in viele Kleinstkriege und wird dadurch zunehmend in seiner Komplexität sichtbar. In der Politikwissenschaft liegt der Fokus zumeist auf der Staatlichkeit und ihrer Verfasstheit (Kapitel 5). In diesem Kapitel wird der Einfluss von verschiedenen Regierungstypen, schwacher Staatlichkeit, Staatenbildung, Korruption und militärischer Intervention auf die Entstehung eines innerstaatlichen Konflikts thematisiert.

Vielen Ansätzen – vor allem im angelsächsischen Sprachraum – ist ein rationalistisches Bild vom Menschen gemein. Die Wahl, Gewalt anzuwenden oder aber eine Gruppe beizutreten, folgt zweckrationalen Erwägungen und lässt sich daher auch in ihrer Wahrscheinlichkeit berechnen. Viele Ansätze versuchen dagegen, eine Bürgerkriegs- und Konflikttheorie zu entwickeln, die die Emotionalität der Gewalt in den Blick bekommt und dabei nicht in erneute Rationalisierungen abgleitet, bei denen Emotionen von Eliten lediglich instrumentalisiert werden (Kapitel 6). Angst, Tötungslust, Scham, Rache, Männlichkeit und Stolz bilden hierbei zentrale Konzepte, die jedoch immer wieder Gefahr laufen in einen Orientalismus abzugleiten, bei dem vor allem den Akteuren im globalen Süden ein irrationales Vorgehen attestiert wird, dem der Westen rational begegnen muss. Auch wenn Gewalt emotionale Elemente beinhaltet, so liegt in ihr dennoch kein Zusammenbruch sozialer und politischer Ordnungsbildung. Vor allem in der deutschen Forschung wurde der Fokus der politischen Soziologie auf die Entstehung von Gewaltordnungen verlegt (Kapitel 7).

Kriegerische Gewalt richtet sich zwar gegen eine herrschende Ordnung, generiert dabei – wenn auch brüchig – jedoch auch eigene legitime Ordnungen und zeitigt Struktureffekte. Prozesse der Ordnungsbildung werden hier mit Blick auf bewaffnete Gruppen, auf Massengewalt und auf Flüchtlingslager betrachtet. Doch woher kommt eigentlich unser Wissen über Gewalt in Bürgerkriegen und wie entsteht es? Dieser Frage geht Kapitel 8 nach. Es fragt nach den Entstehungs- und Produktionsbedingungen unseres Gewaltwissens. Wie werden Daten generiert, wer produziert Wissen und wie wird Evidenz hergestellt? Kriegerische Gewalt ist dabei niemals ein neutrales Faktum, sondern sie wird über Dritte als Gewalt konstituiert und im gleichen Zug auch skandalisiert oder legitimiert. Kapitel 9 betrachtet bewaffnete Gruppen als soziales Feld. Es fragt dabei nach der Sozialstruktur der Gruppen, wie sie sich rekrutieren und wie sie sich über die Produktion von Gehorsam reproduzieren. Der Fokus liegt hier also gänzlich auf der jeweiligen Gruppe, ihrer sozialen und symbolischen Struktur und den in ihr angewandten Machtpraktiken zur Disziplinierung der Gefolgschaft. Das Buch schließt dann mit drei diskursiven Figuren: Kindersoldaten, Warlords und Terroristen (Kapitel 10). Alle drei haben miteinander gemein, dass sie hoch politisiert sind und sich dabei historisch, theoretisch und empirisch nur schwer abgrenzen lassen. Sie stellen eine Herausforderung für die gängigen Bürgerkriegstheorien dar, verweisen auf Grenzen, aber auch auf die Instrumentalisierung von Wissenschaft zur Rechtfertigung von Interventionen.

2 Wut

Wut treibt die Menschen auf die Straße und an die Waffen. Gewalt entspringt aus einer Verletzung oder Gefährdung der eigenen Identität als Gruppe. Viele Theorien, die – letztlich nur retrospektiv – dem sogenannten grievance-Ansatz zugesprochen werden, operieren mit dem Argument, kollektive Gewalt entspringe der realen oder imaginierten Verletzung oder Gefährdung einer Gruppenidentität, sei sie ethnisch, politisch oder religiös konstituiert. Allen Theorien ist damit der Bezug auf eine wütende Identität gemein. Als es im Anschluss des Kalten Krieges entgegen aller Erwartungen nicht zu einem Ende der bewaffneten Konflikte und Bürgerkriege kam, sondern in weiten Teilen sogar zu ihrem Erstarken (vgl. Hegre 2004; Sarkees 2014), wurde nach Ursachen der Gewalt gesucht, die nicht dem Kalkül eines Stellvertreterkrieges folgten und anhand derer sich die allgemein angenommene Intensivierung und Brutalisierung der Konflikte erklären ließ. Die Gewalt schien den Beobachtern nicht mehr kühl und weltpolitischinstrumentell. Sie war nunmehr heiß, lokal und blind. Sie sahen keinen Klassenkampf, keinen Kampf der politischen Systeme und großen Ideologien, sondern vielmehr einen Kampf der Ethnien, Kulturen und Religionen.

Während einige Ansätze eine irrational-archaische Wut am Werke sahen, knüpften andere vermehrt an ältere Theorien politischer Gewalt von Edward Azar und Ted Gurr an und stellten eine reale oder perzipierte Ungerechtigkeit als Ursache für die Wut in den Vordergrund – Konflikte zielen ihrer Ansicht nach auf die (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit ab (justice-seeking). Die staatliche, soziale und/oder ökonomische Dominanz einer (ethnisch oder religiös definierten) Gruppe beraubt anderen Gruppen lebenswichtige sozioökonomische und politische Güter, gefährdet damit vielleicht sogar ihr Überleben (oder wird zumindest von den jeweiligen Gruppen so wahrgenommen), weswegen Individuen zum Schutze der Gruppe und ihrer kulturellen, ethnischen, religiösen oder politischen Identität zu den Waffen greifen. Während die Wut hier einen leicht verortbaren gesellschaftlichen Grund hat, erschien sie zu Beginn noch archaisch, ethnisch motiviert und nicht selten auch unlösbar. Ansätze dieser ersten ‚Generation‘ nach dem Kalten Krieg verstanden Ethnien als urzeitlich und bereits in ihrem Wesen konfliktiv, ihr Wut ist blind, irrational und grundlos. Sie ist blind, weil sie nur sich selbst und ihre Wut sieht und keinen anderen Grund für die Gewalt kennt.

2.1 Blinde Wut

Für den einflussreichen Journalisten Robert D. Kaplan brodelte schon lange unter der Oberfläche einer Kalten Kriegslogik heiße, archaische Wut. Mit dem Ende des Kalten Krieges trat nun ein bereits seit Jahrhunderten währender Hass zurück an das Licht der Öffentlichkeit – und er kam, um zu bleiben. Er kam, um seiner blinden Wut zu fröhnen. Der starre Blick auf die beiden Großmächte hat uns die irrationalen und uralten Rassekonflikte übersehen lassen, die nun ohne die Tarnkappe des Kalten Krieges nackt vor uns stehen, sich immer wieder neu entfachen und in ihrer tiefen Verwurzelung unlösbar scheinen. Denn das Problem mit dieser Wut ist, dass sie kaum zu überblickende, geradezu urzeitliche Ursprünge hat, und im Hier und Jetzt bestenfalls stillgestellt, nie jedoch vollständig beseitigt werden kann. Einem Vulkan gleich kann diese urzeitliche Wut nur temporär herunterkochen, während sie jederzeit aus scheinbar belanglosen Anlässen heraus erneut auszubrechen droht.

Ungefähr so würde es zumindest Robert Kaplan formulieren. Mit Blick auf die seiner Ansicht nach zunehmend brutaler werdenden Konflikte im Anschluss an den Kalten Krieg sah er – wie nicht wenige andere auch – ethnische Konflikte aufkommen, in denen keine politische Logik mehr erkennbar ist, sondern in denen sich vielmehr archaisch-anarchischer, tief in den Ethnien verwurzelter Hass Bahn bricht. Keine (internationale) Intervention vermag es, diesen Hass zu beenden. Es sind dies die Geister der Vergangenheit, die immer wiederkehren – wie er es etwa mit Blick auf den Balkan in seinem Buch Balkan Ghosts (1993) formuliert. Zuvor konnte der Hass noch an die Logik des Kalten Krieges andocken, doch nun steht er alleine da, ohne sein weltpolitisches Alibi. Kaplans Buch war insbesondere in Zirkeln der US-Regierung von hohem Einfluss und prägte dabei die Politik der 90er im Umgang mit Bürgerkriegen und Konflikten – vor allem in Jugoslawien und Ruanda. Er stand mit seiner Analyse allerdings bei weitem nicht allein. Nicht nur er beschwor „eine aufkommende Anarchie“ (Kaplan 2001), in der zunehmend grausame von Hass getriebene ethnische Konflikte in den Vordergrund treten.

Für viele Beobachter wurden unter dem Deckmantel des Kalten Krieges ethnische Scharmützel ausgetragen – der politökonomische Klassenkampf wurde zum chaotischen Pandämonium des Rassenkampfes (bspw. Crefeld 1991; Moynihan 1993). Aus Sicht dieser Autoren haftet den Konflikten dabei etwas Unlösbares an, da es sich um primordiale, also um uranfängliche, nahezu zeitlose ethnische und nationale Identitäten handelt. Der Konflikt liegt in der Natur mancher Ethnien, um die herum sich eine gemeinsame Sprache, Religion, Geschichtsschreibung und Kultur gebildet hat, quasi als Abbild und logische Konsequenz aus einer geteilten Biologie (Smith 1981; Horowitz 1985; Ignatieff 1993; Gat 2006). Das Ende des Kalten Krieges hinterließ nicht Frieden, sondern öffnete nun einen Raum für die Rückkehr noch viel älterer ethnonationalistischer Konflikte, in denen Ehnien – auch wenn sie nicht unter Repressalien der Regierung oder sozioökonomischer Marginalisierung leiden – für einen eigenen Staat kämpften (Connor 1994). Lediglich auf den ersten Blick im Kontrast hierzu formierten sich instrumentalistische Theorien, denen zufolge ethnische Kategorien als Instrument eingesetzt werden, um die ökonomischen und politischen Ziele einer Interessensgruppe in der politischen Elite durchzusetzen (Bates 1983; Lake und Rothchild 1998; Dawisha 2002; Glaeser 2005; Petersen 2011). Aus Sicht dieses Ansatzes bedienen die Anführer der mobilisierten Gruppen jedoch ebenso urzeitlichen Hass in der Bevölkerung, reaktivieren uralte bis hierin schlummernde Feindschaften und setzen diese dann instrumentell für ihre eigentlichen politökonomischen Ziele ein. Der Primordialismus beschränkt sich hier zwar auf die mobilisierte Gefolgschaft, wird jedoch gleichsam als gegeben vorausgesetzt. Er bildet gewissermaßen eine Klaviatur, auf der die jeweiligen Anführer nach Belieben spielen können. Auch in marxistischen Theorien war diese Argumentation äußerst willkommen, um die nicht-ökonomische Kategorie der Ethnizität in ihr Modell der Rebellion von Ausgebeuteten zu integrieren (Hobsbawm und Ranger 1983). Auf diese Weise bleibt das Primat in der polit-ökonomischen Auseinandersetzung und Ethnizität beschränkt sich auf ein Dasein als Instrument herrschender Klassen.

Andere wiederum propagierten ebenso ein Erstarken von Konfliktlinien entlang nationalistischer und ethnischer Identitäten (Brubaker und Laitin 1998; Wimmer 2002; Toft 2003). Diese Autoren betonten jedoch verstärkt die soziale Konstruiertheit ethnischer Kategorien, die sich mit der Zeit wandeln, und deren Ursprünge nicht selten in kolonialen Diskursen lagen, sozusagen als Import der Kolonialherren (Cerulo 1997; Fearon und Laitin 2000, 2003). Erst die westlichen Mächte führten sie als Unterscheidung ein, die im Laufe der Zeit dann auch einen Unterschied für die lokale Bevölkerung machte. Hutu und Tutsi beispielsweise gab es als Kategorien zwar schon vor der belgischen Kolonialisierung Ruandas, jedoch relevant als vorwiegend ethnische Kategorien wurden sie erst durch die Kolonialverwaltung und die sie begleitenden Diskurse, Institutionen und Praktiken (Amselle und M’Bokolo 1999). Vor allem die Grenzziehung – geradezu im wörtlichen Sinne – durch Kolonialmächte formte Ethnien zu ‚imaginierten Gemeinschaften‘, welche sich nun zunehmend als zeitlose Einheiten mit gemeinsamer Herkunft verstanden und in Konkurrenz zu anderen traten (Hintjens 2001; Anderson 2005). Ethnische Identitäten sind im Konstruktivismus ständig im Wandel, symbolisch konstituiert und entstehen erst im Prozess sozialer, ökonomischer und politischer Auseinandersetzungen (Chandra 2001: 7). Identitäten sind emergent. Der Konflikt um sie ebenso.

Ob nun sozial konstruiert oder nicht, die Frage, ob ethnische Diversität auch zu einem Mehr an Konflikten führt, wurde viel besprochen und häufiger noch statistisch geprüft. Sollte Ethnizität für sich genommen tatsächlich ein Faktor sein, der das Auftreten von Konflikten wahrscheinlicher macht, müsste es hier einen klaren Zusammenhang geben. Das Ergebnis statistischer Vergleiche war jedoch durchgehend, dass es keine robust signifikante Korrelation zwischen der ethnischen Fragmentarisierung in einem Staat und dem Auftreten von Konflikten gibt – unabhängig davon, wie in den Datensätzen das schwierige Konzept Ethnizität operationalisiert wurde (Fearon und Laitin 2003; Sambanis 2004; Collier und Hoeffler 2004; Wimmer 2009; Esteban et al. 2012). Mit Blick auf Afrika betont Laitin beispielsweise, dass der Prozentsatz benachbarter ethnischer Gruppen, der jemals in irgendeiner Form in einen bewaffneten Konflikt miteinander geraten ist, schwindend gering ist – um genau zu sein: 5 aus 10.000 oder 0,05 Prozent (2007: 4-5). Ethnische Vielfalt allein reicht nicht als Konfliktursache. Hoch heterogene Gesellschaften sind ebenso wenig anfällig für Konflikte wie hoch homogene Gesellschaften (Montalvo und Reynal-Querol 2005). Die Bemerkung mag banal wirken, lohnt sich aber festzuhalten: Es braucht einen Grund für den Konflikt zwischen Gruppen, auch wenn diese sich als streng separate ethnische Einheiten verstehen oder viele unterschiedliche gemeinsam in einem Staat leben. Nicht die bloße Existenz ethnischer Vielfalt führt zu Konflikten, sondern die jeweilige Beziehung zwischen und der gesellschaftliche Umgang mit unterschiedlichen Gruppen.

2.2 Begründete Wut

Auf der Suche nach einem Grund berufen sich viele Wissenschaftler bis heute direkt oder indirekt auf die Studien Edward Azars aus den frühen Neunzigern, für den es sich bei kollektiver Gewalt um eine komplexe Dynamik handelt, die auf der Bildung von gemeinschaftlichen Identitäten beruht, international eingebunden ist und primär aus einer Beraubung oder einem Verlust basaler kollektiver wie individueller Güter für eine oder mehrere Gruppen entspringt (deprivation). Langwierige und daher schwer lösbare soziale Konflikte (protracted social conflicts) entstehen seiner Ansicht nach aus dem Streben von Identitätsgruppen „for such basic needs as security, recognition and acceptance, fair access to political institutions and economic participation“ (Azar 1991: 93). Um der Komplexität der Konflikte und den vielen beteiligten Akteuren, Institutionen und lokalen, nationalen wie internationalen Ebenen gerecht zu werden und um diese vertrackten Konflikte irgendwann eventuell gar beenden zu können, betonte Azar die Wichtigkeit, alle Einflüsse in Diagrammen zu kartografieren sowie in allen Themenbereichen interdisziplinär zu arbeiten (Azar 1990).

Azar benannte damit bereits in den frühen Siebzigern – als die meisten Beobachter noch vorwiegend reine Stellvertreterkriege am Werke sahen – eine Reihe von in den Folgejahrzehnten oft diskutierten Ursachen für Bürgerkriege und sozialen Konflikt: das Fehlen von basaler Sicherheit, sozialer Anerkennung, politischer und/oder ökonomischer Partizipation sowie das Versagen des Staates – ein Faktor, der heute unter dem Stichwort der failed states besprochen wird. Benachteiligte Gruppen lehnen sich gegen sozioökonomische und politische Ungleichheiten auf und fordern ihr Recht auf Partizipation im Namen der Gerechtigkeit ein (justice-seeking). Letztlich liegt das Problem für Azar daher auch in inkompetenten, fragilen und autoritären Regierungen begründet, die es nicht schaffen (oder vielmehr: gar nicht schaffen wollen), allen Gruppen im Staat grundlegende individuelle wie kollektive Güter zuzusichern. Der Ausschluss geschieht dabei zumeist auf der Grundlage von (häufig ethnisch kodifizierten) Gruppenidentitäten und führt in seinem Zusammenwirken zu einem Legitimationsdefizit – und infolgedessen zu gewaltsamen Konflikten. Bürgerkriege und bewaffnete Konflikte haben damit manifest-reale, leicht verortbare und vor allem aber auch lösbare gesellschaftliche Ursachen. Objektive Ungerechtigkeiten können mittels konkreter Maßnahmen behoben werden, solange die Regierung sich auch wirklich darum bemüht oder (von außen) dazu gezwungen werden kann. Eine Intervention internationaler Akteure hat hier wesentlich bessere Chancen als bei primordial interpretierten Konflikten.

Ethnische Identitäten sind hier nicht per se gewalttätig, sondern nur, wenn ihnen der Zugang zu gewissen Gütern verweigert wird. Ethnizität als identitätsstiftendes Konzept spielt für die Vertreter dieses Ansatzes daher zumeist nur unter gewissen Bedingungen als Vehikel zur Mobilisierung einer Gruppe gegen eine objektive Ungerechtigkeit eine Rolle. Erst wenn Mitgliedern einer Gruppe eine Ungerechtigkeit widerfährt, werden sie zu wütenden Identitäten – manchmal vielleicht sogar überhaupt erst zu Identitäten. Hierzu muss Individuen der Zugang zu ökonomischen Gütern oder politischer Macht aufgrund ihrer Mitgliedschaft in eben jener Gruppe verwehrt werden (Esteban et al. 2012). Das Risiko eines gewaltsamen Konflikts verschärft sich zusätzlich, wenn nun auch noch eine deutlich größere Gruppe über eine Minderheit herrscht, die aber selbst noch groß genug ist, um einen Widerstand organisieren zu können (Montalvo und Reynal-Querol 2005). Es muss schlicht genügend Potenzial für eine politische Polarisierung vorhanden sein.

Hier scheint schon ein in der Diskussion um Bürgerkriege gängiges Argument durch: Es bedarf nicht nur der Motivation, sondern auch der Möglichkeit zur Rebellion. Ausreichend Wut mag gegeben sein. Sie in einen Widerstand umzusetzen, ist wiederum etwas gänzlich anderes und bedarf organisatorischer, politischer und institutioneller Strukturen (Tilly 1973). Zudem muss sich die Gruppe finanzieren können – ein Thema inbesondere für das kommende Kapitel zur ‚Gier‘. Risikobehaftet sind daher nicht einfach ‚multikulturelle‘ Gesellschaften, sondern Gesellschaften mit wenigen aber zugleich ähnlich großen Gruppierungen. Viele Autoren der letzten Jahre betonen in diesem Zusammenhang primär politische Ursachen für ethnische Konflikte (vgl. Ylönen 2005). Andreas Wimmer zufolge kommt es beispielsweise häufig zu einem ethnisch motivierten Konflikt, wenn sich zwei Gruppen die Macht in einem stark segmentierten Staat teilen. Oder wenn es sich um einen noch relativ jungen Staat handelt, in dem es zu sezessionistischen Bewegungen kommen kann, da sich die zentralisierte Herrschaft noch nicht vollständig konsolidiert hat (Wimmer 2009). Hier können Gruppen bereits auf quasi-staatliche Strukturen zurückgreifen (Kontrolle über paramilitärische Einheiten, Polizei, Justiz, Steuerabgaben, usw.). Auch staatliche Repression wird mit politischer Gewalt beantwortet, und zwar vor allem dann, wenn Bürger regelmäßig aus offensichtlich politischen Gründen inhaftiert werden, zugleich jedoch ein allgemeines Versammlungsrecht herrscht und Mobiltelefone, Smartphones und Internettechnologien genutzt werden können (Bell et al. 2013). Nicht alle Gruppen reagieren jedoch gleich auf Repressionen. Während die einen einen Widerstand organisieren, zerbrechen andere unter dem staatlichen Druck. Dies hängt für McLauchlin und Pearlman (2013) vor allem von der inneren Beschaffenheit der Gruppe und der Legitimität ihrer jeweiligen Führungsriege und ihren politischen Institutionen ab.

Einem Großteil der aktuellen Theorien und empirischen Studien – vor allem aus den USA und England – ist die Suche nach einem objektiv verifizierbaren und eindeutig messbaren Grund für den bewaffneten Widerstand gemein. Unter Vertretern des grievance-Ansatzes werden derzeit horizontale Ungleichheiten – also sozio-ökonomische und politische Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen und nicht zwischen Individuen – als primäre Konfliktursache gehandelt und statistisch operationalisiert (Stewart 2008; Cederman, Gleditsch und Buhaug 2013). Diesem Ansatz zufolge kann eine Gesellschaft auf individueller Ebene sozio-ökonomisch und politisch höchst ungleich sein, ohne dass es auch nur annähernd zu einer Rebellion kommt. Damit sind ihrer Ansicht nach alt-marxistische und ökonomische Theorien der 70er und 80er, die einen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Rebellion annehmen, statistisch widerlegt (bspw. Sen 1973; Hobsbawm und Ranger 1983). Wenn sich die politische, soziale oder ökonomische Ungleichheit jedoch anhand einer ethnisch, kulturell oder religiös definierten Gruppenzugehörigkeit festmacht, erhöht sich das Risiko einer Rebellion. Insbesondere ein simultanes Zusammengehen von sozioökonomischem und politischem Ausschluss einzelner Gruppen führt zu Gewaltausbrüchen (Cederman, Weidmann und Gleditsch 2011).

Für Theoretiker der horizontalen Ungleichheit gibt es also weder ihrem Wesen nach gewaltbereite Gruppenidentitäten (seien sie ethnisch, religiös oder anderweitig definiert), noch rebellieren Menschen allein aufgrund sozioökonomischer oder politischer Ungleichheit. Erst beide Faktoren zusammengenommen – in Form von marginalisierten Gruppen – führen zu einem erhöhten Risiko eines bewaffneten Konflikts. Den Gruppen wird aus Sicht dieser Autoren dabei immer eine objektiv messbare Ungerechtigkeit zugefügt – alles andere ließe sich auch nur schwerlich statistisch erfassen. Die Frage ist dann nur noch, welche Ungerechtigkeit auch ausreichend mobilisierend wirkt. Oder welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen. Ungerechtigkeit kann jedoch auch relativ, subjektiv und ambivalent sein. Zudem handelt es sich bei der Verletzung der eigenen Identität nicht selten primär um eine symbolische Erniedrigung, die auch erst durch den von den Gruppen selbst getätigten Vergleich mit anderen an Schärfe gewinnt. Beides sind Aspekte, die für die Forscher des Ansatzes zur horizontalen Ungleichheit nur schwerlich methodisch wie theoretisch zu integrieren sind.

2.3 Relative Wut

Ted Robert Gurrs Theorie der relativen Deprivation basiert auf einem sozialpsychologischen Argument: Menschen rebellieren nicht einfach nur, wenn ihnen Güter genommen werden (deprivation), sondern wenn sie eine Diskrepanz wahrnehmen zwischen dem, was sie selbst glauben, was ihnen zusteht und dem, was sie auch tatsächlich erreichen können. Oder kurz gesagt, eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: „a perceived discrepancy between value expectations and value capabilities“ (Gurr 1970: 37; ähnlich argumentierte schon Davies 1962). Erst aus dem ständigen Abgleich oder der Relation zwischen diesen beiden Größen entsteht Frustration und Rebellion. In späteren Texten hebt Gurr den Vergleich zwischen Gruppen dabei expliziter hervor (Gurr und Duvall 1973; siehe auch Regan und Norton 2005). Eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit entsteht hier nun primär durch den Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen oder aber durch einen Statusverlust, der jedoch letztlich auch nur durch den Abgleich mit anderen Sinn macht. Für Gurr ist es einerseits möglich, dass der Anspruch der Gruppen zwar gleich bleibt, die von ihnen wahrgenommenen Möglichkeiten allerdings durch das Auftreten anderer Gruppen sinken (der eigene Jobverlust wird Migranten zugeschrieben). Andererseits können die Möglichkeiten aber auch gleich bleiben oder sich gar ein wenig verbessern, der Anspruch jedoch durch die Konkurrenz mit anderen exponentiell anwachsen (ein aus Sicht der Gruppen ‚maßloser‘ Statuszuwachs und besserer Lebensstil anderer, der nun auch für einen selbst eingefordert wird).

Gurr führte damit zweierlei Aspekte in die Diskussion ein: Einmal die psychologische Komponente, in der Gruppen eine Ungleichheit wahrnehmen – unabhängig davon, wie die Realität aussehen mag und ob sie sich wissenschaftlich auch nachweisen lässt. Und zum anderen den Vergleich zwischen Gruppen. Letztlich ist es daher nicht einfach nur der Vergleich zwischen Anspruch und rein objektiver Wirklichkeit – den Gurr vor allem in seinem Hauptwerk (1970) übermäßig betont und der ihn wieder nah an Azars Modell der objektiven Deprivation bringt –, sondern der subjektive Vergleich mit anderen, der die in den Gruppen zirkulierenden Vorstellungen von Anspruch und Wirklichkeit überhaupt erst formiert, und der die Menschen zur Rebellion treibt. Im Vergleich zu anderen nehmen die Menschen ein Ungleichgewicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahr. Oder aber der Status, die Möglichkeiten oder die Lebensverhältnisse der Gruppe werden aus ihrer eigenen Sicht durch andere Gruppen beschränkt – und die Gruppe dadurch vielleicht sogar in ihrem Überleben gefährdet. Statistisch fassbar ist dieses sozial-psychologische Modell allerdings kaum noch, da es auf einer symbolischen gesellschaftlichen Ordnung beruht, die die Erwartungen und Perspektiven der einzelnen Gruppen strukturiert.

Menschen rebellieren in diesem stärker konstruktivistisch gewendeten Ansatz aufgrund einer von ihnen selbst als Ungerechtigkeit wahrgenommenen Situation und nicht aufgrund tatsächlich statistisch messbarer Ungleichheiten, die ihnen gar nicht bewusst sind oder die aus rein statistischer Sicht eventuell auch gar nicht erst existieren (Langer und Smedts 2013; Langer und Stewart 2014: 112). Während Gurr hier letztlich keine eindeutige Position einnahm, glauben aktuelle Theorien horizontaler Ungleichheit, seine Theorie statistisch anhand eindeutig messbarer Ungleichheiten zwischen Gruppen operationalisieren zu können (vgl. Cederman, Gleditsch und Buhaug 2013). Die Forschung ist hier gespalten zwischen Ansätzen, die sich auf primär objektiv begründete oder auf subjektiv wahrgenommene Ungleichheiten beziehen (je nachdem, ob die jeweiligen Autoren selbst quantitativ arbeiten und daher auf Messbares angewiesen sind, oder nicht). Die Subjektivität wird unter Statistikern, die vor allem die Forschung im angelsächsischen Sprachraum derzeit beherrschen, bisher als noch ungenügend operationalisierter Rest bzw. als primär methodisches Problem dargestellt, das es zukünftig zu lösen und objektivieren gilt. Vertretern des Ansatzes horizontaler Ungleichheit ist allerdings durchaus bewusst, dass es eine psychologischsymbolische Komponente gibt, die sich der bisherigen Methodologie entzieht – nicht jedoch ihren theoretischen Grundannahmen (vgl. Langer und Stewart 2014: 115).

Häufig sind die Unterschiede zwischen im Konflikt stehenden gesellschaftlichen Gruppen für Außenstehende allerdings kaum auszumachende und daher äußerst feine – fast schon inexistente – Unterschiede. Michael Ignatieff konstruierte gerade anhand jener scheinbar minimalen Unterschiede eine Theorie, die auf Sigmund Freuds Narzissmus-Konzept abhebt. Für Ignatieff liegt die Tiefe des Hasses nämlich gerade in der minimalen Differenz zwischen den Gruppen begründet. Je ähnlicher sich Gruppen sind, desto mehr empfinden sie den jeweils anderen als Gefahr, desto tiefer sitzt der Hass. Würden sich die Gruppen objektiv klar unterscheiden (für Ignatieff selbst wohl leider vor allem physiologisch), so gäbe es keinen Grund zur Sorge, dass die Mitglieder der anderen Gruppe einem den eigenen Platz in der Gesellschaft streitig machen könnten (vgl. Ignatieff 1999). Ignatieff nennt dies den ‚Narzissmus der minimalen Differenz‘: Beängstigend ist nicht die Andersheit des Anderen, sondern gerade seine Ähnlichkeit. In Konflikten wird daher häufig zu Karikaturen gegriffen, die den anderen dehumanisieren, seine Ähnlichkeit entstellen. Das Narzissmus-Konzept beruht jedoch auf der Vorstellung, dass Ähnlichkeiten und Differenzen objektiv gegeben sind. Der Beobachter sieht ‚objektive‘ Ähnlichkeiten und Differenzen, die der Beteiligte in seiner Verblendung nicht sieht oder gar in sein Gegenteil verkehrt, wenn er ihm eigentlich sehr ähnliche Menschen zum absolut Anderen macht. Hier konstruiert der Beteiligte eine Ungerechtigkeit oder Ungleichheit zwischen Gruppen, die der unbeteiligte Beobachter jedoch als Konstruktion entlarvt.

Entgegen solch letztlich doch objektivistisch anmutenden Theorien ist für konstruktivistische Ansätze Identität ein vorwiegend relationales Konzept (vgl. Berger und Luckmann 2003). Die Identität einer Person sowie einer Gruppe entspringt hier zwar aus einem alle Menschen über alle Zeiten einenden Bedürfnis nach Zugehörigkeit, formiert sich jedoch immer schon in symbolischer Distinktion und Abgrenzung zu anderen (Eisenstadt und Giesen 1995). Gemeinschaftliche Identitäten werden erst durch die diskursive Konstruktion des Eigenen gestiftet – eines Eigenen, das symbolisch einen kulturellen Unterschied zu anderen Individuen und Gruppen sowie deren realen oder imaginierten Religion, Glaube, Herkunft, Sitten, Gebräuche und Wertvorstellungen markiert. Der Anthropologe Fredrik Barth stellte bereits in den 60ern fest, dass ethnische Kategorien flüssig sind (1998). Es war beispielsweise lange Zeit relativ problemlos möglich, zwischen den noch nicht ethnisch klassifizierten Kategorien Hutu und Tutsi in Ruanda oder Pathan und Baluch in Pakistan zu wechseln. Barth zeigte jedoch auch, wie durch soziale Grenzziehungen Gruppen erst konstituiert werden und trotz frappierender Ähnlichkeiten von den Mitgliedern als in ihrem ethnischen und kulturellen Wesen verschieden interpretiert werden. Das Eigene gibt es hier nur noch in Relation zum Fremden und muss dabei ständig diskursiv hergestellt werden. Es ist ein gesellschaftliches Artefakt und wird erst als dieses zu einer hoch-emotionalisierten Quasi-Natur für die Menschen, in der die Konstruktion als zeitlos und von Natur aus gegeben verklärt wird. Der Prozess, in dem ein soziales Artefakt zunehmend zu einem von Natur gegebenen Phänomen verklärt wird, wird in der konstruktivistischen Literatur auch Verdinglichung genannt (vgl. Baumann 1999; Berger und Luckmann 2003). Die Abgrenzung, der Ausschluss des Anderen und im Grunde bereits ein Freund-Feind-Schema gehören dabei konstitutiv zur eigenen Identitätsbildung und ihrer Naturalisierung (vgl. Spivak 1985). Gewalt hat dabei für Harald Welzer die Funktion, in der Realität schwammige „Gruppengrenzen eindeutig zu markieren, und damit strukturiert sie Wirklichkeit. Vernichtungs- und Tötungsgewalt scheint regelmäßig desto radikaler zu werden und einer Totalisierung zuzustreben, wenn die Grenze zwischen Wir- und Sie-Gruppe nicht völlig klar ist.“ (Welzer 2005: 234235) Gewalt erschafft daher eine quasi-natürliche Ordnung, in der das Fremde absolut fremd ist und es auch bleiben soll. Konstruktivistische Ansätze betonen die Emergenz von Identitäten. Identitäten sind hier erst das Produkt eines soziopolitischen Konflikts und nicht dessen Ursache (bspw. Bartov 2000). Dies wirft ein fragwürdiges Licht auf die Ansätze horizontaler Ungleichheit, die in ihren statistischen Operationalisierungen von fixen Identitäten ausgehen.

Wenn Identitäten aus sozio-politischen Gründen fraglich werden, eine Krise erfahren (beispielsweise durch einen Statusverlust oder aber durch Modernisierungsprozesse), bedarf es verstärkter Grenzziehungen gegen andere, die bis hin zur absoluten Feindkonstruktion führen können, in der ‚der Andere‘ als Sündenbock Schuld an der eigenen Krise ist (Kilp 2011, Girard 1987). Das fremdelnde Eigene macht das Andere fremder und zum Quell der Orientierungslosigkeit und unerwünschter Veränderung. Der Andere ist nicht mehr nur anders, sondern absolut fremd/böse und eine Gefahr für das fremdelnde Selbst. Gewalt wird zu einem Mittel, um geordnete Identitäten (wieder)herzustellen. Identitäten beruhen dieser Perspektive zufolge bereits in ihrem Wesen auf Konflikt und umfassen sich gegenseitig überlappende, hoch emotionalisierte religiöse, soziale, kulturelle, sexuelle, nationale und ethnische Kategorien, die von Individuen je nach Kontext aktiviert, ständig neu verhandelt, geschützt und konstruiert werden, und – zumindest aus Sicht eines Beobachters – nicht unbedingt vollständig miteinander vereinbar geschweige denn in sich stringent sein müssen. Identitäten bedürfen dabei zwar einer ständigen Grenzziehung, verändern sich jedoch zugleich mit jedem Akt symbolischer Festlegung, Erneuerung und Verortung. Jeder Wiederholung wohnt eine Differenz inne (Deleuze 2007), die wiederum Unsicherheiten im Kollektiv hervorrufen kann und bis zu einem gewissen Grad auch immer tut. Als negativ interpretierte Veränderung wird von der Gemeinschaft auf das böse Andere projiziert und das Ureigenste im Eigenen gesucht. Relative Wut basiert dementsprechend auf Differenzen zwischen Gruppen, die von den Gruppen selbst konstruiert werden, oder ganz knapp mit Pierre Bourdieu gesagt: Unterschiede, die einen Unterschied für sie machen (Bourdieu 1987) – und die mehr oder minder statistisch ‚objektivierbar‘ sind.

2.4 Religiöse Wut

Ein Kampf der – sich objektiv betrachtet scheinbar so ähnlichen – Kulturen hat besondere Aufmerksamkeit erregt und für hitzige Debatten gesorgt. Der gemeinsame Ursprung des christlichen und islamischen Glaubens ist unbestritten. Doch nicht zuletzt der Terror durch den 11. September hat das Gewaltpotenzial vor allem monotheistischer Religionen in den Fokus gerückt, mehr noch als die Ausbreitung ethnischer Konflikte. Ein Autor wird seither geradezu als Prophet gefeiert: Samuel Huntington und sein Buch Clash of Civilizations aus dem Jahr 1996 (ins Deutsche etwas frei übersetzt als Kampf der Kulturen (2002)). Huntingtons Buch basierte auf einem gleichnamigen Artikel aus dem Jahr 1993. Er war eine Reaktion auf Francis Fukuyamas Diagnose eines „Endes der Geschichte“ im Anschluss an den Zusammenbruch der Sowjetunion. Fukuyama zufolge hinterließ das Ende der UdSSR nur noch Liberalismus, Kapitalismus und Demokratie als allumspannendes und konkurrenzloses Weltsystem. Jeglicher soziohistorischer, ideologischer und ökonomischer Wettstreit und damit jegliche alternative ‚geschichtsschreibende‘ Entwicklung sei von nun an stillgestellt – für immer (Fukuyama 1992). Huntington zufolge saß Fukuyama dabei jedoch dem zu jener Zeit weit verbreiteten Irrglauben auf, dass das Ende des Kalten Krieges nun auch ewigen Frieden und ideologischen Stillstand bringen würde. Für Huntington bedeutet das Ende des Kalten Krieges jedoch nicht, dass bisher schlummernde oder lange übersehene ethnonationalistische Konflikte ans Tageslicht treten. Vielmehr kommt es zu einem großen Kampf der Weltzivilisationen. Auf diesem Schauplatz wird ab jetzt Geschichte geschrieben.

Was ist für Huntington nun eine Zivilisation? Inwieweit definieren diese sich über ihre jeweiligen Religionen? Handelt es sich um rein religiöse Identitäten, wie es oftmals vor allem in der Rezeption den Anschein hat? Handelt es sich überhaupt um gemeinschaftstiftende Identitäten? Wird für die Religion gekämpft? Oder doch eher für ganz weltliche Dinge? Huntington teilt die Weltzivilisationen zunächst nach keiner inhärenten Logik ein. Mal sind es primär regionale Kriterien (Sub-Saharisches Afrika), mal primär religiöse Kriterien (muslimische Welt), mal ist es eine grobe Mischung aus verschiedenen Charakteristika und einer Aufzählung von Staaten (östliche Welt mit einer Mischung aus buddhistischen, chinesischen, hinduistischen and japanischen Zivilisationen). Hinzu kommen dann noch Einzelentitäten (oder einfach der Rest, der nirgends richtig hineinpasst) wie Äthiophien, Haiti, die englischsprachige Karibik und auch Israel. Hier zeichnet sich auch schon eine Kritik ab: primäres Unterscheidungsmerkmal ist für Huntington eine geografische Lokalisation auf dem Erdball und eine religiöse Blockbildung, die in der Realität nicht so recht aufgehen mag. Letztlich sind die kulturellen, sozialen, politischen und religiösen Unterschiede und gegenseitigen Überlappungen in einer globalisierten und komplexen Welt so groß, dass eine fein säuberliche Blockbildung nicht durchzuhalten ist und es an allen Ecken argumentativ bröckelt.

Ganz davon abgesehen, dass Huntington die Komplexität einzelner Staaten, Regionen und Kulturen unterschlägt, ist Amartya Sen zufolge vor allem sein Glaube problematisch, man könne Menschen allein aufgrund ihrer Kultur einordnen, und sie somit praktisch als mit ihrer Kultur identisch betrachten (Sen 2010). Letztlich erweckt Huntington den Eindruck, dass es eine Kategorie gibt, die bei der Identität von Menschen zählt, alle anderen sind ihr nachgeordnet. Es gibt Menschen, die dem buddhistischen Kulturkreis angehören, und dann gibt es jene, die zur westlichen oder muslimischen oder der hinduistischen Welt zählen. Dem hält Sen ein konstruktivistisches Konzept von Identität entgegen, bei dem der Mensch durch plurale Zugehörigkeiten geprägt wird, die je nach sozialem Kontext relevant werden und sich auch ständig wandeln: Mal bin ich Christ, mal Arbeiter, mal Vegetarier – und dann wieder nicht. Mal bin ich Duisburger, mal Inder, mal Deutsch, mal Nichtraucher – und dann wieder nicht. Und nichts davon bin ich so ganz, bei allem mischen sich verschiedenste und auch widersprüchliche Gedanken, Meinungen und Emotionen hinein. Es gibt keine alle anderen beherrschende, einförmige und hegemoniale Identität, und erst recht keine, die per se oder aus sich heraus schon antagonistisch wäre. Huntingtons Theorie ist für Sen geradezu gefährlich, da sie mit Identitäten genau das tut, was im Grunde während Konflikten auch geschieht: Die Reduktion der Vielfalt im menschlichen (Zusammen)Leben auf ein einziges, alles bestimmendes Charakteristikum. Er heizt damit einen Kampf der Kulturen selbst noch an. Der Andere wird zum Stellvertreter einer einförmigen Gruppe zusammengeschmolzen und zum Sündenbock des Konflikts gemacht.

Abseits aller möglichen (und sicherlich umfangreichen) Kritik an Huntingtons einförmigen Zivilisationsblöcken ist es vor allem die These eines Kampfes zwischen den Zivilisationen und vor allem zwischen „dem Westen“ und der muslimischen Welt, die das größte Interesse erregt hat. Das Problem mit beiden Religionen, so Huntington, sei ihre missionarische Ausrichtung (alle sollen dem Glauben folgen), ihre universalistische Haltung (es gibt nur einen wahren Gott), die teleologische Ausrichtung allen Seins auf ihre Werte und damit einhergehend die Abwertung aller ‚Ungläubigen‘. Aktuell (also in den 90ern) sei es vor allem der hieraus resultierende Drang des Westens, seine Werte über den gesamten Erdball auszubreiten, der zunehmend auf den ebenso verhärteten Universalismus einer demografisch wachsenden Muslime treffen und der daher in absehbarer Zeit zu blutigen kulturellen Konflikten führen wird. Es ist genau diese Prognose, die Huntington vielerorts zum Weissager eines Zeitalters des Terrorismus gemacht hat. Für Huntington liegt der Ursprung des Konflikts jedoch wohlgemerkt im Werte-Imperialismus des Westens.

Trotz der Brisanz des Themas ist die Forschung zu religiös motivierten Konflikten noch relativ jung. Bis 2006 lassen sich nur wenige wissenschaftliche Studien verzeichnen (bspw. Grim und Finke 2006). Während es viele Statistiken zu ethnischen Konflikten gibt, stecken die Untersuchungen zu Religion und Konflikt aktuell eher noch in den Kinderschuhen (Fox 2014). Und die meisten Studien verweisen auf andere, vor allem politische Faktoren, die das Aufkommen von Religionskonflikten zumindest miterklären – staatliche Repression, sozioökonomische Exklusion, internationale Intervention (Fox 2002, 2004; Sahliyeh et al. 2002; Akbaba und Tydas 2011). Die Argumentation ist hier vergleichbar mit jener aus der Forschung zu horizontaler Ungleichheit: Religiöse Identitäten werden erst dann relevant, wenn aufgrund der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit sozioökonomische und politische Ungerechtigkeiten stattfinden. Während es zwar viele Autoren gibt, die auf eine zusätzliche Verschärfung von Konflikten hinweisen, wenn sie zwischen unterschiedlichen Religionen stattfinden (bspw. Fox 2004; Toft 2007; Basedau et al. 2011), glauben andere dies eindeutig widerlegt zu haben (bspw. Collier und Hoeffler 2002; Lacina 2006). Huntingtons Hypothese eines Zeitalters verstärkter Zivilisations- bzw. Kultur- bzw. Religionskämpfe scheint jedoch aus Sicht aller verfügbarer Daten kaum haltbar – Huntington selbst verwendet auch keinerlei Datenmaterial, um seine Hypothese zu stützen. Konflikte, die sich zumindest anhand ihrer offiziellen Ausrichtung als religiös kategorisieren lassen, erfuhren keinen signifikanten Zuwachs, sondern blieben über letzten Jahrzehnte gleichbleibend präsent (vgl. Fox 2014).

Im Zusammenhang mit Religion und Gewalt erlangte das Werk des Literaturwissenschaftlers und Kulturanthropologen René Girard vor allem in Frankreich und Deutschland hohen Bekanntheitsgrad. Es wird häufig herangezogen, um Gruppenkonflikte zu erklären. Für Girard ist Religion jedoch kein Quell von Gewalt, sondern im Gegenteil hilft sie Gemeinschaften dabei, eine viel ursprünglichere und allzu menschliche Gewalt einzudämmen oder gar gänzlich zu beenden (Girard 2009, 2010, 2012). Neben den Gelüsten, die der Mensch mit den Tieren teilt, verfügt er nämlich noch über ein wesentlich komplexeres Verlangen: das Begehren. Das Begehren des Menschen kennt kein konkretes Objekt, sondern richtet sich auf das, was die Menschen begehren, die er verehrt (Girard 2010: 7-8). Der Mensch imitiert andere in ihrem Begehren. Und die anderen imitieren wiederum andere oder gar ihren Imitator. Alle imitieren sich gegenseitig und es kommt in dieser mimetischen Rivalität zu einer sich hochschaukelnden Spirale, in der alle in Konkurrenz zueinander treten: „Der Imitator wird zum Leitbild seines Leitbildes und das Leitbild der Imitator seines Imitators.“ (Ebda.: 8) Die mimetische Rivalität schlägt zunehmend in Gewalt um, in der eine Art Hobbes’scher Naturzustand entsteht: ein Kampf aller gegen alle. In diesem Zustand ist das ursprüngliche Objekt, um das gestritten wurde, zumeist schon konsumiert, vergessen oder zerstört worden. Was bleibt ist die Gewalt.

Eigentlich müsste diese Gewaltspirale im Tod aller enden – bis auf einen allerletzten Menschen vielleicht, der dann irgendwann selig verstirbt oder aber schlicht wahnsinnig wird. Dass es dazu im Urzustand des Menschen jedoch nicht kam und es uns alle noch gibt, verdanken wir Girard zufolge dem Sündenbockmechanismus, dessen Existenz er aus archaischen Mythen herausgelesen hat. Seiner Ansicht nach erzählen diese nämlich einen realhistorischen Prozess, in dem ein Opfer ausgewählt wurde, dass dann von allen gemeinsam getötet wurde. Diesem Opfer wird dabei alle Schuld aufgeladen, es wird für die miserable Lage der Menschen verantwortlich gemacht, es wird zum Sündenbock für alles. Seine Ermordung konstituiert nun eine Gemeinschaft von Tätern, die sich als Unschuldige verklären – der Mord war schlicht notwendig, um das Böse in der Welt verkörpert im Sündenbock zu beseitigen. Wo Liebe nicht eint, kann es nur noch der gemeinsame Hass: „Die Gemeinschaft ist geeint auf Kosten eines einzigen Opfers.“ (Ebda.: 13) Die Opfergewalt wirkt identitäts- und gemeinschaftsstiftend, weswegen sie aber auch ständig wiederholt werden muss, sobald es zu einer Krise in der Gemeinschaft kommt. Hierin liegt nach Girard der Ursprung von Opferritualen, die später durch Tier- und Speiseopfer ersetzt wurden, und bei denen eine Krise simuliert wird, die dann jedesmal von Neuem im friedenund gemeinschaftsstiftenden Akt der Opferdarbietung beendet wird. Das Opfer ist nun plötzlich heilig.

An dieser Stelle kommen für Girard die Religion und ihre Mythologie ins Spiel. Die Religion wurde vom Menschen geschaffen, um Verbote aufzustellen, die den Ausbruch neuer Gewalt verhindern sollen. Da der Frieden auf diese Weise jedoch nicht ewig währt, kam ihr noch eine weitere Funktion zu: Die Generierung einer Opfermythologie, in der die Gemeinschaft der Täter als unschuldig und das Opfer als schuldig beschrieben wird, sowie die Durchführung des Opferrituals sobald die Gemeinschaft in eine Krise verfällt. Die sich ständig wiederholende, ritualisierte Gewalt gegen einen Sündenbock dient damit der Kanalisierung und Eindämmung noch viel archaischer, menschlicher Gewalt und hält die Gemeinschaft zusammen. Für Girard handelt es sich dabei nicht nur um eine logische, sondern auch um eine reale, eine welthistorische Abfolge: zuerst gab es einen mimetischen Krieg aller gegen alle, dann einen kollektiven Mord an einem Sündenbock, dann seine Ritualisierung und zuletzt seine Mythologisierung und die Verklärung der Tat in der Religion. Religion hat daher ein doppeltes Verhältnis zur Gewalt. Einerseits wirkt sie eindämmend, andererseits konstituiert sie eine gemeinschaftsstiftende Opfergewalt. Entscheidend ist jedoch, dass das Opfer nur funktioniert, solange der Glaube an die absolute Schuld des Opfers aufrechterhalten werden kann.

Und hier kommen nun Judentum, Christentum und Islam ins Spiel. Ihnen kommt nicht nur das Potenzial zu, Gewalt auf Kosten einer Opfergewalt einzudämmen, sondern sie eventuell gar gänzlich zu beenden (Girard 2009). Alle drei Religionen haben eine „Anti-Mythologie“ gemein, da sie die Mythologie archaischer Religionen verkehren. Judentum, Christentum und der Islam nehmen die Position des Opfers ein und erklären damit seine Unschuld. Sie sind Opferreligionen im wörtlichsten Sinne, da sie die Perspektive des unschuldigen Opfers einnehmen. Am radikalsten gelingt dies Girard zufolge jedoch dem Christentum. Im Christentum kulminiert die Opferposition in der Kreuzigung Jesu und wird auf diese Weise auf die Spitze getrieben. Christus ‚entmystifiziert‘ und rehabilitiert das Opfer. Aufgrund der Einnahme der Opferposition wird nun jegliche Gewalt fragwürdig und das Christentum wird zur Erfindung eines Weltgewissens. Mit der Kreuzigung wird die „Wahrheit“ des Opfers offenbart: „Da es unmöglich geworden ist, der Gewalt durch das Ritual zu entgehen, wird die persönliche Versöhnung zum einzigen Mittel, um die zerstörerische Entfesselung der mimetischen Gewalt zu vermeiden.“ (Girard 2010: 23) Die Menschen können die Schuld nicht mehr einem Sündenbock zuschieben, sondern sie müssen sich nun direkt miteinander versöhnen.

Girard zufolge kam es durch das Christentum zu immer mehr Frieden und eine Einhegung sakrifizieller Gewalt – mit anfänglichen Problemen in den Religionskriegen. Diese auf lange Sicht betrachtete Einhegung führte allerdings auch dazu, dass über die Jahrhunderte ihre Institutionen zur Gewaltbegrenzung immer mehr in den Hintergrund traten – manche würde es wohl einfach Säkularisierung nennen – und es nun zu einer Rückkehr mimetischer Gewalt kommt. Nicht mehr die Opfer-, sondern vielmehr die Konkurrenzgewalt herrscht nun wieder vor. Es ist nicht die religiöse Opfergewalt, die wir heute sehen, sondern unsere eigene Mimetische, der die Einhegung durch eine (irgendeine) Religion verlorengegangen ist. Welthistorisch gestaltet es sich für Girard daher wie folgt: Zunächst gab es eine mimetische Gewalt ohne Religion, dann eine Opfergewalt der Religionen, die die mimetische Gewalt kanalisiert, dann eine Zunahme der Gewaltfreiheit aufgrund der Opferidentifikation des Christentums, und zu guter Letzt die Rückkehr mimetischer Gewalt durch das Verschwinden der Religion (Säkularisierung).

Die Moderne weist dadurch ein paradoxes Verhältnis zur Gewalt auf, da sie einerseits höchst gewaltkritisch ist (aufgrund der christlichen Tradition einer Opferidentifikation), und es in ihr zugleich zu einer ungezügelten mimetischen Konkurrenz kommt, derer die Religion nicht mehr habhaft wird, und die in immer brutaler werdende Gewalt mündet. Die Lösung liegt für Girard im Wiedererstarken des Christentums als Lehre – nicht jedoch als Kirche. Girard meint sogar, die christliche Lehre habe ihre beste Zeit noch vor sich, wenn sie sich von gewissen Altlasten befreit. Girard selbst meint, zu diesem Ergebnis nicht aufgrund seines christlichen Glaubens, sondern allein aufgrund seiner Studien gekommen zu sein. Wir müssen uns der mimetischen Gewalt des Menschen stellen, nicht der Gewalt der Religionen: „Die Gewalt [in der heutigen Zeit, inklusive des Terrorismus; D.B.], für die wir gerne die Religion verantwortlich machen würden, ist tatsächlich unsere eigene und ihr müssen wir uns ohne Umwege stellen. Die Religionen zum Sündenbock für unsere eigene Gewalt zu machen, kann letzten Endes nur nach hinten losgehen.“ (Girard 2010: 30)

Während grievance-Ansätze die Hauptmotivation in Rebellionen und Bürgerkriegen in wütenden Identitäten sehen, die sich gegen mehr oder minder objektive Ungerechtigkeiten auflehnen und zum Schutze ihrer Gemeinschaft kämpfen, wähnen Vertreter des greed-Ansatzes primär ökonomische Motive an der Wurzel von Konflikten. Am radikalsten wird der Ansatz bei jenen ausbuchstabiert, die den Kriegsteilnehmern ein rein zweckorientiertes Streben attestieren, bei dem sie zur eigenen Profitmaximierung die Waffen ergreifen und Krieg führen. Andere dagegen glauben nicht, dass an der Wurzel aller Kriege ökonomische Motive stehen, sondern vielmehr, dass es eine zunehmende Ökonomisierung von Kriegsmotiven gibt – insbesondere im globalen Süden. Kriege rücken immer mehr in die Nähe von entpolitisierter krimineller Organisation und Rebellen ähneln dabei immer mehr von Gewinn getriebenen Mafiabossen, die vor nichts zurückschrecken, um ihren Gewinn zu maximieren. Sie stellen ein aufkommendes und immer weiter verbreitetes Phänomen in ‚neuen Kriegen‘ dar, in denen Rebellen zu skrupellosen Kleinunternehmern und Kriegsgewinnlern werden. Das Ende des Kalten Krieges führte zum Erstarken von Warlords, die Krieg als Business betreiben. Unabhängig von solch eher radikalen Positionen, hat die Forschung in diesem Zweig wichtige Beiträge zum Einfluss wirtschaftlicher Faktoren auf die Art und Organisation der Kriegsführung und auf kriegswirtschaftliche Motive geliefert. Krieg war nun nicht mehr wirtschaftlich irrational und rein destruktiv, sondern basiert immer auch auf wirtschaftlichen Motiven und ökonomischen Strukturen.

3 Gier

Während es Azar noch um ein Zusammenwirken verschiedenster auch symbolischer Aspekte des Ausschlusses ging, wurde von anderen Autoren ein Faktor ganz besonders hervorgehoben: Armut und ökonomische Ungleichheit. Es ist Armut, die die Menschen zur Rebellion antreibt, entweder in Form von absoluter (niedriges Pro-Kopf-Einkommen) oder aber relativer Armut (ökonomische Ungleichheit). Schon in den späten 50ern wies Ralf Dahrendorf in seinem Buch Class and Class Conflict in Industrial Society auf das Konfliktpotenzial ökonomischer Ungleichheit hin (Dahrendorf 1959). Auch der Wirtschaftsphilosoph Amartya Sen glaubte an eine enge kausale Beziehung zwischen ökonomischer Ungleichheit und Rebellion (Sen 1973). Sen interpretierte ökonomische Ungleichheit jedoch nicht rein monetär, sondern als unterschiedliche Verwirklichungschancen der Menschen (capabilities) in verschiedenen, nicht rein wirtschaftlichen Lebensbereichen und erweiterte den Armutsbegriff damit maßgeblich. Insbesondere um die Jahrtausendwende wurde dann die Beziehung zwischen Ökonomie und Krieg erneut zu einem der meist diskutiertesten Themen der Friedens- und Konfliktforschung.