Bye bye, Balu - Helga Winkler - E-Book

Bye bye, Balu E-Book

Helga Winkler

0,0

Beschreibung

Viele Male bereiste die Autorin in der Zeit von 1991 bis 2013 St. Petersburg und tauchte als Gast in den Alltag ihrer russischen Freunde ein. Sie erlebte mit, wie rasant sich die Stadt an der Newa im Laufe dieser Jahre in eine pulsierende Metropole verwandelte. Sie begleitete den Begründer der russischen Hospizbewegung, von seinen Freunden Balu genannt, bei seiner Arbeit im Hospiz am Stadtrand von St. Petersburg. Mit Hilfe von Spenden kaufte sie einen dringend benötigten Krankenwagen und überführte ihn über die Ostsee nach St. Petersburg. In welch bewegende, aber auch kuriose Situationen sie so manches Mal bei ihren Hilfsprojekten und Besuchen geriet, schildert sie mit unterhaltsamen Worten. Sie berichtet von den unkonventionellen Therapien, die Balu entwickelte, um den sterbenskranken Patienten ihren letzten Lebensabschnitt zu erleichtern. Und sie erzählt, wie ihre russischen Freunde den deutschen Alltag wahrnahmen, wenn sie zum Auftanken bei ihr in Deutschland zu Gast waren. Diese zu Herzen gehende Autobiografie, mit der die Autorin einen ihrer wichtigsten Lebensabschnitte schildert, ist nicht nur für Menschen interessant, die in der Hospizbewegung tätig sind. Sie berührt auch diejenigen Leser, die die deutsch-russischen Begegnungen und Freundschaften in friedlichen Zeiten erlebt haben und diese nun schmerzlich vermissen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Helga Winkler, geb. 1948 in einer Kleinstadt an der Nordsee, lebte und arbeitete von 1989 bis 2006 in einer internationalen Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main. Daneben engagierte sie sich ehrenamtlich und eigenverantwortlich im sozialen und kulturellen Bereich und stieß erfolgreich mehrere gemeinnützige Projekte an. Sie lebt und arbeitet mit ihrem Mann in der Nähe ihrer Tochter und deren Familie in der Region Hannover.

Für Johannes und Daniela

Grüble nicht, was möglich ist und was nicht; tu, was du mit deinen Kräften zustande bringst; darauf kommt alles an.

Leo Tolstoi

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erste Begegnung

Ankunft in St. Petersburg

Schneewittchen in St. Petersburg

Silvester

Ausflüge in die Umgebung

Das Hospiz

Eine Freundschaft bahnt sich an

Der russische Alltag

Abschied von St. Petersburg

Tagungsvorbereitungen

Die Tagung

Nach der Tagung

Das Projekt Krankenwagen

Victoria in Deutschland

Privat in St. Petersburg

Als Ehrengast auf dem Schiff

Isborsk, Pskow und Petschory

Balu in Frankfurt

Vortrag über die Arbeit im Hospiz

Balus Erinnerungen

Ab jetzt gemeinsam

Mit den Eltern nach St. Petersburg

Die Situation in Russland

Hochzeit in der Pfalz

Die Sache mit der Asche

Besuche hier und dort

Mit Freunden zu den Weißen Nächten

Glockentherapie und Rollenspiel

Lebensmittelvergiftung

Leben und Sterben

Abschied von Freunden

Versprechungen

Ein Herz für das Hospiz

Probleme über Probleme

Urlaub auf Russisch

Prolog

Ist es eigentlich nach dem Februar 2022 vertretbar und passend, von den guten Zeiten zu erzählen, in denen es noch Freundschaften zwischen Deutschen und Russen gab? Und ist es nicht so, dass gerade Freundschaften, auch zwischen Mann und Frau, oft stärker in Erinnerung bleiben und länger halten als Liebesgeschichten? Und dies erst recht, wenn ein gemeinsames Lebensthema diese Freundschaft wie ein roter Faden durchzieht? Das lässt einen nicht los! Deshalb habe ich, vor allem gerade jetzt, das Bedürfnis, von diesen tiefen Freundschaften zu erzählen, aber auch von den berührenden Begegnungen und Erlebnissen und von der Gastfreundschaft, die ich in den 1990er Jahren im fernen Russland erlebte. Möchte ich vielleicht einfach daran erinnern und davon berichten, dass es die ganz normalen, lieben, leidensfähigen Menschen mit dem großen Herzen gab, die ich nicht vergessen werde? Und möchte ich so sehr und gerne daran glauben, dass es sie noch immer gibt?

Erste Begegnung

Ich begegnete dem russischen Professor 1991 auf einem Kongress, bei dem philosophische, wissenschaftliche und religiöse Fragen behandelt wurden. Es war eine von vielen solcher Veranstaltungen, die ich in dieser Zeit besuchte. Ich hatte neben meiner beruflichen Tätigkeit in einer großen Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main eine Bibliothek ins Leben gerufen, in der interessierte Menschen Bücher mit Themen um Gott und die Welt ausleihen konnten. Auch bot ich Lesungen und Vorträge an, die gut besucht wurden. Indem ich an Veranstaltungen wie diese hier beschriebene teilnahm, erwartete ich Anregungen und Impulse für mein ehrenamtliches Engagement.

Der russische Gastredner war eingeladen worden, einen Vortrag über die Hospizarbeit in Russland zu halten. Er begann, und er hatte nach wenigen Sätzen – natürlich auf Russisch, die übersetzt wurden – nicht nur meine, sondern die Aufmerksamkeit aller Zuhörer erregt. Wie hatte er das erreicht? Er fiel einfach aus dem Rahmen seiner Vorredner, ohne deren Bemühungen und Anliegen schmälern zu wollen. Man spürte sofort, hier war jemand, dem allein sein Thema wichtig war. Hier stand er, der Professor aus dem fernen Russland, in seinem abgetragenen Anzug, mit etwas schütterem Haar. In seinem Auftreten wirkte er bescheiden und etwas unbeholfen. Aber was sein Thema betraf, so trug er dieses so selbstsicher und mit einer so großen Hingabe vor, dass er im Nu das Interesse der Tagungsteilnehmer geweckt und sie gefesselt hatte.

Sinn und Zweck des Lebens, das Sterben und der Tod, das waren Fragen, die auch mich beschäftigten, und es fiel mir daher nicht schwer, mit diesem sympathischen Redner am Rande der Veranstaltung ins Gespräch zu kommen. Ich wollte mehr erfahren von seinem Leben und seiner Arbeit in dem mir bis dahin recht unbekannten Land. Wir unterhielten uns auf Englisch, was ganz gut gelang, und im Laufe unserer Unterhaltung erzählte er mir nebenbei, dass er die russische Hospizbewegung gegründet habe. In seiner Heimatstadt St. Petersburg sei unter seiner Verantwortung das erste Hospiz Russlands entstanden, und er sei dort als Psychotherapeut tätig. Als wir uns am Ende der Veranstaltung voneinander verabschiedeten, lud er mich eindringlich und herzlich ein, nach St. Petersburg zu kommen, um ihn bei seiner Arbeit zu begleiten. Schon im Hinausgehen begriffen kehrte er nochmal zurück und erklärte mir: „… but you must know, the children gave me the name Balu!“ Und er bot mir an, ihn wie seine Freunde ebenfalls Balu zu nennen. Verschmitzt verriet er mir auch, dass er nur alle vier Jahre Geburtstag habe, nämlich am 29. Februar!

In den folgenden Wochen schrieben wir uns Briefe, um in Kontakt zu bleiben. Bis allerdings die Post beim Empfänger ankam, dauerte es mindestens vier Wochen! Freitagabends konnte ich ihn allerdings auch telefonisch erreichen, denn an diesem Tag kamen seine Patienten zu ihm nach Hause, und danach nahm er sich einige Stunden frei. Aber diese Auslandsgespräche waren teuer, deshalb hielt ich mich damit etwas zurück, zumal Balu mitunter etwas länger brauchte, bis sich die passende englische Vokabel in seinem Kopf einfand. In jedem Gespräch wiederholte er seine Einladung an mich, und schließlich sagte ich zu. Mein Zögern hatte auf keinen Fall damit zu tun, dass ich nicht den Mut gehabt hätte, eine Reise in ein mir völlig unbekanntes Land und noch dazu nach Russland (!) zu unternehmen. Nein, Angst war mir fremd, ich war ein optimistisch eingestellter Mensch und ging immer davon aus, dass mir schon nichts Schlimmes passieren würde. Wenn sich für mich die Gelegenheit für eine neue Herausforderung ergab, die mich reizte, dann griff ich meistens zu. In diesem Fall musste ich allerdings erst einmal eine Lücke in meinem Terminkalender finden, bevor ich Balus Einladung annehmen konnte. Als das geklärt war, wählte ich den einfachsten Weg und buchte über das Reisebüro eine Pauschalreise. So konnte ich alle Formalitäten einschließlich Beschaffung des Touristenvisums dem Reisebüro überlassen und musste nicht Balu, der andernfalls mein russischer Gastgeber gewesen wäre, mit den Behördengängen belasten. Fast konnte ich es kaum glauben: Tatsächlich würde ich über Silvester in St. Petersburg sein!

Balu hatte mir verraten, dass er ein Romantiker sei und zur Entspannung von seiner schweren Hospizarbeit Märchen erdachte und niederschrieb. So erhielt ich entsprechend berührende Briefe von ihm:

„Ich hoffe, Dir die Schönheit von St. Petersburg zeigen zu können und seine Geschichten und seine phantastischen Plätze. Ich freue mich darauf, Dich in die Welt der Märchen entführen zu können und Dein Gesicht zwischen den Heldenfiguren zu finden.

Vielleicht gibt dies Anlass herauszufinden, wer Du bist, woher du kommst. Es sieht so aus, als wenn du aus Hoffmanns Erzählungen kommst …, oder vielleicht bist du eine Prinzessin aus Wilhelm Hauffs Märchen? Oder vielleicht aus historischen Geschichten? Sag es mir! Wenn Du es nicht erklären kannst, dann mag dies Anlass für eine neue Geschichte geben. Dann werde ich Dir den Rat geben, der Musik aus „Rheingold“von Wagner zu lauschen oder vielleicht Richard Strauss oder Bruckner, und mir dann zu antworten, wer Du bist. So schließe ich jetzt und erwarte Deinen Brief und Deinen Besuch.“

Wie schon erwähnt, arbeitete ich in dieser Zeit in Frankfurt am Main in einer internationalen Anwaltskanzlei. Die Partner und angestellten Rechtsanwälte hatten meistens ein offenes Ohr für soziale Projekte. Deshalb startete ich ein paar Wochen vor meiner Reise einen Spendenaufruf und befestigte den Aushang an die Eingangstür zu unserer Kantine, so dass ihn alle lesen konnten, wenn sie zum Mittagessen gingen:

An alle, die ein Herz für Russland haben:

Wer möchte zu Weihnachten Menschen beschenken, die es wirklich nötig haben?

Ich bin vom 29.12. bis 6.1. in St. Petersburg und werde u.a. auch ein paar Tage in einem Hospiz verbringen (dem einzigen in St. Petersburg), in dem krebskranke Menschen – auch Kinder – bis zu ihrem Tode betreut werden.

Vielleicht haben Sie Spielsachen zu Hause, die nicht mehr benötigt werden oder andere (nicht zu schwere) Dinge, die Sie verschenken würden? Es mangelt dort an allem. Der größte Hit für die Kinder sind z.B. Barbie-Puppen und alles, was damit zusammenhängt.

Bitte sprechen Sie mich gerne an.

Bald danach brachten mir die Kollegen aus der Warenzeichenabteilung alle dort gesammelten Musterspielsachen, Teddys und Kuscheltiere. Bald sah es in meinem Büro aus wie in einem Spielzeugladen.

Aber wirklich überraschte und berührte mich, was ich bald danach erfuhr: Zwei junge Anwälte hatten ohne mein Wissen eine interne Mitteilung mit Briefumschlag unter den Kollegen herumgehen lassen. Darin stand:

Sicherlich haben viele von uns schon den vor dem Kulinarium aushängenden Vermerk von Frau R. bezüglich der Hilfe für krebskranke Erwachsene und Kinder in einer Klinik in St. Petersburg gelesen. Obwohl wir an sich keine „Spendenfans“ sind und in Sachen Rußlandhilfe auch schon einiges getan worden ist, meinen wir, dass dieser Fall eine Ausnahme ist und wir insbesondere durch Frau R. sichergehen können, dass das Geld auch dort ankommt, wo es wirklich gebraucht wird. Anbei befindet sich daher ein Kuvert mit Schlitz, in das jeder – wenn er mag – seinen Beitrag stecken kann. Das Kuvert soll dann an Frau R. weitergegeben werden, die damit helfen wird.

Diese Sache ist uns übrigens spontan eingefallen, Frau R. weiß davon (noch) nichts.

Kurz vor meiner Reise übergaben die Kollegen, die diese Initiative ergriffen hatten, mir einen Umschlag mit 1.394 DM. Im ersten Moment wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte. Ich war völlig ahnungslos gewesen. Nun hatte diese Aktion mich kalt erwischt, und ich musste die Tränen zurückhalten. Dann fand ich die passenden Worte für einen weiteren Aushang, mit dem ich mich bei allen herzlich bedankte.

Inzwischen hatte ich sämtliche nicht mehr benötigten Koffer und Taschen aus dem Keller hervorgekramt, um all die Sachen verstauen zu können. Für mich selbst nahm ich nur wenig Kleidung zum Wechseln mit, wovon ich vor meiner Rückreise auch noch was verschenken wollte. Es war bekannt, dass nach Glasnost und Perestroika der Aufbau der Wirtschaft in Russland nicht voran kam. Statt der früheren Planwirtschaft gab es nun Schattenwirtschaft, und die Bevölkerung lebte in großer Armut. So trat ich am 29.12. mit der Geldspende und fünf Koffern voller Spielsachen, Kuscheltieren, Lebensmitteln, Haushaltsgeräten und Arzneimitteln die Reise in das mir völlig unbekannte und fremde Russland an.

Natürlich konnte ich mit den vielen Gepäckstücken nicht wie üblich mit der S-Bahn zum Flughafen fahren, sondern musste mir ein Taxi nehmen. Ich kam mit dem freundlichen Taxifahrer ins Gespräch und erzählte ihm von dem Zweck meiner Reise. Schlagartig stellte er sein Taxometer ab und fuhr mich für den Rest der Strecke umsonst bis zum Abflugterminal. Hilfsbereite Menschen sind mir im Laufe meines Lebens immer wieder begegnet, wenn ich in ähnlichen Situationen darauf angewiesen war. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man einfach miteinander sprechen muss oder geradewegs um Hilfe bitten. Eine Bitte schlägt so gut wie niemand aus.

Wir flogen pünktlich in Frankfurt ab, und nachdem für mich nun alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und ich sicher im Flieger saß, war ich einfach nur gespannt, was mich nach dem knapp dreistündigen Flug erwarten würde. Russland war für mich wie für die meisten Deutschen ein riesiges, bisher noch unentdecktes Land, das sich erst langsam dem Tourismus öffnete.

Ankunft in St. Petersburg

Langsam senkte sich das Flugzeug, ich konnte schon die Stadt sehen, dann landeten wir. Ich war in St. Petersburg! Kurze Zeit später stand ich mit meinen Mitreisenden vor dem Zoll und der Kontrolle. Im Jahr 1991 war die Ankunftshalle in St. Petersburg im Vergleich zu Frankfurt am Main winzig. Am Gepäckband hatte ich Schwierigkeiten, meine fünf Koffer wieder einzusammeln. Denn für alle ankommenden Gäste aus den verschiedenen Flugzeugen gab es nur ein einziges Gepäckband, und so drängelte sich dort eine enorme Masse von Menschen in mehreren Reihen hintereinander. Ich war vom Frankfurter Flughafen eine andere Ordnung gewohnt und geriet leicht in Panik, als ich die vielen Menschen am Gepäckband erblickte. Irgendwann hatte ich es aber dann doch geschafft, nacheinander alle meine Koffer einzusammeln und dicht um mich herum zu stapeln, wobei ich gleichzeitig aufpassen musste, dass mir nur ja kein Gepäckstück abhandenkam.

Gottseidank fand ein hilfsbereiter Mitreisender für mich einen klapprigen Gepäckwagen, der verlassen in einer Ecke stand, und so konnte ich tatsächlich problemlos mit den Koffern dorthin gelangen, wo unsere Reiseführerin mit dem Hotelschild in der Hand anscheinend nur noch auf mich wartete. Nun waren wir vollzählig, und ich folgte meiner Reisegruppe zum Bus, der uns zum Hotel bringen sollte.

Die etwa 15 km lange Fahrt in die Stadt dauerte etwa eine halbe Stunde. Wir fuhren eine mehrspurige Straße entlang, die von grauen Wohnblöcken gesäumt war und mich ein wenig an Ostberlin erinnerte. Dann hielt der Bus vor dem großen Komplex des Hotels Pulkowskaja, wir stiegen aus und betraten erwartungsvoll das Foyer. Wir staunten nicht schlecht über die großzügige, elegante, hohe Halle, die mehr an einen barocken Theatersaal erinnerte als an das Eingangsfoyer eines Hotels. Eine solche Pracht hatten wir nicht erwartet. Das Hotelpersonal war mäßig freundlich, mehr geschäftsmäßig distanziert, und das Einchecken ging relativ zügig vonstatten. Der Busfahrer hatte inzwischen unser Gepäck in der Halle abgestellt, und nachdem jeder seine Koffer aus dem Pulk herausgefunden hatte, betraten wir die ebenso großzügigen, mit Spiegeln versehenen Fahrstühle und suchten unsere Zimmer auf. Diese waren allerdings ganz normal eingerichtete Hotelzimmer, sauber und zweckmäßig, und das war auch gut so!

Das Programm sah noch für den gleichen Tag eine Stadtrundfahrt vor. Unsere sympathische Reiseführerin sprach ausgezeichnet Deutsch, und sie wies uns begeistert auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt hin. Wir fuhren über den Newskij-Prospekt, der Hauptader der Stadt. Wie oft ich in den kommenden Jahren noch auf dem Newskij entweder schnellen Schrittes eilen, zügig spazieren oder langsam schlendern würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich ahnte auch nicht, wie sehr sich der Boulevard von 1991 im Laufe der Zeit in die laute und verkehrsreiche Straße verwandeln würde, die man entweder nur unter Lebensgefahr oder aber am besten an der Hand von kundigen Einheimischen überqueren sollte.

Bald darauf hielt unser Bus am berühmtesten Denkmal der Stadt, dem Ehernen Reiter. Peter der Große saß dort auf einem sich aufbäumenden Pferd, das mit seinem Huf eine Schlange zertrat, was für Heroismus, aber auch Grausamkeit stehen sollte, d.h. wer sich ihm in den Weg stellte, würde wie eine Schlange zertreten werden. Traditionell posierten hier die Hochzeitspaare und ließen sich vor der Bronzeskulptur fotografieren. Bei meinen späteren Reisen nach St. Petersburg traf ich immer mal wieder auf Hochzeitspaare und konnte beobachten, dass diese meistens sehr jung waren, selten glücklich und verliebt aussahen, und in die Kamera blickten sie mit einem gequälten Lächeln. Was war der Grund? Ich verstand es nicht!

Auf unserer Rundfahrt ging es weiter zur Isaak-Kathedrale, mit ihrer weithin sichtbaren goldenen Kuppel war sie der größte Kirchenbau der Stadt. Beim Bau der Kathedrale sollen 11.000 Baumstämme in den Petersburger Sumpf gerammt worden sein. Für die Kuppel wurden 100 kg pures Gold verwendet, das noch bis heute auf den Kupferplatten haften blieb. Wir stiegen bis zur Kuppel hoch und schauten herab auf die Stadt, die wir in den nächsten Tagen noch näher kennenlernen sollten. Aber heute genossen wir vor allen Dingen den fantastischen Ausblick auf das gesamte, weitläufige Panorama dieser berühmten Stadt an der Newa.

Abgesehen von den Sehenswürdigkeiten kam mir die Stadt während unserer Busfahrt allerdings ziemlich grau vor, viele Häuser waren verkommen. Und wir schauten hinter die Kulissen, wir sahen die Armut, das ganze Elend in der Stadt. Hier standen Ende Dezember 1991 endlose Menschenschlangen vor den Bäcker- und Metzgergeschäften. Es waren fast nur Frauen, die hier stundenlang Schlange standen. Wenn sie dann das Glück hatten, Lebensmittel, Waschmittel etc. erwerben zu können, berichtete uns unsere Reiseführerin, nahmen sie möglichst so viel auf Vorrat mit, wie sie bekommen konnten. Dann war das Ganze mit schwerer Schlepperei verbunden, da der Einkauf zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigt werden musste. Sie fügte hinzu, dass das lange Warten allerdings oft erfolglos blieb. Wir, die wir warm und bequem im Bus saßen, fühlten uns betroffen und auch beschämt angesichts der wartenden Menschen vor den Läden. Wie Schaulustige, die sich aus sicherer Position heraus die Armut anschauten, kamen wir uns vor. Ich hätte mich am liebsten ganz klein gemacht und in meinem Sitz versteckt, und das ging, glaube ich, nicht nur mir so.

Noch dazu wurden wir am Abend und am nächsten Morgen im großen, fürstlichen Speisesaal mit den leckersten russischen und internationalen Spezialitäten verwöhnt. Schon bevor das Essen aufgetragen wurde, roch es angenehm und verheißungsvoll aus Richtung Küche. Es gab kein Buffet, sondern die Speisen wurden stilgerecht und professionell von überwiegend jungen Männern in dunkelrot-goldener Kellneruniform serviert. Zugegeben, während wir, die deutschen Touristen, in diesem schönen Speisesaal bei angeregtem Gespräch zusammensaßen, verdrängten wir die Armut draußen und genossen das Essen, die Geselligkeit und das luxuriöse Ambiente.

Schneewittchen in St. Petersburg

Zwischendurch hatte ich von meinem Hotelzimmer aus mit Balu telefoniert, und wir hatten uns für Silvester verabredet. Pünktlich holte er mich am Vormittag mit Chauffeur und einem alten Kombi ab. Ich erfuhr, dass wir auf dem Weg zum Onkologischen Institut am nördlichen Stadtrand waren. Auf vereisten, breiten Straßen fuhren wir durch eine wunderschöne, sonnendurchflutete Schneelandschaft. Unterwegs hielten wir immer wieder an und luden weitere Freunde von Balu ein. Wir mussten uns eng aneinander quetschen, aber irgendwie passten wir mit sieben Personen ins Auto hinein. Da ich in der Mitte saß, konnte ich nicht mehr aus dem Fenster schauen und bekam nicht mit, wo wir uns befanden. Balu hatte mich vorab informiert, dass ich an einer jährlichen Tradition teilnehmen würde, und deshalb hatte ich den Koffer mit den Teddys, den Puppen und Kuscheltieren mitgenommen, der im Kofferraum verstaut wurde. Jedes Jahr an Silvester nämlich besuchte Balu mit seinen Freunden krebskranke Patienten, sowohl Erwachsene als auch Kinder, im Onkologischen Institut. Bevor Balu das Hospiz in St. Petersburg gegründet hatte, war er hier als Psychotherapeut tätig gewesen.