Café Hannah - Teil 3 - Ann E. Hacker - E-Book

Café Hannah - Teil 3 E-Book

Ann E. Hacker

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Beschreibung

In Hannahs Leben könnte es nicht besser laufen: Ihr Café floriert, ihre Beziehung zu Klaus steht auf festen Füßen. Doch dann kündigt der neue Hausbesitzer den Pachtvertrag. Die Blumengasse ist in Aufruhr, denn das Café ist längst das Herzstück der Straße geworden. Und damit nicht genug: Klaus beendet die Beziehung. Während ihre Freunde Edi, Svenja, Ben, Hubertus, Brigid und Andy trotz eigener Probleme versuchen, das Café zu retten, verliert Hannah jeglichen Lebensmut. Hoffnung keimt auf, als der Verwalter des neuen Hausbesitzers Interesse an dem Café zeigt. Wird es gelingen, ihn von der Rettung zu überzeugen?

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FÜR SUNA

Alle Bände der Café Hannah Reihe:

1 - Alles auf Anfang

2 - Überraschungen

3 - Rettet das Café!

4 - Vertraut anders

5 - Wir müssen reden

6 - Familienbande

7 - Mann Mann Mann!

Marilyn - Kurzroman

Brigid - Kurzroman

Cover: Christine Spindler, Foto © missmimimina, stock.adobe.com.

Charakterskizzen: Karin Schliehe. Illustration Tasse: Karl-Heinz-Gutmann (charlygutmann/Pixabay). Foto Ann E. Hacker: Thomas Endl

Lektorat: Christine Spindler

Zweite Auflage, München 2024

ISBN 978-3-949181-07-8

© Feather & Owl

Ute Hacker, Adamstr. 1, 80636 München

Alle Rechte vorbehalten

ÜBER DIESES BUCH

In Hannahs Leben könnte es nicht besser laufen: Ihr Café floriert, ihre Beziehung zu Klaus steht auf festen Füßen. Doch dann kündigt der neue Hausbesitzer den Pachtvertrag. Die Blumengasse ist in Aufruhr, denn das Café ist längst das Herzstück der Straße geworden. Und damit nicht genug: Klaus beendet die Beziehung.

Während ihre Freunde Edi, Svenja, Ben, Hubertus, Brigid und Andy trotz eigener Probleme versuchen, das Café zu retten, verliert Hannah jeglichen Lebensmut. Hoffnung keimt auf, als der Verwalter des neuen Hausbesitzers Interesse an dem Café zeigt. Wird es gelingen, ihn von der Rettung zu überzeugen?

INHALT

Über dieses Buch

1 – Aller Tage Abend? (Hannah Jensen)

2 – Abschied und Neuanfang (Jonathan »JJ«Jensen)

3 – Männer! (Edeltraut »Edi« Mayerhofer)

4 – Verführerische Schokolade (Robert Ganter)

5 – Rettet das Café! (Hubertus von Waldhausen)

6 – Good bye, my Love! (Svenja Wahls)

7 – Ortswechsel (Ilse-Marie »Illy« Rohstetter)

8 – Zeit heilt keine Wunden (Ben Häusgen)

9 – Beste Freundinnen (Brigid O’Connor)

10 – Ende gut, alles gut? (Andy Nowak)

Die Autorin

Reihenübersicht

1 – ALLER TAGE ABEND? (HANNAH JENSEN)

»Dreißig Tische und sechzig Bänke sollten genügen. Was meint ihr?« Hannah schaute in die Runde und sah in teils nachdenkliche, teils zustimmende Gesichter.

»Ist das nicht zu viel?«, warf Christine ein. »Sechzig Bänke – das sind mindestens dreihundert Plätze. Erwarten wir allen Ernstes so viele Besucher?«

»Ich finde das nicht zu viel«, erwiderte Bassam. »Wenn ich meine Stammgäste vom Litani und die von Hannahs Café zusammenrechne, komme ich allein schon auf hundert Leute. Rechne die Nachbarschaft dazu – da bleibt nicht mehr viel Platz.«

Christine, die in der Blumengasse den Blumenladen betrieb, wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht; mir kommt das viel vor. Es ist immer besser, wenn die Leute dicht gedrängt sitzen müssen. Große Lücken sind ungemütlich.«

Edi, vormals Edeltraut, hob die Hand. »Darf ich etwas sagen?«

Hannah lachte. »Aber natürlich! Deine Meinung ist immer gefragt.«

Edi senkte die Hand und nickte zufrieden.

»Wenn ich so in die Runde schaue, bin ich mit Abstand die älteste und vermutlich auch die, die am längsten im Viertel wohnt. Es gab früher schon mal Straßenfeste und die waren alle gut besucht. Ich kann jetzt nicht sagen, ob es zweihundert oder dreihundert Gäste waren, aber es war immer was los.« Sie machte eine kurze Pause, fuhr dann fort: »Ich denke, das Wichtigste ist der richtige Termin. Das Fest darf keinesfalls in den Sommerferien stattfinden, da kommt niemand.«

Petér, Bassam und Christine zückten gleichzeitig ihre Handys.

»Die Sommerferien beginnen am 29. Juli«, ließ Kassie vom Nagelstudio sich vernehmen. Auf die erstaunten Blicke der anderen fügte sie hinzu: »Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes weiß man so etwas.«

»Das heißt …«, Hannah rechnete rasch im Kopf, »… das heißt, das Fest müsste am 15. Juli stattfinden. Ausweichtermin wäre das Wochenende darauf, also der 22. Gibt es damit Probleme?« Sie schaute fragend in die Runde.

Bassam hielt sein Handy hoch. »Nein, das passt.«

Die anderen nickten.

»Gut. Können wir das dann so festhalten?« Hannah schaute Kassie an, die diesmal mit dem Protokoll dran war.

»Ist notiert.«

»Schön«, sagte Hannah. »Ein Vorschlag zur Güte: Ich bestelle die dreißig Tische und sechzig Bänke, aber wir lassen einen Teil davon als Reserve im Hof stehen. Was haltet ihr davon?«

»Sehrr gute Idee«, stimmte Petér zu. »Ich glaube übrrigens nicht, dass es zu viele Plätze sind. Seit dein Café da ist, Hannah, ist in der Blumengasse immerr was los.«

Hannah warf ihrem Friseur eine Kusshand zu.

»Gut, dann haben wir das auch geklärt. Gibt es sonst noch offene Punkte auf der Agenda?«

Kassie blätterte eine Seite zurück, las sich das Geschriebene durch, murmelte: »Das haben, wir, das auch, und das« und hakte die einzelnen Stichpunkte ab. Dann hob sie den Kopf und sagte laut: »Bis auf Essen und Getränke haben wir alles. Und natürlich, wer was zahlt.«

Hannah sprang auf. »Das hat ja noch Zeit.« Sie schnitt eine Grimasse und lachte verlegen. »Wie ihr sicher wisst, habe ich ein Date in Frankfurt. Mein Zug geht in einer halben Stunde. Falls ihr noch etwas trinken wollt, sagt Edi Bescheid.« Sie wandte sich an ihre Angestellte. »Du sperrst zu, ja?«

»Aber sicher«, erwiderte Edi gelassen. »Ich habe alles im Griff.«

»Weiß ich, weiß ich«, versicherte Hannah ihr und winkte in die Runde. »Ich wünsche euch ein schönes Wochenende. Montag bin ich wieder da.«

»Dir auch ein schönes Wochenende«, schallte es ihr mehrstimmig nach, und Hannah war sich nicht sicher, ob nicht der eine oder andere anzügliche Tonfall dabei war.

Die sind nur neidisch, dachte sie und grinste glücklich vor sich hin. Sie ging in ihre Wohnung im ersten Stock, nahm ihre Reisetasche, die sie neben die Wohnungstür gestellt hatte, und lief die Treppe wieder hinunter. Das bestellte Taxi wartete bereits.

»Zum Bahnhof, bitte.«

Zehn Minuten später saß sie im Zug. Voller Vorfreude auf das Wochenende schmiegte sie sich in den Sitz. Manchmal nutzte sie die gut dreistündige Fahrt, um ihre Mails zu bearbeiten; sie hatte sich extra dafür ein Tablet angeschafft. Doch heute wollte sie einfach nur die Fahrt genießen.

Ihre Mitreisenden hatten jedoch andere Pläne. Eine gestresste Mutter schaffte es nicht, ihre quengelnde Tochter so weit zu beruhigen, dass sie nicht den ganzen Waggon beschallte. Egal, was sie ihr anbot – Film gucken, Buch vorlesen, Musik hören, ja sogar Schokolade – das Mädchen wollte einfach nur durch den Wagen laufen und Leute nerven. Zumindest empfand Hannah es so.

Seufzend zog Hannah ihre Kopfhörer aus der Handtasche und steckte sie sich in die Ohren. Sie drehte den Regler so laut, dass sie Mutter und Kind nicht mehr hörte, doch es gelang ihr nicht, abzuschalten.

Ihre Gedanken gingen zurück zu den Stunden zuvor. Sie wusste nicht mehr, wer die Idee zu dem Sommerfest gehabt hatte, aber plötzlich stand der Vorschlag im Raum. Sie hatte alle gefragt: ihren direkten Nachbarn Petér, Bassam vom libanesischen Restaurant Litani am Ende der Straße; Mehmet von der Dönerbude gegenüber; Christine vom Blumenladen; Kassie vom Nagelstudio und Andrea vom Zeitungsladen. Sie hatte sogar den Immobilienmakler Roland Kammermeier kontaktiert und sich dazu überwunden, in die Apotheke zu gehen und den unangenehm arroganten Marco Bessini zu fragen. Zum Glück hatte der sofort abgewunken, während Kammermeier noch überlegen wollte.

Der könnte ruhig ein paar Kröten zuschießen, bei der Provision, die er durch Ben erhalten hat, dachte sie.

Das Mädchen hatte sich inzwischen auf der Zweierbank neben Hannah niedergelassen und war durch nichts zu bewegen, den ursprünglich gebuchten Platz einzunehmen. Mit einem entschuldigenden Blick schleppte die Mutter alle Utensilien heran, während ihre Tochter eine neue Runde »Ich will was, was du nicht willst« einläutete.

Hannah wandte sich dem Fenster zu und schloss die Augen. Seit klar war, dass sie regelmäßig zu Klaus nach Frankfurt pendeln würde, hatte sie sich eine Bahncard für die 1. Klasse beschafft in der Hoffnung, die Fahrtzeit nutzen zu können. Doch sie sah sich regelmäßig mit Fahrgästen konfrontiert, die ihr einen Strich durch die Rechnung machten.

Mal war es ein älteres Ehepaar, das nach Dortmund zu seiner Tochter fuhr und zum ersten Mal im Leben die Bahn nutzte.

Sind das unsere Plätze?

Willst du lieber am Fenster sitzen? Nein, setz du dich ruhig hin.

Kannst du mir meine Jacke aus dem Koffer holen?

Willst du nicht doch ans Fenster? Nein!

Möchtest du einen Kaffee?

Wie stellt man die Rückenlehne nach hinten?

Fräulein, ich hätte gerne die BILD-Zeitung.

Häufiger waren die amerikanischen oder japanischen Touristen, die nach zehn Tagen durch Europa von Frankfurt aus nach Hause flogen. Während die Amerikaner in der Regel laut waren, nervten die Asiaten mit ihrer ständigen Knipserei.

Da waren Hannah die lauthals telefonierenden Geschäftsmänner fast noch am liebsten, obwohl auch die oftmals an ihrem Nervenkostüm zerrten.

Mütter mit Kindern waren am Freitag- oder Sonntagabend zum Glück selten; aber wenn sie da waren, waren sie weder zu überhören noch zu übersehen.

War JJ auch so eine Nervensäge?, fragte sie sich, als das Mädchen zum xten Male an ihren Stuhl stieß.

Nein, JJ war schon immer der ruhige Typ gewesen. Zurückhaltend, beinahe schüchtern. Im Gegensatz zu mir. Ich habe gerne Leute um mich herum.

Hannah lächelte und beschloss, ihrem Sohn eine Nachricht zu schreiben. In Queens war es gerade Mittag vorbei.

Sie zog das Handy aus der Hosentasche, öffnete die App und schrieb:

Hi JJ! Geht’s dir gut? Ich sitze im Zug nach FFM, Wochenende mit Klaus. Musste gerade an dich denken. Hast du was vor am Wo’ende?

Sie fügte ein Kussmund-Emoji ein und drückte auf Senden. Der erste Haken erschien, dann der zweite, aber sie blieben schwarz. Vermutlich hatte JJ noch Unterricht oder war beim Mittagessen.

Hannah schob das Handy zurück, schloss die Augen und versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren.

Sie hatte sich vor Monaten eine Liste mit Songs zusammengestellt, die sie und Klaus mochten, als Einstimmung auf die Stunden mit ihm.

Seit mehr als einem Jahr führten sie nun eine Wochenendbeziehung und es funktionierte erstaunlich gut. Sie sahen sich mindestens jedes zweite Wochenende, manchmal auch jede Woche. Sie versuchten, das Pendeln gerecht zu verteilen, aber Hannah war manchmal froh, wenn Klaus sie bat, nach Frankfurt zu kommen, denn so konnte sie den lästigen Pflichten wie der Buchhaltung entfliehen.

»Warum nimmst du dir keine Buchhalterin, wenn du es so sehr hasst?«, hatte er sie einmal gefragt.

»Ich bin Bankerin! Ich muss das selbst können.«

»Das ist lächerlich und das weißt du. Welcher Banker gibt sich denn mit Buchhaltung ab? Nenn mir einen. Du bist einfach ein Kontrollfreak, der am liebsten alles selbst macht.«

Hannah wusste, dass Klaus recht hatte. Beinahe jedes Mal, wenn sie über den Büchern brütete, die sich inzwischen in Form einer Software auf dem PC befanden, beschloss sie, gleich am nächsten Tag eine Anzeige zu schalten. Doch dann war wieder viel zu viel zu tun und anschließend hatte sie es vergessen.

Man könnte meinen, ich hätte mein Leben nicht im Griff.

Hannah schmunzelte. So gut wie in den letzten Monaten war es ihr schon lange nicht gegangen. Das Café lief bestens, Edi war eine großartige Köchin, Mitarbeiterin und Freundin, ihre Beziehung zu Klaus war stabil und gut – was sollte sie mehr wollen?

Natürlich gab es kleinere Probleme. Seit Gina beschlossen hatte, ganz nach London zu ziehen, hatte sie keine gute Servicekraft gefunden. Die Lösung mit den Studenten, die stundenweise arbeiteten, funktionierte auf Dauer nicht. Sie hatte viele Stammgäste, die darauf vertrauten, dass man ihre Wünsche und Vorlieben kannte. Weder sie noch Edi konnten so viel arbeiten, um alle Stammgäste glücklich zu machen.

Ich muss eine To-do-Liste machen. Bin auch nicht mehr die Jüngste.

Hannah gluckste. Im Gegensatz zu ihrem Fünfzigsten, bei dem es eine große Party gegeben hatte mit guten, aber auch weniger guten Überraschungen, hatte sie den Einundfünfzigsten ganz für sich gefeiert. Natürlich hatten alle gratuliert, aber sie hatte niemanden sehen wollen.

Die Musik wurde unterbrochen, das Telefon meldete sich.

Hannah zog das Handy heraus und sah das Bild ihres Sohnes. Sie wischte nach rechts, um den Anruf anzunehmen.

»JJ! Welch nette Überraschung!«

»Hi Mom!«

Obwohl er nur diese beiden Worte sagte, schrillten bei Hannah sofort die Alarmglocken.

»Was ist los?«, fragte sie auf Englisch, weil sie wusste, dass JJ sich in dieser Sprache sehr viel besser ausdrücken konnte. »Warte einen Moment, ich gehe schnell wohin, wo es ruhiger ist.«

Sie stand auf und ging Richtung Abteile, fand ein leeres, betrat es und schloss die Tür hinter sich.

»So, jetzt kann ich reden. Was ist los?«

Da keine Antwort kam, checkte sie am Handy, ob die Verbindung noch stand. »Bist du noch da?«

»Ja, ich bin noch da. Ich überlege, wie ich es sagen soll«, erwiderte JJ.

»Du weißt, du kannst mir immer alles sagen.«

»Ja, Mom, ich weiß.«

»Dann schieß los«, forderte sie ihn auf und schüttelte den Kopf wegen des Ausdrucks. Zum Glück war JJ, obwohl Amerikaner durch und durch, kein Waffennarr.

»Ich habe gekündigt.«

»Okaaaay. Warum? Gab es Ärger an der Schule? Hast du ein besseres Angebot?«

»Weder noch. Ich komme nach Deutschland.«

Hannah war verwirrt. So sehr sie sich über seinen unerwarteten Besuch freute – das war doch kein Grund, seinen Posten als Lehrer aufzugeben!

»Ich glaube, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Ich verlasse die USA und ziehe nach Deutschland.«

»Oh«, war alles, was Hannah herausbrachte. Doch dann ging ihr plötzlich die Tragweite der Aussage auf. »Oh!«

»Ich kann diesen Typen nicht mehr ertragen«, sagte JJ. »Jeden Tag streite ich mit Freunden, mit Nachbarn, mit Kollegen. Ich kann nicht verstehen, wie sie diesen Mann wählen konnten. Noch weniger kann ich verstehen, dass sie ihn – egal, was passiert – auch noch verteidigen. Es macht mich krank. Im wörtlichen Sinn.« Er machte eine Pause, sagte dann leiser: »Ich muss hier weg.«

Hannah wusste nicht, was sie sagen sollte. Seit Trump Präsident war, beobachtete sie die Lage in den USA mit wachsender Sorge. Aber das Land hatte schon so viele schlechte Präsidenten überlebt – es würde auch diesen überstehen. War es ein Grund, das Land zu verlassen?

»Honey, wie du weißt, sitze ich im Zug. Nicht der beste Ort, um das zu diskutieren. Können wir morgen reden? Ich bin bei Klaus, aber das geht in Ordnung. Ich melde mich bei dir, ja?«

»Okay, Mom. Aber meine Entscheidung steht. Ich habe es mir reiflich überlegt.«

»Ich weiß, JJ. Denk dran, ich habe dich erzogen«, sagte sie in der Hoffnung, dem Gespräch eine leichtere Note zu geben. Es schien zu funktionieren, denn JJ lachte.

»Bist du sicher? Lass uns morgen reden, ja? Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.« Hannah schickte einen Kuss über die Leitung.

Sie beendete das Gespräch und schaute nachdenklich aus dem Fenster, in dem sie ihr eigenes Spiegelbild sah.

Sie hatten die Diskussion über Trump schon häufiger geführt. JJ hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich in Amerika nicht mehr wohlfühlte. Sie hatte ihn immer wieder beschworen, nichts zu überstürzen, aber er war keinem ihrer Argumente zugänglich gewesen.

»Nach Europa zu kommen, wäre ein Kulturschock für dich.« – »So viel anders ist Europa nun auch wieder nicht. Vor allem ist es kultivierter.«

»Dann geh wenigstens nach Kanada, das ist ein ähnlicher Kulturkreis.« – »Ich kenne viele Leute in Europa, aber niemanden in Kanada.«

»Womit willst du hier dein Geld verdienen?« – »Ich dachte, Lehrer sind bei euch Mangelware?«

Er hatte es sich gut überlegt. Im Gegensatz zu ihr war er kein Freund von spontanen Entscheidungen, lieber schlief er noch eine zusätzliche Nacht drüber.

Ich sollte Marilyn anrufen und fragen, was sie davon hält.

Hannah verließ das Abteil und ging zurück zu ihrem Platz. Überrascht stellte sie fest, dass Mutter und Tochter verschwunden waren. Sie schaute auf ihre Uhr, es war kurz nach neun. Sie hatte Würzburg verpasst. Ein Blick nach oben zeigte ihr, dass ihre Reisetasche noch da war.

Noch eine Stunde bis Frankfurt. Sie löste die Kopfhörer vom Handy, rollte sie zusammen und verstaute sie in ihrer Handtasche. Lustlos blätterte sie in der Bahnzeitung, aber kein Artikel konnte ihr Interesse länger als eine Minute binden. Sie stopfte die Zeitschrift zurück in die Tasche an der Rückenlehne des Vordersitzes und griff nach ihrem Handy.

Sie hatte zwanzig neue Mails, darunter eine Anfrage für eine geschlossene Gesellschaft und mehrere Angebote von diversen Händlern, die sich bei ihr vorstellen wollten. Kurz dachte sie daran, die Mails zu bearbeiten, verwarf den Gedanken dann jedoch. Sie war nicht in der Stimmung, freundliche Antworten zu schreiben. Klaus würde sicher am Wochenende etwas zu arbeiten haben, dann könnte sie sich darum kümmern.

Sie öffnete ein Spiel und daddelte vor sich hin, bis der Schaffner Frankfurt als nächsten Halt ankündigte.

Fünfzehn Minuten später stand sie vor Klaus‘ Haus, zögerte aber zu klingeln.

Nun lass dir mal nicht von JJ das Wochenende vermiesen, dachte sie und drückte energisch den Knopf.

Klaus stand in der Tür, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte Hannah das Gefühl, er wolle sie nicht in die Wohnung lassen. Doch dann lächelte er, trat zur Seite und sagte: »Schön, dass du da bist.«

* * *

Hannah erwachte von einem Sonnenstrahl auf ihrem Gesicht. Sie drehte den Kopf, um nicht geblendet zu werden, und öffnete langsam die Augen. Das Bett neben ihr war leer.

Sie angelte nach ihrer Uhr, es war bereits halb zehn vorbei.

Verdammt, sie hatte verschlafen!

»Klaus?« Keine Antwort.

»Klaus?« Sie lauschte, hörte aber nur das Rauschen der Bäume vor dem Fenster.

Hannah streckte sich, schaute ein paar Minuten den über den Himmel jagenden Wolken zu, stand schließlich auf. Ein Rundgang durch die Wohnung bestätigte, dass Klaus nicht da war.

Auf dem Küchentisch fand sie neben ihrem Frühstücksgedeck einen Zettel.

Liebe Hannah, bitte entschuldige, ich musste weg. Es gibt Probleme mit einem Buch. Ich ruf Dich später an. XXX Klaus

Und das hat keine Zeit bis Montag?, schoss es Hannah durch den Kopf.

Du bist ungerecht. Anstatt froh zu sein, dass Klaus seinen Job ernst nimmt.

Ja, ja, ja.

Sie prüfte die Temperatur des Kaffees, schüttete ihn weg und setzte neuen auf. Während er durch die Maschine lief, ging sie ins Bad und duschte.

Dieses Wochenende lief irgendwie anders als die vorherigen. Okay, inzwischen fielen sie bei ihrem Eintreffen nicht mehr übereinander her wie ausgehungerte Teenager, sondern aßen zuerst zivilisiert zu Abend, tranken ein gepflegtes Glas Wein und hatten dann Sex. Aber immerhin hatten sie bisher immer Sex gehabt.

Nicht jedoch letzte Nacht. Klaus hatte etwas von Ärger und Problemen im Verlag erwähnt und gefragt, ob es okay sei, nur zu kuscheln.

Hannah war es zunächst recht gewesen, ihr ging das Telefonat mit JJ nicht aus dem Kopf. Doch als sie am frühen Morgen versuchte, Klaus zu verführen, hatte er sich nur brummend auf die andere Seite gedreht.

Und jetzt war er weg.

Dramaqueen! Er ist im Verlag! Wenn es im Café Probleme gäbe, wärst du auch weg.

Hannah seufzte. Sie war mal wieder viel zu streng.

Sie zog sich an, frühstückte und blätterte in der Zeitung, die Klaus ihr dagelassen hatte. Zweimal war sie nahe dran, ihn anzurufen, legte aber immer wieder auf. Er würde sich melden.

Tatsächlich rief er erst kurz vor Mittag an.

»Tut mir leid, ich bin bisher nicht dazu gekommen«, sagte er und klang zerknirscht. »Ich fürchte, es dauert den ganzen Tag. Es gibt da diese Autorin, sie ist furchtbar kompliziert. Das Buch ist angekündigt, aber sie will uns das Gut zum Druck nicht geben.« Er redete minutenlang über die Frau und ihr Buch; Hannah schaltete auf Durchzug.

Schließlich schlug sie vor, für den Abend etwas Leckeres zu kochen, doch Klaus bestand darauf, sie als Entschädigung auszuführen.

»Wolltest du nicht schon lange mal ins Städel gehen? Die aktuelle Ausstellung könnte dich interessieren. Es geht um den Kampf der Geschlechter. Unter anderem zeigen sie Bilder von Frida Kahlo. Die magst du doch.«

Nach dem Telefonat hatte Hannah das Gefühl, Klaus wolle sie beschäftigen, damit sie nicht auf dumme Gedanken käme. Nur – welche Gedanken hätten das sein sollen? Dass er sich seltsam benahm? Jeder hatte das Recht auf komische Tage, auch wenn die dann ausgerechnet auf das Wochenende fielen.

Um sich abzulenken, öffnete Hannah ihren Laptop und bearbeitete ihre Mails. Nach einer guten Stunde fühlte sie sich besser und beschloss, Klaus‘ Vorschlag zu befolgen.

Sie fuhr in die Stadt, gönnte sich am Römer einen Imbiss und lief auf der anderen Seite des Mains entlang zum Museum. Die Ausstellung war interessant, doch Hannah fand keinen rechten Zugang dazu. Zu viel ging ihr im Kopf herum.

Sie verließ das Museum und fuhr mit dem Taxi zurück zur Wohnung. Klaus hatte ihr den Zweitschlüssel gezeigt, für Notfälle. Als sie durch die leeren Räume lief, konnte Hannah nur mit Mühe ein Gefühl der Panik unterdrücken.

Was war nur los mit ihr?

Um sich zu beruhigen, beschloss sie, Marilyn anzurufen. Ihre ehemalige Nachbarin in Queens würde sie aufmuntern.

Schon der Bass in Marilyns Stimme versetzte Hannah in bessere Laune.

»Hi Marilyn, hier ist Hannah.«

»Oh, Hannah! Welche Freude! Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut«, sagte Hannah und fand, dass es sogar stimmte. Es ging eben nichts über gute Freunde!

Sie redeten eine Zeitlang über alte Bekannte, die Wohnungssituation in Deutschland und den USA und natürlich über Trump. Das brachte die Rede unweigerlich auf JJ.

»Kannst du es ihm nicht ausreden?«, fragte Hannah. »Dass er auf mich nicht hört, ist ja bekannt. Aber deinem Rat müsste er doch folgen, oder?«

»Ich fürchte, der Junge ist uns inzwischen entwachsen. Er macht sich viele Gedanken, zu viele, wenn du mich fragst.« Marilyn schwieg einen Moment, fuhr dann fort: »Er wollte es dir nicht sagen, aber ich finde es nicht richtig, dir das zu verschweigen.«

Hannah war alarmiert.

»Was ist los?«

»Er hat seit Monaten Probleme mit dem Magen, inzwischen wissen wir, dass es ein Magengeschwür ist. Wir dachten zuerst, es ist der Stress an der Schule. Du weißt ja, wie manche Schüler sein können. Eine Gruppe Halbwüchsiger hatte es eine Zeitlang auf ihn abgesehen. Aber die Direktorin hat zu ihm gestanden und das Problem gelöst.«

Hannah fühlte einen Stich, weil es sich anhörte, als gehöre JJ zu Marilyns Familie.

Natürlich gehört er dazu! Das war der Deal, erinnerst du dich? Du bist nach Europa, JJ blieb in New York, unter der Obhut von Marilyn. Sie ist seine Ersatzmutter.

»Und dann?«

»Die Schmerzen blieben und er hat Gewicht verloren. Ich konnte ihn endlich dazu überreden, zum Arzt zu gehen. Es gab eine Reihe an Untersuchungen, schließlich haben sie das Geschwür diagnostiziert.«

»Muss er operiert werden?«

»Nein, angeblich geht es mit Schonkost, Ruhe und einem Protonenpumpenhemmer weg.«

»Aber er findet keine Ruhe«, schlussfolgerte Hannah.

»Richtig«, bestätigte Marilyn. »Die Zeiten werden nicht besser. Und JJ ist weiß.«

»Ich weiß, man liest es ständig, dass Schwarze es noch schwerer haben als sonst. Ich wünschte, wir Europäer könnten etwas tun.«

»Ihr tut doch was«, versicherte Marilyn ihr. »Ihr nehmt den Mann nicht ernst.«

»Hm, ich weiß nicht. Es gibt schon ein paar, die ihn gar hofieren. Aber lass uns nicht unsere Zeit mit Politik verschwenden. Du findest also, JJ macht das Richtige?«

Marilyn zögerte, sagte dann leise: »Glaub mir, ich habe alles versucht. Wir haben oft nächtelang diskutiert, aber er kam immer wieder auf die eine Antwort: Er muss weg aus den USA. Vielleicht ist es einfach Zeit für einen Wechsel. Er kann jederzeit wieder zurückkommen.«

Hannah schwieg. Obwohl die Entfernung zu ihrem Sohn zu groß war, um ihn regelmäßig zu sehen, hatte sie nie daran gezweifelt, dass er in Amerika bleiben würde. Er würde eine Frau finden, heiraten und Kinder bekommen. Er würde Karriere machen. The American Way of Life.

»Würdest du derzeit hier leben wollen?«, drang Marilyns Stimme an ihr Ohr.

»Nein, ganz ehrlich. Nein«, erwiderte Hannah. Dann sagte sie: »Ich hätte ihn damals nicht allein lassen sollen.« Als ihr aufging, wie das bei der Freundin ankommen könnte, fügte sie schnell hinzu: »Ich will damit nicht dir die Schuld in die Schuhe schieben.«

Marilyn lachte. »So habe ich das auch nicht verstanden. Hannah, dein Sohn ist über dreißig, er darf und muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Und er muss selbst erkennen, wenn sie falsch waren. Wir können ihn nicht ewig beschützen.«

»Du hast ja recht. Und natürlich weiß ich das. Ich fürchte, mein Problem ist, dass ich JJ immer noch als den Teenager sehe, den ich in New York zurückgelassen habe.«

»Dann wird es Zeit, dass du endlich den erwachsenen JJ kennenlernst.«

»Habe ich dir jemals dafür gedankt, dass du JJ in deine Familie aufgenommen hast?«

»Ja, ungefähr zehn Millionen Mal. Und ich habe dir mindestens ebenso häufig geantwortet, dass es mir eine große Freude war. Dein Sohn ist ein ganz besonderer Mensch.« Sie lachte laut und sagte: »Das klingt schrecklich, oder? Als ob meine eigenen Kinder keine besonderen Menschen wären.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Hannah. »Und nun kommt das zehnmillionenerste Mal: Danke für alles, Marilyn.«

»Gern geschehen. Pass mir auf unseren Jungen auf, ja?«

Sie redeten noch ein paar Minuten Belangloses, verabschiedeten sich dann.

Hannah fühlte sich nach dem Gespräch mit der New Yorker Freundin gestärkt genug, um ihren Sohn anzurufen.

»Hi Mom«, meldete er sich.

»Hallo JJ. Wie geht es dir?«

»Ganz gut, Mom, ganz gut. Etwas müde, aber das kann an der Jahreszeit liegen.«

»Ich habe gerade mit Marilyn gesprochen.«

»Oh, oh«, machte JJ. »Was hat sie alles verraten?«

»Vor allem, dass du gesundheitliche Problem hast. Wieso hast du mir nichts davon gesagt?«

»Weil du dir nur wieder unnötige Sorgen machst.«

»Unnötige Sorgen? Ich bin deine Mutter. Auch wenn ich nicht immer für dich da war.«

JJ stöhnte. »Fang jetzt bitte nicht mit dieser Leier an. Wir haben das doch schon geklärt. Ich bin dir nicht böse, du hast alles richtig gemacht.«

Nein, habe ich nicht, dachte Hannah, aber sie ließ es auf sich beruhen. Sie wollte JJ keinesfalls einen weiteren Grund für Aufregung bieten. Obwohl sie viele Fragen an ihn hatte, erzählte sie ein paar unverfängliche Dinge aus ihrem Gespräch mit Marilyn.

»Mom? Können wir morgen telefonieren? Es kommen gleich Freunde, die mich abholen, und ich bin noch nicht fertig.«

»Ja, natürlich«, sagte Hannah. »Viel Spaß.«

»Danke Mom. Ich melde mich.«

Enttäuscht drückte Hannah den roten Knopf und legte das Handy beiseite.

Nachdenklich wanderte sie durch Klaus‘ Wohnung, die so verdammt aufgeräumt und spießig wirkte. Die Bücher standen alphabetisch nach Autorennamen geordnet in einer Schrankwand. Überhaupt war sein ehemaliges WG-Zimmer nicht mehr zu erkennen: Statt der Matratze auf dem Boden stand in der Ecke ein Sofa mit einem Couchtisch und zwei Sesseln. Es war gemütlich, keine Frage, aber es war so – deutsch.

Hannah kicherte. Obwohl sie lange nicht so chaotisch war wie Klaus früher, hatte sie das Gefühl, sie hätten die Rollen getauscht. Selbst das Schlafzimmer mit seinem stinknormalen Ehebett strahlte Spießigkeit pur aus.

Wo war der anarchistische Klaus geblieben, in den sie sich vor einigen Jahren verliebt hatte?

Bevor sie darüber nachdenken konnte, wieso sie mit diesem Mann seit über einem Jahr eine Beziehung führte, hörte sie die Wohnungstür.

»Hannah?«

Sie ging in den Gang, um ihn zu begrüßen. Er sah müde und abgekämpft aus.

Wir werden wieder keinen Sex haben.

Du bist egoistisch.

Ja. Warum sonst komme ich nach Frankfurt?

Hannah erschrak über diesen Gedanken. Gab es wirklich nichts außer dem Bett, das sie beide verband? Blödsinn! Es gab jede Menge gute Gespräche, die Liebe für gutes Essen und guten Rotwein … Und was war an einer reinen Bettgeschichte so verkehrt?

Ein bisschen aufwendig, für Sex immer nach Frankfurt fahren zu müssen.

Halt endlich die Klappe!

»Willst du wirklich noch essen gehen?«, fragte sie, um ihre inneren Stimmen zu übertönen.

»Ich hab’s dir versprochen«, erwiderte Klaus und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Du schläfst mir ja schon im Stehen ein.«

»Ja, es war verdammt anstrengend. Es gibt Tage, da hasse ich meinen Job.« Er ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. »Gib mir ein paar Minuten.«

»Gegenvorschlag: Du legst dich ein paar Minuten hin, ich bestelle uns was Leckeres und wir essen hier. Wie klingt das?«

»Verlockend. Und du bist nicht böse?«

»Na hör mal! Ich kann dich doch in dem Zustand nicht ins Restaurant mitnehmen. Du würdest mir am Tisch einschlafen.«

»Gut möglich.« Klaus grinste und unterdrückte ein Gähnen.

»Ab ins Bett mit dir.« Sie zog ihn hoch und ins Schlafzimmer, wo er sich einfach aufs Bett fallen ließ.

»Vietnamesisch, Sushi oder Italienisch?«

»Hm«, brummte Klaus. Er war eingeschlafen. Hannah deckte ihn zu, löschte das Licht, holte die Menükarten und blätterte sie durch. Sie bestellte das Essen für eine Stunde später, stellte eine Flasche Wein kalt, setzte sich vor den Fernseher und zappte sich durch das Programm.

Als das Essen kam, öffnete sie den Wein, deckte den Tisch und ging ins Schlafzimmer, um Klaus zu wecken. Nach drei vergeblichen Versuchen war er zumindest so wach, dass sie mit ihm reden konnte.

»Das Essen ist da.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Komm schon. Steh auf. Du musst wenigstens eine Kleinigkeit essen.«

»Lass mich in Ruhe. Ich will schlafen.« Er drehte sich weg und reagierte nicht mehr.

Hannah ging in die Küche zurück, nahm sich etwas von dem Essen, packte den Rest in den Kühlschrank. Sie hatte Hunger, aber keinen Appetit, zwang sich, die Hälfte zu essen, trank Wein dazu.

Mit Glas und Flasche ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich wieder vor den Fernseher und blieb an einer Schnulze hängen. Nach dem vorhersehbaren Happy End trank sie den letzten Schluck Wein, schaute nach Klaus, der laut schnarchend im Bett lag, nahm ihr Kopfkissen und ihre Decke, machte es sich so gut wie möglich auf dem Sofa gemütlich und starrte in die Luft.

Irgendetwas lief seit gestern Abend verdammt schief.

* * *

»Guten Morgen!«

Hannah knurrte ungnädig und versuchte, dem Ding, das sie am Kinn kitzelte, auszuweichen.

»Na los, du Faulpelz, steh auf.«

Hannah öffnete die Augen und schaute in das lachende Gesicht von Klaus.

»Es ist herrliches Wetter draußen. Wir sollten einen Ausflug machen. Was hältst du von einer Mainrundfahrt?«

Nichts, hab ich schon x-mal gemacht, dachte Hannah. Laut sagte sie: »Lass mich doch erst mal wach werden.«

Sie richtete sich auf und stöhnte, als sich ihr Rücken meldete.

»Wieso hast du denn auf dem Sofa geschlafen?«

»Ich wollte diesen Bericht sehen und mir war kalt. Ich bin dann wohl eingeschlafen«, log Hannah.

Klaus schien nichts Besonderes daran zu finden.

»Das Frühstück ist schon fertig. Ich hol uns noch Brötchen, während du duschst. Und dann unternehmen wir was.« Er beugte sich zu ihr herunter und drückte ihr einen Kuss auf die Haare. »Tut mir übrigens leid wegen gestern Abend. Ich stand wohl ziemlich neben mir.«

Hannah zwang sich zu einem Lachen. »So kann man es auch sagen. Es hat mich ein bisschen an den Klaus von früher erinnert.« Sie schaute ihn schräg von unten an, aber er hatte den Kopf abgewendet, blickte nach draußen. Er gab keinen Kommentar dazu, sagte nur: »Ich geh jetzt mal zum Bäcker.«

Er war schon aus dem Zimmer, als Hannah ihm nachrief: »Klaus?«

»Ja?«

»Ist alles in Ordnung?«

Er erschien im Türrahmen. »Was meinst du?«

»Ich meine, ob alles in Ordnung ist mit uns beiden.«

»Wie kommst du darauf, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte? Nur wegen gestern Abend? Ich habe momentan einfach sehr viel zu tun. Das müsstest du doch am besten verstehen.«

Autsch!

»Ja, natürlich verstehe ich das«, lenkte Hannah ein. »Vermutlich bin ich ein bisschen empfindlich. JJ will nach Deutschland kommen. Für immer.«

Klaus kam zu ihr und setzte sich neben sie.

»Aber das ist doch gut, oder? Dann habt ihr endlich Gelegenheit, euch besser kennenzulernen.«

»Ja. Ich befürchte nur, dass er einen Fehler begeht.«

»Amerika ist nicht mehr der Nabel der Welt, auch wenn sie das immer noch allzu gerne glauben.«

»Wohl wahr.« Hannah versuchte ein Lachen, das nur halb gelang. »Dennoch – ich mache mir Sorgen.«

»Ist doch klar«, sagte Klaus und strich ihr sanft über die Wange. »Er ist dein Sohn.« Er stand auf. »Ich geh jetzt zum Bäcker, okay?«

»Ja, natürlich. Bring mir bitte ein Croissant mit. Und was Vollkorniges.«

»Wird erledigt, Madame.« Klaus deutete eine Verbeugung an.

»Spinner«, rief Hannah ihm hinterher und lachte befreit.

Die Fahrt auf dem Main war wider Erwarten schön. Obwohl es nicht mehr so warm wie am Vortag war, saßen sie auf Deck und erzählten sich gegenseitig aus ihrem Leben. Hannah hatte endlich wieder das Gefühl, sich in einer echten Beziehung zu befinden.

Am Sonntagabend fuhr sie beschwingt nach München zurück, ungestört von Mitreisenden. Sie nahm die U-Bahn nach Hause, holte die Post aus dem Briefkasten, um sie ungeöffnet auf ihren Schreibtisch zu legen, genehmigte sich ein Glas Rotwein und blickte zurück auf das Wochenende.

JJ würde nach Deutschland kommen. Auch wenn sie immer noch dachte, dass es womöglich eine Fehlentscheidung war – es war sein Leben und sie freute sich natürlich darauf, ihn näher bei sich zu haben.

Eine Beziehung konnte auch ohne Sex funktionieren. Und vermutlich war es sogar gut, dass sie mal nicht miteinander geschlafen hatten. Es brachte das Verhältnis zueinander auf eine andere Ebene.

Die Freundschaft mit Marilyn bestand noch immer, trotz der vielen Jahre und Kilometer, die dazwischen lagen. Es war ein gutes Gefühl, dass es irgendwo auf der Welt Menschen gab, die man anrufen konnte, wenn etwas nicht stimmte.

Hannah trank ihr Glas leer, brachte es in die Küche, packte ihre Reisetasche aus und ging zu Bett. Kurz vor dem Einschlafen beschloss sie, sich künftig nicht mehr so viele Sorgen um alles und jeden zu machen.

* * *

Als zwei Tage später Svenja zum Abendessen kam, nutzte sie die Gelegenheit, um sie nach ihrer Meinung zur JJs Umzug zu fragen.

Wie schon Marilyn und Klaus konnte ihre Nichte nur Gutes daran finden.

»Es ist doch schön, wenn ihr näher beisammen seid. So habt ihr Gelegenheit, euch besser kennenzulernen.«

»Hab ich irgendwo schon mal gehört«, brummte Hannah. »Vermutlich habt ihr alle recht.«

Svenja lachte. »Du bist eben die große Kümmerin. Willst immer, dass es allen Menschen um dich herum gut geht.«

»Was ist daran so falsch?«

»Dass du dabei dich vergisst.« Svenja schaute besorgt.

»Aber mir geht es doch gut«, protestierte Hannah. »Das Café läuft, die Beziehung blüht, mein Sohn kommt nach Deutschland – was will ich mehr?«

Svenja zuckte mit den Schultern. »Ich meine nichts Aktuelles. Ich denke da zum Beispiel an die Episode mit dem Feuer im Café.«

»Ach du lieber Himmel! Das ist fast zwei Jahre her.«

»Stimmt.« Svenja beugte sich vor und strich ihr über den Arm. »Ich mach mir einfach Sorgen um dich.«

»Musst du nicht. Es geht mir gut. – Wirklich«, fügte Hannah noch hinzu, weil sie fand, dass es trotzig klang. »Was ist mit dir? Wie geht es dir? Wie läuft es mit Frank?«

Svenja verzog das Gesicht, als habe sie auf eine Zitrone gebissen.

»Offen gestanden, mühsam. Ich fürchte, er ist immer noch ein bisschen beleidigt wegen unserer Aussprache. Dabei ist das Monate her.«

»Warum beendest du das Ganze nicht?«

Svenja seufzte. »Ich denke ständig darüber nach, aber ich tue es nicht. Ich bin zu feige.«

»Du willst einfach nicht allein sein. Ich kann das gut verstehen.«

Svenja schaute sie fragend an. »Ist eine schlechte Beziehung besser als gar keine?«

»Gute Frage. Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.« Hannah dachte an ihre Gefühle vom Wochenende. Normalerweise hörte sie auf ihren Bauch, und der sagte, dass etwas faul war. Sie schob den Gedanken an Klaus von sich.

»Ich hatte schon einige Beziehungen in meinem Leben«, sagte sie und lachte. »Oft waren es nur Bettgeschichten; die beendet man naturgemäß leichter als die, bei denen auch Gefühle mitschwingen.« Hannah wurde ernst. »Lass dir Zeit. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo du sagst: Hopp oder Topp.«

Ihre Nichte schüttelte den Kopf. »Der Punkt ist erreicht. Ich würde lieber gestern als heute Hopp sagen.«

»Aber?«

»Wie du schon sagst: Ich habe Angst vor dem Alleinsein.«

Svenja hatte den Blick gesenkt, als schäme sie sich.

Hannah hatte ihre Nichte in den letzten Wochen genauer beobachtet. Sie hatte dunkle Augenringe, war dünner geworden und gereizt und nervös.

»Das ist nicht der einzige Grund, oder?«

Als Svenja den Kopf hob, schimmerten Tränen in ihren Augen.

Alarmiert griff Hannah nach ihrer Hand.

»Was ist los?«

»Es ist nur, dass ich glaube, den richtigen Mann gefunden zu haben. Aber er ist nicht frei.«

Hannah wusste, dass sie Ben meinte. Natürlich hatte sie die Blicke bemerkt, die ihre Nichte ihm zugeworfen hatte.

»Hab Geduld«, sagte sie leise. »Ich glaube nicht, dass es von Dauer sein wird.«

Svenja schaute sie erschrocken an. »Woher weißt du?«

Hannah lachte. »Wie du schon sagtest – ich bin die große Kümmerin. Und Kümmerinnen sehen alles. Das liegt in ihrer Natur.«

Immerhin lächelte Svenja. Hannah strich ihr über die Wange.

»Liebe braucht manchmal mehrere Anläufe. Wenn er nicht ganz dumm ist, wird er sich für dich entscheiden.«

»Ich hoffe, du hast recht«, sagte Svenja.

Ich auch!

Hannah sprang auf, ging zur Bar, holte zwei große Cognac-Schwenker und eine Flasche heraus und ging zurück zum Tisch.

»Ich glaube, das haben wir jetzt nötig«, sagte sie und schenkte ein. Ein Glas schob sie Svenja zu, das andere hielt sie hoch.

»Auf die Liebe.«

Svenja lächelte gequält, murmelte aber: »Auf die Liebe« und stieß mit Hannah an.

»Du wirst sehen, es wird alles gut«, sagte Hannah und fragte sich, wen sie damit aufzumuntern versuchte.

Als Svenja gegangen war, räumte sie die Küche auf und setzte sich an den Schreibtisch, um noch einen Blick auf die drei Bewerbungen zu werfen, die im Laufe des Nachmittags per Mail gekommen waren.

Sie brauchte dringend Ersatz für Gina und hatte deshalb am Montag in diversen Online-Foren eine Anzeige geschaltet. Das Café lief inzwischen so gut, dass sie sich neben Edi eine zweite Angestellte leisten konnte.

Oder einen Angestellten.

Hannah kicherte und wartete, dass der Computer hochfuhr. Ihr Blick fiel auf ein Häufchen Briefe, das ungeöffnet dalag. Stirnrunzelnd nahm sie den Packen und sah ihn durch. Die Werbung landete im Müll, drei Umschläge blieben übrig. Zwei davon waren Rechnungen, die sie stempelte, die dritte ein mehrseitiges Schreiben von einem ihr unbekannten Absender.

Da der PC inzwischen bereit war, legte sie den Brief beiseite und öffnete das Mailprogramm.

Das erste Anschreiben strotzte vor Rechtschreibfehlern. Hannah suchte nach dem Namen, um zu sehen, ob es sich womöglich um jemanden mit Migrationshintergrund handelte. Der Name klang deutsch, das Gesicht sah deutsch aus, im Lebenslauf stand eindeutig deutsch.

Wer brachte nur den Schülern ihre Muttersprache bei?

Vielleicht war es gar nicht so verkehrt, wenn JJ nach Deutschland kam. Obwohl – sein Deutsch war auch nicht gerade perfekt. Aber er könnte Englisch unterrichten.

Vielleicht solltest du das ihm überlassen, große Kümmerin.

Hannah öffnete die zweite Bewerbung und fand sie so vielversprechend, dass sie die junge Frau zu einem Gespräch einlud.

Auch der dritte Bewerber bekam eine Chance; die erste Mail hingegen löschte sie. Vielleicht war es dem Bewerber gegenüber unfair, aber sie hatte genug um die Ohren und brauchte keinen Mitarbeiter, dem sie erst einmal anständiges Deutsch beibringen müsste.

Während sie die restlichen Mails bearbeitete, vibrierte ihr Handy, das sie wegen Svenjas Besuch auf Meeting gestellt hatte.

»Jensen?«

»Hallo Frau Jensen, hier ist Alexandra Steiner. Ich wollte einen Termin mit Ihnen vereinbaren.«

Hannah war verwirrt. Wer war Alexandra Steiner?

»Sie hatten mir eine Mail geschickt? Wegen des Bewerbungsgesprächs?«, meldete sich die junge Frau.

»Ach so, ja, natürlich«, rief Hannah und suchte hektisch nach der entsprechenden Mail. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich war gerade abgelenkt.«

»Kein Problem. Es ist schon etwas spät, aber ich dachte, ich ruf gleich mal an.«

Hannah gefiel, was sie hörte. Die Stimme klang selbstsicher und sympathisch. Außerdem schien die Bewerberin keine Berührungsängste zu haben, was ganz sicher ein Vorteil bei dem Job war.

»Wann hätten Sie Zeit? Ich bin den ganzen Tag im Café erreichbar, bin also flexibel.«

»Wie wäre es mit morgen Früh? Ich könnte auch gleich ein wenig mithelfen, damit Sie sehen, wie ich arbeite.«

Hannah war beeindruckt von so viel Professionalität.

»Wenn Sie gegen halb elf kommen, ist der erste große Ansturm vorüber. Dann kann ich mich voll und ganz auf Sie konzentrieren.«

»Sehr schön. Ich bin um halb elf bei Ihnen«, sagte Frau Steiner und wünschte einen schönen Abend.

Hannah las die Mail und die Bewerbungsunterlagen noch einmal etwas sorgfältiger durch. Es bestärkte ihren Eindruck vom Telefonat. Zufrieden fuhr sie den Computer herunter, löschte das Licht in dem kleinen Büro und machte sich bettfertig.

Sie versuchte wie üblich, ein paar Seiten zu lesen, aber in ihrem Kopf schwirrten wieder viel zu viele Gedanken herum.

Es war wirklich Ironie des Schicksals, dass Svenja sich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt für Ben entschied, als der endlich loslassen konnte. Monatelang hatte er gelitten, weil Svenja in ihm nie mehr als einen Kumpel sah. Eines Morgens war er in Begleitung im Café aufgetaucht und hatte die junge Frau dann häufiger mitgebracht. Hannah hatte nicht den Eindruck, dass es die große Liebe war, aber Ben war sichtlich aufgeblüht. Sie gönnte es ihm von Herzen.

Dass nun Svenja diejenige war, die litt, gefiel ihr natürlich nicht, aber sie konnte es auch nicht ändern. Sie würde sich jedenfalls nicht in die Angelegenheiten der Beiden einmischen. Sie vertraute darauf, dass letzten Endes die Liebe gewann.

Sieht man ja bei Klaus.

Sie wollte nicht über Klaus nachdenken, gestand sich aber ein, dass es wohl nicht Liebe war, was sie beide verband. Eher die Erinnerung an die alten Zeiten und vermutlich auch Gewohnheit.

Ich werde alt.

Sie zwang sich, an das kurze Telefonat mit der Bewerberin zu denken. Dass sie einen ähnlichen Nachnamen hatte wie Gina, betrachtete sie als gutes Omen. Natürlich hing auch viel vom Erscheinungsbild ab, aber Hannah hatte ein sehr gutes Gefühl.

Sie klappte das Buch ungelesen zu, legte es auf den Nachttisch und knipste die Lampe aus.

Der Brief des unbekannten Absenders fiel ihr ein.

»Morgen ist auch noch ein Tag«, murmelte sie und schlief ein.

* * *

Am nächsten Morgen wurde sie unsanft vom Klingeln ihres Festnetzapparates geweckt.

Mit halb geöffneten Augen tappte sie ins Büro, hob ab und meldete sich mit einem verschlafenen »Ja?«

»Wo steckst du denn? Ich bin ganz allein, dieser Mick oder Mike hat sich krankgemeldet. Und hier ist die Hölle los.«

Hannah war schlagartig wach. Der Vorwurf in Edis Stimme war nicht zu überhören.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

»Acht Uhr vierundfünfzig«, tönte es aus dem Telefon. Ein Blick auf die Wanduhr bestätigte das.

Mist, sie hatte verschlafen. Was war mit ihrem Wecker los?

»Bist du krank?« Nun klang Edi besorgt.

»Nein, nein. Mein Wecker hat nicht geklingelt. Gib mir fünf Minuten.«

»Mach zehn draus. Dann bist du wenigstens vorzeigbar«, gluckste Edi und legte auf.

Hannah ging ins Schlafzimmer zurück und überprüfte den Wecker. Er blinkte, was bedeutete, dass es einen Stromausfall gegeben hatte. Sie stellte die Weckzeit neu ein, nahm eine kalte Dusche, putzte ihre Zähne und zog sich an. Wenigstens war der Weg zu ihrem Arbeitsplatz nicht weit.

Acht Minuten nach Edis Anruf stand sie hinter der Theke und bediente die ersten Gäste.

Pünktlich um halb elf betrat eine junge Frau das Café. Hannah wusste sofort, dass es sich um die Bewerberin handelte, und sie wusste sofort, dass sie sie engagieren würde. Sie war in etwa so groß wie sie, nur schlanker, die dunklen Haare waren locker hochgesteckt. Ihr Make-up war dezent und auf die dunkelblaue Hose und die helle Bluse abgestimmt, die sie unter einem langen, grauen Wollmantel trug. Alles in allem war sie eine ausgesprochen angenehme Erscheinung.

Sie schaute sich mit wachem Blick um, ohne neugierig zu wirken.

»Frau Jensen?«

»Ja. Und Sie sind Alexandra Steiner.« Hannah trocknete sich die Hände und reichte der Frau ihre Rechte. Auch der Schmuck war dezent, die Finger ringlos.

»Lassen Sie uns den Tisch hinten im Eck nehmen, dort stört uns niemand.« Sie wandte sich an Edi, die gerade mit einem Tablett vorbeikam: »Das ist Frau Steiner, eine Bewerberin.«

»Hallo«, sagte Edi. »Entschuldigung, hab grad die Hände voll.«

»Kein Problem, wir können uns später noch begrüßen.«

Hannah führte die junge Frau zum Ecktisch und holte eine Flasche Wasser und zwei Gläser. »Möchten Sie einen Kaffee oder etwas zu essen?«

Alexandra Steiner lachte ein dunkles Lachen, das Hannah gefiel. »Ich bin doch nicht zum Vergnügen hier«, sagte sie. »Obwohl – wenn ich mich so umschaue, dürfte es durchaus ein Vergnügen sein, hier zu arbeiten.«

Was bei anderen Menschen wie billige Effekthascherei geklungen hätte, wirkte bei ihr völlig natürlich. Hannah war entzückt. Dennoch stellte sie die obligatorischen Fragen, die Frau Steiner zu ihrer vollsten Zufriedenheit beantwortete.

»Jetzt ist gerade etwas Luft.« Edi stand am Tisch und streckte die rechte Hand aus, um die Bewerberin zu begrüßen. Hannah nutzte die Gelegenheit, die beiden sich ein wenig beschnuppern zu lassen. Edi war zu wichtig für das Café, als dass sie diese Entscheidung allein treffen würde.

»Setz dich ruhig«, sagte sie. »Ich übernehme für ein paar Minuten.«

Wie üblich waren um diese Zeit kaum Gäste da. Hannah räumte die Spülmaschine aus und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln heraus den Tisch im Eck. Die beiden waren bereits in ein angeregtes Gespräch vertieft. Hannah nickte zufrieden. Drei Bewerbungen und darunter ein Volltreffer? Wenn das kein Glück war.

Edi kam nach einigen Minuten zu ihr, strahlte übers ganze Gesicht und flüsterte: »Die oder keine.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Hannah, konnte sich aber ein Grinsen nicht ganz verkneifen. »Okay, natürlich die oder keine. War mir schon gestern Abend klar, als sie anrief. Ich frage mich, wo der Haken ist.«

»Nicht alles was gut ist, muss einen Haken haben.«

»Du hast natürlich recht«, stimmte Hannah zu. »Ich kann es nur nicht glauben, dass wir so einen Schatz gefunden haben. Ich lasse sie über Mittag ein paar Stunden probearbeiten, aber ich denke, wir sind uns einig, oder?«

Edi nickte.

Hannah ging zu Frau Steiner zurück. »Wir sind sehr angetan von Ihnen«, sagte sie. »Wo ist Ihr Haken?« Sie lachte, um die Frage abzuschwächen.

Alexandra Steiner lachte ebenfalls. »Ich hoffe, ich habe keinen. Und wenn doch, sagen Sie es mir, okay?«

»So machen wir das.« Hannah schaute auf die Uhr. »Es ist jetzt kurz nach elf. Um halb zwölf geht der Trubel wieder los mit den ersten Mittagsgästen. Unser Student, der stundenweise aushilft, hat sich krankgemeldet. Sie können also gleich loslegen, wenn Sie Zeit und Lust haben.«

»Ich habe beides. Haben Sie eine Schürze für mich?«

»Fragen Sie Edi. Übrigens sind wir hier per Du. Ich bin Hannah.«

»Alex, freut mich.« Frau Steiner gab Hannah die Hand. »Sie …, du wirst es nicht bereuen.«

»Frag Edi wegen der Schürze. Edi kommt übrigens von Edeltraut, aber so heißt sie schon länger nicht mehr.«

Alex wandte sich um und beobachtete Edi einen Moment lang. »Passt auch viel besser zu ihr.«

»Finde ich auch. Den Papierkram machen wir in den nächsten Tagen, ja?«

Alex nickte.

»Schön. Ich bin oben in meiner Wohnung. Wenn der Ansturm kommt, ruft ihr mich. Viel Spaß.«

Hannah winkte Edi, die einen Gast bediente, zu und signalisierte ihr, dass sie nach oben ging.

In der Wohnung angekommen, startete sie den PC und räumte, während er hochfuhr, die Wohnung auf und machte ihr Bett. Sie überlegte, ob sie dem zweiten Bewerber absagen sollte, entschied sich dagegen. Es konnte nie schaden, ein zweites Eisen im Feuer zu haben. Ihr Blick fiel erneut auf den ominösen Brief. Sie zog ihn zu sich und begann zu lesen.

München, 2. März 2017

Betreff: Erwerb der Anwesen Blumengasse 6 und 8

Sehr geehrte Frau Jensen,

mit diesem Schreiben teilen wir Ihnen mit, dass die Firma IHB die o. g. Anwesen mit Vertrag vom 1. März 2017 von Herrn Reinhard Pilgrim erworben haben. Die Eintragung im Grundbuch wird in Kürze erfolgen. Da uns die Nutzungen der Wohnung, und damit auch die Mieterträge bereits ab dem Zeitpunkt der Übergabe der Wohnungen zustehen, hat uns Herr Pilgrim ermächtigt und uns Vollmacht erteilt, sämtliche Ansprüche und Rechte aus dem Mietverhältnis bereits ab der Übergabe der Wohnung an uns geltend zu machen (s. Anhang).

Wir fordern Sie deshalb auf, die Miete ab dem 1. April 2017 an uns zu zahlen. Unsere Bankverbindungen finden Sie im Briefkopf.

Für Rückfragen steht Ihnen Herr Robert Gantner unter der im Briefkopf genannten Telefonnummer zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Unterschrieben war der Brief mit zwei unleserlichen Kringeln, die Namen darunter waren Hannah vollkommen fremd, ebenso der Name der Firma.

Auf einem zweiten Blatt befand sich die Bestätigung des bisherigen Vermieters, dass er die beiden Anwesen veräußert hatte.

Das dritte Blatt war vermutlich irgendein Vordruck, auf dem sie dem Vertrag zustimmen musste.

Doch die Seite sah eher aus wie ein offizielles Schreiben. Hannah warf nur einen schnellen Blick darauf, weil der Computer gerade mit einem Pling signalisierte, dass eine Mail gekommen war. Als ihr das Wort Kündigung in die Augen sprang, las sie den Brief genauer durch.

Sehr geehrte Frau Jensen,

zu unserem Bedauern gehen unsere Vorstellungen bzgl. der Ladengeschäfte in den Anwesen Blumengasse 6 und 8 in eine andere als die bisherige Richtung. Deshalb sehen wir uns gezwungen, den Pachtvertrag vom 15. Mai 2015 für das Ladengeschäft in der Blumengasse 8 fristgemäß zum 30. September 2017 zu kündigen.

Da wir uns bewusst sind, welchen Verlust Ihnen das verursacht, möchten wir Ihnen gerne entgegenkommen und Ihnen aus unserem reichhaltigen Angebot an Immobilien ein passendes Ladengeschäft anbieten. Wir sind sicher, dass wir hier zu einer für beide Seiten guten Einigung kommen werden.

Als Kontakt war wieder Robert Gantner angegeben, unterschrieben hatte hier nur ein Dr. Hagen Bluhm, seines Zeichens Geschäftsführer.

Hannah ließ den Brief sinken. In ihrem Kopf überschlug sich alles: Ich brauche einen Anwalt. Das ist eine Kündigung! Ich will keinen neuen Laden! Ich verliere all meine Freunde in der Blumengasse! Was passiert mit Edi? Ausgerechnet jetzt, wo ich Alex gefunden habe!

Ihr Handy summte. Irritiert schaute Hannah darauf, sah, dass es die Nummer vom Café war.

»Kannst du runterkommen? Heute ist die Hölle los«, ertönte Edis Stimme, als sie sich meldete.

»Ja, ich komme gleich«, erwiderte Hannah wie in Trance und legte auf. Sie warf einen letzten Blick auf das Kündigungsschreiben. Ende September – das waren noch mehr als sechs Monate.

Sie legte den Brief neben den Laptop, klappte diesen zu, atmete zweimal tief durch und ging hinunter ins Café. Keinesfalls durfte sie sich etwas anmerken lassen. Für Edeltraut käme es einer Katastrophe gleich.

Während sie Getränke herrichtete, die Kaffeemaschine bediente und Sandwiches auf Teller drapierte, beobachtete sie Alex. Die junge Frau machte einen guten Job.

Ich muss ihr reinen Wein einschenken, dachte Hannah.

Als ganz gegen seine Gewohnheiten Hubertus von Waldhausen im Café erschien, fiel Hannah ein, dass ja auch die Hausbewohner betroffen waren.

»Ich bring das schnell selbst an den Tisch«, rief sie Edi zu, nahm das Tablett mit den Getränken und eilte Richtung Eingang.

»Vorerst kein Wort zu niemandem«, sagte sie zu dem Maler, der sie verdutzt anschaute.

»Hast du keinen Brief bekommen?«

»Welchen Brief?«

»Von den neuen Hausbesitzern.«