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Auch wenn Hannah gerade nicht weiß, ob sie noch eine Beziehung mit Andy hat, beginnt sie das Jahr 2020 positiv gestimmt. Das Café ist beliebt und läuft bestens. Doch dann taucht ein Virus auf und bringt die Welt vollkommen durcheinander. Alle Läden müssen schließen, die Menschen Abstand halten. Hannahs Freunde in der Blumengasse halten auch diesmal zusammen und gründen einen Lieferservice. Während Hannah um Andy kämpft, drohen auch andere Beziehungen zu zerbrechen. Und immer wieder lernen die Beteiligten: Miteinander reden kann durchaus nützlich sein!
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Seitenzahl: 401
Alle Bände der Café Hannah Reihe:
1 - Alles auf Anfang
2 - Überraschungen
3 - Rettet das Café!
4 - Vertraut anders
5 - Wir müssen reden
6 - Familienbande
7 - Mann Mann Mann!
Marilyn - Kurzroman
Brigid - Kurzroman
Cover: Christine Spindler, Foto © zukamilov, stock.adobe.com
Charakterskizzen: Karin Schliehe. Illustration Tasse: Karl-Heinz-Gutmann (charlygutmann/Pixabay). Foto Ann E. Hacker: Thomas Endl
Lektorat: Christine Spindler
Zweite Auflage, München 2024
ISBN 978-3-949181-09-2
© Feather & Owl
Ute Hacker, Adamstr. 1, 80636 München
Alle Rechte vorbehalten
Auch wenn Hannah gerade nicht weiß, ob sie noch eine Beziehung mit Andy hat, beginnt sie das Jahr 2020 positiv gestimmt. Das Café ist beliebt und läuft bestens. Doch dann taucht ein Virus auf und bringt die Welt vollkommen durcheinander. Alle Läden müssen schließen, die Menschen Abstand halten. Hannahs Freunde in der Blumengasse halten auch diesmal zusammen und gründen einen Lieferservice.
Während Hannah um Andy kämpft, drohen auch andere Beziehungen zu zerbrechen. Und immer wieder lernen die Beteiligten: Miteinander reden kann durchaus nützlich sein!
Über dieses Buch
1 – Ist Schweigen Gold?
2 – Ein neuer Mann (Kassandra »Kassie« Kleiber)
3 – Irgendwie geht es weiter (Edeltraut »Edi« Mayerhofer)
4 – Alte Herzen, junge Liebe (Ilse-Marie »Illy« Rohstetter)
5 – Verlobt, verliebt (Jonathan »JJ« Jensen)
6 – Zweifel (Svenja Wahls)
7 – Kämpf um sie! (Ben Häusgen)
8 – Ich kann das! (Susanne Gantner)
9 – Theo (Alexandra »Alex« Steiner)
10 – Zwei starke Frauen (Andy Nowak)
Die Autorin
Reihenübersicht
Hannah stand am Fenster und starrte auf die Blumengasse, wo feiernde und johlende Menschen die letzten Sekunden bis Mitternacht herunterzählten. Aus dem Haus gegenüber drang aus den weit geöffneten Fenstern im zweiten Stock Tanzmusik, die sich mit lautem Gelächter und schrägem Gesang vermischte.
Hannah hatte ihren Fernseher eingeschaltet, die Lautstärke aber so weit heruntergedimmt, dass sie gerade noch hören konnte, wie die Moderatoren die Menschen vor dem Brandenburger Tor zum Zählen aufforderten.
Noch zwei Minuten, dann war 2019 Geschichte. Ob mit 2020 nun ein neues Jahrzehnt begann oder nicht, war ihr herzlich egal. Hauptsache, das alte Jahr endete.
Es war ihr persönliches annus horribilis gewesen. Der Krebstod ihres Exmannes, die permanenten Streitereien mit Andy, die dazu führten, dass er sich für einige Wochen nach Irland zurückzog, um »mir über meine Zukunft klar zu werden«, wie er es ausgedrückt hatte. Seine Zukunft war auch ihre Zukunft. Entschied er sich gegen sie, war sie allein. Der Gedanke machte ihr zum ersten Mal im Leben Angst.
»Happy New Year« riefen die Menschen auf der Straße und im Fernseher.
»Willkommen 2020.« Hannah hob ihr Sektglas, stieß es leicht gegen das Fenster und trank einen Schluck.
Draußen hatte jemand begonnen, ganze Batterien von Silvesterraketen abzufeuern. Sie vermutete, dass Bassam den Gästen seines Restaurants Litani etwas bieten wollte. Natürlich hätte sie mitfeiern können, aber sie hatte ausnahmslos alle Einladungen abgelehnt. Sie wollte diese Nacht einen klaren Schnitt machen und endgültig mit dem alten Jahr abschließen.
Es hatte sie selbst überrascht, wie sehr sie Johanns Tod getroffen hatte. In den letzten Wochen vor seinem Ableben waren sie sich nähergekommen; dreißig Jahre Trennung waren auf ein Minimum geschrumpft. Was natürlich Blödsinn war. Sie hatte sich in all den Jahren weiterentwickelt, war in die USA gegangen, hatte studiert und Karriere gemacht. Sie hatte JJ großgezogen, Freunde gefunden und neue Liebhaber.
Hannah gönnte sich eine Minute Gedenken an Josh, den geliebten Mann aus New Yorker Tagen, während draußen der Lärm immer lauter und die Sicht immer schlechter wurde.
Im letzten Mai hatte sie sich in einem kleinen Ritual endgültig von Josh verabschiedet, um in ihrem Herzen endlich Platz für Andy zu haben. Andy, die treue Seele, dessen Herz an seiner Liebe zu ihr zu zerbrechen drohte.
Lange hatte sie ihn nicht ernstgenommen, seine Anwesenheit und selbstverständliche Unterstützung als gegeben hingenommen.
Selbst schuld, wenn er denkt, er liebt mich! Der kurze Vorfall im Café, als er mit seiner schrecklichen Schwester und Jill aufgetaucht war, hatte ihr endlich die Augen geöffnet.
Die schöne, elegante Jill und der immer etwas zu salopp wirkende Andy – rein äußerlich passten sie nicht zusammen. Aber sie hatte sofort die Verbindung zwischen den beiden gesehen. Warum hatte Jill diesen Mann vor dem Altar stehen lassen?
Und im Hintergrund die kleine, dicke Schwester, der das Polnische auch nach mehr als dreißig Jahren in Irland aus jeder Pore troff. Nie würde Hannah ihren triumphierenden Blick vergessen.
»Sieh her, du Café-Betreiberin«, schien sie zu sagen. »Das ist mein Werk. Ich bringe die beiden wieder zusammen. Sieh es ein: Du hast verloren.«
Hannah war bereit gewesen, klein beizugeben, aber dann war Johann gestorben, und der einzige Mensch, den sie ertragen konnte, war Andy. Er war gekommen; nicht sofort, aber am nächsten Tag. Er hatte sie durch die Vorbereitung der Beerdigung begleitet und ihr am Tag selbst beigestanden, obwohl er Johann gehasst haben musste. Aber nein, Andy hatte Johann nicht gehasst. Andy liebte die Menschen.
Hannah war überrascht gewesen, wie viele Menschen zur Trauerfeier gekommen waren. Nachbarn, Mitglieder seines Teams und diverser Vereine waren zu Freunden geworden und hatten es sich nicht nehmen lassen, Abschied zu nehmen.
Natürlich kannte niemand besser als sie Johanns einnehmendes Wesen. Aber während ihrer Aufenthalte in Lübeck hatte sie den Eindruck erhalten, er sei ein richtiger Eigenbrötler geworden. Welch ein Trugschluss!
Wo ist dein Gespür für die Menschen geblieben?, fragte sie sich spöttisch.
Da es ihr nicht zugestanden hatte, im Mittelpunkt der Trauergäste zu stehen, hatte sie JJ als Johanns Sohn vorgeschoben. Während des anschließenden Leichenschmauses hatte sie immer damit gerechnet, dass eine der anwesenden Frauen zu ihr käme und sagte: »Ich war übrigens seine Freundin.«
Aber niemand war gekommen.
JJ war der Haupterbe, was in Hannahs Augen nur logisch war. Ihr Sohn hingegen fühlte sich damit überfordert.
»Was soll ich mit einem Haus in einem Vorort von Lübeck?«
Safaa hatte schließlich den entscheidenden Anstoß gegeben. Nach mehreren rassistischen Vorfällen in Berlin sehnte sie sich nach einem Ort der Ruhe. Hannah wagte zu bezweifeln, dass es in Lübeck anders wäre, aber sie hielt sich aus der ganzen Sache heraus, überzeugte JJ nur, das Erbe anzunehmen.
»Du kannst das Haus vermieten, wenn ihr nicht selbst darin wohnen wollt.«
Die beiden hatten seither viele Wochenenden in Lübeck verbracht, Unterlagen gesichtet und ausgemistet. Ein Hinweis auf eine Beziehung hatte sich nicht gefunden.
Der Krach draußen nahm endlich ab, die Leute wandten sich den Häusern zu und verschwanden lachend darin.
Hannah trank den restlichen Sekt, zog die Vorhänge zu und brachte das Glas in die Küche. Das Silvestermenü, das Edi ihr trotz aller gegenteiligen Beteuerungen vorbeigebracht hatte, stand unberührt im Kühlschrank.
»Es ist eine Schande.« Dennoch konnte Hannah sich nicht dazu aufraffen, etwas davon zu essen. »Morgen ist auch noch ein Tag«, murmelte sie. »Oder vielmehr heute.«
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, zappte sich durch die Kanäle, blieb bei den unvermeidlichen Hits der Achtziger hängen, wippte ein paar Takte mit, schaltete den Fernseher dann entschlossen aus.
Ihr Wecker zeigte 0:48 Uhr, als sie ins Bett stieg. Es war noch nicht mal ein Uhr am Neujahrstag und Hannah Jensen lag im Bett!
Niemand würde ihr das glauben!
Sie löschte das Licht und drehte sich auf die linke Seite, um die leere Betthälfte nicht sehen zu müssen. Kurz vor dem Einschlafen fiel ihr ein, dass sie das geplante Ritual nicht vollzogen hatte.
»Das Jahr fängt ja gut an«, brummte sie.
* * *
Am nächsten Morgen hörte Hannah den Anrufbeantworter ab. Sie hatte jedem mitgeteilt, dass sie nicht erreichbar sein würde, aber viele hatten es nicht glauben wollen. Entsprechend überrascht klangen ihre Nachrichten.
»Hallo Hannah, hier sind Ben und Svenja. Ähm ja, wir hoffen, du bist gut herübergerutscht. Happy new year! Wir sehen uns.«
»Hello, my friend.« Hannahs Herz machte dummerweise einen kleinen Hopser, als sie die Stimme vernahm. Brigid rief aus Irland an und entgegen aller Vernunft hoffte sie, durch die Freundin etwas über Andy zu erfahren. Natürlich wusste sie, dass die beiden kaum Kontakt hatten, wenn überhaupt. Aber das Herz ließ sich nun mal nicht von rationalem Denken beeinflussen.
Auch Brigid wünschte ihr einen guten Start in das neue Jahr, aber es schwang deutlich Sorge mit in ihrer Stimme.
Es folgten Nachrichten von Edi und Xaver, Marlene und Florian und – zu Hannahs großer Überraschung – von Hubertus von Waldhausen und Illy.
Sie und Edi spekulierten schon länger darüber, ob der Maler und die Schmuckdesignerin ein Paar waren. Hubertus von Waldhausen war deutlich aufgeblüht, seit Illy bei ihm eingezogen war. Und auch in Illys Leben schien es endlich wieder aufwärtszugehen.
»Kann mir egal sein«, brummte Hannah und löschte die Nachricht.
Auf ihrer Handy-Mailbox war nur eine Nachricht von JJ: »Hi Mom. Ich hoffe, es geht dir gut. – Hm, du hast dein Handy tatsächlich ausgeschaltet. Auch okay. Ich wünsche dir ein gutes neues Jahr.« Flüstern im Hintergrund. »Und natürlich wünscht dir auch Safaa alles Liebe und Gute.«
Hannah lächelte. Es würde mindestens eine Hochzeit im neuen Jahr geben, vielleicht ja sogar zwei. Denn obwohl Svenja und Ben immer noch sehr vorsichtig miteinander umgingen, sah ein Blinder, dass die beiden füreinander bestimmt waren.
Dass ihr Sohn sich mit Safaa verlobt hatte, ohne sie wirklich zu kennen, war ein Schock gewesen. Er war nicht der Typ für spontane Entscheidungen, das lag eher in ihrem Naturell. Und auch wenn sie sich hinterher dafür hasste, war ihr als erstes der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass eine raffinierte Frau ihren unbedarften Sohn ausnutzte.
Inzwischen hatte sie Safaa kennengelernt. Sie war bezaubernd, im wahrsten Sinn des Wortes. Und genau das bereitete Hannah Sorgen. Was, wenn der Zauber verflog? Wenn der Alltag sie einholte?
Aber galt das nicht für alle Paare?
Hannah löschte die Nachricht ihres Sohnes und entdeckte vier neue WhatsApp-Nachrichten. Die erste Nachricht war ein Video von JJ, das ihn und Safaa in den Straßen von Berlin zeigte. Im Hintergrund war laute Musik zu hören.
Hannah schaute auch noch die anderen Nachrichten an. Alex, ihre Bedienung, und Kassie, die das Nagelstudio in der Blumengasse betrieb, hatten ihr das gleiche animierte Video geschickt. Bassam hatte zunächst das Silvesterbuffet aufgenommen und anschließend grinsend in die Kamera gewunken.
Hannah tippte jeweils ein »Danke!« in die Antwortzeile und schickte es los. Danach warf sie das Handy achtlos auf den Küchentisch und stellte die Kaffeemaschine an.
Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass Andy sich nicht gemeldet hatte, aber ihre Gedanken kreisten unaufhörlich genau darum.
»Verdammt noch mal«, schimpfte sie mit sich selbst und stellte die Kaffeetasse mit so viel Schwung auf den Tisch, dass die heiße Flüssigkeit überschwappte und ihre Finger verbrannte. Fluchend hielt sie die Hand unter kaltes, fließendes Wasser. Sie bemerkte die Tränen erst, als sie ins Waschbecken tropften.
Hannah trocknete ihre Hände und besah den Schaden. Es war nur eine leichte Rötung zu sehen, sie hatte Glück gehabt. Mit einem Küchentuch wischte sie die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzte sich.
»So kann es nicht weitergehen«, sagte sie laut.
Das vergessene Ritual fiel ihr ein. Eigentlich hatte sie sich noch vor Mitternacht bewusst von Johann verabschieden wollen, um den Weg für Andy freizumachen.
Hannah goss Kaffee nach, trug die Tasse vorsichtig ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Es lag alles bereit auf dem Tisch. Sie nahm Johanns Foto in die Hand.
Was, wenn Andy gar nichts mehr von dir wissen will?, schoss ihr durch den Kopf.
»Egal«, sagte sie energisch. »Ich mache es nicht für Andy, ich mache es für mich.«
Sie schaute das Foto an. JJ hatte es auf einem ihrer letzten Ausflüge mit dem Handy geschossen und ihr einen Abzug geschickt. Johanns Erkrankung war deutlich zu sehen, aber er wirkte ruhig und gelassen. So, wie er ihr ein Leben lang vorgekommen war.
»Ich weiß fast nichts über dich«, begann sie und musste sich mehrmals räuspern. »Von den vielen Jahren, die ich nun schon hier bin, habe ich die geringste Zeit mit dir verbracht. Dennoch warst du immer einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Auch, weil du JJs Vater bist.« Hannah stockte. Sie hatte noch so vieles sagen wollen, aber sie konnte sich nicht überwinden, die Worte laut auszusprechen. Stattdessen sagte sie: »Johann, ich muss …, ich will dich jetzt gehenlassen. Danke für alles, was du für mich getan hast.« Sie schaute noch einmal intensiv auf das Foto und zerriss es dann in winzige Einzelteile. Diese warf sie in die bereitgestellte Schüssel, verbrannte sie und löschte das Feuer mit dem Glas Wasser, das ebenfalls bereitstand.
Hannah erhob sich, ging zum Fenster, öffnete es und sog gierig die kühle Luft ein, die hereinströmte.
Sie fühlte sich erleichtert.
Bevor sie das Fenster schloss, warf sie einen Blick auf die Blumengasse. Keine Menschenseele war zu sehen, denn natürlich schliefen alle noch. Die Straße war auffallend sauber. Bassam hatte seinen Raketenmüll offensichtlich selbst beseitigt, nur vereinzelt lagen Papierfetzen von explodierten Böllern herum.
»Sehr schön.« Hannah schloss das Fenster.
Unschlüssig blickte sie im Zimmer umher. Das Café war zum ersten Mal über den Jahreswechsel geschlossen und würde erst am siebten Januar wieder öffnen. Die Buchhaltung und sonstige lästige Aufgaben hatte sie bereits in den letzten Tagen erledigt. Vor ihr lagen sechs freie Tage, ein Luxus, den sie sich seit Eröffnung des Cafés immer gewünscht hatte. Und nun wusste sie nichts mit sich anzufangen.
»Das ist lächerlich.« Sie nahm das Geschirr vom Tisch und trug es in die Küche, wo sie die nasse Asche im Spülbecken entsorgte und Schüssel, Glas und Kaffeetasse in die Maschine stellte.
Sechs freie Tage – das schrie geradezu nach einem Kurztrip. Aber wohin? Nach Berlin zu JJ und Safaa? Nein, sie würden sich kontrolliert vorkommen. Nach Dublin zu Brigid? Nein. So gerne sie nach Irland geflogen wäre, würde sie dort nur permanent an Andy erinnert. Sie brauchte aber Erholung.
Ihre Freundin Marilyn in New York fiel ihr ein. Die würde ihr im Nullkommanichts den Kopf geraderücken. Hannah lächelte. Ja, es wäre wunderbar, Marilyn nach all den Jahren wiederzusehen. Aber sie war zu alt, um mal eben für ein paar Tage in die USA zu fliegen. Der Jetlag würde sie umbringen. Von der Umweltsünde ganz zu schweigen.
»Und jetzt?«
Während sie das Bett machte, fiel ihr ein, dass Svenja schon häufiger von diesem entzückenden Hotel in Südtirol geschwärmt hatte.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es zu früh war, um ihre Nichte anzurufen. Am Neujahrstag sollte man niemanden vor dem Mittagessen belästigen.
Hannah ging in ihr Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und startete den Laptop. Es wäre doch gelacht, wenn sie nicht selbst etwas finden würde.
Zwei Stunden später hatte sie ein Zimmer in einem Luxushotel in Murnau gebucht. Dort bot man ihr nicht nur einen Blick über das Murnauer Moos und auf die Alpen, sondern vor allem gute Küche und diverse Wellness-Möglichkeiten. Genau das, was sie jetzt brauchte. Man würde sie sogar vom Bahnhof abholen.
Hannah packte eine Reisetasche, vergewisserte sich, dass alle Elektrogeräte ausgestellt waren, und verließ die Wohnung. Auch im Café checkte sie noch einmal alles gründlich, obwohl sie das bereits vor der Schließung in der letzten Woche getan hatte.
Langsam ging sie durch die immer noch menschenleere Blumengasse zur U-Bahn. Einen Moment lang befürchtete sie, die geliebte Straße zum letzten Mal betreten zu haben, aber sie schalt sich eine alte Närrin und verdrängte die trüben Gedanken.
Auf einer der Bänke auf dem Bahnsteig saß ein nicht ganz nüchternes junges Punker-Pärchen und schmuste. Eine alte Dame ein paar Meter weiter beobachtete sie mit unverhohlener Abscheu. Hannah war besorgt, sie könne sie ansprechen, aber die Frau nickte ihr nur mit verkniffenem Mund zu.
Dennoch lief Hannah bis ans andere Ende des Bahnsteigs und wartete dort auf die U-Bahn.
Am Bahnhof kämpfte sie mit den Tücken des Ticketautomaten und war dankbar für die Hilfe eines jungen Mannes, der ihr nach weniger als einer Minute ihre Karte in die Hand drückte.
Der Zug fuhr stündlich, sie hatte noch gut zwanzig Minuten Zeit bis zur Abfahrt. Hannah ging in den Zeitschriftenladen und kaufte zwei Krimis und mehrere Zeitschriften, um sich über den neuesten Klatsch und Tratsch zu informieren. Beinahe hätte sie die Abfahrt dann doch verpasst, da ihr nicht klar war, dass sie zum Holzkirchner Bahnhof musste. Aber es ging alles gut, zwei Minuten, nachdem sie in die Regionalbahn gestiegen war, fuhr der Zug los.
Hannah fuhr selten mit der Bahn und versuchte, sich während der Fahrt durch die Stadt zu orientieren, was ihr jedoch nicht gelang. Seit fast fünf Jahren lebte sie nun wieder in München, aber sie kannte kaum mehr als die Innenstadt und das Viertel rund um das Café. Selbst Pasing, wo sie in den späten Achtzigern gelebt hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen.
Du solltest weniger arbeiten!
Die Menschen in ihrem Umfeld, die diesen Satz noch nicht zu ihr gesagt hatten, konnte sie locker an einer Hand abzählen.
Ich fahre gerade in den Urlaub, dachte sie trotzig, aber sie wusste, dass es mit sechs Tagen im Jahr nicht getan war.
Inzwischen hatten sie die Stadt verlassen. Wo meterhohe oder zumindest zentimeterhohe Schneemassen liegen sollten, zeigte sich eine grün-braune Hügellandschaft. Kein Wunder, dass es so viele Touristen nach Bayern zog: Es war eine wirklich schöne Gegend.
Hannah lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und versuchte, sich zu entspannen. Vor ihr lagen Tage, die nur ihr gehörten. Sie sollte die Zeit so gut wie möglich nutzen.
* * *
»Gut sieht du aus«, begrüßte Edi sie am siebten Januar, als sie pünktlich um acht Uhr im Café erschien.
»Danke, das Kompliment kann ich zurückgeben.« Hannah umarmte ihre Angestellte. Dann schob sie sie auf Armeslänge von sich und musterte sie von oben bis unten. »Doch, die Auszeit mit Xaver hat dir gutgetan.«
Edi wurde tatsächlich ein bisschen rot und kicherte wie ein Teenager.
»Ich freue mich so für dich, Edi.«
»Und was ist mit dir?«
»Alles gut«, wich Hannah aus. »Ich habe wunderbare Tage hinter mir. Falls ihr euch mal richtig schönen Luxus leisten wollte, habe ich einen Tipp für euch. Ein Traumhotel mit Blick auf die Alpen, mit einem Wellnessbereich zum Dahinschmelzen und wunderbarem Essen.« Sie klopfte auf ihren Bauch. »Ich schätze, ich habe mindestens zwei Kilo zugenommen.«
Da die ersten Gäste eintrafen, hatten sie keine weitere Gelegenheit, sich auszutauschen.
»Ich bin so froh, dass ihr wieder aufhabt«, sagte Gerd, einer der treuesten Stammkunden. »Dank euch habe ich inzwischen Kaffeekochen verlernt.«
Hannah lachte. »Denkst du etwa, ich kann es? Das macht alles dieses Wunderding.« Sie deutete auf den Kaffeeautomaten hinter der Theke. »Alles, was du können musst, ist den richtigen Knopf drücken.«
»Na ja, ein bisschen mehr gehört schon dazu«, widersprach Gerd und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Gut siehst du übrigens aus.«
Hannah bedankte sich, begrüßte auch die anderen Gäste und ging in die Küche, um die von Edi vorbereiteten Sandwiches und Kuchen in die Kühltheke zu stellen.
Um zehn Uhr kam Alex, und da es gerade etwas ruhiger war, beschloss Hannah, ihren Mitarbeiterinnen die Ideen und Pläne für die nächsten Monate mitzuteilen.
»Ich denke, dass das Café zwischen den Jahren geschlossen war, hat uns nicht geschadet«, begann sie. »Im Gegenteil: Man schätzt uns jetzt wieder ein bisschen mehr.«
Edi nickte. »Fast alle Gäste, die ich bedient habe, sagten mir, wie sehr sie uns vermisst haben.«
»So soll es sein.« Hannah lachte zufrieden. »Damit das auch weiterhin so bleibt, habe ich mir Gedanken gemacht, was wir über den aktuellen Service hinaus anbieten könnten. Es soll natürlich nicht zu viel werden, wir sind schließlich keine Event Location, wie das heutzutage heißt. Andererseits müssen wir attraktiv bleiben.« Sie tätschelte Edis Arm. »Deine Kuchen sind ein Traum und ganz sicher die Hauptattraktion, dennoch müssen wir weiterdenken.«
»Ja, ja«, sagte Edi. Ihr Gesicht drückte jedoch sehr deutlich Zweifel aus.
»Keine Bange, ich will euch nicht überfordern«, versicherte Hannah ihr. »Wir fangen ganz moderat an.«
»Aha«, war Edis trockener Kommentar.
»Warte doch erstmal ab, was ich vorschlage. Ohne eure Zustimmung mache ich nichts, versprochen.«
»Nun red schon«, knurrte Edi und sprang im selben Moment auf, weil ein junges Pärchen das Café betrat und auf den großen, bequemen Kissen im Schaufenster Platz nahm.
»Jede Veränderung macht ihr Angst«, sagte Alex.
»Ich weiß«. Hannah seufzte. »Dabei hat sie sich in den letzten Jahren selbst so sehr verändert. Aber vielleicht ist genau das der Grund. Es wird ihr womöglich zu viel.«
»Sie wird es akzeptieren, da bin ich mir sicher.«
Hannah warf Alex einen dankbaren Blick zu. »Wir hatten noch gar keine Gelegenheit zum Reden. Wie war deine Auszeit?«
Alex grinste verschmitzt. »Schön. Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
»Aber das ist ja wunderbar!«, rief Hannah erfreut.
»Was ist wunderbar?«, wollte Edi wissen, die sich wieder neben sie setzte.
»Ich habe mich verliebt«, erklärte Alex. »Denke ich zumindest.«
»Wie schön. Dann sind wir alle wieder glücklich. Oder?« Herausfordernd schaute Edi zu Hannah.
»Ja, natürlich, das sind wir«, bestätigte diese. Sie würde einen Teufel tun und den beiden sagen, dass sie seit Wochen nichts von Andy gehört hatte. »Okay«, begann sie erneut. »Ich habe mir Folgendes vorgestellt: Illy soll einmal im Monat, vielleicht auch vierzehntägig, einen Schmucknachmittag abhalten. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir sie unterstützen müssen.«
Edi und Alex nickten unisono.
»Gut. Die Gestaltung würde ich weitestgehend ihr überlassen, aber sie kann zum Beispiel zeigen, wie man echten Schmuck richtig reinigt und aufbewahrt, oder sie gibt Kurse, wobei dafür womöglich das Equipment fehlt. Ich werde das mit ihr besprechen. Dann dachte ich an Lesungen. Ihr kennt Brigid. Sie hat mir erzählt, dass es für Autoren immer schwieriger wird, Lesungsorte zu finden. Sie selbst hat keine Probleme, denn sie liest vor allem in Schulen. Mit Literatur für Erwachsene scheint es allerdings weniger gut zu laufen. Viele Buchhandlungen konzentrieren sich auf Bestsellerautoren, weil die das Haus füllen und den Buchverkauf garantieren. Cafés wie unseres verlangen offensichtlich Geld, weil sie während einer Lesung nichts einnehmen. Offen gestanden, finde ich das einen ausgemachten Blödsinn. Wenn wir es richtig machen, essen und trinken die Gäste etwas und zahlen womöglich sogar Eintritt.« Hannah lächelte. »Ich sehe mich da aber auch ein bisschen als Mäzenin. Das Café läuft gut – warum soll ich nicht etwas davon an notleidende Künstler abgeben?«
»Da kannst du gleich mit unserem Haus- und Hofkünstler anfangen«, spottete Edi.
Hannah lachte. »Der braucht nur einen Tritt in den Hintern, aber kein Geld. Vor allem sollte er sich mal wieder um seine eigene Malerei kümmern, anstatt junge Frauen zu fördern.«
»Höre ich da eine gewisse Eifersucht heraus?«, fragte Edi.
»Was?« Hannah schaute sie empört an. »Nein, natürlich nicht. Ich finde nur, er hat genug Zeit und vermutlich auch Geld in Susanne investiert.«
»Er hat eben von dir gelernt und ist jetzt auch ein Kümmerer.«
»Ha!« Hannah war irritiert. Seit wann war Edi so kritisch ihr gegenüber? Andererseits war sie immer eine der ersten gewesen, die sie ermahnt hatte, sich nicht nur um andere, sondern auch um sich selbst zu kümmern. Vielleicht war sie einfach immer noch etwas empfindsam.
»Lasst mich noch rasch meine letzte Idee erzählen, bevor der Mittagsstress losgeht. Ich habe in der Zeitung einen Artikel über die äthiopische Kaffeezeremonie gelesen und daraufhin im Internet recherchiert. Das ist eine äußerst spannende Sache und könnte nicht nur Interessierte anziehen, sondern auch gleich für einen kulturellen Austausch sorgen.« Erwartungsvoll schaute sie in die Gesichter der beiden Frauen. Edis Miene drückte immer noch mehr Zweifel als Begeisterung aus, aber Alex schien Feuer und Flamme zu sein.
»Klingt gut«, sagte sie. »Wie du schon sagtest: Es darf nicht zu viel werden, aber ich kann mir das als Highlight für zwischendurch sehr gut vorstellen.«
»Schön.« Hannah erhob sich, da neue Gäste kamen. »Ich erstelle einen Plan, über den wir dann noch mal reden. Einverstanden?«
Alex nickte sofort, Edi erst nach einigen Sekunden.
Hannah legte ihre Hand auf Edis Arm und sagte leise: »Vertrau mir.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich den Gästen zu.
Nach einem ausgesprochen hektischen Nachmittag schloss Hannah das Café kurz nach einundzwanzig Uhr ab, stieg langsam die Treppe in den ersten Stock hoch und betrat ihre Wohnung. Dankbar nahm sie zur Kenntnis, dass sie zwar müde, aber nicht mehr so ausgelaugt und erschöpft war wie im alten Jahr. Die Tage in Murnau hatten ihr wirklich gutgetan. Wenn jetzt noch geklärt wäre, ob und wie es mit Andy weitergehen würde …
Sie griff nach dem Telefon, hielt es minutenlang in der Hand, legte es wieder weg. Er würde sich melden, wenn er so weit war. Hoffte sie.
Hannah ging zur Bar, schenkte sich einen Whiskey ein, schaltete den Fernseher ein und nahm auf dem Sofa Platz. Auf der Suche nach einem Film, bei dem sie entspannen könnte, blieb sie bei einer englischsprachigen Nachrichtensendung hängen. Die Sprecherin sagte etwas von gehäuft auftretenden Erkrankungen in einer chinesischen Provinz und dass man von einem neuartigen Virus ausgehe. Es folgten Bilder eines Marktes, auf dem neben Gemüse, Fisch und Fleisch auch exotische Tiere angeboten wurden. Eine männliche Stimme berichtete, dass der Markt seit sechs Tagen geschlossen sei, da man den Ursprung des Virus hier vermutete.
»Wie kann man denn Fledermäuse essen?« Hannah zappte weiter, bis sie einen Spielfilm fand. Nach zehn Minuten ertrug sie das Gesülze nicht mehr und schaltete aus.
Sie hätte gerne mit jemandem gesprochen, fürchtete aber, sie würde nur über das ungeklärte Verhältnis mit Andy reden.
So viel zum Thema ›ich bin gut erholt‹, dachte sie, trank den letzten Schluck Whiskey und setzte sich an den Schreibtisch, um eine to-do-Liste zu erstellen. Sie musste mit Illy reden wegen der Schmucknachmittage und mit Hubertus wegen neuer Bilder. Vielleicht war das für ihn Ansporn genug, sich wieder der eigenen Kunst zu widmen.
Einen Moment lang fragte Hannah sich, ob er und Susanne womöglich ein Verhältnis hatten und das der Grund war, warum Hubertus nichts mehr zustande brachte.
»Und wenn schon. Es geht mich nichts an.«
Dennoch – vorstellen konnte sie es sich nicht. Und wollte es nicht. Obwohl es nun nicht gerade überraschend wäre, wenn ein Mittsiebziger eine jüngere Freundin hätte. Susanne war wie alt? Vermutlich Anfang, Mitte vierzig. Das wären gerade mal dreißig Jahre Unterschied.
Hannah schalt sich eine dumme Ziege. Sie hatte am wenigsten Recht, sich über den Altersunterschied eines Paares zu mokieren. Fast alle ihre Liebhaber waren jünger gewesen als sie. Okay, nicht gerade dreißig Jahre, aber vielleicht kam das noch, wenn sie so alt war wie der Maler.
Sie musste über ihre eigenen Gedankengänge lachen. Sie schaffte es nicht einmal, den aktuellen Liebhaber zu halten. Wie sollte das erst in zwanzig Jahren werden, wenn sie faltig und grau war?
»Schluss jetzt«, entschied sie und schaltete den Computer ein, um nach Anbietern der äthiopischen Kaffeezeremonie zu suchen. Sie schrieb drei Anfragen und suchte außerdem nach aktuellen Autoren, die sie einladen könnte. Um halb eins spürte sie schmerzhaft ihren verspannten Nacken und sehnte sich nach einer Massage, wie sie sie im Murnauer Hotel genossen hatte.
Sie notierte den letzten Namen auf einer Liste, schaltete den PC aus und machte sich bettfertig. Nach zwei Seiten Lektüre war sie eingeschlafen.
* * *
Zwei Tage später kam Ben zum Frühstücken ins Café. Hannah begrüßte ihn mit einer Umarmung und setzte sich kurz zu ihm.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
Sie fand, er sah müde aus. Ob ihn die Beziehung mit Svenja belastete? Im Prinzip war er in der gleichen Situation wie sie: Auch er wusste nicht, wie es weitergehen würde.
»Es geht mir gut.« Sein Lächeln wirkte bemüht. »Svenja lässt dich herzlich grüßen. Sie wohnt derzeit bei mir.«
»Oh. Ist das gut oder schlecht?«
»Es ist gut. Wirklich«, versicherte er, da er ihr die Zweifel ansah. »Wir reden viel, aber natürlich nicht nur.« Er lachte verschmitzt.
»Das ist schön. Ich freue mich für euch.« Hannah hielt beide Hände hoch, Zeige- und Mittelfinger über Kreuz. »Fingers crossed.«
»Was ist mit dir und Andy?«, fragte Ben. »Habt ihr euch endlich ausgesprochen?«
Hannah spürte plötzlich überdeutlich ihren Herzschlag. Sollte das heißen, dass …
Ben schien ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten. »Sag nicht, er hat noch nicht angerufen!«
»Seit wann ist er wieder da?« Sie musste sich zweimal räuspern, weil ihre Stimme versagte.
»Verdammt, ich hätte meine Klappe halten sollen«, sagte Ben. »Er ist schon vor den Feiertagen zurückgekommen.«
Hannah schluckte. Andy war seit über drei Wochen in München und hatte sich nicht gemeldet? Das bedeutete nichts Gutes.
»Hat er etwas gesagt?«, fragte sie leise. »Ich meine, über mich, über uns?«
Ben schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Wie du weißt, waren Svenja und ich über die Feiertage in Hamburg, wir kamen erst an Neujahr zurück. Andy kam gerade an, als wir die Koffer ins Auto packten. Es war nur ›Hallo, wieder da? Wie geht’s‹, ›Ja, bin wieder da, es geht gut, danke.‹« Er dachte kurz nach. »Im neuen Jahr habe ich ihn noch gar nicht gesehen, nur mal gehört.«
»Aber er war allein«, hakte Hannah nach. Ihre Stimme war heiser, der Hals trocken, ihr Herz klopfte wie wild. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, in Tränen ausbrechen zu müssen.
»Ich habe zumindest niemanden gesehen oder gehört. Aber – wie gesagt – wir waren kaum da.«
»Wie war es in Hamburg? Hat sich die Familie ordentlich benommen?«, wechselte Hannah das Thema.
Ben lachte. »Sie waren nett, soweit ihnen das möglich ist. Svenja hat mich eindringlich gewarnt, ich habe also nicht allzu viel erwartet. Nur ihre Mutter war ganz anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich habe sie zwar vorher nur ein paarmal bei irgendwelchen Geschäftsessen gesehen und wenig mit ihr geredet; dennoch kam sie mir immer sehr kühl vor, eine typische Wahls eben. Diesmal war sie freundlich und nett.«
»Ich hätte eher gedacht, dass Rasmus der freundlichere von beiden wäre, angesichts des Kapitals, das man mit dir in Verbindung bringt.«
Ben nickte. »Offen gestanden, habe ich das auch erwartet. Du weißt, dass er mir letztes Jahr einen Sitz im Aufsichtsrat anbieten wollte?«
Hannah schüttelte verblüfft den Kopf.
»Ich habe abgelehnt. Ich hatte immer die Hoffnung, dass es mit mir und Svenja etwas werden könnte. Und es war noch nie gut, Privates und Geschäftliches zu vermengen. Und so wäre es dann ja auch gekommen …« Er schwieg ein paar Sekunden, schüttelte den Kopf, fuhr fort: »Egal. Er hat mich wie einen Gast behandelt, den man zwangsläufig akzeptieren muss, weil er wichtig ist.« Er zog eine Grimasse. »Ich vermute, er hätte nichts dagegen, wenn ich sein Schwiegersohn werden würde, aber lieben wird er mich nie.«
»Das muss er auch nicht. Es reicht, wenn Svenja es tut«, erwiderte Hannah trocken.
»Tut sie es?«
Hannah erschrak über den Blick, den er ihr zuwarf. »Was ist denn los?«
»Es läuft gut. Momentan zumindest. Aber sie kann sich nicht entscheiden. Mal sind wir ein Paar, mal sind wir nur locker zusammen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Und ich weiß nicht, wie lange ich das ertrage.«
Hannah verkniff sich eine Bemerkung. Ben sprach aus, was Andy mit ihr durchmachte.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise und ergriff Bens Hand. »Ich fürchte, Svenja hat einiges von meinen Genen geerbt, sie ist genauso kompliziert wie ich. Ich weiß, wir machen es euch gerade nicht leicht …«
Ben schaute sie direkt an. »Was ist so schwer daran zu sagen: Okay, wir sind jetzt zusammen, lass uns die Zeit genießen?«
Hannah wusste keine Antwort darauf. »Es tut mir leid«, wiederholte sie. »Für dich. Und für Andy.« Sie haderte mit sich, fügte dann doch hinzu: »Kannst du ihm sagen, dass er mich anrufen soll?«
»Ich sag’s ihm. Aber ihr müsst genauso dringend miteinander reden wie Svenja und ich. Es muss alles auf den Tisch, auch wenn es weh tut.«
»Als wenn ich das nicht wüsste! Aber wissen und tun sind zwei Paar Stiefel.«
Ben beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hannah, du bist zu klug, um dir mit solchen Ausreden dein Liebesglück zu verbauen. Rede mit ihm.« Er zog sein Handy aus der Tasche. »Jetzt.«
»Ich habe mein eigenes Handy.« Hannah lachte. Es klang gezwungen.
Ben blieb ernst. »Das ist mir klar. Aber dir werden wieder tausend andere Dinge dazwischenkommen. Ruf ihn jetzt an.« Auffordernd hielt er ihr das Telefon vor die Nase.
Hannah seufzte, nahm es, gab es ihm aber wieder zurück mit den Worten: »Freischalten musst du es aber schon.«
Ben gab den Code ein, suchte Andys Nummer, drückte auf das grüne Hörersymbol und gab ihr das Handy zurück.
Hannah presste es ans Ohr, damit Ben nicht sah, wie sehr ihre Hand zitterte. Insgeheim hoffte sie, Andy möge nicht abnehmen, aber da meldete er sich schon mit einem fröhlichen: »What’s up, Ben?«
»Ich bin es«, sagte Hannah so leise, dass sie fürchtete, er könne es überhört haben, weil er nichts sagte.
»Bist du noch dran?«, fragte sie und spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Na toll, gleich würde sie mitten in ihrem Café zu heulen beginnen!
»Ja, ich bin noch dran. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mit Bens Handy anrufst.«
»Er hat mich dazu gezwungen«, sagte sie und versuchte, es witzig klingen zu lassen. Sie wusste nicht, ob es ihr gelang. Aber Andy schien sie verstanden zu haben, denn er erwiderte: »Ja, so ist Ben.«
Hannah atmete tief durch und sagte: »Wir sollten reden. Kannst du heute Abend zu mir kommen?«
Sie hörte, wie Andy mit Paper raschelte. »Es tut mir leid, heute Abend geht es nicht, ich treffe mich mit Aneta und Maik. Morgen Abend wäre möglich.«
»Ja, gut, dann morgen Abend. Neunzehn Uhr bei mir?«
»Lass uns was essen gehen«, machte Andy den Gegenvorschlag. »Ich hole dich um sieben ab. In Ordnung?«
»Ja, natürlich, das ist auch gut. Bis morgen Abend.«
»Okay, bye.«
»Bye«, sagte Hannah, obwohl Andy längst aufgelegt hatte. Sie gab Ben das Handy zurück.
»Na siehst du, war gar nicht so schwer, oder?« Er lächelte sie an.
»Nein, war es nicht.« Hannah bemühte sich um ein Lächeln.
Diesmal war es Ben, der ihre Hand ergriff und drückte. »Du wirst sehen, es wird alles gut.« Plötzlich lachte er.
»Was ist?«
»Ich klinge schon wie du.« Er schaute sie gespielt-misstrauisch an. »Das ist nicht ansteckend, oder?«
Hannah musste wider Willen lachen. Sie gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm und nannte ihn einen frechen Jungen.
»Aber du lachst wieder.« Er lehnte sich zufrieden zurück.
»Ja, jetzt noch.«
* * *
Am Abend versuchte Hannah, sich mit allem Möglichen zu beschäftigen, um nicht an Andy denken zu müssen. Dennoch geisterte er permanent in ihrem Kopf herum.
Als nicht einmal die Buchhaltung sie ablenken konnte, griff sie entschieden zum Telefon und wählte Marilyns Nummer. Die Freundin in Queens würde ihr den Kopf wieder zurechtrücken. Leider war nur der Anrufbeantworter dran.
»Ruf mich bitte an, wenn du das hörst«, sagte Hannah und legte auf.
Brigid? Hannah haderte mit sich, suchte die Nummer der Freundin, konnte sich aber nicht dazu durchringen, sie zu wählen.
Sie scrollte weiter und landete bei Marlene, von der sie auch schon seit Wochen nichts mehr gehört hatte. Trotz der Unterstützung durch Andys Firma war Marlenes Mutter eine große Belastung. Ein Grund mehr, sie nicht mit den eigenen Problemen zu belasten. Und schon gar nicht wollte sie der Freundin Andy madig machen.
Seufzend legte Hannah das Handy weg und wandte sich ihren Mails zu. Erfreut sah sie, dass einer der Anbieter der äthiopischen Kaffeezeremonie geantwortet hatte. Sie schrieb zurück und schlug ein paar Gesprächstermine im Café vor.
Sie stand gerade in der Küche und machte sich einen Schlummertrunk, bestehend aus heißem Kakao mit einem kräftigen Schuss Rum, als ihr Handy klingelte.
»Sorry, I was just around the corner”, sagte Marilyn statt einer Begrüßung.
Hannah lachte. »Wie kannst du nicht zu Hause sein, wenn ich anrufe?«, foppte sie die Freundin und freute sich, dass trotz tausender Kilometer Distanz immer eine Stimmung herrschte, als seien sie am Tag zuvor noch zusammengesessen. Dabei war es Jahre her, dass sie sich gesehen hatten.
»Ruf mich das nächste Mal vorher an, dann bin ich da. Was ist los?«
»Du willst jetzt nicht sagen, dass ich nur anrufe, wenn ich Probleme habe«, erwiderte Hannah spöttisch, wusste aber, dass es in den letzten Wochen immer so gewesen war.
»Nein, natürlich nicht«, wiegelte Marilyn ab, um im selben Moment zu sagen: »Obwohl …« Es war klar, dass es witzig gemeint war, aber Hannah wusste, die Freundin machte sich auch Sorgen um sie.
»Es hat sich nichts geändert«, erklärte sie. »Das heißt, wir haben morgen Abend eine Aussprache.«
»Das ist gut. Und es wurde auch Zeit.«
Hannah hörte sie durch die Wohnung laufen, Schränke öffnen und schließen und irgendwo – vermutlich in der Küche – einen Wasserhahn aufdrehen.
»Ich störe dich.«
»Du störst nie«, antwortet Marilyn in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Ich habe mir nur schnell ein Glas Wasser eingelassen. Warte bitte eine Sekunde …« Schluckgeräusche waren deutlich vernehmbar. »Ah, jetzt geht’s mir besser«, sagte sie und stellte das Glas – eher eine Tasse – auf dem Tisch ab.
Hannah dachte an die vielen Stunden, die sie in Marilyns Küche verbracht hatte; die meisten waren glücklich gewesen und sie hatten viel gelacht. Aber es hatte auch schreckliche gegeben, vor allem, wenn etwas mit einem der Kinder war – was bei insgesamt sieben eigentlich immer der Fall war. Und nach Joshs Tod.
»Ich sollte mal wieder nach New York kommen«, sagte sie.
»Das wäre wunderbar. Wir haben uns so lange nicht gesehen.«
Hannah bestätigte das. »Ich war gerade ein paar Tage im Alpenvorland und habe Gefallen an einer kurzen Auszeit gefunden«, sagte sie. »Ich sollte das häufiger machen. Ich könnte zum Beispiel im März oder April zu dir fliegen.« Während sie es aussprach, fand sie ihre Idee großartig. Sie machte sich auf einem Schmierzettel eine Notiz: Check flights to NYC.
»Es wäre wirklich schön. Seit Sam nicht mehr hier wohnt, ist die Wohnung leer.«
»Ich dachte, er kommt jedes Wochenende zu dir? Schon allein der Wäsche wegen.«
Marilyn lachte. »Das war einmal. Stell dir vor, mein Nesthäkchen hat seit kurzem eine Freundin. Na ja, so kurz ist es auch nicht mehr. Das geht wohl schon seit letztem Sommer so. Mir soll es nur recht sein. Er war schon ein sehr großer Stubenhocker.«
»Das freut mich für Sam. Wie geht es den anderen Kids?«
»Nichts Neues seit unserem letzten Telefonat. Vivs Scheidungsverfahren läuft, die Anwälte haben sich wohl endlich geeinigt. Ah, und Sarah hat vor den Feiertagen angerufen. Ich hatte den Eindruck, Jason sollte nichts davon wissen.«
»Kommt da eine zweite Scheidung auf euch zu?«, fragte Hannah. Marilyns mittlere Tochter hatte bisher trotz massiver Probleme an ihrer Ehe festgehalten und fast alle Kontakte zur Familie abgebrochen. Sogar die Verbindung zu JJ, der seit Kindertagen ihr engster Freund und Vertrauter gewesen war, hatte sie gekappt.
Marilyn stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß es nicht. Einerseits hoffe ich, dass sie sich endlich von diesem Gefühlskrüppel trennt; andererseits sehe ich bei Viv, welche neuen Probleme das mit sich bringt. Im Endeffekt muss sie es selbst entscheiden.«
»Ich wünschte, ich wäre so klug wie du.«
»Kümmerst du dich immer noch um alle und jeden?«
»Ich denke, es ist etwas besser geworden, aber es ist noch ein weiter Weg, bis ich nicht bei jedem Problem, das irgendwo auftaucht, denke: Oh, was kann ich da machen?«
»Du weißt ja: Selbsterkenntnis etc.«, spottete Marilyn liebevoll.
»Ja, ja.«
»Und morgen?«
Hannah verdrehte die Augen. Marilyn war nicht umsonst neben Brigid ihre beste Freundin. Sie kannte all ihre Schwachpunkte und legte gezielt den Finger auf Stellen, die schmerzten. Sie war versucht, sich dumm zu stellen, aber das würde ihr Marilyn nicht abkaufen.
»Ich mache mir zum einen Gedanken, warum er laut Ben seit Mitte Dezember wieder in München ist, mich aber kein einziges Mal angerufen hat«, begann sie. »Ich befürchte, er hat in Irland wieder mit seiner alten Liebe angebandelt.«
»Wäre er dann seit Wochen in München statt in Dublin?«
»Immerhin hat er hier ein eigenes Geschäft aufgebaut«, gab Hannah zu bedenken.
»Okay, weiter?«
»Ich habe ihn zu mir eingeladen«, fuhr Hannah fort. »Er will lieber essen gehen.«
»Finde ich, ehrlich gesagt, vernünftig«, sagte Marilyn. »Bei dir in der Wohnung ist es viel zu intim, außerdem mit Erinnerungen belastet, guten und schlechten. Ihr braucht neutralen Boden.«
»Oh.« Hannah war verblüfft. So hatte sie das noch gar nicht gesehen.
Die Freundin schien zu wissen, was in ihr vorging. »Hannah, mach dich nicht verrückt. Du denkst zu viel. Lass es auf dich zukommen; ich bin sicher, du triffst am Ende die richtige Entscheidung.«
Sie redeten noch ein paar Minuten über gemeinsame Bekannte und Marilyns Kinder. Sie erwähnte auch, dass JJ ein Foto von sich und Safaa geschickt hatte.
»Sie bilden ein reizendes Paar.«
»Ja, das tun sie«, bekräftigte Hannah. »Dennoch weiß ich nicht, ob sie auf Dauer miteinander glücklich werden.«
Marilyn gluckste. »Du weißt ja …«
»… es ist ihre eigene Entscheidung«, ergänzte Hannah.
Erst nachdem sie aufgelegt hatten, fiel ihr ein, dass sie sich nicht nach Quentin erkundigt hatte. Er war nach dem Tod von Marilyns letztem Mann Barney ein treuer Freund und später auch Liebhaber geworden.
So viel zum Thema, ich kümmere mich um alle.
Am nächsten Tag war sie so nervös, dass sie zwei Mal beinahe mit Edi zusammengestoßen wäre, hätte die das nicht mit einem eleganten Hüftschwung vermieden.
»Was ist denn heute bloß los mit dir?«, schimpfte sie, nachdem sie die beiden Torten sicher in der Kühltheke verstaut hatte.
»Weiß nicht«, murmelte Hannah. »Das muss am Wetter liegen.«
Edi schaute sie schief an, sagte aber nichts.
Zum Glück war es wie üblich ein hektischer Freitag; erst als es nach vier Uhr ruhiger wurde, setzte das Denken wieder ein. Eine Stunde später, nach zwei falsch gelieferten Bestellungen, gab Hannah nach.
»Ich fühle mich nicht wohl«, sagte sie zu Edi. Das war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht komplett gelogen. »Kannst du heute zusperren? Die Kasse mache ich morgen, das eilt nicht.«
Wieder warf Edi ihr einen fragenden Blick zu, nickte aber nur und sagte: »Leg dich ein bisschen hin.«
»Ja, das sollte ich wohl tun. Danke.«
»Aber immer doch«, sagte Edi, und diesmal schwang so etwas wie Mitleid mit.
»Danke.« Hannah drückte kurz ihre Hand und verließ das Café durch den Nebenausgang, der direkt ins Treppenhaus führte.
In ihrer Wohnung im ersten Stock beherzigte sie Edis Rat und streckte sich auf dem Sofa aus, hielt es aber keine fünf Minuten aus. Rastlos tigerte sie durch die Zimmer, wobei sie das Schlafzimmer mied. Es erinnerte zu sehr an gemeinsame Nächte mit Andy.
»Das ist doch kindisch!«, schimpfte sie mit sich selbst. »Du schläfst jede Nacht darin, wieso solltest du jetzt nicht reingehen?«
Entschieden öffnete sie die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Sie hatte damals beim Einzug mit Absicht das größere Zimmer zum Schlafen gewählt, obwohl zu dem Zeitpunkt kein Partner in Sicht gewesen war. Klaus war Geschichte, für Neues war sie nicht bereit gewesen.
Auch das Bett hatte sie nach diesen Kriterien gekauft: Man konnte gut allein darin schlafen, ohne sich verloren vorzukommen; man hatte aber auch zu zweit Platz.
Sie starrte auf das Porträt, das Waldhausen unerlaubterweise von ihr gemalt und das Ben, neben all den anderen Bildern von ihr, vor dem geifernden Galeristen gerettet hatte.
Meist vermied sie den Blick auf sich selbst, aber heute schaute sie sich das Bild genauer an. Sie musste einmal mehr zugeben, dass Hubertus ein ausgezeichneter Beobachter war. Er hatte sie verdammt gut getroffen und neben dem freundlichen Blick eine gewisse Ironie in ihren Augen verewigt.
Die Bild-Hannah sah sie unverwandt an, mit leichtem Spott im Blick. Was wollte sie ihr mitteilen? Vielleicht:
»Stell dich nicht so an! Wie viele Männer hast du schon geschasst und dir keine Gedanken darüber gemacht, ob du ihnen Schmerz zufügst oder nicht.«
Oder aber: »Das hast du nun davon! Mit einem Mann wie Andy spielt man nicht. Du wusstest, dass er ernste Absichten hat; du hast alles kaputt gemacht.«
Oder doch eher: »Noch ist nichts verloren! Du musst um ihn kämpfen. Selbst wenn er wieder mit Jill zusammen ist, kannst du ihn immer noch zurückerobern.«
Hannah beschloss, dass ihr die letzte Variante am besten gefiel.
»Du hast recht«, teilte sie ihrem Konterfei mit. »Ich sollte um ihn kämpfen. Keine Spielchen mehr, obwohl das sowieso nie meine Absicht war. Ich will ihn und dafür muss ich Kompromisse schließen.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es die Wahrheit war: Sie wollte Andy mit jeder Faser ihres Körpers, vor allem aber ihres Herzens.
Hoffnungsfroh und schwungvoll ging sie ins Bad und nahm eine erfrischende Dusche. Danach stand sie dreißig Minuten vor dem Kleiderschrank und haderte mit allem, was sich darin befand. Schließlich schalt sie sich eine Närrin, immerhin hatte Andy sie in beinahe jeder Art Kleidung gesehen. Sie wählte einen grauen Hosenanzug, in dem sie sich sehr wohl fühlte, dazu ein dunkelblaues Shirt, das nicht zu edel wirkte. Sie hoffte sehr, er würde sie nicht in ein irisches Pub entführen. Ein vernünftiges Gespräch wäre da kaum möglich. Aber vielleicht wollte er gar nicht richtig reden, sondern ihr nur klarmachen, dass es aus war?
Hannah warf einen Blick auf ihr Porträt, das gerade sehr mahnend dreinblickte.
»Ja, ich weiß. Kämpfen ist die Devise.«
Sie legte nur wenig Make-up auf und wählte als Schmuck ein dezentes Perlenset, das sie sich vor Weihnachten von Illy hatte anfertigen lassen.
»Ich komme langsam in das Alter, wo man Perlen tragen kann«, hatte sie lachend gesagt. Illy hatte sofort widersprochen. »Perlen kann man immer tragen. Es kommt auf die Machart an.«
Tatsächlich wirkte das Set so frisch und jugendlich, dass Hannah bereute, nicht schon früher Perlen getragen zu haben. Aber früher hatte es eben auch keine Illy gegeben, die den Schmuck seinen Trägerinnen anpasste.
Hannah hatte noch knapp zwanzig Minuten Zeit, bis Andy sie abholen würde. Ihre Nervosität stieg, die Gedanken ließen sich nicht abschalten. Sie lief zur Bar, schenkte sich einen großzügigen Whiskey ein, hielt das Glas sekundenlang vor dem Gesicht, atmete den Duft ein, ging dann in die Küche und leerte das Glas in die Spüle.
»Schade drum«, sagte sie, war aber froh, nichts davon getrunken zu haben. Sie wollte und sollte diesen Abend nüchtern verbringen. Zumindest den Anfang.
Andy klingelte Punkt sieben. Hannah atmete tief durch, fuhr sich durch die Haare, befeuchtete ihre Lippen, drückte auf den Türöffner, hörte die Haustür sich öffnen und ins Schloss fallen und Andys Schritte auf der Treppe. Wie immer nahm er zwei Stufen auf einmal und stand kurze Zeit später vor ihr, mit einem kleinen Blumenstrauß in der Hand.
Aber das war es nicht, was Hannah komplett verwirrte.
»Wo ist …, du hast …«, stotterte sie und deutete auf seinen Kopf.
Er grinste sein jungenhaftes Grinsen. »Ich brauchte eine Veränderung.« Er fuhr sich durch die kurzen Haare. »Das war das Naheliegendste.« Er hielt ihr das Sträußchen hin. »Für dich.«
»Danke.« Hannah nahm es und legte es achtlos auf das Sideboard, das neben der Tür stand.
Mit Wohlwollen sah sie, dass Andy statt der üblichen Jeans eine Stoffhose trug, ein einfarbiges Hemd und ein passendes Sakko. Ob Ben ihn beraten hatte? So oder so schien ihm das Gespräch mit ihr wichtig zu sein. Das machte ihr Hoffnung.
Irritiert darüber, dass er ihr offensichtlich keinen Kuss geben wollte, drehte sie sich um und nahm die Blumen. »Ich sollte sie besser ins Wasser stellen.« Sie ging in die Küche, füllte ein großes Glas mit Wasser und stellte den Strauß hinein.
Insgeheim hatte sie gehofft, Andy würde ihr folgen, sich hinter sie stellen, sie in die Arme nehmen und ihr ins Ohr flüstern: »Keine Angst, es ist alles gut.«
Er wartete vor der Tür. Verdammt, er sah so attraktiv aus mit den kurzen Haaren!
»Ist das dauerhaft?«, fragte Hannah, weil ihr nichts anderes einfiel. Sie zeigte auf seinen Kopf.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich warte mal ab. Es ist auf jeden Fall sehr praktisch.«
Hannah schlüpfte in ihren Mantel und griff nach Tasche und Wohnungsschlüssel.
»Danke für die Blumen«, sagte sie, während sie zusperrte.
»Gerne. Gut siehst du aus.«
Du auch, dachte Hannah.
Vor dem Haus stand der Wagen, den Andy vor ein paar Jahren für den neu gegründeten Sozialdienst gekauft hatte. Er war umlackiert und mit dem Logo versehen worden und wirkte trotz seines Alters professionell.
Andy machte jedoch keine Anstalten, zu dem Auto zu gehen, sondern wandte sich zur Blutenburgstraße.
»Fahren wir nicht?«
»Nein. Wusstest du, dass du ganz in der Nähe einen hervorragenden Italiener hast?«
»Nein. Hannah lachte leise. »Ich weiß, ich komme viel zu selten raus.«
»Das ändert sich ja gerade.« Er lächelte sie an.