Café Hannah - Teil 4 - Ann E. Hacker - E-Book

Café Hannah - Teil 4 E-Book

Ann E. Hacker

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Beschreibung

Seit einem Jahr sind Hannah und Andy nun ein Paar, harmonisch ist ihr Verhältnis jedoch immer noch nicht. Als sie erfährt, dass ihr Exmann Johann an Krebs erkrankt ist, verbringt Hannah sehr viel Zeit an dessen Seite. Ihr Ex ist ihr auch nach dreißig Jahren Trennung seltsam vertraut, dennoch ist alles anders. Auch die anderen in Hannahs Umfeld haben Probleme: JJ ist unglücklich verliebt, Illy kämpft um ihr berufliches Überleben, Hubertus hat Angst vor dem Alleinsein. Svenja erhält eine schockierende Nachricht, die ihr Leben komplett umkrempelt. Ist das eine Chance für Ben, endlich ihr Herz zu erobern? Andy hat zum ersten Mal Zweifel an seiner Liebe zu Hannah. Einzig für Edi läuft endlich alles rund. Bahnt sich da ein Happy End an?

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FÜR ACHIM, DER DAS ERSCHEINEN VON TEIL 4 LEIDER NICHT MEHR ERLEBT HAT

Alle Bände der Café Hannah Reihe:

1 - Alles auf Anfang

2 - Überraschungen

3 - Rettet das Café!

4 - Vertraut anders

5 - Wir müssen reden

6 - Familienbande

7 - Mann Mann Mann!

Marilyn - Kurzroman

Brigid - Kurzroman

Cover: Christine Spindler, Fotos © dusk, stock.adobe.com © S.R.Lee Photo Traveller, shutterstock.com

Charakterskizzen: Karin Schliehe. Illustration Tasse: Karl-Heinz-Gutmann (charlygutmann/Pixabay). Foto Ann E. Hacker: Thomas Endl

Lektorat: Christine Spindler

Zweite Auflage, München 2024

ISBN 978-3-949181-08-5

© Feather & Owl

Ute Hacker, Adamstr. 1, 80636 München

Alle Rechte vorbehalten

ÜBER DIESES BUCH

Seit einem Jahr sind Hannah und Andy nun ein Paar, harmonisch ist ihr Verhältnis jedoch immer noch nicht. Als sie erfährt, dass ihr Exmann Johann an Krebs erkrankt ist, verbringt Hannah sehr viel Zeit an dessen Seite. Ihr Ex ist ihr auch nach dreißig Jahren Trennung seltsam vertraut, dennoch ist alles anders.

Auch die anderen in Hannahs Umfeld haben Probleme: JJ ist unglücklich verliebt, Illy kämpft um ihr berufliches Überleben, Hubertus hat Angst vor dem Alleinsein. Svenja erhält eine schockierende Nachricht, die ihr Leben komplett umkrempelt. Ist das eine Chance für Ben, endlich ihr Herz zu erobern? Andy hat zum ersten Mal Zweifel an seiner Liebe zu Hannah. Einzig für Edi läuft endlich alles rund. Bahnt sich da ein Happy End an?

INHALT

Über dieses Buch

1 – Vertraut anders (Hannah Jensen)

2 – Verlobt! Verliebt? (Jonathan »JJ« Jensen)

3 – Wer bin ich? (Svenja Wahls)

4 – Der Weg ist frei, oder? (Ben Häusgen)

5 – Schlangen und Ratten (Ilse-Marie »Illy« Rohstetter)

6 – Kunst oder Familie (Susanne Ganter)

7 – Der Mäzen (Hubertus von Waldhausen)

8 – Starke Frauen (Alexandra »Alex« Steiner)

9 – Zwei Seiten der Medaille (Edeltraut »Edi« Mayerhofer)

10 – Fuck you, Hannah! (Andy Nowak)

Die Autorin

Reihenübersicht

1 – VERTRAUT ANDERS (HANNAH JENSEN)

Hannah stand im Türrahmen und betrachtete den schlafenden Andy. Seine Haare lagen ausgebreitet auf dem Kopfkissen. Vor kurzem hatte er die erste graue Strähne entdeckt und sie gefragt, ob es noch angebracht sei, das Haar schulterlang zu tragen. Sie hatte gelacht und gesagt, sie könne ihn sich gar nicht anders vorstellen. Er atmete durch den leicht geöffneten Mund, ohne zu schnarchen, seine Augenlider flatterten leicht.

Ihr Gemütszustand schwankte zwischen Bewunderung, weil er einen so tiefen Schlaf hatte, dass ihn nicht einmal das Gurgeln der Kaffeemaschine wecken konnte, und Ärger, weil er ihr das Gefühl gab zu ersticken. Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt und ihm gesagt, er solle auf der Stelle gehen.

Sie tat nichts dergleichen, blieb stattdessen stehen und lauschte auf die Geräusche um sie herum. Ein leises Zischen aus der Küche bedeutete, dass der Kaffee fertig war, Schritte über ihr, dass Gregor Hauser sich auf den Tag vorbereitete. Draußen zwitscherte eine Amsel in den hellsten Tönen. Normalerweise freute Hannah sich über den Gesang der Vögel; heute ging er ihr auf die Nerven.

Seit fast zehn Monaten waren Andy und sie nun ein Paar, doch bisher hatte sie sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen können. Sie mochte Andy, keine Frage. Er war witzig, charmant, meist gut gelaunt, sehr geduldig, zudem ein leidlich guter Liebhaber. Sie hatte weit bessere Männer im Bett gehabt, aber ab einem gewissen Alter schaute man auch auf andere Dinge. Zum Beispiel auf Zuverlässigkeit.

Da konnte sie sich bei Andy keinesfalls beschweren. Er hielt, was er versprach. Und genau das bereitete ihr seit Wochen Kopfschmerzen. Er war so durchschaubar, so berechenbar. Hannah hatte bisher nicht gewagt, den Gedanken, der in ihrem Kopf herumschwirrte und sie nicht mehr loslassen wollte, laut auszusprechen. Es wäre womöglich das Ende ihrer Beziehung zu Andy gewesen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wollte.

Sie schalt sich eine hysterische Zicke, wandte sich ab und ging in die Küche, um den ersten Kaffee zu trinken. Sie hatte noch gut eine Stunde, bis sie hinunter ins Café musste. Und notfalls war Edi da, die gute Seele.

Hannah öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon, nippte am Kaffee und starrte auf die Bäume im Hinterhof, ohne etwas zu sehen.

Dass sie in letzter Zeit häufig an Klaus denken musste, machte ihr Angst. Aber dieser Zug war nun definitiv abgefahren. Die Heiratsanzeige, die vor ein paar Wochen ins Haus geflattert kam, war ein Schock gewesen.

Hannah mochte kaum glauben, dass Klaus und die Autorin tatsächlich heirateten. Am liebsten wäre sie nach Frankfurt gefahren, um es mit eigenen Augen zu sehen.

Selbst wenn die Anzeige nur dazu da war, um sie zu ärgern – was hervorragend geklappt hatte –, würde sie sich nicht noch einmal auf ihren früheren Liebhaber einlassen. Es hatte zu viele Verletzungen auf beiden Seiten gegeben, das Vertrauen war weg.

War da jemals Vertrauen gewesen?

Hannah wandte sich ab und schloss die Tür. Trotz der ungewöhnlichen Wärme seit Mitte April war es morgens immer noch ziemlich kühl.

Vielleicht sollte sie sich ein Beispiel an Edi nehmen. Sie hatte sich in den letzten vier Jahren von der unselbstständigen, vom Mann verlassenen, etwas biederen Hausfrau namens Edeltraut zu einer attraktiven, selbstständigen und allseits beliebten Mitarbeiterin gewandelt, auf die Hannah nicht mehr verzichten wollte. Und konnte. Sie ließ sich jetzt Edi nennen und klärte gerne jeden darüber auf, dass ihr Name englisch ausgesprochen wurde: »Ich heiße Iiiidi.«

Den leisen Schnarchgeräuschen nach zu schließen, schlief Andy immer noch. Hannah schenkte sich Kaffee nach, füllte eine zweite Tasse und ging zurück ins Schlafzimmer.

»Guten Morgen, du Langschläfer«, rief sie betont fröhlich und setzte sich auf die Bettkante.

Andy gab ein Knurren von sich, wischte sich mit der Hand über das Gesicht und öffnete die Augen. Als sein Blick auf sie fiel, strahlte er.

»Guten Morgen, Sonnenschein.«

»Hier, Kaffee, frisch aufgebrüht.« Hannah bekam ein schlechtes Gewissen.

»Perfekter Service«, murmelte Andy, setzte sich auf und nahm einen ersten Schluck. »Gut! Schön stark.« Mit seinen schulterlangen, verwuschelten Haaren wirkte er wie ein zerstreuter Professor.

»Ich geh mal duschen«, kündigte Hannah an, blieb jedoch sitzen.

Andy schien zu ahnen, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. »Was ist los?«

Hannah wusste nicht, wie sie es sagen konnte, ohne seine Gefühle zu verletzen, und schwieg.

»Raus damit«, forderte Andy sie auf. Seine Stimme klang forsch, sein Blick sagte etwas anderes: Gib mir bitte nicht den Laufpass!

Das hatte Hannah nicht vor, sie brauchte nur etwas mehr Abstand.

Genau das sagte sie. Und: »Ich würde zwischendurch gerne ein paar Nächte allein verbringen.«

Andy schaute sie ungläubig an. »Das ist alles? Uff. Ich dachte wirklich, du willst unsere Beziehung beenden.«

»Nein, ich …«, begann Hannah. Sie konnte und wollte nicht sagen, dass er sie einengte, obwohl er es tat. Sie hatte immer häufiger das Gefühl zu ersticken.

Andy griff nach ihrer Hand. »Hannah, du weißt, ich würde alles für dich tun.« Er stockte, korrigierte sich: »Na ja, nicht alles. Aber viel. Sehr viel. Ich will nur, dass es dir gut geht.«

»Und genau das macht mir Angst. Du denkst nur an mich, nie an dich.«

Andy lachte. »Glaub mir, ich denke sehr wohl an mich. Ich bin glücklich, wenn ich bei dir bin. Das ist ziemlich egoistisch, finde ich.«

»Du nimmst mich nicht ernst«, beschwerte Hannah sich.

Er drückte ihre Hand und schaute sie an. »Ich nehme dich sehr wohl ernst«, sagte er leise. »Ich gebe zu, es klingt erschreckend, wenn jemand sagt, sein Lebensziel ist, einen anderen Menschen glücklich zu machen. Es hat auch mich zu Beginn verwirrt. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es richtig ist. Schau, ich liebe die Menschen und möchte, dass es allen gut geht. Deswegen bin ich Physiotherapeut geworden. Helfen liegt mir im Blut. Bei dir ist es eben noch etwas zugespitzter, einfach, weil ich dich liebe.«

Einfach, weil ich dich liebe.

Bei Andy klang das so natürlich. Da war nichts Affektiertes oder Gekünsteltes dabei. Er liebte sie, Punkt.

Warum kann ich nicht so sein?, fragte sie sich. Ihr wurde klar, dass sie noch nie »Ich liebe dich« zu Andy gesagt hatte. Auch jetzt konnte sie sich nicht dazu aufraffen, obwohl sie ihn in diesem Moment wirklich sehr mochte.

Andy zog ihren Kopf zu sich und küsste sie auf den Mund.

»Denk nicht so viel nach. Wenn dir etwas nicht passt, sag es. Ich halte das aus.« Er gab ihr einen leichten Klaps auf die Hüfte. »Wolltest du nicht in die Dusche?«

Sein spitzbübisches Grinsen verfehlte seine Wirkung nicht.

Sie beugte sich zu ihm und flüsterte: »Lieber hätte ich etwas anderes.«

Eine Stunde später stand sie mit einem Lächeln im Gesicht im Café.

»Der Mann scheint dir gut zu tun«, knurrte Edi im Vorübergehen an Stelle einer Begrüßung.

Hannah band ihre Schürze um und machte sich daran, die Bestellungen abzuarbeiten. Als Edi hinter die Theke kam, sagte sie: »Tut mir leid, dass es später wurde. Wir mussten reden.«

»Wenn’s geholfen hat«, meinte Edi spitz und verschwand in der Küche.

Hannah ließ die Bestellungen sein und folgte ihr. »Was ist los?«

»Nichts.«

»Edi, ich glaub dir kein Wort. Zumindest die Kurzfassung.«

»Xaver will mit mir zusammenziehen!«

Hannah musste wider Willen laut lachen. Zwei Paare, ein Problem!

»Das ist nicht witzig«, sagte Edi.

»Nein, ist es nicht«, antwortete Hannah und bemühte sich vergeblich, nicht zu lachen. »Willkommen in meiner Welt«, sagte sie und drückte Edis Arm. »Ich hatte oben gerade eine ähnliche Diskussion.«

Edi schaute sie neugierig an. »Dafür siehst du recht zufrieden aus.«

»Weil wir einen guten Kompromiss gefunden haben. Und das schaffst du mit Xaver auch. Lass uns später reden, sonst müssen die Gäste zu lange warten.«

Tatsächlich fanden sie erst am Nachmittag Zeit für ein Gespräch. Nach dem drohenden Aus im vergangenen Jahr boomte das Café noch mehr als vorher. Zu dritt war der Ansturm kaum zu bewältigen. Hannah wusste, sie musste sich schleunigst nach einer weiteren Bedienung umsehen, wollte sie nicht wieder einen Burn-out riskieren.

»Hier, deine Schokolade«, sagte sie und reichte Edi die dampfende Tasse. »Und kein Wort wegen der Sahne, das ist Medizin.«

»Ich hätte gar nichts gesagt.« Edi schmunzelte und tauchte ihren Mund in die weiße Haube. »Gut!« Sie seufzte zufrieden. »Könnte glatt von mir sein.«

»Wo ist das Problem, dass Xaver mit dir zusammenziehen will?«, wollte Hannah wissen. »Ich dachte, es läuft so gut mit euch.«

»Tut es auch. Aber mir geht das zu schnell. Wir sind gerade mal ein Jahr zusammen.«

Hannah lachte. »Das ist heutzutage sehr viel.« Sie beugte sich vor. »Edi«, sagte sie eindringlich. »Ihr seid keine Teenager mehr. Und niemand erwartet, dass es perfekt ist. Setzt euch zusammen und redet miteinander. Sag ihm, was du möchtest, hör dir an, was er möchte. Und dann findet eine Lösung.«

Das sagt genau die richtige, dachte sie spöttisch.

Sie hatten nach dem Sex tatsächlich noch geredet. Oder hauptsächlich sie. Sie hatte versucht, Andy klarzumachen, dass sie nicht die Frau für eine enge Beziehung war. Sie wollte keine offene Freundschaft, wo jeder fremdgehen konnte, nein, das nicht. Aber sie wollte eben auch nichts Eheähnliches. Zu viel Nähe machte sie auf Dauer kirre.

Andy hatte verstanden, wie immer, und vorgeschlagen, dass er nicht mehr so häufig bei ihr übernachten würde. Immerhin hatte er das kleine Apartment in Bens Loft, in dem er sich sehr wohlfühlte.

Erst hinterher war Hannah aufgefallen, dass sie ihn nicht nach seinen Wünschen gefragt hatte. Und er hatte, wie immer, nichts gesagt.

»Das muss sich ändern«, sagte sie.

»Was?«, wollte Edi wissen.

»Ach, nichts.« So sehr Hannah Edi schätzte – für ihre Beziehungsprobleme war sie nicht die richtige Person.

* * *

Den Abend verbrachte Hannah wie vereinbart allein. Eine Stunde lang kümmerte sie sich um unerledigte Post und Mails, scannte Rechnungen ein und schickte sie dem Buchhalter, den sie nach ihrem Zusammenbruch im Jahr zuvor engagiert hatte.

Als alle Arbeit erledigt war, wanderte sie mit einem Glas Whiskey in der Hand rastlos in der Wohnung umher.

»Typisch«, murmelte sie. »Kaum bin ich allein, ist mir langweilig.«

Sie holte das Buch vom Nachttisch, das sie vor Wochen angefangen hatte, und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie las, ohne den Text zu verstehen. Nach zwei Seiten klappte sie das Buch entnervt zu und nahm einen großen Schluck.

Es war zu ruhig. Hannah stand auf, ging zur Stereoanlage, schaltete das Radio an. Natürlich lief Werbung. Sie suchte eine CD, fand ein Violinkonzert von Mozart, legte die CD ein, lauschte den klassischen Klängen. Nein, das war es ebenfalls nicht. Auch Blues oder Rock konnten sie nicht erfreuen.

»Verdammter Mist!« Andys permanente Anwesenheit hatte sie unfähig gemacht, allein zu sein.

Hannah wusste, es war nicht wahr, und sie schämte sich für den Gedanken.

Ihr Blick fiel auf das Telefon. Sie nahm es und wählte eine Nummer.

»Hi, this is Marilyn. Sorry I can’t take your call. Please leave …«

Hannah legte auf, wählte die Kurzwahl für JJ, drückte den roten Knopf, noch bevor die Nummer vollends gewählt war. Ihr Sohn war nicht der Richtige in einer Stimmung wie dieser.

Blieb nur noch Brigid. Ihre beste Freundin hatte sich in das Cottage im Westen Irlands zurückgezogen, um an ihrem neuen Kinderbuch zu arbeiten. Störungen waren nur im äußersten Notfall gestattet.

»Das ist ein Notfall«, murmelte Hannah und wählte.

»Yes?« Brigid klang atemlos. Dann erkannte sie die Nummer im Display. »Oh, Hannah, it’s you. What’s wrong?«

Zu Hannahs eigener Verblüffung begann sie zu weinen.

»Hannah, was ist los?«, fragte Brigid nach einer Weile besorgt.

»Nichts, ich …« Hannah schluchzte und wischte sich über die nassen Augen. »Es … ich … warte einen Moment.« Sie suchte nach einem Taschentuch, fand eines in der Hosentasche und schnäuzte sich. »Besser.«

»Was ist los?«

Hannah kam sich dämlich vor. Sie verhielt sich wie ein Teenager mit Liebeskummer! Einfach lächerlich! »Es ist eigentlich nichts«, wich sie aus. »Ich hatte gerade nur einen schlechten Moment.«

»Erzähl das deiner Großmutter«, gab Brigid ungerührt zurück.

Hannah musste lachen. »Du kennst mich einfach zu gut.«

»Das ist mein Job. Ich bin deine beste Freundin.«

Hannah wusste, dass Brigid sie nicht vom Haken lassen würde. Und vielleicht konnte sie ihr ja wirklich helfen. Ihre irische Freundin war, was Beziehungen anging, nicht gerade die Expertin – genau das gab ihr einen Hauch von Neutralität.

»Ich schätze, es geht um Andy«, sagte die Expertin, weil Hannah immer noch schwieg.

»Ja, natürlich. Geht es nicht immer um die Männer?«

»Wo ist der Haken?«

»Wenn er da ist, engt er mich ein, wenn er nicht da ist, vermisse ich ihn«, erwiderte Hannah. Da Brigid nichts sagte, fuhr sie fort: »Es macht mir Angst, dass er mich so bedingungslos liebt.«

»Warum? Was daran macht dir Angst?«

Gute Frage. Hannah dachte nach. Was war so schlimm an Andys Liebe?

»Ich schätze, ich habe andauernd ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn nicht so liebe wie er mich«, sagte sie schließlich.

»Das weiß er. Er weiß es und liebt dich trotzdem. Und er scheint auch nicht allzu unglücklich damit zu sein. Zumindest machte er bei meinem Besuch im Februar nicht den Eindruck.«

Hannah musste ihrer Freundin recht geben. Andy wirkte alles andere als unglücklich, im Gegenteil. Und hatte er nicht selbst am Morgen behauptet, ihm reiche es, sie glücklich zu sehen?

Aber sie war nicht glücklich.

»Er sagt andauernd, dass er mich liebt.« Es hörte sich an wie eine Beschwerde.

»Und?«

»Ich kann es nicht zu ihm sagen. Ich mag ihn, ich mag ihn wirklich sehr. Ich fürchte nur, ich liebe ihn nicht. Nicht genug.«

»Honey, kann es sein, dass du dir viel zu viele Gedanken machst? Warum lässt du es nicht einfach laufen und genießt es?«, schlug Brigid vor.

»Genau das ist das Problem! Ich kann es nicht genießen!«

Jetzt klinge ich wirklich wie ein Teenager!

Sie redeten noch eine Weile, kamen jedoch auf keinen grünen Zweig.

Brigid seufzte. »Ich vermute, ich bin nicht die richtige Person, mit der du über so etwas reden kannst. Ich habe nun mal kaum Erfahrung auf diesem Gebiet. Außerdem …«, sie zögerte.

»Du musst arbeiten«, ergänzte Hannah. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören.«

»Du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst«, versicherte die Freundin. »Es ist wirklich in Ordnung. Aber wir drehen uns im Kreis. Das bringt weder dir noch mir etwas. Warum rufst du nicht Marilyn an?«

»Hab ich schon«, knurrte Hannah. »Sie ist nicht da.«

»Sie ruft sicher zurück, sobald sie nach Hause kommt. Hab ein bisschen Geduld.«

Jetzt war es an Hannah zu seufzen. »Du weißt, das ist nicht meine herausragendste Eigenschaft.«

Brigid lachte. »Oh ja, das weiß ich nur zu gut.« Sie wurde wieder ernst. »Ist es okay, wenn wir Schluss machen? Ich hänge hoffnungslos hinterher und gerade heute läuft es gut.«

»Natürlich.« Hannah hatte schon wieder ein schlechtes Gewissen. »Auch wenn wir keine Lösung gefunden haben, hat mir unser Gespräch sehr geholfen. Danke!«

»Pass auf dich auf, ja? Und ruf an, wenn was ist. Egal wann. Bye.«

»Bye.«

Hannah genehmigte sich einen zweiten großen Whiskey, ging zum Sofa und setzte sich mit untergezogenen Beinen darauf.

Wie kam es, dass sie ständig an Klaus denken musste, obwohl sie den ganz sicher nicht geliebt hatte? War das so etwas wie Besitzdenken à la: Finger weg, dieser Typ gehört mir!? Das war eher typisch für Männer, die Besitzansprüche an Frauen stellten.

Während sie am Whiskey nippte, ging Hannah in Gedanken die wichtigen Männer ihres Lebens durch. Sie kam zu dem Schluss, dass sie nur zwei wirklich geliebt hatte: Johann, den Vater von JJ, und Josh.

Obwohl – bei Johann war sie sich gar nicht sicher, ob das wirklich Liebe gewesen war. Hatte er ihr nicht eher als Ausweg gedient, um dem Elternhaus zu entfliehen?

»Nun mach aber mal ‘nen Punkt«, schimpfte sie mit sich selbst. »Natürlich hast du Johann geliebt. Wie man halt mit achtzehn lieben kann.«

Ihr war klar, dass es nur eine wirklich große Liebe in ihrem Leben gegeben hatte: Josh. Sein Tod war über zehn Jahre her, dennoch musste sie immer noch mit den Tränen kämpfen, wenn sie an ihn dachte.

Du musst dich von ihm lösen, sonst hat Andy keine Chance.

Hannah beschloss, gleich am nächsten Tag mit Andy zu reden.

* * *

Ein Anruf ihres Sohnes am nächsten Tag ließ Hannah ihren Plan vergessen.

»Wusstest du, dass Dad krank ist?«, sagte er in anklagendem Ton.

Hannah, mit einem Tablett voller Getränke in der Hand und eingeklemmtem Handy zwischen Schulter und Kinn, war verwirrt. Ihr Vater war bereits seit zwei Jahren tot, außerdem hatte sie ihn niemals Dad genannt, sondern immer nur Vater.

»Warte bitte eine Sekunde.« Sie steckte das Handy in die Schürzentasche und servierte die Getränke.

»Ich bin kurz hinten, hab JJ am Telefon«, sagte sie zu Edi, verzog sich in die Küche und schloss die Tür.

»JJ? Was ist los?«

»Dad hat Krebs.«

Hannah wollte gerade nachfragen, von wem um Himmels willen ihr Sohn sprach, als es ihr einfiel. Johann! Bis zu seinem Wegzug aus den USA hatte JJ seinen Vater immer nur mit dem Vornamen angesprochen. Seit er in Berlin lebte, hatten die beiden ein engeres Verhältnis und er nannte ihn jetzt Dad.

»Wie kommst du darauf?«, fragte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.

»Weil er es mir gesagt hat.« JJ klang immer noch wie der personifizierte Vorwurf.

Warum hat er mir nichts gesagt?, fragte Hannah sich und antwortete sich selbst: Weil du kaum noch Kontakt zu ihm hast.

»Wie geht es ihm?«

»Soweit ganz gut. Er hat eine Operation hinter sich und bekommt jetzt Chemo.«

Und warum rufst du mich dann an?

JJ schien ihren Gedanken gespürt zu haben, denn er sagte: »Er ist ganz allein.«

Hannah war versucht zu sagen: Na und? Mir hilft auch keiner. Aber zum einen war es unfair, so über ihren früheren Ehemann und den Vater ihres Sohnes zu reden; zum anderen hatten ihr viele Menschen geholfen, als es ihr schlecht ging.

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte sie schließlich. »Ich muss ein Café führen, ich kann nicht weg.«

Wie zum Zeichen klopfte es an der Tür. Edi brauchte Unterstützung.

»Du könntest ihn wenigstens mal anrufen.«

»Ich telefoniere regelmäßig mit ihm!«

»Dad sagt, du hast seit Monaten nicht mehr angerufen.«

Wirklich?

»Ja, gut möglich, dass ich zuletzt vor Weihnachten angerufen habe«, gab sie widerwillig zu. »Du weißt, wie viel hier los ist.«

»Das ist kein Grund, die Familie zu vernachlässigen.«

Hannah unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass ein Mann, von dem man seit über dreißig Jahren geschieden war, nicht unbedingt zur Familie zählte. Auch, wenn er der Vater des einzigen Kindes war.

»Ja, ich weiß«, sagte sie stattdessen und hängte einen lauten Seufzer an. »Ich kümmere mich zu wenig.«

»Nein, tust du nicht«, erwiderte JJ in versöhnlicherem Ton. »Ich glaube, er würde sich einfach freuen, wenn du mal anrufst.«

»Ich mache es, gleich heute Abend. Versprochen. Jetzt muss ich zurück und Edi helfen, hier ist wirklich die Hölle los.«

»Okay, Mom. Danke. Bis die Tage.« JJ hatte aufgelegt, bevor Hannah noch etwas sagen konnte. Verblüfft schaute sie auf ihr Handy. Das waren ganz neue Seiten an ihrem Sohn.

Sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn Edi klopfte erneut an die Tür.

»Bin sofort da«, rief Hannah. Sie gab sich einen Moment, um das Gehörte zu verdauen. Johannes hatte Krebs. Wie alt war er jetzt? Sie rechnete nach und kam auf sechzig. Das war kein Alter zum Sterben. Aber davon hatte JJ auch nichts gesagt. Überhaupt hatte er ihr die wichtigsten Details verschwiegen. Vermutlich mit Absicht. Er wusste, wie neugierig sie das machte.

»Mistkerl«, flüsterte sie liebevoll und öffnete die Tür. Sie würde ihren Ex heute Abend anrufen. So viel Zeit musste sein.

Der Anruf fiel ihr kurz vor Mitternacht ein, als sie bereits im Bett lag. Allein.

Da es zu spät war, um einen Krebskranken anzurufen, verschob Hannah es auf den nächsten Morgen. Vorsichtshalber schrieb sie sich einen Zettel, den sie neben die Kaffeemaschine legte.

Doch es schien sich alles gegen sie verschworen zu haben: Der Wecker klingelte nicht, weshalb sie verschlief, sich den ersten Espresso unten im Café machte und den Zettel erst entdeckte, als sie mittags kurz nach oben in die Wohnung ging, um ein neues T-Shirt anzuziehen. Das andere hatte eine Ladung von Edis hausgemachtem Dressing abbekommen.

Hannah steckte den Zettel zu ihrem Handy in die Hosentasche; dort würde sie ihn garantiert nicht übersehen. Rasch zog sie sich um und eilte zurück ins Café.

Edi hatte ihr am Morgen signalisiert, dass sie mit Xaver gesprochen hatte. An dieser Front schien alles wieder im Lot zu sein. Dafür lief die eigentlich immer freundliche Alex seit Tagen mit Leichenbittermiene durch die Welt. Hannah hatte sich schon am zweiten Tag vorgenommen, mit ihr zu reden, war jedoch wegen des Trubels noch nicht dazugekommen.

Als sie die Bedienung in der Küche antraf, sagte sie: »Ich möchte heute Abend kurz mit dir reden. Passt das?«

Alex, die ein Sandwich zubereitet hatte und gerade fertig wurde, sagte kurz »Klar« und verließ mit einem Blick auf den Teller die Küche.

Die letzten Gäste gingen um zehn nach neun, gegen zweiundzwanzig Uhr waren sie mit dem Gröbsten fertig. Hannah hatte Edi nach Hause geschickt; immerhin war sie morgens die erste. Auch wenn sie für ihre dreiundsechzig topfit war und seit ihrer Liaison mit Xaver über neuen Elan verfügte, wollte Hannah sie nicht über die Maßen strapazieren.

Sie war sich durchaus bewusst, dass die Leute vor allem wegen Edis Speisen und Kuchen kamen. Natürlich auch wegen des Charmes, den das Café ausstrahlte, aber vor allem eben wegen des Essens. Nicht auszudenken, wenn Edi ausfiele!

Obwohl Hannah mittlerweile sehr viele Rezepte kannte und mindestens einmal nachgekocht und -gebacken hatte, fehlte ihren Gerichten irgendwie immer der letzte Schliff. Gefragt, was ihr Geheimnis sei, hatte Edi nur gelächelt und gesagt: »Ich bin eben mit Leidenschaft dabei.« Hannah tröstete sich damit, dass sie selbst dafür eine hervorragende Gastgeberin war.

»Ich geh dann mal«, sagte Alex.

»Ich wollte kurz mit dir reden.« Hannah zeigte auf einen Stuhl. »Es dauert nicht lang, versprochen.«

Alex nahm Platz, Hannah setzte sich gegenüber.

»Was ist los?«, kam sie direkt zum Punkt. »Seit Tagen schaust du aus, als hätten dir die Hühner die Wurst vom Brot gestohlen.«

Alex fiel in sich zusammen. »Tut mir leid. Ich bemühe mich wirklich. Es sind ein paar private Probleme, nichts Gravierendes. Ich bekomme das in den Griff.«

Hannah legte eine Hand auf ihre. »Wenn ich helfen kann, sag Bescheid. Mir ist wichtig, dass sich meine Angestellten wohlfühlen. Und die Gäste«, fügte sie mit Nachdruck an.

»Ja, ich weiß.« Alex hielt den Kopf gesenkt, sodass Hannah ihr nicht in die Augen schauen konnte. »Wie gesagt, es tut mir leid. Ich bemühe mich.«

»Gut.« Hannah tätschelte Alex‘ Hand. »Ab morgen möchte ich bitte wieder die fröhliche Alex sehen. Oder wenigstens die professionelle.«

Die Bedienung nickte.

»Schön, dann ab mit dir in den Feierabend.«

»Danke, gute Nacht.« Alex verließ beinahe fluchtartig das Café.

Hannah sperrte hinter ihr zu und löschte die Lichter. Nachdenklich ging sie in ihre Wohnung im ersten Stock. Sie wusste wenig über die junge Frau, die seit über einem Jahr bei ihr arbeitete. Alex hatte sich sehr schnell als äußerst zuverlässig erwiesen, bei den Gästen war sie beliebt. Auch bei ihr wäre es mehr als bedauernswert, wenn sich das ändern würde.

Es erinnerte Hannah daran, dass sie eine Aushilfe suchen wollte. Sie loggte sich in die Seite ein, auf der Studentenjobs eingestellt waren, scrollte über die Gesuche, fand niemanden, der gepasst hätte, und schrieb das folgende Jobangebot:

Café in Neuhausen sucht freundliche und zuverlässige Aushilfe für stundenweise Bedienung, vorzugsweise nachmittags und abends (bis 21 Uhr). Erfahrung wäre wünschenswert, ist jedoch keine Voraussetzung. Kontakt über [email protected]

Sie schickte die Nachricht los und schaltete den PC ab. Auf ihrem Schreibtisch türmten sich schon wieder die Briefe, aber sie hatte keine Lust mehr, sich darum zu kümmern.

Überrascht stellte sie fest, dass Freitag war. Wo waren die Zeiten geblieben, als man Freitagabend das Wochenende einläutete?

Entschlossen zog Hannah das Handy heraus und übersah dabei den Zettel, der zu Boden fiel. Sie rief Andy an und legte verblüfft auf, als nur die Mailbox ranging.

Er saß also nicht da und wartete, bis sie sich meldete. Auch gut.

Inzwischen war es nach elf, zu spät, um jemanden anders anzurufen. Also wieder ein Abend allein zu Hause. Wollte sie das nicht genau so?

»Nicht jeden Abend, verdammt noch mal«, murrte sie und musste lachen. Das war wieder typisch. Sie warf ihren Angestellten vor, schlechte Laune zu haben, und sie selbst schimpfte permanent wie ein Rohrspatz. Immerhin – sie tat es zu Hause und nicht vor den Gästen.

Sie stand auf, um sich ein Glas Rotwein zu holen – wenn schon allein zu Haus, dann wenigstens mit Alkohol –, als sie den Zettel bemerkte.

Johann anrufen!!!

Ach herrje! Hannah zögerte, suchte einer Eingebung folgend die Nummer ihres Ex-Mannes und drückte auf Wählen.

Bereits nach dem ersten Klingeln meldete er sich.

»Hallo Johann, hier ist Hannah.«

»Hallo Hannah. Wie schön, dass du dich meldest.«

Wie immer, wenn sie mit ihrem Ex sprach, fühlte Hannah sich wie die Achtzehnjährige, die sie damals gewesen war. Es war nicht das Alter, das sie störte, sondern das Gefühl, jung, dumm und unerfahren zu sein.

»JJ hat mir gesagt, dass du krank bist.« Nur nicht das böse Wort erwähnen.

Johann lachte leise. »Hat er das. Er kommt nach dir, muss sich auch um alles und jeden kümmern.«

»Ha ha. Was genau fehlt dir?«

»Darmkrebs. Sie haben es rechtzeitig entdeckt, die Aussichten sind recht gut.« Johanns Stimme klang schwach, aber gut.

»Freut mich zu hören. Hast du Unterstützung?«

»Wenn du die Schwester meinst, die mich jeden Morgen aus dem Bett wirft, weil sie den künstlichen Ausgang wechseln muss, dann ja. Den Rest kann ich allein bewerkstelligen.«

Hannah schluckte. Künstlicher Ausgang? Das klang nicht nach einer einfachen Sache. »Was …«, begann sie.

»Es ist nur vorübergehend, bis sich das Operationsgebiet erholt hat«, unterbrach Johann sie. »Es ist wirklich alles in Ordnung. – Na ja, die Chemo schlaucht.«

»Kann ich etwas tun?«

»Du könntest herkommen und mich bedauern und betütteln.« Johann lachte erneut. »Im Ernst? Nein, du kannst nichts tun. Ich komme gut zurecht. Wie geht es dir?«

Hannah versicherte ihm, dass alles bestens sei. Das Café laufe hervorragend, Edi sei der personifizierte Goldschatz und ihre derzeitige Beziehung ebenfalls wunderbar. Es könne nicht besser sein.

»Schön, das freut mich für dich«, sagte Johann. »Sei mir nicht böse, aber ich sollte jetzt schlafen. Wie gesagt, die Schwester, die morgens kommt, kennt kein Erbarmen. Danke, dass du angerufen hast. Mach dir keine Sorgen. Gute Nacht.«

»Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst. Schlaf gut.«

Nachdenklich schaute sie auf das Handy. Sie war sich sicher, dass Johann ihr etwas verschwieg.

Auf dem Weg zur Küche, wo sie sich endlich das Glas Rotwein holen wollte, vibrierte ihr Handy. Es war Andy.

»Ich habe Sehnsucht nach dir. Kann ich hochkommen?«, sagte er statt einer Begrüßung.

Hannah wurde bewusst, dass sie gerade nichts dringender brauchte als diesen Mann. Sie lief zur Tür, drückte den Türöffner und strich sich durch die Haare. Andy kam, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe heraufgestürmt.

»Gut, dass du da bist.« Hannah küsste ihn stürmisch und zog ihn ins Schlafzimmer.

* * *

Samstag war ihr freier Tag und diesmal beschloss Hannah, ihn tatsächlich zu nutzen. Das Wetter war traumhaft und sie musste dringend an der Beziehung mit Andy arbeiten.

Sie widerstand der Versuchung, im Café Bescheid zu sagen; auch wenn sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, wenigstens einmal vorbeizuschauen, würden Edi und Alex sehr gut allein zurechtkommen. Da am Wochenende die Gäste wegfielen, die in der Umgebung arbeiteten, öffneten sie erst am Nachmittag.

Andy war positiv überrascht gewesen von ihrem Vorschlag, den Tag gemeinsam zu verbringen. Er telefonierte mit seinem Geschäftspartner Maik und bat ihn, für ihn einzuspringen, ihm sei etwas Wichtiges dazwischengekommen.

»Er übernimmt meine Termine«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Was unternehmen wir?«

»Was möchtest du machen?«, stellte Hannah die Gegenfrage.

»Zeig mir deinen Lieblingsplatz in München.«

»Puh.« Hannah ging im Geiste alle Orte durch, die man als Tourist üblicherweise besuchte: Englischer Garten, Schloss Nymphenburg, die Innenstadt mit Rathaus und Frauenkirche, Schwabing, das Olympiastadion mit BMW-Welt. Natürlich waren sie da überall schon gewesen – wie tausend andere Touristen auch. Ihr war mehr nach einem ruhigeren Ort, wo man sich gegebenenfalls auch unterhalten konnte.

Plötzlich hatte sie eine Eingebung. »Ich weiß.«

»Und, wohin geht es?«

»Wird nicht verraten.« Hannah setzte ein geheimnisvolles Gesicht auf.

»Meine Sphinx.« Andy küsste sie lächelnd.

Hannah warf einen Blick auf seine Schuhe.

»Was?«, fragte er unsicher.

»Ich wollte nur sichergehen, dass du das richtige Schuhwerk anhast. Wir werden eine ganze Menge laufen.«

»Na hör mal, ich bin doch kein alter Mann!«

»Noch nicht«, neckte Hannah ihn. Sie prüfte, ob sie genügend Geld einstecken hatte und packte neben dem Geldbeutel auch einen Pullover, ihre Sonnenbrille und Sonnenmilch in ihren Rucksack. »Fertig?«

Andy nickte.

»Dann los.«

Sie wollte das traumhafte Maiwetter nutzen und lief statt zur U-Bahn in die entgegengesetzte Richtung. Andy versuchte immer wieder, ihr das Ziel zu entlocken, aber sie schüttelte nur den Kopf.

»Wirst es schon sehen«, sagte sie. »Auf jeden Fall ist es dort nicht so überlaufen wie an anderen Stellen. Und ich war früher immer gerne dort.«

Sie passierten das LKA und das Finanzamt und gelangten schließlich zur Hackerbrücke, wo sie in die nächste S-Bahn einstiegen.

»Starnberg?«, mutmaßte Andy, weil die S-Bahn nach Tutzing fuhr.

Hannah lächelte nur. Kurz vor Pasing sagte sie: »Wir steigen gleich aus.«

Sie musste ein paar Sekunden überlegen, wie sie am besten ans Ziel gelangten. Es war viele Jahre her, dass sie hier gewesen war. Seitdem hatte sich viel verändert. Der Pasinger Bahnhof wurde renoviert und modernisiert, in Sichtweite stand ein Einkaufszentrum, der Vorplatz war weitläufiger, als sie ihn in Erinnerung hatte.

»Da geht’s lang«, sagte sie schließlich entschieden und zeigte vom Bahnhof weg. Sie machten einen Umweg, sah schließlich das erste Ziel: das Kanalwärterhäuschen auf der Würminsel.

»Amazing.« Andy verfiel immer noch ins Englische, wenn er aufgeregt war.

»Und das ist erst der Anfang«, versprach Hannah. »Das ist der Pasinger Stadtpark. Ich war oft hier, als ich meine Ausbildung absolviert habe. Das ist eine Ewigkeit her.«

Sie liefen am Fluss entlang. Jetzt, kurz vor Mittag, waren nur ein paar Jogger, ältere Männer, Frauen mit ihren Hunden und Mütter mit Kinderwagen unterwegs.

»Ich war meist in der Mittagspause hier, manchmal auch am Abend.« Hannah deutete hinter sich. »In diesem Viertel habe ich meine Ausbildung gemacht; die Bankfiliale gibt es nicht mehr. Mein Vorgesetzter war ein herrischer Typ, der wegen jedes noch so kleinen Fehlers wütend wurde, deshalb bin ich oft hierher geflüchtet. Hier war es meist himmlisch ruhig.«

Sie hatte Andy nur wenig aus ihrer Vergangenheit erzählt und beschloss, es sei an der Zeit, dass er mehr über sie erfuhr.

»Du weißt ja, dass ich das schwarze Schaf der Familie bin.« Sie lachte unsicher. »Nach der gescheiterten Ehe mit Johann wollte ich unbedingt weg, so weit wie möglich. Amerika war immer mein Traum gewesen, aber ich hatte ein kleines Kind und kein Geld. Nach endlosen Diskussionen hat mein Vater mir die Ausbildungsstelle hier in München besorgt. Ich habe keine Ahnung, ob er jemanden kannte und wie er es anstellte. Ich wollte es auch nicht so genau wissen, die Hauptsache weg. JJ war gerade mal zwei Jahre alt, und natürlich gab es großen Streit deswegen. Ich würde den ganzen Tag in der Bank sein, wer sollte also auf JJ aufpassen? Krippenplätze gab es damals kaum, Tagesmütter auch nicht. Johann, mein Ex, hat mich gegen die Familie unterstützt und durchgesetzt, dass ich JJ behalten kann.«

Hannah erinnerte sich daran, was ihr Sohn ihr vor zwei Jahren erzählt hatte: Angeblich hatte Rasmus geplant, ihr das Sorgerecht entziehen zu lassen. Sie hatte bisher nicht den Mut gefunden, ihren Bruder darauf anzusprechen. Das Verhältnis zu ihrer Familie war schon kompliziert genug.

Andy schien zu spüren, dass sie nicht nur gute Erinnerungen hatte, und nahm ihre Hand. »Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst«, meinte er leise.

»Danke. Ich will, dass du mich besser kennenlernst.«

Zum Dank bekam sie einen langen Kuss, der sie atemlos werden ließ.

»Wow«, sagte sie, als sie wieder Luft bekam.

Andy setzte sein schelmisches Lächeln auf. »Ich habe auch meine Geheimnisse.«

Hand in Hand gingen sie weiter, vorbei an blühenden Wiesen, die von Baumgruppen unterbrochen wurden. Insekten umsummten sie, in den Bäumen zwitscherten die Vögel.

»Es ist sehr schön hier«, sagte Andy.

»Ja. Man glaubt kaum, dass man mitten in der Stadt ist.«

Sie passierten einen Spielplatz, an dem zwei Kleinkinder sich laut kreischend mit Sand bewarfen, während die Mütter sich miteinander unterhielten.

»So entspannte Mütter sieht man heutzutage selten«, bemerkte Hannah.

»Wie hast du das damals geschafft?«, wollte Andy wissen.

Hannah deutete auf eine Bank, die am Ufer eines kleinen Sees stand. Eine Zeitlang saßen sie dicht nebeneinander und genossen die wärmende Sonne.

»Ich hatte Glück«, sagte Hannah schließlich. »Eine Kollegin kannte jemanden. Zufällig wohnte sie drei Häuser weiter. Ihr Name war Klara, sie dürfte damals Mitte fünfzig gewesen sein. Mir kam sie uralt vor, aber sie und JJ mochten sich auf Anhieb.« Sie stockte, sagte dann leise: »Ich schätze, er hat sie regelrecht geliebt.«

Andy nahm ihre Hand.

»Es war die logische Konsequenz für ein kleines Kind. Er war mehr mit ihr zusammen als mit mir.«

»Es muss schwer für dich gewesen sein.«

Hannah schaute ihn fragend an. »Was meinst du?«

»JJ war den ganzen Tag bei einer fremden Frau. Abends, wenn du Zeit für ihn hattest, lag er im Bett und schlief.«

Hannah nickte. »Es war nicht leicht, das stimmt schon. Trotzdem bin ich Klara unendlich dankbar.«

»Warst du eifersüchtig auf sie?«

»Natürlich! Und wie! Manchmal habe ich sie regelrecht gehasst, vor allem, wenn JJ sagte: ‚Bei Oma Klara darf ich das.‘ Da wäre ich am liebsten in ihre Wohnung gestürmt und hätte ihr gesagt, sie solle mir nicht mein Kind wegnehmen. Aber ich hatte keine Wahl. Außerdem gab sie mir auch wertvolle Tipps für den Büroalltag, unterstützte mich, wenn ich zu einem Amt musste.« Hannah lachte. »Das ist heute noch der Horror für mich.«

»Lebt sie noch?«

»Nein, sie ist gestorben, als JJ acht Jahre alt war. Ich denke, er hat mir bis heute nicht verziehen, dass er nicht zur Beerdigung durfte. Auch wenn er das Gegenteil behauptet.«

»Er hat das sicher längst vergessen, er war ein Kind.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Er hat es nicht vergessen, glaub mir. Klara war seine wichtigste Bezugsperson, als wir damals in München waren, und ich hab sie ihm einfach weggenommen.«

»Weil du nach Amerika gegangen bist.«

»Ja. Klara hat mich gewarnt, dass es schädlich sei für ihn, wenn ich ihn einfach aus der gewohnten Umgebung herausreißen würde. Ich habe nicht auf sie gehört.«

Andy tätschelte ihre Hand. »Sie hat sicher nicht nur an JJ gedacht, sondern vor allem an sich. Immerhin hast du ihr damit auch ihren Lebensinhalt weggenommen.«

Hannah schaute ihn verwundert an. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte sie. »Da ist was Wahres dran.«

Andy lachte. »Natürlich! Wusstest du nicht, dass ich der klügste Mensch auf Erden bin? Frag mich was, ich weiß auf alles eine Antwort.«

»Ha ha. Warum bist du dann mit mir zusammen?«

Er wurde schlagartig ernst. »Du weißt, warum.«

Sie sprang auf. »Lass uns weitergehen. Es liegt noch ein langes Stück Weg vor uns.« Andy folgte ihr. Insgeheim hoffte sie, er würde ihre Hand nehmen, doch er lief nur schweigend neben ihr her, ohne sie zu berühren.

Hannah ging sich selbst auf die Nerven. Einerseits wollte sie, dass die Beziehung mit Andy funktionierte, andererseits zog sie sich zurück, sobald er von Liebe sprach. War es wirklich so furchtbar, wenn einer mehr liebte als der andere, vor allem, wenn es beiden Seiten klar war?

Sie war verwirrt und sehnte sich danach, allein zu sein. Vor einigen Minuten hatten sie die Stelle passiert, an der sie sich früher immer versteckt hatte, um zu weinen. Es war nur ein Baumstumpf, umgeben von dichtem Gebüsch, aber für sie war es der perfekte Rückzugsort gewesen. Sie hätte den Ort gerne besucht, wagte es nicht mit Andy an ihrer Seite.

»Warum bist du immer so verständnisvoll?«, brach es nach einer Weile aus ihr heraus.

»Was?« Andy schien mit seinen Gedanken woanders gewesen zu sein.

Hannah blieb stehen und zog ihn vor sich. »Wirst du nie wütend? Wird dir nicht mal alles zu viel und du möchtest irgendetwas zerschlagen?«

Einen Moment lang schaute Andy sie unsicher an, dann lachte er leise. »Wofür hältst du mich? Für Superman? Natürlich werde ich wütend und natürlich möchte ich manchmal etwas zertrümmern. Wie kommst du darauf?«

»Ganz ehrlich? Du wirkst immer so verdammt ausgeglichen und das macht mich verdammt wütend.« Hannah starrte ihn zornig an. »Und komm mir jetzt nicht mit Sätzen wie: Wütend sein hilft sowieso nichts. Oder: Es tut mir leid, dass ich dich wütend mache.«

»Ich hatte nicht vor, so etwas zu sagen.«

»Was dann?«, rief Hannah provozierend. Zufrieden bemerkte sie, dass seine Gesichtsfarbe einen leichten Rotton zeigte. Kam das von der Sonne oder von einem Ärger, den er nicht zeigen wollte?

Andy antwortete mit einer Gegenfrage: »Was stört dich daran, dass ich angeblich so ausgeglichen wirke?«

»Ich …«, begann Hannah. »Ich – herrje, es macht mich einfach wütend.«

»Das ist keine Erklärung.«

»Aber eine Tatsache«, erwiderte Hannah trotzig. »Ich bin eben impulsiv.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Andy. »Deinen Gästen gegenüber bist du zum Beispiel die Ruhe selbst, egal, wie unverschämt sie sich verhalten. Du setzt dich durch, verlierst jedoch nie die Nerven.«

»Ich verhalte mich einfach professionell.«

»Richtig. Gästen gegenüber bist du professionell und versuchst deshalb, ruhig zu bleiben.« Er machte eine kurze Pause, was dem Folgenden mehr Gewicht gab. »Bei mir musst du nicht professionell sein.«

Hannah wusste nicht sofort, wie sie das Gesagte einordnen sollte, und starrte ihn verblüfft an.

»Natürlich bin ich dir gegenüber nicht ›professionell‹«, sie markierte die Anführungszeichen mit beiden Händen in der Luft. »Das wäre ja eine schöne Beziehung.«

»Eben«, stimmte Andy zu. »Es muss also an mir liegen, dass du immer so wütend wirst.«

Seine Stimme klang, als lese er eine Nachricht vor, sein Blick wirkte unendlich traurig. Es zerriss ihr fast das Herz. Ihre Wut war verraucht.

»Vergiss es. Ich bin dumm. Lass uns weitergehen.« Sie machte ein paar Schritte, drehte sich um. Er stand noch an derselben Stelle. »Komm schon.«

Er folgte ihr, sagte: »Ich finde, wir sollten darüber reden.«

»Nicht hier.«

»Warum nicht? Gehen regt das Gedächtnis an, man kommt auf Dinge, die einem zu Hause nie eingefallen wären.«

Hannah blieb stehen, schaute ihn an. »Und wenn ich auf die Idee komme, dass das mit uns beiden nichts werden kann?«

»Dann ist das so und ich muss es akzeptieren«, sagte Andy.

Hannah knirschte hörbar mit den Zähnen. »Genau das ist es, was mich wütend macht. Ich entscheide, du nimmst es hin. Das ist keine Beziehung auf Augenhöhe.«

»Ich kann dich nicht zwingen, mich zu lieben.«

»Nein, das kannst du nicht. Aber du könntest um mich kämpfen.«

Andy starrte sie an, schluckte, schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe schon einmal um eine Frau gekämpft. Das hat mich drei Jahre meines Lebens gekostet. Ich will das nicht noch einmal durchmachen.«

»Ich bin nicht Jill«, sagte Hannah leise.

»Ich weiß.«

Sie fassten sich bei den Händen und liefen schweigend weiter. Zum ersten Mal seit langem fühlte Hannah sich wohl neben Andy.

Am Abend, in ihrer Wohnung, öffnete Hannah eine Flasche Rotwein, schenkte zwei Gläser ein und sagte: »Ich möchte, dass wir ab sofort immer ehrlich zueinander sind, auch wenn es unangenehm werden könnte. Und ich möchte, dass du deinen Platz in dieser Beziehung behauptest.« Sie reichte Andy ein Glas und sie stießen darauf an.

* * *

Die erste Bewährungsprobe für den neuen Pakt folgte bereits vier Tage darauf. JJ rief Hannah an und sagte ihr, dass es Johann erheblich schlechter ging.

»Du willst mir ein schlechtes Gewissen machen«, warf sie ihm vor. »Warum kümmerst du dich nicht um ihn? Du bist viel näher an Lübeck als ich.«

»Ich kann nicht weg. Zumindest nicht unter der Woche. Am Wochenende bin ich eh bei ihm.«

Hannah schwieg betroffen. Das hatte sie nicht gewusst. »Ich kann das Café nicht so lang allein lassen.«

»Ich dachte, Edi und Alex schmeißen den Laden zur Not auch allein?« JJ verlieh seiner Bemerkung eine ironische Note, aber sie wusste, er meinte es ernst.

»Ja, ein paar Tage. Selbst wenn ich fliege, müsste ich mindestens eine Woche dortbleiben, damit es sich rentiert. Zwei Tage helfen ihm nichts.«

»Eben.«

Hannah beendete das Gespräch mit einem energischen »Es geht nicht«, aber ihr Sohn hatte ganze Arbeit geleistet: Johann ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Andy war keine große Hilfe. »Wenn du das Gefühl hast, du musst nach Lübeck, dann fahr hin. Sonst machst du dir womöglich immer Vorwürfe.«

Hannah redete mit Edi und Alex, die ihr beide versicherten, dass es absolut kein Problem sei, das Café ein paar Tage allein zu führen.

Am Donnerstagabend fand Hannah keinen Grund mehr, nicht zu fahren und buchte für den nächsten Tag einen Flug nach Hamburg und einen Mietwagen.

Sie genoss die einstündige Fahrt nach Lübeck. Johanns Haus befand sich südlich der Stadt. Sie war lange nicht mehr dort gewesen und nutzte das Navi, um sich nicht zu verfahren.

Hannah hatte Johann über ihren Besuch informiert und keine Widerrede seinerseits zugelassen. »JJ bringt mich um, wenn ich nicht wenigstens einmal bei dir vorbeischaue.«

Obwohl JJ sie darauf vorbereitet hatte, erschrak sie, als sie ihn sah. Johann war schon immer der hagere Typ gewesen, was ihm jetzt zum Verhängnis wurde: Sein Gesicht war eingefallen und voller Falten, der Teint blass, die schütteren Haare mehr weiß als grau. Seine Körperhaltung erinnerte an einen Achtzigjährigen.

»Du hättest nicht kommen müssen«, sagte er zur Begrüßung.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Hannah schnupperte verstohlen. Sie hatte befürchtet, im Haus würde es nach Krankheit riechen, aber außer Johanns deutlicher Erschöpfung gab es keine Anzeichen dafür.

»Fühl dich wie zu Hause.« Johann ließ sich im Wohnzimmer mit einem leisen Schrei in einen Sessel fallen, der mit jeder Menge Decken und Kissen gepolstert war. Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein riesig wirkendes Krankenbett.

Als er ihren Blick sah, meinte Johann trocken: »Die Schwestern wollten es so. Sie haben keine Lust, dauernd die Treppen rauf- und runterlaufen zu müssen.«

»Ja klar«, erwiderte Hannah. Sie warf einen Blick in das Zimmer nebenan, das Johann als Arbeitszimmer gedient hatte. Jetzt standen das Sofa und der zweite Sessel darin; sie hatten die Garnitur damals gemeinsam gekauft. Der Esstisch und die dazugehörigen Stühle, ein Geschenk ihrer Eltern, waren in eine Ecke geschoben worden. Der kleine Raum wirkte übervoll.

Hannah brachte ihre Reisetasche in den ersten Stock, wo es intensiv nach Staub und Mottenkugeln roch. Die Räume hier oben wurden offensichtlich kaum noch genutzt. Sie öffnete die Tür zum früheren Schlafzimmer. An Stelle des breiten Ehebetts stand ein schmäleres, der Kleiderschrank war jedoch immer noch der alte.

Sie schaute sich um. Außer dem Bett und dem Schrank gab es keine Möbel. Die Ecke, in der ihr Frisiertisch gestanden hatte, war leer.

Hannah erinnerte sich, wie sie vor dem Zubettgehen oft minutenlang davorgesessen hatte. Johann hatte sie deswegen immer aufgezogen und sie »meine kleine Schönheitskönigin« genannt. Sie konnte sich weder an den Titel noch die Schauspieler des Films erinnern, wusste nur noch, dass es einer dieser amerikanischen Schnulzen aus den Fünfzigern gewesen sein musste. Die Hauptdarstellerin, gekleidet in ein wallendes Nachthemd mit viel Tüll und Spitze, hatte vor einer Frisierkommode gesessen und sich die langen Haare gebürstet, bis sie seidig glänzten. Sie und ihr Mann hatten kluge Konversation gemacht oder über Freunde gelästert. Es hatte wahnsinnig intim gewirkt.

Johann hatte einen Frisiertisch anfertigen lassen und ihn ihr als Hochzeitsgeschenk präsentiert. Der Tisch hatte nur in etwa ihren Vorstellungen entsprochen, auch hatte sie nie so intime Momente wie im Film erlebt; dennoch war er ihr ganzer Stolz gewesen. Er war das Einzige, was sie nach der Scheidung mitgenommen hatte.

Über dem Bett hing ein Poster, das eine junge, halbnackte Frau in reichlich lasziver Pose am Ufer eines Sees zeigte. Hannah überlegte, ob das Bild schon während ihrer Ehe dort gehangen hatte, konnte sich nicht erinnern. Irgendetwas an der Frau kam ihr seltsam vertraut vor. Sie ging näher und stieß einen überraschten Schrei aus. Es war ein Foto von ihr!

Sie wandte sich ab, öffnete eine Schranktür, warf einen Blick auf die Anzüge und Hemden, die der feinen Staubschicht nach zu schließen schon lange nicht mehr getragen wurden. Es roch nach Mottenpulver.

Sie schloss den Schrank, ging zum Fenster, zog die Gardinen zurück, öffnete beide Flügel und atmete die hereinströmende Luft ein. Im Nachbargarten stand ein kleines Mädchen, das sich beim Geräusch des Fensteröffnens umgedreht hatte, und starrte zu ihr hoch. Hannah winkte kurz und verließ das Zimmer.

Nebenan, im früheren Kinderzimmer, das nach ihrem Weggang als Gästezimmer gedient hatte, lagen ein paar zerknitterte T-Shirts auf dem schmalen Bett; Hannah vermutete, dass sie JJ gehörten. Sie stellte ihre Reisetasche hinein und ging wieder hinunter. Johann war eingeschlafen.

Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und betrachtete den Mann, den sie einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag geheiratet hatte, um der Enge ihres Elternhauses zu entfliehen. Johann war immer gut zur ihr gewesen, hatte sie vermutlich wahrhaftig geliebt. Auch sie hatte ihn geliebt – oder auf jeden Fall Gefühle gehegt, die ein unreifer Teenager für Liebe halten mochte.

Und kaum fünfunddreißig Jahre später befand sie sich in derselben Situation. Okay, es gab einen gravierenden Unterschied: Sie war nicht mehr der dumme, naive Teenager, der nur eines wollte – weg von der Familie. Sie stand mit beiden Beinen im Leben, war erfolgreiche Geschäftsfrau, nicht ganz unvermögend und nicht mehr taufrisch. Letzteres war Andy auch nicht. Hannah war zuversichtlich, dass es mit ihm klappen würde.

Johann schreckte hoch. Er kniff die Augen zusammen, um sie zu erkennen. »Was machst du denn hier?«

»Ich bin vor einer knappen Stunde angekommen«, sagte Hannah. »Kann ich dir etwas bringen?«

»Kaffee wäre nicht schlecht.« Johann wurde von einem trockenen Husten geschüttelt.

»Trink erst mal einen Schluck Wasser.« Hannah suchte nach einem Glas. Mit Entsetzen entdeckte sie auf dem Tisch neben dem Sessel einen Schnabelbecher aus Plastik.

Johann hatte ihren Blick gesehen. Er versuchte ein Grinsen, das misslang. »So ist das, wenn man alt wird.«

»Du bist gerade mal sechzig«, protestierte sie.

»Auf dem Papier vielleicht.«