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Eineinhalb Jahre sind vergangen, die Pandemie ist vorbei, in Hannahs Café läuft endlich wieder alles rund. Da schlägt Andy vor, in den Urlaub zu fahren. Obwohl Hannah in Edi und ihrer neuen Angestellten Lilya zwei hervorragende Mitarbeiterinnen hat, zögert sie, die Verantwortung für das Café in deren Hände zu legen. In weiteren Episoden trifft Brigid bei der Hochzeit ihrer Nichte auf ihre alte Liebe Colm, Marlene muss sich mit der Gebrechlichkeit ihrer Mutter auseinandersetzen; Alex kämpft um ihre Beziehung mit Nadja, Kerstin hingegen versucht, ihrer Rolle als Familienpatriarchin gerecht zu werden. Überraschende Nachrichten zwingen manche der Frauen zu Entscheidungen, die nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Liebsten verändern werden. Und plötzlich weht ein Hauch von Mafia durch die Blumengasse … Zehn Episoden, zehn Frauen, zehn Schicksale im bewährten, herzerwärmenden Café Hannah-Stil.
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Seitenzahl: 405
Alle Bände der Café Hannah Reihe:
1 - Alles auf Anfang
2 - Überraschungen
3 - Rettet das Café!
4 - Vertraut anders
5 - Wir müssen reden
6 - Familienbande
7 - Mann Mann Mann!
Marilyn - Kurzroman
Brigid - Kurzroman
Cover: Natalie und Christine Spindler unter Verwendung einer Generative-KI-Grafik
Charakterskizzen: Karin Schliehe. Illustration Tasse: Karl-Heinz-Gutmann (charlygutmann/Pixabay). Foto Ann E. Hacker: Thomas Endl
Lektorat: Christine Spindler
Erste Auflage, München 2023
ISBN 978-3-949181-01-6
© Feather & Owl
Ute Hacker, Adamstr. 1, 80636 München
Alle Rechte vorbehalten
Eineinhalb Jahre sind vergangen, die Pandemie ist vorbei, in Hannahs Café läuft endlich wieder alles rund. Da schlägt Andy vor, in den Urlaub zu fahren. Obwohl Hannah in Edi und ihrer neuen Angestellten Lilya zwei hervorragende Mitarbeiterinnen hat, zögert sie, die Verantwortung für das Café in deren Hände zu legen.
In weiteren Episoden trifft Brigid bei der Hochzeit ihrer Nichte auf ihre alte Liebe Colm, Marlene muss sich mit der Gebrechlichkeit ihrer Mutter auseinandersetzen; Alex kämpft um ihre Beziehung mit Nadja, Kerstin hingegen versucht, ihrer Rolle als Familienpatriarchin gerecht zu werden.
Überraschende Nachrichten zwingen manche der Frauen zu Entscheidungen, die nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Liebsten verändern werden. Und plötzlich weht ein Hauch von Mafia durch die Blumengasse …
Zehn Episoden, zehn Frauen, zehn Schicksale im bewährten, herzerwärmenden Café Hannah-Stil.
Vorwort
1 – Es ist gut, wie es ist (Hannah Jensen)
2 – Angekommen (Brigid O’Connor)
3 – Hab Geduld! (Marlene Mannhart)
4 – Ich hasse diesen Job! (Svenja Wahls)
5 – Das Buch (Safaa Gedi)
6 – Wiedersehen (Marilyn Booker)
7 – Wie soll es weitergehen? (Alexandra »Alex« Steiner)
8 – Die liebe Familie (Kerstin Wahls)
9 – Wer bist du? (Zoi Lazaridis)
10 – Das Testament (Edeltraut »Edi« Mayerhofer)
Die Autorin
Reihenübersicht
Liebe Leser*innen!
Eineinhalb Jahre sind seit dem letzten Band vergangen. Der Grund dafür liegt in der Pandemie. Niemand will schon wieder etwas zu diesem Thema lesen!
In der Blumengasse gab es keine großartigen Veränderungen, dennoch ist manches neu. Aber ich will hier nicht zu viel verraten …
Es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied zu den vorherigen Teilen: Diesmal kommen ausschließlich Frauen zu Wort, alle Episoden sind aus weiblicher Sicht geschrieben. (Keine Bange, es kommen trotzdem jede Menge Männer vor.) Teil sieben wird übrigens von zehn männlichen Protagonisten erzählt werden …
Ich wünsche viel Spaß mit Hannah & Co. Ich freue mich über jede Rückmeldung und beantworte garantiert jede Mail.
Und bitte denkt daran: Rezensionen sind für uns Autor*innen wichtig! Es muss kein ellenlanger Text sein, nur ein paar Worte … Vielen Dank dafür im Voraus!
Herzliche Grüße
Eure Ann
Hannah zuckte zusammen, als sie das Klirren von draußen hörte. Es war das dritte Mal innerhalb einer Woche, dass die neue Bedienung etwas fallen ließ. Hannah ging es nicht um das Geschirr, das war ersetzbar. Aber was war mit dem guten Ruf des Cafés? War der erst einmal ruiniert …
Edi steckte den Kopf aus der Küche.
»Schon wieder?« Ihre linke Augenbraue war hochgezogen.
Hannah nickte. In diesem Moment kam die Bedienung mit hochrotem Kopf durch die Tür.
»Tschuldigung«, murmelte sie, als sie an Hannah vorbei zum Mülleimer ging und die Scherben entsorgte.
Hannah versuchte, sich an den Namen zu erinnern, aber seit Alex‘ Weggang hatte sie so viele Bedienungen gehabt, dass sie den Überblick verloren hatte. Und bisher hatte es sich auch nicht rentiert, sich die Namen zu merken; nach spätestens drei Tagen waren sie eh weg.
»Komm mal mit.« Dem Mädchen war die Angst anzusehen. Am liebsten hätte Hannah ihr gesagt, sie würde sie nicht fressen, aber inzwischen war ihre Wut so groß, dass sie sich dessen selbst nicht mehr sicher war.
Hannah führte sie zur Nebentür hinaus in den Hausflur, wo sie ungestört waren.
»Was ist los?«
Wie befürchtet, begann die junge Frau sofort zu weinen. »Es …, es tut mir leid«, schluchzte sie.
Hannah reichte ihr ein Papiertaschentuch und wartete darauf, dass sie sich beruhigte.
»Wenn du nicht so viel auf einmal tragen kannst, geh zwei oder drei Mal. Nimm ein Tablett und staple das Geschirr darauf, wie ich es dir gezeigt habe. Mach es nicht zu voll, dann kannst du es auch tragen.« Sie schaute das Mädchen ernst an. »Okay?«
Das Nicken kam nur sehr zögernd. Hannah unterdrückte ein Seufzen.
»Ich schlage vor, du hilfst mir noch, bis ich jemand Neues gefunden habe. Der Markt ist derzeit leergefegt, es sind keine guten Leute zu bekommen. Es tut mir leid, aber ich denke, wir sind uns einig, dass du für den Job als Bedienung nur bedingt geeignet bist. Sehe ich das richtig?«
Diesmal kam das zustimmende Nicken schneller.
»Gut. Versuch bitte, nicht noch mehr Geschirr kaputt zu machen.« Und vor allem nicht Kaffee über die Gäste zu schütten, dachte sie. Das war tatsächlich der Vorgängerin passiert. Zum Glück war es bei einem Stammgast gewesen, der es mit Humor genommen hatte. »Halte dich an das, was ich dir gezeigt habe«, wiederholte sie. »Und jetzt zurück an die Arbeit, wir können Edi nicht so lange allein lassen.«
Die junge Frau schniefte noch einmal, murmelte etwas, das wie »Danke« klang und ging zurück in das Café. Hannah folgte ihr. Edi, die gerade einem Gast ein Stück Quiche und eine Apfelschorle brachte, schaute sie fragend an. Hannah zuckte mit den Schultern. Was sollte man da noch sagen?
Als der Mittagsrummel vorbei war, schickte sie die Bedienung nach Hause.
»Wie soll es jetzt weitergehen?«, wollte Edi wissen.
»Ehrlich gesagt: Keine Ahnung.« Hannah ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. »Du weißt, ich suche seit Monaten, aber der Markt ist leer. Dabei zahle ich mehr als das Übliche. Gute Leute sind rar.«
»Irgendwo muss es jemanden geben.«
»Vermutlich. Aber wo? Wie finde ich diesen Menschen?«
»Ich kann vorübergehend wieder mehr beim Bedienen helfen.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Das kommt nicht in Frage, Edi. Ich weiß, du willst mir helfen, aber du musst jetzt auch mal an dich denken. Nicht, dass du mir auch noch ausfällst.«
»Es wäre ja nicht für immer. Nur ein paar Stunden in der Woche.«
Hannah schaute ihre Angestellte an. Sie war wirklich eine treue Seele, immer bereit einzuspringen. Vor allem aber besser als die ganzen jungen Hupfer, die sie in den letzten Monaten hier durchgeschleust hatten. Der Gedanke, dass Edi wieder im Service mithelfen könnte, war verlockend. Aber Hannah wusste, dass sie mehr und mehr Probleme mit den Beinen hatte und nicht mehr so viel stehen konnte.
»Ich denke darüber nach«, versprach sie. »Und heute Abend schaue ich mir die neuen Bewerbungen an. Vielleicht ist ja das gesuchte Juwel dabei.«
»Dass es Alex ausgerechnet bei einer Beamtin erwischen muss«, schimpfte Edi.
Hannah lachte. »Man kann sich eben nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Aber ich geb dir recht. Es hätte gerne jemand sein dürfen, der nicht vom Staat beliebig herumgeschubst werden kann. Coburg! Die arme Alex.«
Edi zog eine Grimasse. »Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich hoffe, die Beziehung geht kaputt und Alex kommt zurück.«
Hannah hob tadelnd den Zeigefinger. »Edeltraud Mayerhofer, du bist ein böses Mädchen. So was darfst du nicht denken. Alex hat es verdient, endlich wieder glücklich zu sein.«
»Du hast ja recht«, antwortete Edi und setzte sich ebenfalls. »Dennoch bin ich manchmal sauer auf sie.«
»Ich auch, ich auch.« Hannah seufzte und erhob sich, weil neue Gäste eintrafen. Sie nahm die Bestellung auf und ging hinter die Theke, um die Speisen und Getränke vorzubereiten.
* * *
Am Abend sank sie vollkommen erledigt ins Sofa. Dankbar ließ sie sich von Andy die Füße massieren.
»Wie lange soll das noch so weitergehen?«, fragte auch er.
»Ich weiß es nicht.« Hannah lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Als ihr eine Idee kam, schoss sie hoch. »Willst du nicht aushelfen? Du hast das damals so gut hinbekommen.«
Andy lachte. »Vergiss es! Ich habe selbst genug zu tun. Solltest du darüber nachdenken, eine irische Kneipe zu eröffnen, in der ich freien Zugang zu allen Getränken habe, können wir gerne noch mal darüber reden.«
Hannah verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Du denkst auch immer nur an das eine.«
»Stimmt. An dich.« Andy gab ihr erst einen Klaps auf die linke Fußsohle, dann einen Kuss auf den Mund. »Ich koch uns was Gutes, okay?«
»Hm«, machte Hannah und kuschelte sich auf dem Sofa zurecht.
Andy legte eine Decke über sie. »Schlaf ein bisschen«, sagte er sanft und küsste sie aufs Haar.
Hannah träumte von großen Bergen zerbrochenen Geschirrs. Ein Mädchen mit tränenüberströmtem Gesicht versuchte, den Haufen wegzuschaufeln, aber sobald es eine Ladung weggebracht hatte, tauchte von hinten ein Bagger auf und brachte eine neue. Hannah tat das Mädchen leid und sie wollte helfen, aber sie kam nicht vom Fleck. Plötzlich stieg aus einer zerbrochenen Schüssel roter Rauch auf und wehte auf sie zu. Hannah wollte weglaufen, da merkte sie, dass der Rauch einen feinen Geruch mit sich brachte. Es roch nach …
»Hannah?« Jemand strich ihr zart über den Arm. »Hannah? Wach auf. Essen ist fertig.«
Sie öffnete die Augen und schaute sich um. Erleichtert sah sie, dass sie sich in ihrem Wohnzimmer befand. Nirgends lagen Scherben herum, im Gegenteil: Andy hatte den Tisch schön gedeckt; eine Flasche Weißwein stand im Kühler, die Gläser waren zu einem Drittel gefüllt, in einer Schüssel dampfte etwas Rotes.
»Curry?«, fragte Hannah, sich an den roten Rauch erinnernd.
Andy nickte. Er häufte Reis auf beide Teller und schöpfte cremiges Curry darüber. Es roch köstlich, und Hannah lief das Wasser im Mund zusammen. »Ich bin am Verhungern.« Sie richtete sich auf. »Danke.« Jetzt strich sie ihm zart über den Arm. Er lächelte sie an und nahm ihr gegenüber im Sessel Platz.
»Ich dachte, du würdest lieber auf dem Sofa bleiben«, sagte er zwischen den ersten Bissen.
Sie nickte und genoss für einen Moment die Schärfe in ihrem Mund.
Seit Andy vor knapp einem Jahr zu ihr gezogen war, hatten sie ein paar Regeln aufgestellt, weil klar war, dass es ohne nicht funktionieren würde. Eine besagte, dass es eine gemeinsame Mahlzeit am Tag gab und diese am Esstisch eingenommen wurde. Eine andere, dass während dieses Essens ein Handy- und Fernsehverbot galt.
Hannah hatte nicht erwartet, dass ihr Zusammenleben reibungslos funktionieren würde. Sie hatten sich in der Zeit davor gegenseitig zu sehr verletzt, aber letztendlich beschlossen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Andys Beinahe-Affäre mit dieser anderen Frau hatte Hannah die Augen geöffnet.
»Es schmeckt hervorragend«, sagte Hannah und nahm einen Schluck Wein. »Vielen Dank.«
Das war eine weitere Regel: Nichts wurde als selbstverständlich hingenommen. Sie waren ein Paar, ja, aber dennoch waren sie auch zwei Individuen, die ihr eigenes Leben lebten, einen anstrengenden Beruf hatten und keine Zeit, den anderen zu bedienen. Wenn also einer eine Aufgabe übernahm, wurde ihm – oder ihr – dafür gedankt.
»Heute war es reiner Egoismus. Ich war selbst am Verhungern.«
Ein paar Minuten lang aßen sie schweigend, hingen ihren Gedanken nach.
»Ich muss mich anschließend noch um die neuen Bewerbungen kümmern«, sagte Hannah schließlich. »Ich brauche dringend jemanden, der mir hilft. Das Problem ist nur, dass es niemanden gibt.«
»Hast du es mit einem Schild im Schaufenster versucht?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das bei den Gästen so gut ankommt, wenn da steht, dass ich eine Bedienung suche.«
Andy griff nach ihrer Linken. »Hannah, deine Gäste sind intelligente Menschen. Die wissen, dass es nicht rundläuft.«
Sie wusste, er hatte recht. Ihre Stammgäste waren längst dazu übergegangen, ihr schmutziges Geschirr auf die Theke zu stellen, damit die Tische schneller abgeräumt waren und neue Gäste Platz nehmen konnten.
»Okay, ich werde einen Zettel ausdrucken und unten befestigen. Vielleicht hilft es ja.«
Hannah schüttelte den Kopf, als Andy ihr einen Nachschlag geben wollte, und schob den leeren Teller von sich. »Danke, es war sehr gut, aber wenn ich noch etwas esse, kann ich nicht schlafen.«
Andy hatte diese Probleme nicht und nahm sich eine zweite Portion.
»Hast du dir Gedanken zum Thema Urlaub gemacht?«, fragte er zwischen zwei Bissen.
Hannah seufzte. »Wie kann ich denn jetzt an Urlaub denken? Es geht drunter und drüber. Ich bin froh, wenn der Laden läuft.«
Andy schaute sie nur an.
»Ja, ich weiß. Ich muss mehr auf mich achten.«
Er nickte.
»Hast du dir Gedanken gemacht?«, konterte sie.
»Habe ich«, erwiderte er, nachdem er hinuntergeschluckt hatte.
»Und? Wo fahren wir hin?« Hannah war wirklich neugierig. Bisher hatten sie sich auf kein Ziel einigen können. Eine Städtetour war zu anstrengend, damit fielen London, Paris oder Venedig schon mal weg. Nach Irland wären beide gern geflogen, aber sie waren sich schnell einig, dass zu viele Gefühle damit verbunden waren. Auf die klassischen Urlaubsziele Mallorca, Kroatien, Toskana hatten sie keine Lust.
»Griechenland«, sagte Andy.
»Was?« Hannah glaubte, sich verhört zu haben.
Andy lachte. »Griechenland. Genauer gesagt, Athen und Peloponnes.«
»Griechenland«, wiederholte Hannah in einem Tonfall, der klar machte, dass sie alles andere als begeistert war.
Aber Andy ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ein paar Tage Athen, dann mindestens eine Woche Peloponnes. Maik hat mir den Tipp gegeben. Er kennt ein Hotel, das perfekt sein soll zum Abschalten. Ich hab’s mal gegoogelt. Es liegt außerhalb eines Ortes, mitten im Wald. Trotzdem kann man Ausflüge machen, zum Beispiel zum antiken Olympia.«
Hannah blieb skeptisch. Um Zeit zu gewinnen, räumte sie den Tisch ab. Griechenland. Das Land stand definitiv nicht auf ihrer Wunschliste. Und überhaupt: Wie sollte man sich dort verständigen? Wer sollte die seltsame Schrift lesen? Und auf tote Steine, die es dort zuhauf gab, hatte sie schon gar keine Lust.
»Schau es dir wenigstens mal an«, sagte Andy, als sie ins Zimmer zurückkam.
»Kannst du Gedanken lesen?«
Er lachte. »Nein. Aber den Blick kenne ich.«
Hannah verdrehte die Augen, musste aber selbst lachen. War sie nicht immer diejenige, die predigte, man müsse Vorurteile abbauen?
»Okay, ich schau es mir an«, versprach sie und gab Andy einen Kuss. »Danke für das tolle Essen. Ich fürchte, ich muss noch ein bisschen was tun.« Eigentlich war sie zu müde zum Arbeiten, aber sie wusste, spätestens am Morgen würde sie es bereuen. Immerhin stand für den nächsten Abend die Buchhaltung auf dem Plan.
Auch das war neu: Es gab eine Art Stundenplan, wann was erledigt wurde. Hannah hatte aus den vielen Fehlern der Vorjahre gelernt.
Sie trank den letzten Schluck Wein, ging in das Arbeitszimmer, setzte sich an den Computer und entwarf ein schlichtes Plakat
Freundliche Bedienung
ab sofort gesucht
Bitte im Café melden
Sie bezweifelte, dass es etwas bringen würde, aber sie wollte wirklich nichts unversucht lassen. Sie druckte den Zettel zwei Mal aus, lief die Treppe hinunter und schlüpfte durch die Nebentür ins Café. Wie immer, wenn sie außerhalb des Betriebs in ihrem Café stand, ging ihr das Herz auf. Das war ihr Reich, das, was sie erschaffen hatte. Es war ihr Herzenstraum, den sie vor sieben Jahren in die Realität umgesetzt hatte.
Was war in diesen Jahren nicht alles geschehen? Ihr Sohn JJ war nach Europa gezogen und lebte jetzt mit seiner Verlobten in einem Vorort von Lübeck. Ihr Ex-Mann Johann war an Krebs gestorben, sie hatte Andy kennengelernt, sich von ihm erobern lassen, nur, um ihn im nächsten Moment zu vergraulen. Ihre Nichte Svenja war nun ebenfalls in München, hatte sich endlich zu ihrer großen Liebe Ben bekannt. Selbst das Verhältnis zu ihrer Familie war etwas weniger frostig, seit der Seitensprung von Svenjas Mutter bekannt geworden war. Auch die Familie Wahls war nicht unfehlbar.
Hannah atmete tief durch, rückte auf dem Weg zum Schaufenster ein paar Stühle zurecht, obwohl sie wusste, dass die Putzfrau irgendwann in den Morgenstunden wieder alles umstellen würde, und klebte auf jede Seite der Eingangstür einen der Zettel.
»Na dann.« Sie ging zurück zur Seitentür und verließ das Café ohne einen Blick zurück.
* * *
»Na, du siehst heute ja blendend aus«, wurde sie von Edi am nächsten Morgen begrüßt.
»Ich dich auch«, brummte Hannah und ging schnurstracks zur Kaffeemaschine, um sich einen doppelten Espresso zu ziehen.
»Lange Nacht gehabt?«, fragte Edi mit dem gewissen Unterton, den Hannah so gar nicht ausstehen konnte. »Oder eher eine kurze?«
»Wenn du es genau wissen willst«, schnauzte sie zurück. »Ich bin bis halb zwei Uhr am Computer gesessen und habe versucht, einen Ersatz für wie immer sie heißt zu finden. Also, ja, es war eine verdammt kurze Nacht.« Im selben Moment tat es ihr leid. Edi war nun wirklich die letzte, die sie ärgern und womöglich vergraulen wollte.
Aber die nahm es nicht krumm. Immerhin kannten sie sich seit sieben Jahren und hatten so manche Krise gemeinsam gemeistert.
»Komm her.« Sie hielt die Arme auf.
Hannah seufzte, machte zwei Schritte auf Edi zu und ließ sich drücken.
»Es wird alles gut, wirst sehen«, flüsterte Edi ihr ins Ohr. »Wir haben noch immer eine Lösung gefunden.«
»Dein Wort in wessen Ohr auch immer.« Hannah befreite sich aus der Umarmung, da ihr Kaffee fertig war. Den brauchte sie jetzt noch dringender. Sie schlürfte ihn langsam und laut, was ihr einen rügenden Blick von Edi einbrachte.
»Was denn? Ist doch niemand da.«
»Ach, ich bin also niemand?« Edi hob den Kopf, schob das Kinn nach vorne und rauschte in die Küche. Dort drehte sie das Radio auf und sang lauthals irgendeinen Uraltschlager mit.
Hannah grinste und verdrehte die Augen. Was würde sie nur ohne Edi machen?
Dass die neue Bedienung sich krankmeldete, überraschte Hannah nicht. Sie hasste es zwar, wenn sich die Alten über die Jugend mokierten, aber inzwischen ertappte sie sich selbst immer häufiger bei dem Gedanken, was nur mit der Jugend von heute los sei. Es würde also wieder ein anstrengender Tag werden.
Das Gute am Stress war, dass die Zeit wie nichts verflog. Als sie zum ersten Mal nach Stunden zum Durchschnaufen kam und auf die Uhr blickte, stellte sie erstaunt fest, dass es bereits kurz vor vier war. Aufgrund der Personalknappheit schloss sie schon seit einigen Monaten bereits um neunzehn Uhr, auch wenn ihr dadurch das Abendgeschäft entging. Nach langen Diskussionen hatten Edi und Andy sie davon überzeugt, auch am Samstag zu schließen. Nur beim Sonntagnachmittag hatte sie sich nicht umstimmen lassen. Wann, wenn nicht an einem Sonntagnachmittag, würden die Menschen ins Café gehen?
Aber sie wusste, es nützte niemandem, wenn sie erneut zusammenklappte, wie schon vor fünf Jahren. Damals waren JJ und vor allem Andy eingesprungen und hatten das Café vor dem Untergang bewahrt. Diesmal würde sie es erst gar nicht so weit kommen lassen. Die Gesundheit war wichtiger als alles andere.
Hannah sah sich um. Das Damenkränzchen, das sich jeden dritten Freitagnachmittag bei ihr traf, war bestens versorgt. Im linken Schaufenster saßen zwei junge Frauen und zeigten sich gegenseitig Fotos auf dem Handy. Am Tisch daneben saß ein älteres amerikanisches Ehepaar, das ihr herzliche Grüße von April ausgerichtet hatte. Hannah fand es wunderbar, dass sie trotz der zeitlichen und räumlichen Distanz immer noch in Kontakt waren. Noch besser fand sie natürlich, dass April in den USA kräftig die Werbetrommel für sie rührte.
Auf der anderen Seite saß ein älterer Mann und las hingebungsvoll in einem Buch. Hannah fühlte Neid aufkommen. Wann hatte sie zuletzt ein Buch gelesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Vielleicht war eine Woche in einem Hotel im Nirgendwo doch das Richtige. Aber musste es ausgerechnet Griechenland sein? Da würde es der Bayerische Wald auch tun. Sie grinste. Andy würde dem niemals zustimmen, denn es war viel zu nah an München.
Hannah trat vor die Tür und schaute auch hier nach dem Rechten. Alle vier Tische waren besetzt, die Menschen nutzten das schöne Wetter. Am Wochenende war eine weitere Hitzewelle vorhergesagt. Zum Glück hatte sie die Lockdowns genutzt und eine Klimaanlage einbauen lassen.
»Kann ich noch jemandem etwas Gutes tun?«, fragte sie über die Tische hinweg.
Ein junger Mann bestellte ein zweite Rhabarbersaftschorle, seine Begleiterin war noch unschlüssig, ob sie einen weiteren Milchkaffee nehmen sollte, alle anderen waren glücklich und zufrieden.
»Melden Sie sich einfach, wenn Sie noch etwas möchten«, sagte Hannah zu der jungen Frau und ging zurück in den Laden, um die Schorle zu holen.
Um halb sechs kamen die ersten Gäste, die das vergünstigte Lunch-Angebot wahrnehmen wollten. Hannah hatte es eingeführt, nachdem Edi zunehmend unglücklich über die vielen Reste gewesen war. Jetzt gab es diese ab halb sechs zum halben Preis, nur to go und zum selbst Warmmachen. Es gab nichts mehr zum Wegwerfen, Edi konnte morgens alles frisch kochen und backen, und jeder war glücklich.
Um viertel nach sechs leerte sich das Café merklich, und Hannah hatte zum ersten Mal an diesem Tag Zeit zum Durchschnaufen. Draußen waren noch zwei Tische besetzt und der lesende Herr war so vertieft in sein Buch, dass er offensichtlich die Welt um sich herum vergessen hatte.
Hannah schnappte sich ein Tablett, um die beiden anderen Tische vor dem Café abzuräumen, als eine Frau hereinkam. Sie blieb direkt nach der Türschwelle stehen, schaute sich aufmerksam um, kam dann langsam auf die Theke zu.
Die Frau unterschied sich in ihrer Eleganz deutlich von ihrer sonstigen Klientel, die eher lässig unterwegs war. Hannah schätzte sie auf Mitte, Ende dreißig. Sie war in etwa so groß wie Hannah, schlank und sehr gut gekleidet. Hannah kannte sich mit Mode kaum aus, aber sie war sich sicher, dass das Kostüm ein Designerstück war. Über einem schmalen, schlichten Rock – wie nannte man die gleich noch? Richtig, Bleistiftrock! –, der kurz über den Knien endete, trug die Frau die passende Jacke. Die Revers waren asymmetrisch geschnitten und wurden von kleinen Lederriemen mit daran befestigten Spangen gehalten. Die Füße steckten in High Heels, die Hannah seit zwanzig Jahren nicht mehr zu tragen wagte. Unter einem pfiffigen Kurzhaarschnitt trug sie kleine goldene Kreolen, an den Händen steckte ein Ehering.
Alles an ihr schrie: Seht her, ich bin eine erfolgreiche Frau! Vermutlich kam sie gerade von einem wichtigen Termin, denn das Make-up empfand Hannah als einen Hauch zu heftig für die Tageszeit. Alles in allem machte sie jedoch einen sehr sympathischen Eindruck.
Als sie vor der Theke stand, entdeckte Hannah den dunklen Haaransatz der ansonsten perfekt gestylten, blonden Haare. Obwohl sie sich im selben Moment dafür schämte, hatte sie sofort die Assoziation »Osteuropäerin«.
»Wir schließen in einer guten halben Stunde«, informierte sie den neuen Gast. »Sie können aber natürlich trotzdem bleiben.«
Die Frau schaute sie an und runzelte die Stirn, als lausche sie auf etwas, das Hannah nicht wahrnahm.
»Do you speak English?«, fragte sie dann plötzlich. Obwohl ihre Aussprache gut war, hatte sie einen deutlichen Akzent.
Hannah war so überrascht, dass sie automatisch mit »Yes, I do« antwortete.
»You need help.«
Hannah schaute sie verblüfft an. Es hatte nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung geklungen. »What do you mean?«
»Ich habe Ihr Schild gesehen«, erklärte die Frau auf Englisch und deutete auf das Plakat im rechten Schaufenster, auf dem Hannah eine Bedienung suchte. »Ich suche Arbeit. Dringend.«
»Sprechen Sie Deutsch?«, wollte Hannah nun auf Deutsch wissen.
Die Frau hielt Daumen und Zeigefinger knapp einen halben Zentimeter auseinander. »Ein bisscken.«
Hannah atmete tief durch, bevor sie antwortete – jetzt wieder auf Englisch, damit ihre Nachricht ankam. »Es tut mir leid, aber ich brauche jemanden, der Deutsch kann. Sie müssten Bestellungen aufnehmen, das Essen erklären, die richtigen Getränke liefern und so weiter und so fort.«
»Ich verstehe«, sagte die Frau. »Ich kann es lernen.«
»Das glaube ich Ihnen, aber ich brauche jemanden, den ich sofort einsetzen kann.« Es tat ihr wirklich leid, sie hätte der Frau gerne geholfen, aber sie war kein Sozialverein. »Wo kommen Sie her?«, fragte sie, obwohl sie es sich denken konnte.
»Ukraine.«
Hannah nickte. Sie hatte den Krieg zwischen Russland und der Ukraine in den letzten Wochen so weit wie möglich aus ihrem Gedächtnis verbannt. Sie hatte genug eigene Probleme, da konnte sie sich nicht noch mit solchen Themen befassen. Aber selbst, wenn sie dieser Frau nicht helfen konnte, wollte sie wenigstens freundlich zu ihr sein und ihr einen Kaffee anbieten. Sie zeigte auf den nächsten freien Tisch und sagte: »Bitte, setzen Sie sich doch. Ich mache uns einen Kaffee, ja? Was hätten Sie gerne?«
Nun war es an der Frau, verblüfft zu schauen. »Wasser?«
Hannah bot ihr alles Mögliche an, aber sie blieb beim Wasser. Also machte Hannah sich einen Milchkaffee und brachte der Frau ein Glas Wasser. Still.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie, als sie sich gegenübersaßen.
»Lilya. Und Sie sind Hannah?«
Hannah lächelte und nickte. Sie hielt ihre Tasse hoch, als wolle sie ihr zuprosten und sagte: »Freut mich, angenehm.«
Lilya wiederholte die Geste mit ihrem Wasserglas.
»Ich wage es kaum zu fragen: Wo kommen Sie her?«
Lilya schwieg lange, so lange, dass Hannah befürchtete, sie habe sie verletzt, dann sagte sie leise: »Aus der Nähe von Charkiw. Meine Eltern sind tot, mein Mann ist noch dort, meine beiden Kinder sind hier mit mir.«
Hannah beugte sich vor und legte ihre Hand auf die von Lilya. »Es tut mir so leid. Niemand hier kann sich vorstellen, was Sie gerade durchmachen.«
»Danke«, sagte Lilya leise auf Deutsch.
»Wo wohnen Sie?«
»Wir sind bei einer Freundin untergekommen. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet und lebt in einem großen Haus. Wir hatten Glück im Unglück.«
»Was sind Sie von Beruf?«
»Ich habe Modedesign studiert«, sagte Lilya. »In Kiew. Ich habe, nein, ich hatte ein eigenes Modelabel. Alles kaputt.«
Das erklärte die elegante Kleidung. Hannah zeigte auf den Rock und die Jacke. »Selbst entworfen?«
Lilya nickte.
Sie wurden von einem Gast unterbrochen, der zahlen wollte.
»Laufen Sie nicht weg, ich bin gleich wieder da.« Hannah ging nach draußen, um zu kassieren. Das Paar war fremd in der Stadt und fragte nach ein paar Tipps, die Hannah ihm gerne gab. Als das Paar weg war und sie sich umdrehte, stellte sie verblüfft fest, dass die restlichen Tische abgeräumt waren. Hatte sie es vorhin noch getan und vergessen?
Doch als sie ins Café zurückkam, erkannte sie, dass ihr Gedächtnis ihr keinen Streich gespielt hatte. Lilya stand hinter der Theke und räumte die Geschirrspülmaschine ein. Ihre Jacke hatte sie über den Stuhl gehängt, auf dem sie vorher gesessen hatte.
Hannah blieb an der Tür stehen und beobachtete sie. Obwohl sie nicht besonders vorsichtig zu sein schien, machte sie kaum Geräusche. Teller, Besteck, Gläser – alles schien wie von selbst an den vorgesehenen Platz zu rutschen.
Hannah seufzte. Ihr wäre es lieber gewesen, es gäbe eine einfache Lösung. Aber da die nun mal nicht in Sicht war, musste sie sich offensichtlich mit der komplizierten Variante begnügen. Sie ging zur Theke und auf Lilya zu. Die suchte offensichtlich nach dem Spülmittel. Hannah deutete auf eine Schublade neben der Maschine. Ohne zu zögern, öffnete Lilya sie, entnahm ihr einen Tab, legte ihn in das Fach, schloss die Maschine und startete sie.
»Okay«, sagte Hannah und machte mit ihrem Tonfall klar, dass sie sich geschlagen gab. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.«
Eine halbe Stunde später verließ Lilya freudestrahlend das Café mit einem Vorabvertrag, während Hannah die beiden Plakate aus den Schaufenstern nahm.
* * *
Eine Woche später war auch Edi überzeugt. Die Gäste hatte Lilya mit ihrer freundlichen Art im Sturm erobert; dass sie aus der Ukraine kam, war nicht unbedingt ein Nachteil. Alle wollten helfen.
Hannah gratulierte sich jeden Abend zu ihrem Glück, neben Edi als begnadete Köchin jetzt auch noch die perfekte Bedienung gefunden zu haben.
Lilya meinte es ernst. Jeden Morgen ließ sie sich von Edi oder Hannah die Bezeichnungen für die Gebäckstücke, Sandwiches und Spezialitäten sagen und übte sie so lange, bis sie sie einigermaßen fehlerfrei aussprechen konnte. Die Standardsätze hatte sie bereits am dritten Tag problemlos angewandt. Und wenn Deutsch nicht mehr half, wechselten sie und die Gäste ins Englische.
In den ersten Tagen machte Hannah sich Sorgen, denn Lilya arbeitete mehr als die vereinbarten acht Stunden. Abends paukte sie nach eigener Aussage Deutsch mit ihren Kindern und der Freundin, bei der sie wohnte. Das musste auf Dauer zu viel werden, immerhin war sie keine zwanzig mehr. Aber sie kam jeden Morgen mit glänzender Laune ins Café und blieb auch dem nervigsten Gast gegenüber ruhig und gelassen, sodass Hannah sich ebenfalls entspannen und sich auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren konnte.
Das tat auch ihrer Beziehung zu Andy gut. Sie arbeiteten beide immer noch zu viel, aber beide Geschäfte florierten und es gab ausnahmsweise nicht allzu viele Probleme und Sorgen.
Hannah hatte einige Wochen gebraucht, um sich an Andys Daueranwesenheit zu gewöhnen. Aber es wäre töricht gewesen, ihn nicht bei sich wohnen zu lassen, nachdem er beschlossen hatte, bei Ben auszuziehen, um das junge Glück nicht zu stören. Ihre Wohnung war groß genug, dass sie sich notfalls aus dem Weg gehen konnten. Im gemeinsamen Arbeitszimmer stand neben den beiden Schreibtischen ein bequemes Sofa, das sie bisher jedoch noch nicht in Anspruch nehmen mussten. Denn die wichtigste Regel lautete: Wir gehen nicht im Streit ins Bett. Versöhnungssex war angeblich eh der beste …
Hannah grinste, als sie die Treppe zur Wohnung hinauflief. Vielleicht sollte sie mal wieder einen Streit vom Zaun brechen, um hinterher guten Sex zu haben. Dann schüttelte sie den Kopf. Eine absurde Idee! Die Harmonie in der Beziehung war wichtiger. Oder mindestens genauso wichtig!
Als sie ihre Wohnungstür aufschloss, öffnete sich die von gegenüber.
»Hallo Hannah.«
Hannah drehte sich um, ging die zwei Schritte auf Illy zu und umarmte sie. »Hallo! Wie geht es dir? Wie geht es euch?«
»Gut. Sehr gut. Hubert hat letzte Woche zwei Bilder verkauft und ich habe einen größeren Auftrag für eine Vernissage an Land gezogen.«
»Das ist wunderbar!« Hannah freute sich sehr für die Freunde. Auch sie hatten in den letzten beiden Jahren eine ziemliche Durststrecke durchlaufen müssen. Als Frau Müller, die in der Wohnung gegenüber von Hannah wohnte, entschied, ins Altenheim zu ziehen, hatte Hannah den beiden den Vorschlag unterbreitet, vom vierten in den ersten Stock zu ziehen.
»Klar, die Wohnung ist nur noch halb so groß, aber ihr braucht den ganzen Platz doch sowieso nicht. Außerdem solltest du nicht mehr so viele Treppen steigen«, hatte sie zu Hubertus gesagt, auf seinen Herzinfarkt anspielend.
Illy war sofort Feuer und Flamme gewesen, er hatte jedoch lange gezögert, beinahe zu lang. Einen Tag vor der Frist, die ihm der Vermieter gesetzt hatte, beschloss er, den Schritt zu wagen. Laut Illy hatten sie ihn bisher nicht bereut, auch wenn Hubertus wie immer ziemlich mürrisch reagierte, wenn man ihn darauf ansprach.
»Tut mir leid«, sagte Illy. »Ich muss los, ich bin sowieso zu spät dran.«
»Komm in den nächsten Tagen runter und trink eine Tasse Kaffee mit mir. Du kennst Lilya noch gar nicht«, erwiderte Hannah. »Und jetzt los.« Sie gab der Juwelierin einen leichten Klaps auf den Rücken und schob sie sanft Richtung Treppe.
Zufrieden lauschte sie auf die Schritte, das Öffnen und Zufallen der Haustür, und steckte den Schlüssel ins Schloss, als die Wohnungstür geöffnet wurde. Erfreut schaute sie Andy an.
»Was machst du denn schon hier?« Sie gab ihm beim Betreten der Wohnung einen Kuss. Seufzend schlüpfte sie aus den Pumps und beschloss zum millionsten Mal, endlich auf die Eitelkeit zu verzichten und bequeme Schuhe anzuziehen. Vermutlich würde sie es nie tun, aber man konnte es sich ja mal vornehmen.
»Ich habe gerade Illy getroffen. Denen geht es derzeit so richtig gut«, rief sie aus dem Badezimmer, während sie sich die Hände wusch. Hygiene war eines der wenigen positiven Überbleibsel der Pandemie. Sie drückte sich einen Klecks Handcreme auf den linken Handrücken und verrieb sie. Als sie das Bad verließ, stand Andy mit ernster Miene im Flur. Hannah stoppte abrupt.
»Was ist los? Du machst mir Angst.«
»Marlenes Mutter baut massiv ab. Lange kann ich sie nicht mehr alleine wohnen lassen.«
»Oh nein! So alt ist sie doch noch gar nicht, oder?«
»Anfang achtzig«, antwortete Andy und folgte ihr ins Wohnzimmer. »Ich fürchte, sie hat zu wenig auf ihre Gesundheit geachtet.« Er schaute sie bedeutungsvoll an.
»Ja, ja, ja.« Hannah ließ sich auf das Sofa fallen. »Ich weiß. Aber ich arbeite doch schon sehr viel weniger als früher.«
»Trotzdem ist es noch zu viel. Du musst viel mehr delegieren.« Er setzte sich neben sie.
Hannah seufzte. »Wenn du mir sagst, an wen, gerne.«
»Was ist mit Lilya? Du bist jeden Tag voll des Lobes.«
Hannah legte den Kopf zurück. »Loben und delegieren sind zwei Paar Stiefel«, sagte sie schließlich. »Sie arbeitet gerade einmal zwei Wochen im Café. Aber du hast natürlich recht. Gerade gestern habe ich darüber nachgedacht, ihr einen Schlüssel fürs Café zu geben. Dann könnte Edi etwas länger schlafen. Und ich auch.« Sie hob den Kopf und warf ihm einen anzüglichen Blick zu.
Andy lachte. »Du vergisst, dass ich um sechs raus muss, egal, wie lange du schlafen kannst.«
»Ach so. Ich muss delegieren, aber bei dir geht das nicht«, rief Hannah gespielt-empört. Dann wurde sie wieder ernst. »Weiß Marlene es?«
»Wenn sie unsere Berichte liest und nicht vollkommen ausblendet, was drinsteht, sollte sie es wissen.«
»Was schätzt du, wie lange Frau Stockner noch in ihrer Wohnung bleiben kann?«
Andy zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Es sind nur Kleinigkeiten. Verlegt hat sie schon häufiger etwas, aber es häuft sich. Mal ist es das Telefon, mal die Fernbedienung. Gestern hat sie mich gefragt, wer ich sei. Als ich es ihr sagte, lachte sie und meinte, das wisse sie doch, es sei nur Spaß gewesen. Es war aber kein Spaß.«
»Ist das nicht normal in diesem Alter?«
Andy nickte. »Ja, natürlich. Unser Gehirn ist nicht darauf ausgelegt, so alt zu werden. Und soweit ich weiß, hat sie wenig getan, um es laufend zu trainieren. Sie liest nicht, sie macht keine Kreuzworträtsel, sie sitzt nur vor dem Kasten und schaut irgendwelchen blöden Soaps an. Inzwischen macht sie aber nicht einmal das, sondern sitzt nur in ihrem Rollstuhl und starrt vor sich hin.« Er seufzte. »Manchmal wünsche ich mir die störrische Frau Stockner zurück, auch wenn das wahnsinnig anstrengend war.«
Hannah legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich weiß, es sagt sich so leicht, aber du darfst das nicht so nahe an dich ranlassen.«
Andy nickte. »Ich kann mich noch gut an Rosie erinnern. Sie war eine meiner letzten Patientinnen in Dublin. Du weißt, dass ich damals nach Galway zur Hochzeit meiner Nichte fuhr und die ganze Zeit dieses blöde Gefühl im Bauch hatte.«
Hannah nickte. Er erzählte die Geschichte immer mal wieder, und ihr war auch dadurch bewusst geworden, wie sehr Andy Menschen liebte. Obwohl nichts darauf hingedeutet hatte, war Rosie während seines Aufenthalts in Galway gestorben.
»Ein ähnlich blödes Gefühl habe ich auch jetzt«, fuhr er fort.
»Sollte ich Marlene anrufen?«
Er wiegte den Kopf hin und her. »Ich würde noch abwarten. Bisher hat sie uns nicht darauf angesprochen.«
»Ich werde sie auf jeden Fall anrufen«, beschloss Hannah. »Ich werde ihre Mutter nicht erwähnen. Wenn sie selbst davon anfängt, gut, wenn nicht, auch gut.« Sie stand auf und ging zur Bar. »Willst du auch einen Aperitif?«
»Ja, aber einen anderen, als du im Kopf hast.«
Überrascht drehte sie sich um. Andy grinste sie an.
»Vor dem Abendessen?«, fragte sie und hob tadelnd den Zeigefinger.
»Natürlich vor dem Abendessen. Wann denn sonst?« Andy war aufgestanden und stand nun nah vor ihr. Sie roch sein Aftershave und spürte ihr Herz klopfen.
Das ist definitiv ein Vorteil des Zusammenwohnens, dachte sie, als er sie küsste.
* * *
Andy ließ nicht locker und sprach immer wieder das Thema Urlaub an. Immerhin hatten sie sich inzwischen auf einen Termin geeinigt.
»Ende September wäre ideal«, hatte Hannah vorgeschlagen. »Während der Wiesn geht das Geschäft eh schlecht, da würde es nicht so sehr auffallen, wenn ich nicht da bin.«
Es blieben noch knapp drei Monate und Andy drängte. Flüge und Hotels mussten gebucht werden, außerdem wollte er sich über die Geschichte des Landes vorbereiten.
»Ich werde nicht stundenlang über irgendwelche Ausgrabungsstätten laufen«, hatte Hannah kategorisch festgestellt.
Andy war mit allem einverstanden, solange sie endlich konkret wurden. Den Vorschlag, in den Bayerischen Wald zu fahren, hatte er wie erwartet abgelehnt.
»Du musst mal raus. So richtig raus.«
Hannah sah ein, dass er recht hatte. Sie wusste auch, dass Edi und Lilya gut ohne sie zurechtkämen. Dennoch fiel es ihr schwer, seinen Plänen zuzustimmen.
Einem Impuls folgend vereinbarte sie einen Termin bei Zoi im Nagelstudio. Nicht nur wurde es höchste Zeit, dass sie sich nach Kassie erkundigte, sondern sie könnte so womöglich auch etwas über Griechenland erfahren.
»Ich tue mal was für meine Schönheit«, rief sie Edi zu und wedelte mit den Händen.
»Zeit wird’s«, gab diese trocken zurück und belegte unbekümmert Sandwichscheiben.
»Sag bitte Lilya Bescheid«, bat Hannah sie, da die Ukrainerin gerade bediente.
»Mache ich«, brummte Edi. »Lass dir Zeit.«
Hannah lachte und verließ das Café. Es war ungewöhnlich warm für Mitte Mai, am Wochenende sollte sogar die 30-Grad-Marke geknackt werden. Die Bäume der Blumengasse hatten ihren weißen Schmuck längst abgelegt und trugen jetzt ihre grünen Blätter. Irgendwo zwitscherte eine Amsel.
Hannah atmete tief ein. Die Straße war einfach wunderbar. Wozu sollte sie in die Ferne reisen?
Um abzuschalten, mahnte ihre innere Stimme.
Ja, ja, ja!
Hannah begrüßte die Gäste, die an den Außentischen saßen, und überquerte die Straße Richtung Nagelstudio.
Bevor sie den kleinen Laden betrat, bewunderte Hannah das neu gestaltete Schaufenster. Sie hatte Kassie sehr geschätzt, aber dass es in ihrem Schaufenster permanent und penetrant geblinkt hatte, hatte sie nie nachvollziehen können.
Zoi hatte die Leuchtschilder sofort nach Übernahme des Geschäfts entfernt und die Fenster zunächst selbst gestaltet. Inzwischen übernahm das eine Fachfrau für sie.
»Hallo Zoi, danke, dass du so kurzfristig Zeit hast«, sagte Hannah zur Begrüßung.
»Hi Hannah. Es hat jemand abgesagt, deshalb hat es perfekt gepasst. Nimm bitte Platz. Ich bin sofort bei dir.«
Hannah setzte sich und sah sich um. Sie war bisher nur einmal hier gewesen, seit Kassie weggegangen war. Immer wieder nahm sie sich vor, sich die Nägel regelmäßig machen zu lassen, doch dann waren wieder drei Monate um, und sie dachte: Ach, es geht auch ohne.
Zoi hatte gründlich entrümpelt und nur die wichtigsten Möbel behalten. An der Stelle, an der früher an einer Stange Klamotten gehangen hatten, die Kassie in Kommission für eine Freundin verkaufte, stand jetzt ein weißes Regal. Darin präsentierte Zoi ihre Pflegeprodukte.
»Hübsch hast du es hier«, sagte Hannah, als Zoi mit einer dampfenden Tasse Tee aus der kleinen Küche kam.
»Danke. Ja, jede hat ihren eigenen Stil.« Sie stellte die Tasse ab, nahm Hannah gegenüber Platz und zog sich Handschuhe an. Hannah streckte ihr die rechte Hand entgegen, stieß dabei an die Plastikscheibe, die zwischen ihnen hing, und brachte sie zum Schwanken.
»Irgendwann kann ich das Teil hoffentlich abmontieren.« Zoi sah sich Hannahs Hand aufmerksam an.
»Ich weiß, ich müsste öfter kommen, aber es ist immer so viel los.« Hannah ärgerte sich über das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.
»Alles gut«, erwiderte Zoi. Sie setzte eine medizinische Maske auf und knipste das Absauggerät an. »Dann wollen wir mal.«
Während sie Hannahs Nägel feilte, tauschten sie den neuesten Klatsch aus der Blumengasse aus. So erfuhr Hannah, dass in dem Laden neben dem Café das x-te Modegeschäft eröffnet werden sollte. Sie hatte sich in all den Jahren abgewöhnt, darauf zu achten, wer ihr Nachbar war. Es hatte zu viele Wechsel gegeben.
»Es wäre schön, wenn endlich einmal jemand dauerhaft einziehen würde.«
»Ja, für die Straße wäre es wirklich gut«, bestätigte Zoi. »Ein ordentliches Modegeschäft käme uns allen zugute. Es zieht Kunden an. Diese Pop-up-Läden taugen nichts.«
»Wie geht es Kassie?«, wollte Hannah schließlich wissen.
»Oh, der geht es hervorragend. Ich gebe es ungern zu, aber sie und Niko geben das perfekte Paar ab.« Sie zog eine Grimasse. »Es hat lange gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass sie und mein kleiner Bruder zusammen sind.«
Hannah lachte. »Das kann ich gut verstehen, auch wenn ich in meiner Familie die Jüngste bin und andere immer über mich bestimmen wollten.«
»Autsch.«
»Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Hannah wollte eine abwehrende Geste machen, wurde von Zoi aber daran gehindert.
»Stopp! Die Hand bleibt da!«
»Sorry, natürlich. Was ich meinte: Ich kann verstehen, dass man sich für jüngere Geschwister verantwortlich fühlt. Wie geht es ihrem Sohn? Wie heißt er? Jannis, oder?«
Zoi nickte. »Richtig. Er lebt noch bei seinem Vater, denkt aber ernsthaft darüber nach, ebenfalls nach Berlin zu ziehen. Ich glaube, er findet die Stadt ziemlich cool.«
»Berlin hat was. Das fand mein Sohn auch. Und der ist fast doppelt so alt wie Jannis.«
Hannah schwieg und schaute Zoi bei der Arbeit zu. Ihre Fingernägel bekamen endlich wieder eine ansehnliche Form und Länge. Sie fragte sich, wie sie ihr Anliegen ansprechen sollte, entschied sich für Offenheit.
»Kann ich dich etwas fragen?«
Zoi runzelte nur kurz die Stirn, nickte und sagte: »Klar.«
»Andy, mein Mann, hat vorgeschlagen, im September nach Griechenland zu fahren. Es wäre mein erster richtiger Urlaub seit vielen Jahren. Ich war aber noch nie in Griechenland.«
»Natürlich muss ich jetzt sagen: Dann wird es aber höchste Zeit.« Zoi grinste. »Aber ich glaube, ich weiß, was du wissen willst. Ich kenne das Land auch nur von Besuchen bei der Verwandtschaft. Ich habe zwar griechische Wurzeln, ich spreche die Sprache, aber ich bin durch und durch deutsch. Was ich dir sagen kann, ist dies: Die Griechen …«, sie zeichnete Anführungszeichen in die Luft, »… sind oftmals chaotisch, aber sehr liebenswert. Gastfreundschaft wird sehr großgeschrieben, und wenn du Hilfe brauchst, sind sie für dich da. Die Landschaft ist traumhaft schön, das Wetter ist garantiert besser als hier, und wenn du dich für Kulturgeschichte interessierst, kannst du locker einige Wochen damit ausfüllen. Du kannst das alles aber auch gut ignorieren. Über das Essen muss ich dir nichts sagen, das kennst du sicher. Kurz gesagt. Ich wüsste keinen Grund, warum man nicht nach Griechenland fahren sollte.«
»Die Sprache?«, wandte Hannah zaghaft ein.
Zoi lachte. »Okay, das ist ein Argument. Nein, im Ernst: Jeder spricht Englisch, viele sogar Deutsch. Vergiss nicht, halb Griechenland war hier zum Arbeiten. Und fast alle Schilder sind sowohl griechisch als auch lateinisch beschriftet.« Sie schaute sie ernst an. »Ganz ehrlich: Wenn das deine einzigen Bedenken sind, gibt es wirklich keinen Grund. Es ist ein wunderbares Land, die Menschen sind wirklich sehr nett. Und es ist billiger als anderswo.«
Hannah lachte. »Okay, du hast mich überzeugt. Ich schätze, ich kann mich auf das Wagnis einlassen.«
»Weißt du schon, wo genau ihr hinwollt?«
»Andy hat mir keine Details gesagt, nur, dass wir ein paar Tage in Athen bleiben wollen und dann auf den Peloponnes fahren.«
Zoi nickte anerkennend. »Das klingt nach einem guten Plan. Athen ist eine tolle Stadt. Ihr müsst unbedingt auf die Akropolis und auf den Lycabettus steigen; von beiden habt ihr den perfekten Überblick über die Stadt.« Sie seufzte. »Ach, da würde ich liebend gerne mitkommen. Ich war zuletzt als Sechzehnjährige dort. Lang, lang ist’s her.«
Hannah lächelte. »Vielleicht sollte ich dich mit Andy zusammen hinschicken.«
Zoi zog eine Augenbraue hoch. »Ernsthaft? Du weißt schon, dass dein Mann einer der begehrtesten der ganzen Straße ist, oder? An deiner Stelle wäre ich mit solchen Angeboten vorsichtig.«
Hannah war überrascht, ja sogar schockiert. Andy – ein begehrter Mann? Klar, er war attraktiv, auf seine etwas nachlässige Art, aber sie hätte nie gedacht, dass er auch auf andere Frauen so wirken könnte. Andererseits hatte sie im vergangenen Jahr ausreichend Lehrgeld zahlen müssen.
Sie schluckte. Ein Grund mehr, ihre Beziehung zu ihm auf eine solide Grundlage zu stellen und sie zu pflegen.
»Danke für den Hinweis.« Sie bemühte sich um einen leichten Ton, aber Zoi ließ sich nicht so leicht täuschen.
»Hannah, es gibt in dieser Straße, und vermutlich darüber hinaus, keine Singlefrau, die dich nicht um diesen Mann beneidet. Du solltest wirklich gut auf ihn aufpassen.« Sie schob die linke Hand, die sie soeben eingecremt hatte, zurück und sagte: »Fertig.«
»Das mache ich«, sagte Hannah. »Danke.«
Nachdenklich verließ sie das Geschäft und blieb davor stehen. Illys Laden rechts vom Nagelstudio war heute geschlossen. Links standen wie üblich üppige Blumenkübel vor den Schaufenstern und lockten mit verführerischem Duft. Hannah ging am Blumenladen vorbei und winkte Christine zu, die gerade eine Kundin bediente.
Das Geschäft daneben stand nun auch schon wieder seit einigen Monaten leer. Im letzten Jahr hatte es Gerüchte gegeben, dass ein Architekt einziehen würde, aber sie hatten sich nicht bestätigt. Hannah fragte sich, ob Roland Kammermeier noch als Immobilienmakler tätig war oder ob er sich nach dem Deal mit Ben zur Ruhe gesetzt hatte.
Vor Mehmets Dönerstand hatte sich wie üblich eine Schlange hungriger Schüler gebildet. Der quirlige Türke winkte ihr kurz mit dem elektrischen Messer zu, bevor er sich wieder an dem Spieß zu schaffen machte und eine große Portion Fleisch in das Fladenbrot häufte.
Das Litani gegenüber würde erst um halb sechs öffnen, aber Bassam und Halim waren sicher bereits in der Küche, schnippelten Gemüse und sangen dazu arabische Liebeslieder. Hannah musste schmunzeln, als sie daran dachte.
Die Schaufenster des Ladens zwischen dem libanesischen Lokal und dem Café waren zugeklebt, handgemalte Schilder kündeten von einer baldigen Neueröffnung. Es sah wieder sehr unprofessionell aus, wer immer dort einzog, würde vermutlich Ware zweiter Wahl aus dem Karton verkaufen und nach wenigen Wochen wieder weg sein. Die Gerüchte, es handle sich um Schwarzgeldwäsche der russischen oder einer anderen Mafia, hielten sich hartnäckig.
Die beiden Pandemiejahre hatten zum Glück nicht allzu viel Veränderung in die Blumengasse gebracht. Dass der Zeitungsladen schließen musste, war weniger den schlechten Zeiten als der permanent schlechten Laune der Besitzerin geschuldet. Wer wollte schon gerne am Morgen beim Kauf einer Zeitung angeschnauzt werden?
Nachdem im Frühjahr absehbar gewesen war, dass das Gröbste überstanden war, hatte Hannah den anderen Ladenbesitzern den Vorschlag unterbreitet, wieder ein Sommerfest zu organisieren. Die Gefahr, sich anzustecken, war zumindest im Sommer sehr gering.
Zuerst winkte Christine ab, kurz darauf folgten Petér und Mehmet. Sie hatten am meisten mit den Folgen von Corona zu kämpfen und mussten sich voll und ganz auf ihr Geschäft konzentrieren, um es nicht zu verlieren.
Hannah dachte eine Woche lang daran, das Fest allein auf die Beine zu stellen, aber Andy konnte es ihr erfolgreich ausreden.
»Denk daran, was beim letzten Mal passiert ist.«
»Es lag nicht am Fest.«
»Nein, nur an tausend Kleinigkeiten, die du mal eben ›nebenbei‹ erledigst.«
Hannah hatte schließlich aufgegeben. Vielleicht im nächsten Jahr.
Sie betrat das Café und beobachtete Lilya, die sich gerade mit einem langjährigen Stammgast unterhielt, dabei jedoch nie den Rest des Cafés aus den Augen verlor.
Es war tatsächlich an der Zeit, mehr zu delegieren und selbst etwas kürzerzutreten.
Hannah winkte Lilya zu und sagte auch Edi in der Küche Bescheid, dass sie wieder da war.
Da Andy an diesem Abend Spätschicht hatte, kochte sie sich einen Kakao, gab einen kräftigen Schuss Rum dazu, nahm die Tasse mit ins Arbeitszimmer und begann zu telefonieren.
Marlene stand seit fast zwei Wochen auf der Liste, aber es war jedes Mal etwas dazwischengekommen. Wie fast immer. Und auch an diesem Abend sollte es offensichtlich nicht sein, sowohl am Handy als auch am Festnetz sprang sofort der Anrufbeantworter an.
Hannah hinterließ eine Nachricht und bat um einen Rückruf bei Gelegenheit.
Ihre Freundin Brigid war unterwegs auf Lesereise, irgendwo im Westen Irlands. So sehr Hannah sich über den stetig wachsenden Erfolg ihrer besten Freundin freute, so sehr wurmte es sie, dass sie kaum noch Kontakt zueinander hatten. Ihr Finger verharrte sekundenlang über Brigids Mobilnummer, doch dann scrollte sie weiter auf der Suche nach einem neuen Opfer.
Um Marilyn anzurufen, war es zu früh. Sie saß vermutlich gerade in ihrem winzigen Büro im hinteren Teil des Supermarkts, den sie seit drei Jahren leitete, und überprüfte die Bestellungen oder Abrechnungen ihrer Mitarbeiter.
Hannah zupfte einen Zettel von ihrem Memoblock und notierte Call Marilyn!!! Der Zettel würde garantiert im Chaos ihres Schreibtischs verschwinden, aber vielleicht war die Notiz ausreichend, um sich auch ohne daran zu erinnern.
Schließlich gelangte sie zum Buchstaben W wie Wahls. Seit Bekanntwerden von Kerstins Seitensprung hatte sich die Beziehung ihrer Familie zu ihr erheblich gebessert. Sie war plötzlich nicht mehr das einzige schwarze Schaf. Dennoch zögerte Hannah. Es war weiterhin nicht üblich, einfach mal anzurufen und nach dem werten Befinden zu fragen.
Eine Ausnahme von dieser Regel war ihre Nichte Svenja. Aber sie war eben auch das Kuckuckskind, wie sie sich selbst bezeichnete, hatte also maximal fünfzig Prozent der Wahl‘schen Gene mitbekommen.
Hannah lächelte und drückte entschieden die grüne Taste. Insgeheim erwartete sie hier ebenfalls den Anrufbeantworter, doch zu ihrer großen Freude meldete sich Svenja mit: »Na sieh mal an. Du lebst auch noch?«
»Das sagt die Richtige«, gab Hannah fröhlich zurück. »Hast deine alte Tante im Liebestaumel wohl vollkommen vergessen?«
»Hallo, Tante Hannah. Schön, dass du dich meldest.«
»Hallo Svenja. Wie geht es dir?«
Ihre Nichte erklärte, dass es ihr gutgehe. Die Beziehung könne nicht besser laufen, die Krankheit sei derzeit keine Bedrohung, der neue Job entwickle sich gut.
»Das hört sich alles sehr gut an«, kommentierte Hannah. Da Svenja und Ben schon länger nicht mehr zum Frühstücken im Café gewesen waren, berichtete sie von ihrer neuen Mitarbeiterin.