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Nach den zehn Frauen des letzten Bandes kommen nun die Herren der Schöpfung zu Wort. Die Blumengasse tritt etwas in den Hintergrund, die Protagonisten sind viel unterwegs. Dennoch bleiben Hannah und ihr Café Dreh- und Angelpunkt des Romans. Während JJ und Ben sich in ihrer neuen Rolle als junge Väter zurechtfinden müssen, hadert Halim mit seiner Entscheidung, in einem Sternerestaurant zu arbeiten. Sunay genießt die letzten Stunden mit Zoi, für Theo ergeben sich überraschende Perspektiven, Xaver versucht, sich vor der großen Reise mit Edi mit seiner Tochter auszusöhnen. Das Schicksal hat den Protagonisten jedoch nicht nur Positives anzubieten. Wird sich am Ende dennoch alles zum Guten wenden?
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Seitenzahl: 404
Alle Bände der Café Hannah Reihe:
1 - Alles auf Anfang
2 - Überraschungen
3 - Rettet das Café!
4 - Vertraut anders
5 - Wir müssen reden
6 - Familienbande
7 - Mann Mann Mann!
Marilyn - Kurzroman
Brigid - Kurzroman
Cover: Christine Spindler, Foto © Dar1930, stock.adobe.com
Charakterskizzen: Karin Schliehe. Illustration Tasse: Karl-Heinz-Gutmann (charlygutmann/Pixabay). Foto Ann E. Hacker: Thomas Endl
Lektorat: Christine Spindler
Erste Auflage, München 2024
ISBN 978-3-949181-13-9
© Feather & Owl
Ute Hacker, Adamstr. 1, 80636 München
Alle Rechte vorbehalten
Nach den zehn Frauen des letzten Bandes kommen nun die Herren der Schöpfung zu Wort. Während JJ und Ben sich in ihrer neuen Rolle als junge Väter zurechtfinden müssen, hadert Halim mit seiner Entscheidung, in einem Sternerestaurant zu arbeiten. Sunay genießt die letzten Stunden mit Zoi, für Theo ergeben sich überraschende Perspektiven, Xaver versucht, sich vor der großen Reise mit Edi mit seiner Tochter auszusöhnen.
Das Schicksal hat den Protagonisten jedoch nicht nur Positives anzubieten. Wird sich am Ende dennoch alles zum Guten wenden?
Vorwort
1 – Achterbahn (Jonathan »JJ« Jensen)
2 – Gibt es eine Zukunft für uns? (Sunay Karakurt)
3 – Isla bonita (Hubertus von Waldhausen)
4 – Ich will doch nur kochen! (Halim Yakul)
5 – Zeit für mich (Theo Nielsen)
6 – Wer nicht wagt … (Robert Gantner)
7 – Basti sagt (Xaver Wildgruber)
8 – Das Leben ist … (Ben Häusgen)
9 – Schmerzen (Rasmus Wahls)
10 – Wie sich alles fügt (Andrzej »Andy« Nowak)
Nachwort
Die Autorin
Reihenübersicht
Liebe Leser*innen!
Vor neun Jahren erschien der erste Band dieser Reihe und gab mir für einen Moment die Hoffnung, es als Autorin nun endlich geschafft zu haben. Dieser »Moment« dauerte von der Unterschrift unter den Vertrag bis zur ersten Mail der damaligen Marketingleiterin des Verlags. Darin teilte sie mir mit, was ich alles bis zu einer bestimmten Deadline liefern müsse, u.a. gedruckte Postkarten, selbstredend auf meine Kosten.
Der nächste Schock kam, als ich die Cover-Entwürfe und den Klappentext erhielt. Ich fragte mich ernsthaft, ob man im Verlag das Buch überhaupt gelesen hatte. Weder Cover noch Klappentext hatten etwas mit dem Buch zu tun!
Beim zweiten Buch, das im selben Verlag erschien, war es etwas besser, immerhin hatte ich ein gewisses Mitspracherecht. Dennoch habe ich den Vertrag zum erstmöglichen Termin gekündigt und ging mit der Reihe zu 26books. Diesen kleinen, aber feinen Verlag gibt es nun leider nicht mehr, zum Glück bleibt mir die (Ex-)Verlegerin aber als Lektorin, Layouterin und Covergestalterin, vor allem aber als Ratgeberin und Freundin weiterhin erhalten! Die Serie erscheint jetzt in meinem eigenen Verlag Feather & Owl.
Seit 2015 sind sechs Bände und zwei Kurzromane erschienen, mit diesem Buch liegt nun der siebte und letzte Band der Café Hannah-Reihe vor!
Wie bereits angekündigt, kommen diesmal die Herren der Schöpfung zur Wort. Aber natürlich spielen auch Frauen eine wichtige Rolle, allen voran Hannah. Ohne sie wäre die Reihe nicht denkbar!
Die Blumengasse tritt hingegen etwas in den Hintergrund, die Protagonisten sind viel unterwegs. Dennoch bleibt das Café der Dreh- und Angelpunkt des Romans.
Ich wünsche viel Spaß mit den zehn Männern und ihren Frauen. Ich freue mich über jede Rückmeldung und beantworte garantiert jede Mail.
Herzliche Grüße
Eure Ann
JJ schreckte hoch. Er rieb sich über die Augen und schaute nach rechts. Langsam stieß er die Luft aus. Es war alles in Ordnung.
Safaa und Amira lagen eng beieinander und schliefen. Amiras Lippen berührten die Brust ihrer Mutter. Offensichtlich waren beide während des Stillens eingeschlafen.
Leise stand JJ auf, ging um das Bett herum, nahm das Baby vorsichtig in die Arme und legte es in die Wiege, die neben dem Ehebett stand. Noch immer hatte er Angst, dieses winzige Wesen zu verletzen, es womöglich fallenzulassen.
Amira öffnete ein paar Mal ihren kleinen Mund und gab dabei schmatzende Geräusche von sich. Sie drehte den Kopf hin und her, zog eine Schnute, wachte aber nicht auf.
Zärtlich strich er ihr über die Wange und deckte sie mit der bunten Decke zu. Dann wandte er sich Safaa zu, die ebenfalls tief und fest schlief.
An ihrer linken Brust hing ein Milchtropfen. JJ war versucht, ihn abzuwischen, aber er zog nur behutsam das Nachthemd über ihre nackten Brüste, damit sie nicht erwachte.
Abwechselnd betrachtete er die beiden weiblichen Wesen, die jetzt die wichtigsten Menschen in seinem Leben waren. Manchmal konnte er selbst kaum glauben, wie sehr sich sein Leben in den letzten Jahren verändert hatte.
Gerade die letzten Wochen waren eine Achterbahn der Gefühle gewesen. So problemlos Safaas Schwangerschaft verlaufen war, so nervenaufreibend waren die letzten Tage vor der Geburt gewesen.
Ihr war kalt, ihr war heiß, sie wollte Tee, nein, lieber Wasser, oder doch Tee? Die Füße waren angeschwollen, der Bauch zu dick, und überhaupt, diese Blähungen, das Sodbrennen und die ständige Rennerei zum Klo. Sie aß Schokolade, obwohl es ihr nicht bekam, und keine Diskussion darüber half.
Und dann – mitten in der Nacht – stupste sie ihn an. »Es geht los.« Sie sagte es in einem Ton, als würde sie ihm mitteilen, dass sie mal eben ins Bad ginge. Er brauchte ein paar Momente, bis er kapierte, was los war.
Safaa lachte ihn aus, weil er wie ein kopfloses Huhn durchs Haus schoss, obwohl alles vorbereitet war. Er musste nur das Taxi bestellen, das sie ins Krankenhaus bringen würde.
Es folgte Warten, endloses Warten. Die Wehen kamen und gingen, aber die Hebamme beruhigte sie. »Alles im normalen Bereich.«
Dennoch machte er sich permanent Sorgen. Und hatte Angst, er könnte in Ohnmacht fallen. Safaa stöhnte und zerquetschte ihm beinahe die Hand, aber um nichts in der Welt hätte er losgelassen. Der Geburtsvorgang war abstoßend und faszinierend zugleich. Helle Flüssigkeiten mischten sich mit Blut, ihr Geruch mischte sich mit dem von Desinfektionsmittel und Schweiß und raubte ihm den Atem.
Amira hatte ihren eigenen Kopf. Erst wollte sie nicht kommen, dann hatte sie es plötzlich sehr eilig. Die Hebamme kommandierte: »Pressen! Pressen!«, ein Schrei ertönte. Nein, zwei Schreie. Seiner und der seiner Tochter. Seinen nahm niemand ernst. Da hatte es offensichtlich schon ganz andere Vorfälle gegeben.
Als er seine Tochter zum ersten Mal sah, noch ganz verschmiert, eingewickelt in eine Decke, auf dem Bauch der Mutter, drohte sein Herz zu platzen, so stolz, so unglaublich glücklich fühlte er sich.
Safaa hatte ihn erschöpft, aber strahlend angelächelt, hatte all die Schmerzen vergessen.
Was für eine Frau! Wenn es überhaupt möglich war, liebte er sie jetzt noch mehr als vorher. Und dennoch war da immer wieder die Eifersucht, die ihn hinterrücks überfiel, wenn er Safaa und Amira in trauter Zweisamkeit sah. Enger als Mutter und Kind konnte niemand sein, nicht einmal ein Liebespaar. Es war lächerlich, aber manchmal war er neidisch auf seine acht Wochen alte Tochter.
Mit Tränen in den Augen und einem Lächeln auf den Lippen wandte JJ sich ab. Es war drei Uhr morgens, er war hellwach. Er schlüpfte in seine Schlappen und lief leise die Treppe hinunter, um sich in der Küche heiße Milch mit Honig zuzubereiten. Eigentlich mochte er warme Milch nicht, aber Marilyn, seine Ziehmutter in New York, hatte ihm das Getränk immer aufgedrängt, wenn er partout nicht schlafen konnte, weil er sich zu viele Gedanken um seine in Europa lebende Mutter machte.
Er schüttete die kochende Milch in eine große Tasse und löffelte großzügig Honig hinein. Wenn schon warme Milch, dann wenigstens schön süß.
Mit der Tasse in der Hand ging er ins Wohnzimmer. Immer, wenn er das Zimmer betrat, musste er an seinen Vater denken, der darin die letzten Monate seines Lebens verbracht hatte, weil er zu schwach gewesen war, um in den ersten Stock zu gehen. Es gab absolut nichts mehr, was an Johann erinnerte, dennoch war dieser Raum untrennbar mit ihm verbunden.
JJ setzte sich aufs Sofa und schaute hinaus. Vor dem Haus stand eine Lampe, die Gehweg und Straße beleuchtete, ohne zu blenden. Man konnte von drinnen alles sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Das war manchmal recht praktisch, vor allem, wenn abends eine unliebsame Nachbarin auftauchte.
JJ lächelte. Zum Glück gab es nur eine Nachbarin, vor der Safaa sich ein wenig fürchtete. Sie war weit über achtzig und hatte stets einen Ratschlag parat, auch wenn man gerade keinen brauchte. Er hatte Safaa schon mehrmals gesagt, sie solle die Frau einfach ignorieren, aber Safaa hatte zu viel Respekt vor dem Alter.
JJ nippte vorsichtig an der Tasse. Die Milch war immer noch sehr warm, aber in kleinen Schlucken trinkbar. Unweigerlich musste er an Marilyn denken. Es war schon wieder so lange her, dass er sie gesehen hatte. Seine Mutter hatte ihrer besten Freundin im Jahr zuvor das Ticket von New York nach München bezahlt, damit sie bei seiner und Safaas Hochzeit dabei sein konnte. Er würde Marilyn so gerne seine Tochter zeigen. Vielleicht war in den Sommerferien ein Kurztrip möglich.
Die Tasse war leer, er fühlte sich jedoch immer noch nicht müde. JJ angelte nach seinem Handy, das am anderen Ende des Sofas im Ladegerät stand. Lustlos scrollte er durch die aktuellen Nachrichten. Es gab wenig Neues: Russland griff immer noch die Ukraine an, Klimaaktivisten klebten sich immer noch auf Straßen fest.
Genervt legte er das Telefon weg. Da ihm kalt war, zog er die Wolldecke vom Fußende des Sofas heran, legte die Füße hoch und die Decke darüber. Obwohl er das Zimmer kannte, schaute er sich um. Moderne Möbel hatten die alten seines Vaters ersetzt, das langweilige Weiß an den Wänden war einem zarten Lindgrün gewichen. Am Ende des Sofas stand Amiras Wiege, in der sie schlief, wenn sie sich im Erdgeschoss aufhielten. Bald würden sie einen Laufstall aufbauen müssen.
Safaa hatte in den drei Jahren, in denen sie in diesem Haus lebten, ihren grünen Daumen entdeckt. Im Haus waren diverse Topfpflanzen verteilt und im Vorgarten blühte es beinahe das ganze Jahr über. Das brachte nicht nur den einen oder anderen neidischen Blick von den Nachbarn, sondern auch bewundernde von vorbeifahrenden Touristen.
Das kleine Grundstück hinterm Haus hatte Safaa in eine kleine Oase verwandelt, in der es sich auch bei großer Hitze gut aushalten ließ.
JJ zuckte zusammen, als sein Handy summte. Wer rief denn zu so nachtschlafender Zeit an? Sofort dachte er an einen Notfall seiner Mutter. Doch als er das Telefon in die Hand nahm und den Namen sah, atmete er erleichtert aus.
»Du genießt also auch die Vaterfreuden«, sagte er statt einer Begrüßung.
Ben knurrte nur.
»Wie geht es dem Sohnemann?«
»Dem geht es gut.« Ben schnaubte leise. »Wieso fragst du nicht, wie es mir geht?«
»Weil ich es mir denken kann. Oder vielmehr dieselbe Erfahrung mache.«
»Bei deinen Frauen ist alles in Ordnung?« Ben gähnte ungeniert ins Telefon.
JJ lachte. »Ja. Sie schlafen wie die Murmeltiere, nur ich geistere im Haus herum, trinke warme Milch mit Honig und kann trotzdem nicht schlafen.«
»Es ist ein Mythos, dass warme Milch hilft. Probier’s mal mit etwas Stärkerem.«
»Damit ich Amira überhöre und mir eine Standpauke von Safaa anhören muss? Nein danke.« JJ kuschelte sich tiefer ins Sofa, zog die Decke bis zum Kinn hoch und schloss die Augen.
Ben seufzte laut. »Wir armen Männer haben es nicht leicht.«
»Ach komm, du willst es doch nicht anders.«
»Da könntest du recht haben. Ich würde mit niemandem auf der Welt tauschen wollen. – Okay, wenn du mich gerade jetzt fragen würdest …«
JJ sah förmlich, wie Ben grinste. »Keine Chance! Du behältst deine Familie und ich meine.«
Ben gab einen Laut von sich, der alles bedeuten konnte.
»Wann kommt ihr mal wieder nach München?«, wollte er wissen.
JJ schüttelte den Kopf, erinnerte sich, dass er telefonierte. »Safaa ist noch nicht bereit dazu. Sie findet Amira mit ihren acht Wochen zu klein, um mit ihr zu verreisen.«
Ben seufzte erneut. »Mutterinstinkt ist was Grässliches. Versteh mich nicht falsch. Natürlich ist es gut, dass Mütter auf ihre Kinder achten, aber manchmal geht das wirklich zu weit. Vorgestern zum Beispiel …«
»JJ?« Safaas verschlafene Stimme kam vom oberen Stockwerk.
»Warte mal, Ben. Safaa ruft nach mir.« JJ wickelte sich aus der Decke, sprang hoch und lief zur Treppe. »Was ist?«
»Wo steckst du?«
»Ich bin hier unten, ich konnte nicht schlafen.« Er stieg ein paar Stufen hinauf, bis er seine Frau sehen konnte. »Was ist los?«
»Ich bin aufgewacht und du warst nicht da.«
»Tut mir leid. Ich hatte mir heiße Milch gemacht, dann rief Ben an und wir …«
»Wieso rief Ben an? Ist etwas passiert?« Safaas Stimme klang alarmiert.
JJ lachte. »Nein, es ist alles in Ordnung. Er kann nur genauso wenig schlafen wie ich.«
»Ihr armen Männer.« Jetzt klang sie eher sarkastisch.
»Finde ich auch.« JJ stieg die Treppe bis zu Safaa hinauf, gab ihr einen Kuss und einen zärtlichen Klaps auf den Po. »Geh wieder ins Bett, ich komme gleich. Ich muss nur noch Ben Gute Nacht sagen.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Er wartete, bis sie im Schlafzimmer verschwunden war, und lief dann hinunter, zurück ins Wohnzimmer. Er nahm sein Handy in die Hand, musste es aber gar nicht ans Ohr halten, um zu hören, dass Ben schlief. Sein Schnarchen ertönte laut und deutlich aus dem Lautsprecher. JJ lachte leise. Der Glückliche!
»Schlaf gut, Ben«, flüsterte er und beendete das Gespräch. Bevor er wieder nach oben ging, räumte er die leere Tasse weg.
Als er das Schlafzimmer betrat, schlief Safaa schon wieder tief und fest. Ein prüfender Blick in die Wiege bestätigte ihm, dass Amira es ihrer Mutter gleichtat. Er legte sich neben Safaa und schloss die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.
Dass er irgendwann doch eingeschlafen war, merkte er, als das Weinen seiner Tochter ihn aus wirren Träumen riss.
Nächste Raubtierfütterung, schoss es ihm durch den Kopf. Er schämte sich sofort dafür. Seine Tochter war – neben seiner Frau – das entzückendste Wesen der Welt! Dennoch war die Ähnlichkeit zu einem Tier unübersehbar, wenn Amira gierig den Mund öffnete, lautstark protestierte, wenn sie nicht sofort die nährende Brust fand, und erst zufrieden seufzte, wenn die Milch zu fließen begann.
Draußen war es bereits hell, der Wecker zeigte zwanzig vor sieben. JJ stand auf, versuchte, Safaa zu wecken, holte Amira aus der Wiege und legte sie neben seine Frau, die immer noch schlief.
»Safaa? Wach auf, die nächste Runde ist dran.«
Als Dank erhielt er ungnädiges Knurren.
»Bereit?«
Safaa schüttelte den Kopf, schob aber ihr Nachthemd nach oben und griff nach dem Baby. Amira schien plötzlich keinen Hunger mehr zu verspüren, denn sie schmatzte nur einmal laut vor sich hin und schlief weiter.
»Sie will offensichtlich nicht. Soll ich sie wieder in die Wiege legen?«
»Nein, lass sie hier. Irgendwann bekommt sie Hunger, dann kann ich sie stillen.« Sie schaute ihn an. »Danke.«
»Immer gerne«, erwiderte JJ und konnte ein Gähnen nicht verhindern.
»Du bist ein toller Vater.«
JJ war auf seiner Seite angelangt und legte sich neben Safaa. »Hm. Was mache ich denn schon großartig? Die Hauptarbeit hast du.«
»Du machst den ganzen Rest. Und du bringst Geld nach Hause.« Safaa grinste. Sie legte das Baby zwischen sie und drehte sich zu ihm. »Ich liebe dich«, sagte sie leise.
»Ich liebe dich auch.« JJ beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Er zeigte auf ihre Tochter. »Wir sollten das ausnutzen und noch ein wenig schlafen.«
Safaa hatte die Augen bereits wieder geschlossen, aber sie nickte. »Hm, sollten wir«, flüsterte sie und schlief im nächsten Moment ein.
JJ driftete einige Zeit zwischen Halbdämmer und Wachsein, gab schließlich auf und beschloss, die Wochenendeinkäufe zu erledigen.
Safaa und Amira lagen friedlich nebeneinander. Das Baby würde sich mit kraftvoller Stimme melden, wenn es Hunger bekam.
Er duschte kalt, um richtig wach zu werden, zog sich so leise wie möglich an und ging hinunter, um die Einkaufsliste zu überprüfen, die sie bereits freitags erstellten, um am Samstagmorgen Zeit zu sparen. Er ergänzte sie um zwei Flaschen Milch und überlegte, ob er es riskieren konnte, mit dem Rad zu fahren. Angesichts der Länge der Liste entschied er sich schließlich fürs Auto, schnappte sich den Einkaufskorb, in dem viele Taschen lagen, und verließ das Haus.
Er saß schon im Wagen, als ihm einfiel, dass er Safaa eine Nachricht schreiben sollte. Seit Amiras Geburt war sie überängstlich und fürchtete ständig, ihm könne etwas passieren. Er stieg aus, ging ins Haus zurück, schrieb auf einen Zettel »Bin einkaufen«, malte ein Herz darunter und legte ihn gut sichtbar auf den Küchentisch.
Es war gerade einmal halb neun, der Ort lag wie ausgestorben da. Ein älterer Mann, den JJ flüchtig kannte, joggte vorbei und winkte. JJ winkte zurück, fuhr vorsichtig rückwärts aus dem Grundstück hinaus. Der Supermarkt lag etwas außerhalb des Ortes, der Parkplatz war nur halb voll. Das versprach, ein entspannterer Einkauf als üblich zu werden.
JJ und Safaa versuchten, möglichst viel in kleinen Läden zu kaufen, um diese zu unterstützen, aber mit einem Baby im Haus war das Leben so teuer geworden, dass sie zumindest die Grundnahrungsmittel im weitaus günstigeren Supermarkt erstanden.
JJ kam gut durch und musste auch an der Kasse kaum warten. Er verstaute alles im Kofferraum, fuhr zum Bäcker, um dort Frühstücksbrötchen mitzunehmen, und kaufte spontan im Blumenladen nebenan einen kleinen Frühlingsstrauß für Safaa.
Gut gelaunt kehrte er wenige Minuten später nach Hause zurück, wo er von seinen beiden Frauen erwartet wurde.
JJ ging das Herz auf. Hatte er nicht das beste Leben?
* * *
Am Montagmorgen war er sich nicht mehr ganz so sicher. Er stand vor der Klasse und versuchte, sich gegen den Lärm durchzusetzen.
Seit gut einem Jahr unterrichtete er an einem Lübecker Gymnasium Englisch und Geschichte. Dass sein amerikanischer Abschluss anerkannt worden war, war dem gravierenden Lehrermangel geschuldet, der im ganzen Land herrschte. Er war dankbar dafür, auch wenn er immer häufiger verstehen konnte, dass kaum noch jemand Lehrer werden wollte. Die Kinder waren unkonzentriert, vorlaut und faul. Natürlich gab es nach wie vor die Streber, aber die Klassenclowns waren in der Regel in der Überzahl und ließen einen geordneten Unterricht zu einer Mammutaufgabe werden.
Dieser Montag schien einer dieser Tage zu sein, an dem es keine Chance gab, zu den Kindern durchzudringen. Besonders schlimm war seine erste Geschichtsstunde in einer neunten Klasse. Die Mädchen, in Sachen Pubertät den Jungs weit voraus, saßen sichtlich gelangweilt hinter ihren Tischen, feilten ihre knallbunt lackierten Fingernägel, kamen sich endlos lässig vor, kauten Kaugummi, probierten Blasen, die misslangen und ihre rotgeschminkten Lippen verklebten. Das fanden die Jungs zum Brüllen komisch, was die Mädchen natürlich wütend machte. Eins kam zum anderen, Gegenstände flogen durch die Luft, am Ende herrschte eine tumultartige Stimmung.
JJ versuchte es mit Klopfen auf dem Tisch, mit lautem Rufen, mit der Drohung, die Direktorin zu holen – nichts half. Er wollte bereits aufgeben, als ihm der Rat einer älteren Kollegin aus New York einfiel: »Mach sie neugierig! Schreien hilft gar nichts. Das kennen sie meist von zuhause, dagegen sind sie immun. Tu was, das sie neugierig macht, dann sind sie still und folgen dir.«
JJ überlegte fieberhaft, womit er die Kinder locken könnte. Sein letzter Tag an der Schule in New York fiel ihm ein. Die Kinder hatten extra etwas für seinen Abschied vorbereitet, er hatte ihnen etwas aus seinem Leben erzählt. Vielleicht half es auch hier, sich den Kindern gegenüber zu öffnen.
Er nahm ein Stück Kreide und begann, zunächst zögernd, dann immer schneller, die Freiheitsstatue an die Tafel zu zeichnen. Seine künstlerischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen, aber seiner Meinung nach war die Frau mit der Fackel in der Hand deutlich erkennbar.
Hinter ihm wurde es nach und nach ruhiger, ein paar »Psst« oder »Schsch« waren zu hören, aber es gab immer noch einige Schüler, die herumalberten. Nach ein paar Minuten wurden aber auch diese von den anderen zum Schweigen verdonnert.
»Was wird das?«, fragte ein Mädchen.
JJ war versucht, sich umzudrehen, blieb aber mit dem Rücken zur Klasse stehen. Die Fragen häuften sich, doch er reagierte nicht darauf. Stattdessen korrigierte er die Zeichnung noch ein wenig und war schließlich einigermaßen zufrieden mit seinem Kunstwerk.
Da er immer noch mit dem Gesicht zur Tafel stand und nichts sagte, verstummten nach und nach die letzten Schüler und es herrschte schließlich Ruhe. JJ wandte sich langsam um. Eigentlich hatte er erwartet, dass er mit Fragen bombardiert würde, aber die Teenager schauten ihn nur fragend an.
»Wisst ihr, was das ist?«, fragte er und deutete hinter sich.
Sofort herrschte wieder tumultartiger Lärm, alle riefen durcheinander. Vereinzelt konnte er das Wort »Freiheitsstatue« hören, ein Mädchen nannte sie »diese Figur vor New York«, aber er konnte die Stimmen nicht zuordnen und wartete deshalb, bis sich alle wieder beruhigt hatten und still waren.
»Meldet euch bitte und sagt mir, was ihr hier eurer Meinung nach seht, wenn ich euch aufrufe.«
Sofort schossen ein paar Arme nach oben. Er zeigte auf Lars in der ersten Reihe.
»Das ist eine Frau«, sagte er, was sofort ein genervtes Stöhnen beim Rest der Klasse hervorrief und Bemerkungen wie »Das ist ja wohl klar«, »Echt jetzt?« oder auch »Du Blödi«.
JJ ging nicht auf die Kommentare ein, sondern bestätigte Lars‘ Antwort. »Korrekt, es ist eine Frau. Wer weiß, welche Frau das sein soll?« Er lächelte. »Ich gebe zu, ich bin nicht gut im Zeichnen.«
»Stimmt«, rief jemand von hinten und löste allgemeines Gelächter aus.
Erneut wartete JJ, bis Ruhe herrschte, fragte dann erneut, wer den Namen der Frau wusste.
Aleesha schnipste ungeduldig mit dem Finger.
»Ja?«
»Das ist die Freiheitsstatue, sie steht in New York.«
»Richtig. Sehr gut, Aleesha.«
Das Mädchen lächelte stolz und klatschte mit Bekki, ihrer Banknachbarin, ab.
»Warum habe ich wohl die Freiheitsstatue an die Tafel gezeichnet?«, wollte JJ wissen.
»Weil Ihnen langweilig war?«, kam es wieder von hinten.
JJ verkniff sich ein Schmunzeln.
Bekki meldete sich und er nickte ihr zu.
»Weil Sie aus New York stammen?«
Bevor JJ etwas erwidern konnte, entstand wieder Unruhe.
»So ein Quatsch.« »Blödsinn!« »Wie kommst du denn auf so einen Unsinn?«
JJ sah Bekkis bestürzten Gesichtsausdruck, wartete dennoch ab, bis Stille einkehrte. Zum Glück ging es jedes Mal schneller.
»Bekki hat recht«, sagte er schließlich. »Ich komme aus New York.«
Wieder stürmten die Fragen auf ihn ein.
»Waren Sie da auch Lehrer?«
JJ nickte. »Ja, ich war dort auch Lehrer.«
»Warum sind Sie nicht dortgeblieben?«
JJ zögerte. Selbst wenn sie den Namen Trump kannten, würde es wenig Sinn ergeben, ihnen zu sagen, dass er die USA wegen dessen Politik und dem daraus entstandenen vergifteten Klima verlassen hatte. Und es war auch nicht der einzige Grund gewesen.
»Ich wollte näher bei meiner Familie sein«, antwortete er.
»Ist Ihre Familie in Lübeck?«
»Ja und nein. Meine Mutter lebt in München, aber mein Vater war in Lübeck. Er ist jedoch vor knapp fünf Jahren gestorben.«
Betroffenes Schweigen breitete sich aus, ein Junge murmelte: »Das tut mir leid.« Andere schlossen sich an.
»Danke, das ist sehr freundlich. Ich lebe jetzt mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter hier. Aber zurück zur Freiheitsstatue. Wisst ihr, woher sie stammt?«
»Na, aus Amerika.«
JJ lächelte. »Nein, eben nicht. Sie war ein Geschenk an Amerika.«
»Von Deutschland?«
»Nein, leider nicht. Aber es war ein europäischer Staat.«
Es dauerte ein wenig, bis der Name Frankreich fiel. JJ lobte die Klasse für die vielen Ideen und Antworten.
»Das Besondere an der Figur ist, dass man sie schon von weitem sehen kann, wenn man mit dem Schiff in New York ankommt. Früher, bevor es Flugzeuge gab, mussten die Menschen per Schiff nach Amerika reisen. Das hat manchmal Wochen gedauert und war alles andere als angenehm. Die Menschen wussten aber, wenn sie die Freiheitsstatue sehen, haben sie es bald geschafft.«
»Sind Sie auch mit dem Schiff nach Amerika gefahren?«
JJ schüttelte den Kopf. »Wir sind geflogen. Ich war noch recht klein, ich war erst fünf Jahre alt.«
»Warum sind Sie überhaupt nach Amerika?«
»Meine Mutter hat dort gearbeitet, da bin ich natürlich mitgegangen.«
»Mein Papa ist erst zwei Jahre später nach Deutschland gekommen, da waren meine Großeltern schon längst da«, sagte Mehmet.
JJ schluckte. So wütend er damals auf Hannah gewesen war, so sehr hätte es ihn verletzt, wenn sie ihn in Deutschland zurückgelassen hätte.
»Es waren schwere Zeiten, damals, als die ersten sogenannten Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Es ist nie gut, wenn Eltern und Kinder getrennt werden.«
Er dachte an Amira. Niemals würde er sie oder Safaa irgendwo zurücklassen. Ein Leben ohne sie war nicht möglich!
Der Lautsprecher knackte, kurz darauf ertönte der Pausengong. Normalerweise sprangen die meisten Kinder sofort auf und rannten hinaus, egal, ob die Lehrkräfte noch etwas zu sagen hatten. Heute blieben alle sitzen und schauten ihn erwartungsvoll an.
»Okay, lest bitte als Hausaufgabe die Geschichte der Freiheitsstatue nach. Wir sprechen in der nächsten Stunde noch einmal kurz darüber.« Er legte eine kleine Kunstpause ein, fuhr dann lächelnd fort: »Danach geht es mit dem regulären Stoff weiter.«
Wie erwartet, ertönte dramatisches Stöhnen.
»Jetzt raus mit euch.«
Da er eine Freistunde hatte, ging er zum Lehrerzimmer. Zwei Schülerinnen waren ihm gefolgt, blieben in sicherer Entfernung stehen, schauten immer wieder zu ihm und flüsterten miteinander.
Als er fragte, ob er ihnen helfen könne, wurden sie rot. Die kleinere der beiden sagte schließlich: »Das war cool heute. Danke.« Dann liefen sie kichernd davon.
»Was haben Sie denn mit denen angestellt?« Die Mathelehrerin Frau Schwarzfischer stand mit gezücktem Schlüssel neben ihm, schaute aber den Mädchen nach. »Bei mir haben sie sich noch nie bedankt.«
Kein Wunder, dachte JJ. Du nimmst sie auch nicht ernst. Laut sagte er: »Offen gestanden, weiß ich es nicht so genau. Wir haben über die Freiheitsstatue geredet. Dabei kam zur Sprache, dass ich aus den USA komme. Das warf natürlich Fragen auf.«
»Sie sind Amerikaner?« Dem Tonfall nach zu schließen war das mindestens ein Kapitalverbrechen.
»Ich bin Deutscher.« JJ ärgerte sich, dass er sich bemüßigt fühlte, sich zu verteidigen. Wenn überhaupt, war er nur der Direktorin Rechenschaft schuldig.
Frau Schwarzfischer ließ keine Gelegenheit aus, um allen anderen Lehrkräften nahezubringen, dass sie die älteste, und damit automatisch die erfahrenste Lehrerin war. Sie war nach eigener Aussage Anfang sechzig; Gerüchten zufolge versuchte sie seit Jahren, in den vorzeitigen Ruhestand geschickt zu werden. Bisher war es ihr nicht gelungen, obwohl sie im letzten Schuljahr einige Monate wegen angeblichen Burnouts gefehlt hatte. Immerhin hatte man ihr erlaubt, weniger Stunden zu unterrichten, dennoch war sie nur am Jammern und Klagen.
JJ umging weitere Diskussionen, indem er die Tür zum Lehrerzimmer aufschloss und ihr mit einer galanten Handbewegung den Vortritt ließ. Die Lehrerin wollte offensichtlich noch etwas sagen, doch da summte JJs Handy. Er zog das Telefon aus seiner Jackentasche, hielt es hoch und hob entschuldigend die Schultern. Es war Safaa.
»Was gibt es?«, sagte er ohne Begrüßung. »Ich habe wenig Zeit.«
»Faris wurde verhaftet!« Er hörte an ihrer Stimme, dass sie weinte.
»Wie bitte? Warum?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schluchzte. »Ich muss nach Hamburg.«
JJ stockte der Atem, er brach in Schweiß aus.
»Nein, auf keinen Fall! Was ist mit der Kleinen?«
»Amira nehme ich mit.«
»Was? Nein! Das kommt überhaupt nicht in Frage! Lass dich bitte nicht in irgendwelche krummen Geschäfte von Faris ziehen.«
»Du weißt doch gar nicht, was passiert ist.« Sie klang aufgebracht und wütend.
»Nein, aber es ist sicher nichts Harmloses. Safaa, mach endlich die Augen auf. Faris ist abgerutscht. Er hat die falschen Leute kennengelernt und ist in wer weiß was verwickelt. Ich werde nicht zulassen, dass du Amira in Gefahr bringst.«
»Ich muss ihm helfen. Er ist mein ältester Freund.« Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so wütend, eher unsicher.
»Du musst gar nichts. Ich weiß, ihr wart euch sehr nah, aber er hat sich von dir entfernt, hat seit Monaten nichts von sich hören lassen, obwohl du nach ihm gesucht hast. Du bist ihm absolut nichts schuldig.«
»Er hat mich um Hilfe gebeten. Ich muss ihm helfen.«
JJ verdrehte die Augen. Hilfsbereitschaft unter Freunden war wichtig, das sah er genauso. Aber er sah in Faris nicht mehr den Freund seiner Frau, sondern einen Kriminellen, der sich nur meldete, wenn er etwas brauchte.
Als sie das letzte Mal von ihm gehört hatten, kurz vor Weihnachten, bat er um fünftausend Euro. Natürlich nur zur Leihe, er würde alles zurückzahlen, mit Zinsen. Es war der erste richtige Streit zwischen Safaa und JJ gewesen, denn er hatte nicht eingesehen, warum sie Faris das Geld geben sollten.
»Wir sehen dieses Geld nie wieder. Und so dicke haben wir es auch nicht, dass wir mal eben auf fünftausend Euro verzichten können.«
»Ich zahle es von meinem Vorschuss«, hatte Safaa wütend geschrien.
Kein Argument hatte sie davon abbringen können. Am Ende hatte er eingelenkt, nur damit der Haussegen wieder gerade hing. Er hatte keine Komplikationen bei der Schwangerschaft riskieren wollen.
Sie waren gemeinsam nach Hamburg gefahren, und er hatte zehn schreckliche Minuten im Wagen gewartet, bis sie unverrichteter Dinge wiedergekommen war. Faris war nicht wie verabredet in der Wohnung gewesen, und seinem Kumpel hatte sie das Geld nicht geben wollen. Tagelang hatte sie versucht, den Freund zu kontaktieren, doch er war – mal wieder – abgetaucht. Bis jetzt.
»Können wir bitte später darüber reden? Ich habe eine Freistunde und dann noch eine Stunde Geschichte. Ich komme danach sofort nach Hause. Bitte tu nichts Unüberlegtes.«
Nach kurzem Zögern sagte sie: »Okay. Aber du kommst sofort nach Hause.«
»Selbstverständlich.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Am liebsten hätte er die Schule sofort verlassen, um ein für alle Mal zu klären, dass sie nicht die Ausputzer für Faris waren. Freundschaft hin oder her.
JJ schaute auf die Uhr. Die Pause dauerte noch zwei Minuten, die würde er abwarten, dann würde er Safaas Bruder Enis anrufen. Vielleicht wusste der mehr, obwohl er laut eigener Aussage den Kontakt zu Faris abgebrochen hatte.
JJ betrat endlich das Lehrerzimmer, wo sich die ersten Lehrkräfte für die nächste Stunde bereitmachten. Er grüßte mit Kopfnicken nach links und rechts und suchte sich einen Platz weiter hinten, wo er ungestört nachdenken konnte. Rasch zog er das Geschichtsbuch und einen Block aus seiner Tasche, legte alles vor sich hin, nahm einen Stift zur Hand und tat, als bereite er sich vor. Der Gong kündigte das Ende der Pause an, draußen vor dem Zimmer ertönte Fußgetrappel, drinnen wurde es merklich ruhiger. JJ wagte einen Blick quer durch den Raum; neben zwei Referendarinnen war nur noch Frau Schwarzfischer anwesend. Sie schien jedoch beschäftigt zu sein.
JJ zog sein Handy hervor und tippte eine Nachricht an Enis:
Weißt du, was mit Faris los ist? DRINGEND!
Er starrte auf das Display und wartete darauf, dass der zweite Haken erschien, beide Haken blau wurden und oben »Enis schreibt …« auftauchte. Doch Enis‘ Handy schien abgeschaltet zu sein, es kam keinerlei Reaktion.
»Mist, verdammter«, fluchte JJ leise.
Enis war drei Jahre älter als Safaa und der einzige Verwandte, der mit ihr aus Syrien geflohen war. Er lebte immer noch in Berlin. Beide hatten in der Heimat ein gutes Verhältnis zu Faris gehabt, der als Nachbarsjunge wie ein Bruder für sie gewesen war. Irgendwann hatte Safaa JJ gebeichtet, dass sie einmal mit Faris geschlafen hatte. Beide Familien und auch sie selbst waren davon ausgegangen, dass sie und Faris einmal heiraten würden. Aber da Faris schwul war, war es wohl eher bei einem Versuch geblieben.
JJ hatte sich schon häufiger gefragt, ob er einfach nur eifersüchtig war auf Faris und ihn deshalb nicht leiden konnte. Natürlich hatte Safaa vor ihrem Kennenlernen noch andere Beziehungen gehabt. Wäre er auf diese Männer eifersüchtig, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden. Andererseits drängte sich keiner so sehr in ihr Leben wie eben Faris. Und er kam immer zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
Sarah, Marilyns viertes Kind, fiel ihm ein. Zu ihr hatte er ein ähnliches Verhältnis gehabt wie Safaa zu Faris. Viele Jahre hatte er auf einen Hilferuf von ihr gewartet, doch sie hatte es vorgezogen, bei ihrem trinkenden, prügelnden und fremdgehenden Ehemann zu bleiben. Irgendwann hatte er eingesehen, dass es nicht seine Aufgabe war, ihr zu helfen.
Würde er alles liegen und stehen lassen, wenn sie jetzt anriefe? Er war sich nicht sicher.
Sein Handy brummte und eine Nachricht ploppte auf.
Sorry, war in einer Art Bunker, kein Netz. Hab seit Wochen nichts von F. gehört. Was ist los?
Erleichtert schrieb JJ zurück:
Safaa behauptet, er müsse ins Gefängnis. Mehr weiß ich nicht.
Diesmal reagierte Enis sofort.
Wäre vielleicht besser so, dann wacht er endlich mal auf. Wie geht es S.?
Safaa geht es gut. Noch! Sie will nach Hamburg fahren. Und Amira mitnehmen!!
Das geht auf gar keinen Fall!! Ich ruf sie an!
Danke!!
JJ legte das Handy zur Seite. Er gab Enis ein paar Minuten, bis er seiner Schwester gegenüber einknickte. Danach würde sie sofort ihn anrufen und ihm Vorwürfe machen.
Doch die Zeit verging und das Telefon blieb stumm. Hatte Enis Safaa am Ende überzeugt?
Er schrieb erneut eine Nachricht.
Hast Du S. erreicht?
Es dauerte ein paar Minuten, in denen er ungeduldig auf den Tisch trommelte, was ihm einen rügenden Blick von Frau Schwarzfischer einbrachte.
»Sorry«, murmelte er und hob entschuldigend die Hände. Im selben Moment ploppte Enis‘ Antwort auf.
Ja, hab mit ihr gesprochen. Alles gut. Cool down.
Cool down? Was war denn das für eine Aussage? JJ strich sich über seine kurzgeschorenen Haare. Er liebte und respektierte Safaa als eigenständige Persönlichkeit. Niemals würde er von ihr etwas verlangen, was sie nicht wollte. Aber wenn sie sich und vor allem ihr zwei Monate altes Baby in Gefahr brachte, musste er einschreiten. Amira war auch sein Kind und er trug für sie die Verantwortung. Zumindest zu fünfzig Prozent.
Cool down. Hieß das nun, Safaa war zur Vernunft gekommen, oder hieß das: Alter, gegen diese Frau kannst du eh nichts ausrichten. Also lass ihr ihren Willen.
Am liebsten wäre JJ aufgesprungen, hätte sich krankgemeldet und wäre nach Hause gefahren. Er zwang sich, sitzen zu bleiben. Frau Schwarzfischer war aufgestanden, stand vor ihrem Fach und ordnete geräuschvoll Unterlagen ein. Sollte er sie um Rat fragen? Immerhin hatte sie so viel Erfahrung!
Bist du bescheuert? Frag lieber Hannah!
Er wunderte sich selbst, wie lange er gebraucht hatte, um auf diese Idee zu kommen. Er schob die Unterlagen auf dem Tisch zusammen, nahm sein Handy und verließ das Lehrerzimmer. Auf dem Hof herrschte angenehme Ruhe. Er suchte ein windgeschütztes Eck und wählte die Nummer seiner Mutter. Es war kurz vor halb elf, da war es noch ruhig im Café.
Sie meldete sich nach dem dritten Klingeln. »Ist was passiert?«
»Hallo Mom, nein, es ist nichts passiert. Zumindest noch nicht.«
»Ah, okay.« Sie seufzte laut und vernehmlich. »Und was könnte passieren?«
JJ berichtete ihr von Safaas Anruf und von Enis‘ Reaktion. »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Egal, was ich tue, es ist vermutlich falsch.«
»Vermutlich«, bestätigte seine Mutter. Sie zögerte. »Wie erkläre ich das am besten? Ihr habt beide in den letzten Wochen eine massive Umstellung mitgemacht, seid beide emotional gestresst. Safaas Hormone spielen wahrscheinlich immer noch verrückt.«
»Das ist es ja, was mich beunruhigt.«
Hannah seufzte. »Es hilft aber nichts, wenn du jetzt auch durchdrehst. Glaub mir, Safaa würde nichts tun, was Amira schadet, dafür sorgt schon die Natur. Einer Mutter ist immer ihr Kind am nächsten, nicht ein guter Freund.«
JJ war nicht überzeugt. »Das klang am Telefon aber ganz anders.«
»Natürlich macht sie sich auch um diesen Faris Sorgen, aber wenn es darauf ankommt, steht Amira an erster Stelle.« Hannah machte eine kurze Pause, sagte dann leiser: »Wenn du mir nicht vertraust, vertrau der Natur.«
»Ich vertrau dir, Mom. Ich …, ich habe einfach Angst um die beiden.«
»Das kann ich verstehen und auch das ist normal. Deine Hormone sind ebenfalls betroffen.«
JJ dachte an die Gefühlsachterbahn in den letzten Wochen. »Das kann man wohl sagen.«
Hannah lachte leise. »So ein kleines Wesen wirbelt alles durcheinander, nicht nur bei uns Frauen.«
»Ich rufe sie an, oder?«
»Du kennst mein Credo. Reden hilft. Meistens. JJ, ihr habt eine großartige Beziehung und ihr sprecht viel miteinander. Amira darf nicht der Grund sein, dass das aufhört. Sie ist momentan das Wertvollste in eurem Leben, aber ihr müsst euch auch als Paar weiterhin wichtig nehmen. Ihr müsst das aktiv angehen.«
JJ wischte sich übers Gesicht. »Okay, ich rufe sie sofort an.«
»Gib mir bitte kurz Bescheid, ja?«
»Mache ich. Danke, Mom.«
»Gern geschehen. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
JJ legte auf und wählte die Festnetznummer zuhause.
Es klingelte und klingelte, schließlich hörte er seine eigene Stimme. »Hallo, Sie haben den Anschluss von Safaa und Jon …« Sein Herzschlag setzte aus. War sie etwa gefahren?
»JJ?«
JJs Herz machte einen Luftsprung.
»Ja, entschuldige bitte, ich bin es nochmal.«
»Du hast recht.«
»Was?« Er glaubte, sich verhört zu haben, aber Safaa lachte leise und wiederholte: »Du hast schon richtig gehört. Ich sagte, dass du recht hast. Ich bin nicht für Faris verantwortlich. Ich bin es für Amira und ein wenig für dich, aber nicht für Faris.« Sie legte eine Pause ein, in der JJ im Hintergrund seine Tochter brabbeln hörte. Es löste einen erneuten Glückstaumel aus. »Enis hat angerufen und mir gehörig den Hals gewaschen.«
»Den Kopf«, korrigierte JJ automatisch. »Es heißt ›den Kopf waschen‹, obwohl es so mancher Hals sicher auch bräuchte.«
Sie lachten, was die Spannung löste, die immer noch geherrscht hatte.
»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Aber mit Amira …«
»Es muss dir nicht leidtun«, unterbrach sie ihn. »Es war richtig, was du gesagt hast. Meine Prioritäten liegen jetzt woanders. Ich muss endlich mit dem Thema Syrien und Flucht abschließen.«
»Lass uns nachher darüber reden. Ich bin in knapp zwei Stunden zuhause, dann können wir über alles sprechen, ja? Vielleicht finden wir auch eine Lösung, was Faris angeht.«
»Danke. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Sie schickten sich Luftküsse durch die Leitung und legten auf.
Auf dem Weg zum Lehrerzimmer schrieb er seiner Mutter eine kurze Nachricht und teilte ihr mit, dass alles gut sei. Da er noch knapp zehn Minuten bis zur nächsten Stunde hatte, suchte er auf seinem Laptop einen Test zum Unterricht der letzten Stunde. Die Schüler wären beschäftigt und er hatte seine Ruhe. Die Weimarer Republik war niemandes Lieblingsthema, aber es war nun mal deutsche Geschichte und wichtig, gerade in Zeiten wie diesen, in denen eine rechtsextreme Partei immer mehr Zuspruch fand. Und es war vielleicht nicht verkehrt, die Schüler auf die Parallelen der Geschichte hinzuweisen, auch wenn es sie nicht die Bohne interessierte.
JJ druckte den Test aus, nahm den Stapel Papier aus dem Drucker, schnappte sich seine Tasche und ging zum nächsten Unterricht.
Die Reaktion der Klasse war pure Empörung. JJ ließ die Vorwürfe und Beschimpfungen gelassen über sich ergehen und wartete ab. Es funktionierte erneut, wenn auch die Stimmung diesmal eindeutig gegen ihn gerichtet war.
Als alle ruhig waren, sagte er: »Ich gebe zu, es kommt sehr überraschend. Seht den Test als Überprüfung eures Wissenstands an. Es wird Noten geben, ich werde sie aber nicht berücksichtigen. So könnt ihr sehen, wo ihr noch Lücken habt.« Er gab der ersten Reihe jeweils einen Stapel Blätter, damit sie sie nach hinten durchreichten.
Die Schüler murrten, legten aber das Blatt vor sich auf den Tisch, begannen zu lesen und die Multiple Choice-Fragen anzukreuzen.
JJ erkannte schnell, dass es ein Fehler war, den Test schreiben zu lassen. Zwar waren die Schüler beschäftigt, er hatte aber jede Menge Zeit zum Nachdenken. Er war versucht, seinen Laptop aufzuklappen und nach Faris zu suchen, doch er wollte wenigstens so tun, als überwache er die Aktivitäten der Schüler.
Ein Junge in einer der hinteren Reihen meldete sich. »Herr Jensen?«
»Ja?«
»Warum heißt es Reparationen? Hat das was mit reparieren zu tun?«
Bevor JJ antworten konnte, reagierten die anderen Schüler.
»Mann, was bist du denn für ein Blödi! Steht doch alles im Buch.«
»Frag doch gleich nach der Lösung, Hirni.«
»Könnt ihr mal die Klappe halten? Ich muss mich konzentrieren.«
»Ach die wieder. Streberin!«
»RUHE!«
Erschrocken fuhren die Jugendlichen zusammen und starrten JJ an.
»Tut mir leid, aber das musste jetzt sein.« JJ hoffte, dass seine Stimme nicht verriet, wie verunsichert er selbst war. Noch nie hatte er eine Klasse so angebrüllt.
Er wandte sich an den Jungen, der die Frage gestellt hatte. »Die Frage ist sehr berechtigt, allerdings kann ich dir gerade keine Antwort darauf geben, weil du dann die Lösung wüsstest.« Er wagte ein Lächeln. Von links kam ein leises Kichern, irgendwo schmatzte jemand auf seinem Kaugummi herum. JJ warf einen Blick auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten! Er dachte kurz nach, fasste dann einen Entschluss.
»Okay, wir machen es anders. Setzt euch in Vierergruppen zusammen und löst den Test gemeinsam. Klärt Fragen wie die, warum es Reparationen heißt, untereinander. Bitte nehmt Rücksicht auf die anderen Gruppen, seid also möglichst leise.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Nachricht bei den Kids ankam. Stühle und Tische wurden verschoben und kurze, aber heftige Diskussionen geführt, wer zu welcher Gruppe gehörte. Schließlich hatten alle einen Platz ergattert, der Lärmpegel ebbte ab und ging in ein permanentes Flüstern über.
Das Ganze hatte fünf Minuten in Anspruch genommen. JJ war mit seiner Idee zufrieden. Er lief durch das Zimmer, blieb bei jeder Gruppe stehen und hörte den Gesprächen zu. Er hatte erwartet, dass manche Schüler über etwas anderes redeten, aber zumindest, wenn er in der Nähe war, hörte er nur Geschichtliches.
Er beantwortete Fragen, ohne Lösungen zu verraten, gab einen dezenten Hinweis, wenn sich eine Gruppe verrannt hatte, lobte, wenn die richtige Lösung gefunden wurde. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass die Zeit nur so verflog. Er hatte kein einziges Mal an Safaa oder Faris gedacht.
Fünf Minuten vor dem Gong sagte er ihnen, dass sie noch zwei Minuten hätten. Als er die Blätter einsammelte, sagten ihm einige Schüler, dass es wider Erwarten Spaß gemacht habe, miteinander zu arbeiten.
»Dann sollten wir das wohl häufiger machen.«
»So war das auch wieder nicht gemeint«, entgegnete ein Schüler, der immer einen blöden Spruch auf den Lippen hatte. Aber er lachte.
»Wir werden sehen.« JJ sammelte die letzten Tests ein und steckte den Packen in seine Tasche, als der Gong ertönte. Auch hier stürmte die Klasse nicht sofort hinaus, sondern blieb auf den Stühlen sitzen. Manche diskutierten noch miteinander.
JJ klopfte zwei Mal aufs Pult und wartete, bis alle ihm zugewandt waren.
»Gute Arbeit. Danke, dass ihr so gut mitgemacht habt. Schaut euch das Thema zuhause noch mal an. Irgendwann kommt ein richtiger Test, der dann auch benotet wird.« Er lachte, als er als Antwort ein allgemeines Stöhnen erhielt. Demonstrativ hob er die Schultern. »Tut mir leid, aber so ist das nun mal. Am Ende gibt’s eine Note. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag.«
Er verließ das Klassenzimmer mit einem guten Gefühl, das sofort schwand, als er Frau Schwarzfischer vor dem Lehrerzimmer sah. Sie schien auf jemanden zu warten. Zu spät wurde ihm klar, dass er derjenige war. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ob er es wagen könne umzudrehen, aber dann straffte er sich und dachte: Augen zu und durch.
»Auf ein Wort, Herr Jensen.« Die Stimme der alten Lehrerin klang schrill.
»Tut mir leid, Frau Schwarzfischer, ich muss sofort los. Ich habe einen dringenden Termin. Das Baby, Sie wissen …« Er lächelte sie an, was aber keinerlei Wirkung zeigte. Dennoch ließ er sie stehen, schloss die Tür auf, betrat das Lehrerzimmer, legte seine Unterlagen in sein Fach und verließ das Zimmer wieder. Frau Schwarzfischer stand immer noch an derselben Stelle.
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte sie und klang mehr erstaunt als erbost.
»An jedem anderen Tag herzlich gern«, erwiderte JJ in freundlichstem Ton. »Heute nicht. Schönen Tag noch.« Er ließ sie stehen und glaubte, ein »Also, das ist doch die Höhe!« zu hören. Zum Glück konnte die Direktorin die Frau nicht leiden, sodass er von dieser Seite nichts zu befürchten hatte.
JJ lief zum Wagen, warf seine Tasche hinein, setzte sich hinters Lenkrad, steckte das Handy in die Halterung und wählte die Nummer von zuhause. Während die Verbindung aufgebaut wurde, startet er den Motor und fuhr vom Lehrerparkplatz.
»JJ?«
»Ich bin auf dem Weg, bin in zirka zwanzig Minuten zuhause. Alles klar bei euch?«
»Ja, alles klar. Ich freue mich auf dich.«
»Ich mich auch, bis gleich.«
JJ legte auf und konzentrierte sich auf den Verkehr, der zum Glück um diese Uhrzeit recht überschaubar war. Nach achtzehn Minuten stellte er den Wagen in der Garage ab.
Safaa hatte ihn offensichtlich gehört, denn sie kam mit Amira im Arm aus dem Haus.
JJ war so froh, die beiden zu sehen, dass er sie stürmisch umarmte, was Amira dazu veranlasste, laut loszuplärren.
»Erdrück sie nicht.« Safaa lachte und entzog sich JJs Umarmung, um das Kind zu schützen.
»Sorry.« JJ wollte ihr Amira abnehmen, aber das Baby wandte sich ab und barg den Kopf an seiner Mutter.
»Oh weh, da muss ich wohl was gutmachen«, sagte JJ lachend.
Sie gingen ins Haus, wo Safaa das Kind in die Wiege legte. »Sie ist heute ein bisschen anstrengend, will einfach nicht schlafen.«
»Wenn sie müde genug ist, wird sie einschlafen.« JJ trug seine Aktentasche ins Arbeitszimmer, ging zurück ins Wohnzimmer, warf einen Blick auf seine Tochter, die inzwischen entspannt auf ihrem Schnuller herumnuckelte, und folgte Safaa in die Küche.
»Hast du Hunger?«, wollte sie wissen.
»Ein bisschen. Wenn es okay ist, würde ich gerne zuerst das Problem Faris lösen.«
Safaa warf ihm einen schnellen Blick zu, den er nicht deuten konnte.
»Was?«
»Ich habe versucht, etwas herauszufinden.« Sie klang beinahe schüchtern.
»Und – ist es dir gelungen?«
Safaa zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Es gibt ein paar kurze Meldungen, dass ein gewisser Faris S. wegen Drogenschmuggels und Drogenhandels verhaftet wurde.« Sie verzog das Gesicht. »Es passt alles zu genau, als dass er das nicht sein könnte.«
JJ nahm sie in den Arm. »Es tut mir so leid. Ich hätte mir wirklich gewünscht, es wäre anders gelaufen.«
»Glaubst du, ich hätte es verhindern können, wenn ich mich mehr um ihn gekümmert hätte?«
JJ schüttelte den Kopf. »Du hast mehr als genug getan, Safaa. Er wollte sich nicht helfen lassen. Er hat den Kontakt abgebrochen, nicht du. Er hat sich wochenlang nicht gemeldet, obwohl du ihm immer wieder geschrieben und ihn angerufen hast. Es ist nicht deine Schuld, sondern einzig und allein seine.«
Safaa senkte den Kopf. »Ich weiß das alles. Dennoch ist es so schwer, es zu akzeptieren. Ich denke immer, ich müsste etwas tun.«
»Ich weiß, wie wichtig er dir ist. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit. Ich werde versuchen herauszufinden, in welches Gefängnis er gebracht wird. Dann kannst du ihn dort mal besuchen oder ihm schreiben.«
Sie schaute ihn erstaunt an. »Geht das denn?«
»Soweit ich weiß, ja. Ich muss mich auch erst mal schlaumachen.« JJ zog eine Grimasse. »Bisher hatte ich nichts mit Kriminellen zu tun.«
»Ich hoffe nur, seine Eltern bekommen das nicht mit. Es wäre ihr Untergang.« Safaa wandte sich ab und begann, mit Töpfen und Tellern zu hantieren.
»Hey.« JJ packte sie sanft an den Schultern und drehte sie zu sich. Dass sie weinte, gab ihm einen Stich. »Hey, hey, alles nicht so schlimm. Deutsche Gefängnisse sind zwar keine Luxushotels, aber besser als die in Syrien sind sie allemal. Und seine Strafe ist vielleicht nicht so hoch, weil er zum ersten Mal verurteilt wurde.«
»Ich weiß.« Safaas Stimme klang wegen der Tränen verwaschen. Sie wischte sich über die Augen. »Es ist so schwer. Wenn ich mir vorstelle, dass er eingesperrt ist. Und wenn sie herausfinden, dass er schwul ist.« Erneut brach sie in Tränen aus.
JJ zog sie an sich und ließ sie weinen. Ihm war klar: Nichts, was er sagte, würde den Schmerz lindern. Seine Frau musste allein damit fertig werden.
Als sie sich beruhigt hatte, küsste er sie sanft und sagte: »Wir halten zusammen, egal, was ist. Okay?«
Sie nickte.
»Gut. Ich mach uns was zu essen, du schaust nach Amira.« Er neigte den Kopf Richtung Wohnzimmer, als wolle er lauschen. »Sie ist verdächtig ruhig. Ich hoffe, sie räumt nicht alles aus.«
Safaa musste lachen. »Das kann sie noch gar nicht.«
»Eben. Noch nicht. Lange wird es nicht dauern, dann wird sie uns ganz schön auf Trab halten.«
Safaa lächelte. »Ich freue mich darauf.«
»Was ist das?« Zoi schaute verständnislos zunächst ihn, dann das Gerät an, das Sunay ihr entgegenhielt. »Ich habe ein Handy.«
Er grinste. »Das weiß ich. Tatsächlich ist das ein Seniorenhandy.«
»Na vielen Dank auch.« Ihre perfekt gestylten Augenbrauen schossen in die Höhe.