Caiman und Drache - Roman Israel - E-Book

Caiman und Drache E-Book

Roman Israel

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Beschreibung

Oberschlesien in den 1920er-Jahren: In der zum Deutschen Reich gehörenden Region entbrennt ein Volksaufstand, dessen Ziel der Anschluss an die Zweite Polnische Republik ist. Auch das verschlafene Dorf Braschowitz wird von den Unruhen erschüttert. Brücken werden gesprengt. Menschen verschwinden. In den Hinterzimmern der Amtsstuben laufen halbseidene Geschäfte. Eines Morgens wird die Leiche von Pfarrer Ogurek im Steinbruch gefunden. Der beleibte Kriminalbeamte Ferch untersucht den Fall, doch er stößt auf jede Menge Ungereimtheiten - und auf das Misstrauen der Dorfbewohner. Und es wird weitere Tote geben. Vor diesem Hintergrund entspinnt sich die Geschichte um die Zwillinge Karl und Alois Storch, die beide dieselbe Frau lieben, die geheimnisvolle Dorfschöne Malwina. Sie kann sich für keinen entscheiden, spielt sie gegeneinander aus und macht aus Brüdern Rivalen. Dann bricht der Vorabend des Zweiten Weltkrieges an und die drei verlieren sich aus den Augen. Werden sie sich wiedersehen? Roman Israel fängt in seinem Debütroman Caiman und Drache die ganz besondere Atmosphäre zwischen Angst und Aufbruch ein, die während der Zwischenkriegszeit in der deutsch-polnisch-tschechoslowakischen Grenzregion geherrscht haben muss. Dabei spürt er scheinbar mühelos die Komik auf, die in jedem noch so dramatischen Ereignis zu finden ist.

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© Luftschacht Verlag – Wien1. Auflage 2014Alle Rechte vorbehalten

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Michael RoherSatz: Florian AnratherDruck und Herstellung: TheissISBN: 978-3-902844-43-9eISBN: 978-3-902844-76-7

Ein herzliches Dankeschön an: Mascha Golda, meine Familie, Rosi Schwertner, Nina, Pawel, Familie Nitoń und an alle, die direkt oder indirekt am Entstehen dieses Buches beteiligt waren.

Die Recherchen zu diesem Buch wurden durch ein Stipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Villa Decius (Kraków) ermöglicht.

Roman Israel

Caiman und Drache

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

Das Unhaus, wie es von uns Braschowitzern abschätzig genannt wurde, lag von anderen Häusern isoliert längs der Jägerndorfer Chaussee. Polen wohnten hier, Polen mitten unter Deutschen. Ein Zaun aus Feldsteinen umspannte das finster wirkende Grundstück. Schwarzbraune Balken und weiß gezeichnete Fugendichtungen erinnerten an slawische Schrotholzhäuser. Die winzigen weiß umschlossenen Fenster, an denen himmelblaue Läden schwangen, glichen Augen einer unheimlichen Kreatur. Die Tür mit gesprungenem Lack und Milchglasscheibe schien in einen tiefen, von langen Fangzähnen umrahmten Höllenschlund zu führen und das ausladende Dach ähnelte einem zerfledderten Zimmermannshut mit breiter Krempe, ganze Reihen fischschuppenartig angeordneter Holzschindeln fehlten wie in einem von Motten durchlöcherten Stück Stoff. Unmengen von Auffangutensilien mussten im Unhaus bereitstehen (Pfannen? Schüsseln? Tassen?), um das Innere vor Nässe zu schützen.

Die Brüder Alois und Karl patrouillierten vor seinem Tor, das fehlende Schlüsselloch hinderte sie, einen Blick ins unbekannte Innere zu werfen, obwohl sie wussten, was sie dort erwarten würde. Karl träufelte Speichel auf die Angeln. Warum? Damit sie nicht quietschten, wenn sie das Tor gleich öffnen würden. Dann hob Alois das Tor, leise wie er nur konnte, schob es nach vorn und steckte seinen kleinen ovalen Kopf in den Spalt.

„Was siehst du?“ flüsterte Karl.

„Nichts.“

Die Tür fiel schnarrend ins Schloss.

„Und nun?“

„Klingeln.“

Sie klopften. Zunächst sanft, dann mit Fäusten und schließlich mit Füßen. „Wir wollen die Ziege!“ lärmten sie. „Wir sind zu allem entschlossen! Geben Sie auf, sonst –“

Es blieb still. Nichts regte sich. Mindestens fünf Minuten ließen sie verstreichen, bevor sie es wieder versuchten, um abermals enttäuscht zu werden.

Doch lassen Sie uns lieber da beginnen, wo diese Geschichte ihren eigentlichen Anfang nahm, und zwar ein paar Stunden früher, um die Mittagszeit. In Braschowitz sprangen eben die Kirchenglocken an. Braschowitz ist – bitte nicht weitersagen – die mickrigste Quetsche, die man sich vorstellen kann. Lange gab es hier nichts außer Birken, Eichen, Fichten, Buchen, kargem Grasland und an Blockhütten erinnernde Häuser slawischer und deutscher Siedler. Man lebte ausschließlich von der Landwirtschaft; die Ärmeren waren bei den Wohlhabenderen angestellt und die Wohlhabenden pflegten Kontakte in nahe Städte, nach Krnov etwa oder Leobschütz, Ratibor und Oppeln. Mit der Industrialisierung setzte in Braschowitz rege Bautätigkeit ein, Kirche, Schule, Kretscham und ein Sägewerk entstanden. Der typische Braschowitzer ist ganz und gar Kauz. Den Einwohnern ist diese Rolle wie auf den Leib geschustert, wenn Sie verstehen, was ich meine: Ober- und Unterkiefer sind zusammengewachsen, man könnte die Menschen hier auch als Ein-Wort-Fetischisten bezeichnen. Den Männern entgleitet beim Grüßen kaum mehr als ein „Hey“ oder „Häh?“ und die Frauen sehen gar nicht erst auf. Nur Ogurek war, wie soll ich sagen, etwas anders, wenigstens ein bisschen; er musste es sein, denn er war Pfarrer. Pfarrer stellt man sich für gewöhnlich klein, unansehnlich und beleibt vor. In dieser Hinsicht war unser Ogurek eine Traumbesetzung für seinen Beruf. Die Nase war etwas lang geraten oder im Laufe der Jahre lang geworden und buschige dunkle Brauen beschirmten die Höhlen. Sein Rasierwasser (blumig, alkoholschwanger, Marke Barbour shot) wirkte schwer, beinahe bleiern und tat nicht das, was man von einem guten Rasierwasser erwartete, nämlich dem Körper vorauseilen, sondern allzu oft hinkte es Ogureks ohnehin schleppenden Bewegungen hinterher. Sein Vater wollte, dass er in seine Fußstapfen, die eines einfachen Schusters, trete, aber Huber, der Dorflehrer, hatte andere Pläne und gab Ogurek Privatunterricht, was ihn befähigte, die höhere Schule zu besuchen. Wenn Ogurek lachte, trat ein Goldzahn hervor, vorn links, obere Zahnreihe; er saß so locker im Gebiss, dass er beim Reden ausfiel und wieder eingesteckt werden musste. Ogurek war ein gemütlicher Alter, seine Stimme war warm, aber monoton, sodass ihm während der Predigt nicht selten die Aufmerksamkeit abhanden kam. Würden Sie ihm die Hand geben wollen, müssten Sie feststellen, dass sie schlapp wie ein toter Fisch wäre. Wahrscheinlich dächten sie an einen Karpfen, oder nein, eher an eine Qualle.

Ogurek war Theologe, aber in seinem tiefsten Innern schlummerte das Talent eines Mathematikers, was er nicht selten unter Beweis stellte. Jedem, den er für gescheit hielt, gab er eines seiner Rätsel auf. Heute waren Alois und Karl an der Reihe, die er am Teich unweit der Kirche traf (vor lauter Entengrütze sah man das Wasser nicht). Sie rasteten hier, um ihrer Ziege zu trinken zu geben.

„Wusstet ihr“, fragte Ogurek, indem er sie schon aus großer Entfernung ansprach, „dass unter euren Storchen-Vorfahren –“, er ließ eine Pause, irgendwie fehlte noch die Pointe, wo war die bloß hingekommen? Ach ja: „Wusstet ihr, dass unter euren Storchen-Vorfahren“, Ogurek stockte ein weiteres Mal, diesmal mit voller Absicht, um die Spannung zu erhöhen, „Karl der Große gewesen sein muss?“

Karl Storch holte sich die ziegelroten Haare aus der mit unzähligen Sommersprossen bedeckten Stirn und stellte sich auf Zehenspitzen, was ihn größer und älter erscheinen ließ als seinen Zwillingsbruder. In Wahrheit waren die Störche aber gleich groß und gleich alt, fast zumindest. Karl war sieben Minuten jünger als sein Bruder Alois, was zur Folge hatte, dass sie sich nicht exakt glichen, jedenfalls dachten sie das.

„Karl der Große?“ überlegte Karl. „Herr Ogurek, Sie meinen –? Woher wissen Sie, dass wir verwandt sind? Soweit ich weiß, sind wir es nämlich nicht.“

„Ist nur ein bisschen Mathematik“, erwiderte Ogurek, während er umständlich in die Hocke ging, dabei die Beine stumpfwinklig vom Körper spreizte, und etwas in den aus verfestigtem Dreck bestehenden Straßenbelag schrieb. „Passt mal auf – Kinder – jeder Mensch hat genau zwei Elternteile, Vater und Mutter“, er zeichnete einen kräftigen Stamm, aus dem zwei weniger starke Äste sprossen. „Klar?“ Er sah Karl an, dann Alois.

„Möglich“, entgegnete Karl, als stünde es für ihn noch nicht fest. Er rechnete mit den Fingern nach, „Mutter und Vater? Mutter, Vater, Kind. Ja, klar. Aus zwei mach drei.“

„Sehr schön. Aber es geht noch weiter“, sprach Ogurek. „Eure Eltern, müssen die nicht auch Eltern gehabt haben? Wie viele?“

„Mutter, Vater. Vater, Mutter – vier, Herr Ogurek“, entgegnete Karl.

„Also vier!“

Karl massierte einen Punkt zwischen den Augenbrauen, als würde es jetzt kompliziert.

„Diese Vier hatten natürlich wieder Mutter und Vater“, rechnete Ogurek vor, „macht acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig, hundertachtundzwanzig und immer so weiter.“ Die in den Boden geschriebenen Linien seines Lebensbaumes hatten die Grenzen des Darstellbaren erreicht, sie überspannten die Straße von einer Seite zur anderen und wirkten wie Ameisenwege. Eine Frau mit einem Topfhut ging eilig vorüber und beseitigte ein paar Zahlen. Als Ogurek ihr nachrief: „Schönen Tag noch, Frau Apperspach“, wandte sie sich um und deutete ein Nicken an.

„Also, wo waren wir?“ fragte Ogurek, indem er die Verwischungen ausbesserte.

„Sie wollten uns sagen, dass wir von unendlich vielen Zeugern abstammen“, sagte Alois, während seine Augen angestrengt über die Graphen am Boden wanderten.

„Nicht ganz“, entgegnete Ogurek. „Nicht ganz. Stellen wir uns vor: Alle fünfundzwanzig Jahre gibt es eine neue, eine neue Generation –“, Ogurek hielt inne, weil ihm der Zahn verrutscht war, er schob ihn ins Gebiss zurück und wischte seine Finger an den Falten seiner Robe ab. „Entschuldigung! Macht also, wenn wir annehmen, Karl der Große habe vor etwa tausend Jahren gelebt, zwei hoch vierzig Vorfahren.“ Jetzt musste er ein Bäuerchen zurückhalten, das im Kretscham verspeiste Bigos drückte gegen die Magenwand. „Sind etwa eine Billion“, wieder stieß es ihm auf, „Störche. Oder?“ Er vervollständigte die Linien des Baumdiagramms mit Zahlen und Brüchen; da der Überblick schwerfiel, hob er seinen Schwerpunkt und streckte das Kreuz, dabei entglitt ihm ein schmerzgeplagter langer Seufzer. „Oje“, sagte er, „oje! Aber dämmert es?“ wollte er von den Zwillingen wissen. Er sah Alois an, der teilnahmslos ins Leere starrte. „Lois, was sagst du?“

„Hochwürden, ich weiß nicht, mir schwirren so viele Zahlen im Kopf. Da kann nichts dämmern, da drin ist alles kohlrabenschwarz.“

„Quatschkopp.“ Ogurek klopfte auf seinen Hinterkopf: „Anschalten, da oben! Hallo, anschalten!“ Erst jetzt fiel Ogurek auf, dass sich die Gesichter der Störche voneinander zu entfernen schienen. Lois’ Gesicht wirkte etwas kantiger als das seines Bruders, die Wangenknochen traten markant hervor.

„Eine Billion Vorfahren – lasst euch das mal auf der Zunge zergehen – eine Billion, eine Billion – das liegt doch tausendfach über der damaligen Weltbevölkerung, die höchstens eine Milliarde gezählt haben kann.“

Karl fuhr durchs strohige Haar und klammerte sich fest: „Fünf mal fünf macht fünfundzwanzig und dann noch mal fünf, das sind … hundert, nicht?“ Doch Lois keilte dazwischen: „Na, so genau haben die damals nicht mitgezählt, Herr Ogurek.“

Der Pfarrer wog Speichel auf der Zunge und spie, als er ausreichend Flüssigkeit beisammen hatte, einen langen Faden ins Gras – fast hätte er wieder seinen Zahn verloren. Der Faden wurde huckepack von einem Grashalm getragen, bis er sich langsam abseilte, als führe er dort das Leben einer Raupe.

„Was beweist das schon?“ schloss sich Karl der Meinung seines Bruders an: „Alles nur Schall und Rauch.“

„Nein!“ entgegnete Ogurek unzufrieden. „Nein! Denkt doch mal nach: Die Wahrscheinlichkeit, dass Karl der Große einer eurer Vorfahren gewesen ist, wird einem doch förmlich unter die Nase gerieben. Laut unserer Rechnung habt ihr mehr Vorfahren als es damals Menschen gab. Karl der Große muss einer eurer Vorfahren sein. Er ist einer eurer Ururururgroßväter.“

Alois holte tief Atem. Irgendwo rastete ein Fenster in den Rahmen, jemand schien sich an ihrem Gerede zu stören. „Herr Ogurek, bedeutet das“, rief Karl nach einiger Überlegung, „bedeutet das, weil wir ja nun adlig sind, bedeutet das, wir sind jetzt reich?“

„Moment“, sagte Ogurek. „Nach unserer Rechnung wäre ich ebenfalls mit Karl dem Großen verwandt.“

Karl grübelte mit der Hand am Kinn. „Aber das heißt ja, auch wir, Herr Ogurek, Sie, ich und Lois, wir wären auch miteinander verwandt.“

„Korrekt“, bestätigte Ogurek erleichtert. „Das wäre meine nächste Frage gewesen.“

„Die interessantere Frage ist doch aber –“, stieß Lois hervor, als hätte ihm jemand einen Stromstoß versetzt. „Wie haben diese vielen Störche das damals hinbekommen? Wie haben die vielen kleinen Störche so viele große Störche in die Welt setzen können, dass Karl der Große, und sogar Sie, mit uns verwandt sind, Hochwürden? Ich meine jetzt –“, Alois stockte, „ich meine mechanisch?“

Ogureks Stimme wirkte plötzlich ungewohnt hoch, als hätte er Helium oder ein anderes das Stimmbild veränderndes Gas eingeatmet. „Mechanisch?“ piepste er.

„Ja, mechanisch“, entgegnete Lois. „Heißt das: Karl der Große war damals, Sie wissen schon, im Bett mehr oder weniger aktiv?“

„Mehr oder weniger aktiv?“ In Ogureks Kopf wird aus Karl dem Großen Katharina die Große, die sich eine komplizierte Apparatur entwerfen ließ, um sich von einem Hengst begatten zu lassen.

„Nun, das sind Fragen“, Ogurek grinste düpiert, „wie soll ich sagen, das sind Fragen, die mit Mathematik nichts gemein haben, ich meine, so was lässt sich nicht –“, und plötzlich setzte sich sein fetter Körper in Bewegung und verschwand nach einem seltsam anmutenden Dauerlauf, der irgendwo zwischen Laufen und Gehen rangierte, im Pfarrhaus.

„Wusst’ ich doch“, sagte Alois und knetete sein schmales sommersprossenbetupftes Kinn. „Die Rechnung stimmte vorn und hinten nicht. Alles Quatsch.“

Karl drückte, weil die anstrengende Mathematikstunde nun vorbei war, die angespannt wirkenden Schulterblätter nach außen und entspannte sie. „Was genau meintest du gerade mit im Bett aktiv?“

„Na, aktiv halt, du weißt schon, Knutschen, den Propeller reinhängen und so. Ist doch ’n gängiges Motiv. Siehste zwei sich Küssen, hat mindestens einer von beiden später ’nen dicken Bauch. Ich fress ’n Sack Tannenzapfen, wenn das nicht hinhaut.“

Nachdem sie aufgesessen waren (es wurde bereits erwähnt, dass sie eine Ziege im Schlepptau hatten), straffte Alois die Zügel des Tieres und gab ihm die Sporen. Übelgelaunt, und nicht ohne meckernd Protest angemeldet zu haben, setzte es sich in Bewegung. Der Weg stieg leicht an, auf der rechten Seite zog Apperspachs Kolonialwarenladen vorbei, in dem es von Tee, Tabak, Kaffee, Wein und Spirituosen alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte. Ein paar Meter weiter folgte eine Kapelle zu Ehren der Jungfrau Maria, die kaum größer als ein Geräteschuppen war. Der Bürgermeister hatte sie errichten lassen und einen architektonischen Witz geschaffen als ein Zeugnis religiöser Zuneigung. Die Jägerndorfer Chaussee – dem Namen nach sollte es sich um eine wichtige Geschäftsstraße handeln, aber sie war nur ein aus festgefahrenem Lehm bestehender Fahrweg – führte längs einer trostlosen Mauer, hinter der sich dicht an dicht stehende Häuser aneinanderreihten wie Perlen auf einer Schnur. Das Ende der Mauer ging in jenes Pfarrhaus über, in dem Ogurek vor wenigen Augenblicken verschwunden war. Daran schloss sich das nur hundert Seelen fassende katholische Kirchenschiff mit einem Türmchen in Form eines Weihrauchfasses an.

Dem schwer beladenen Lasttier hing der Kopf bis zum Boden, es keuchte und schniefte wie eine altersschwache Lokomotive. Die Zunge wirkte ausgetrocknet und welk, man hörte, wie sich die kleine Lunge blähte und wie sie wieder zusammensackte, gefolgt von einem missgestimmten Meckern. Was konnte sie schon tun? Sie besaß nicht einmal die Kraft, die beiden Bleiklumpen von ihrem Rücken zu schütteln.

„Drück mal!“ befahl Alois seinem Bruder, weil es nicht mehr vorwärts ging. „Die braucht ’n Ruck!“ Karl schlüpfte aus dem Sattel und versuchte zu schieben.

„Glaub, die mag nicht mehr. Vielleicht ist sie tot.“

„Wäre sie tot, könnte sie nicht mehr stehen, Idiot!“ Lois brüllte: „Drück, drück, drück!“ und rammte der Ziege seine knochigen Fersen in die Seite. Karl stemmte sich gegen das ausladende Hinterteil, als schöbe er einen mit Erz beladenen Grubenhunt, er wuchtete mit der ganzen Kraft seiner Streichholzarme – Sehnen und Adern traten wie bei einem Gewichtheber heraus, er spürte die empörte Gegenkraft des Tieres, die übermenschlich wie von einer unbeseelten Dampfmaschine angetrieben dagegenhielt.

Karls Füße griffen nicht, die nackten Sohlen glitten von der Straße, als läge ein Film schlüpfrigen Eises auf ihr. „Rührt sich nicht. Steht da wie eingegraben“, sprach er und plötzlich spürte er aus südlicher Richtung kommend einen schwachen Hauch über die Härchen seiner Haut streichen und, als hätte er es geahnt, schossen einen winzigen Augenblick später Salven von Kanonenkugeln aus der Ziege, ein ganzes Magazin weicher pflaumenartiger Bälle hagelte gegen Kinn und Brust. Karl begann zu fluchen und schrie: „Also schön, das war’s. Der Ausritt ist abgeblasen, ohne mich.“ Und das schien dem Tier als Stichwort zu dienen, es bäumte sich auf wie ein scheuendes Ross und schüttelte Alois, der völlig unvorbereitet das Gleichgewicht verlor, wie einen Rodeoreiter ab. Sein Körper schlug auf den Boden und sein rechter Ellenbogen ertrank in Blut. Der Schmerz ließ noch etwas auf sich warten und erreichte ihn, als er skeptisch über die Wunde wischte und den Brei aus Blut und Dreck verstrich, als hätte er sich – wie der ungläubige Thomas – von der Echtheit der zugefügten Verletzung überzeugen müssen. Er spürte ein leichtes Ziehen, gefolgt von einem Stechen und schließlich eine beißende unbarmherzige Qual, die ihn die Zähne zusammenpressen ließ. Das Chaos für sich nutzend, ergriff die Ziege die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen; geräuschlos suchte sie das Weite, geräuschlos, auf den vordersten Spitzen ihrer Hufe davonbalancierend, wie ein vor der Sonne fliehender Schatten, ohne dass die Brüder es merkten. Weg war sie, weg.

2

Die Ziege war wie vom Erdboden verschluckt und das bedeutete Ärger. Großen Ärger sogar, denn so eine Ziege war für Familie Storch wie eine Kuh, die Kuh des kleinen Mannes, wenn man so will. Sie hörten schon ihren Vater donnern: „Schafft die Ziege herbei, sonst ist Polen offa!“

Was blieb ihnen anderes übrig, als meckernd und rufend durch Braschowitz zu streifen und sie zu suchen?

„Kann nur noch gemaust worden sein“, sagte Alois, nachdem sie Braschowitz mehrfach durchkämmt hatten. „Bestimmt hat einer das Hoftor aufgemacht, mit Gras gelockt: zack.“ „Mit Gras gelockt?“ wunderte sich Karl. „Wo Gras überall in Hülle und Fülle wächst?“ und klopfte seinem Bruder auf die Stirn.

„Gras oder Schokolade: egal. Zack, weg! Aus!“

„Fressen Ziegen Schokolade?“

„Die Biester fressen alles außer Blech.“

„Und Fleisch?“

„Wenn dir jemand ’n gebratenes Hühnchen hinhält, knusprige Geflügelhaut, rotbraun verbraten mit Paprika und Knoblauch, saftiges Fleisch an der Keule, trockenes weißes an der Brust. Und dazu Rotkraut und Klöße? Ich geb’ dir Brief und Siegel, selbst wenn du ’ne Ziege wärst, du würdest es nehmen.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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