Call of Crows – Entfacht - G. A. Aiken - E-Book
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Call of Crows – Entfacht E-Book

G. A. Aiken

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Beschreibung

Jace Berisha hat es wirklich nicht leicht – zumal ihr Mann sie ... nun ja, ermordet hat. Doch nun kämpft Jace für die mächtigen Götter der Wikinger, Seite an Seite mit den gefährlichen Crows. Schnell geht es jedoch für sie bergab, als eine rachsüchtige Göttin auftaucht und nur eins will – den Weltuntergang. Die einzige mögliche Lösung ist, sich mit ihren Feinden zu verbünden, den Protektoren. Ein Wikinger-Klan, dessen einziges es Ziel ist, Crows zu vernichten. Glücklicherweise ist Protektor Ski Eriksen ein friedliebender Kerl. Denn die Frau, die er begehrt, ist ausgerechnet die schöne und unnahbare Jace. Doch nichts kann einen wahren Wikinger davon abhalten, das zu bekommen, was er will!

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Seitenzahl: 583

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link

ISBN 978-3-492-97485-1

Januar 2017

© 2016 Shelly Laurenston

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Undoing«, Kensington, New York 2016.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Sabine Dunst, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von Thinkstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Prolog

Er schaufelte noch mehr Erde auf sie.

Jetzt spürte sie es. Spürte, wie die Erde ihr aufs Gesicht fiel, auf ihre Arme und Beine. Er versuchte, jeden Beweis ihrer Existenz verschwinden zu lassen. Er wollte so tun, als gäbe es sie nicht. So tun, als habe es sie nie gegeben.

Das hätte er wohl gern.

Sie atmete ein und der Dreck geriet ihr in die Nase. Sie spürte Panik aufsteigen. Dann erinnerte sie sich an die Worte.

Die Worte der verschleierten Frau. Ihre Stimme war energisch gewesen, selbstbewusst. Sie hatte sich Skuld genannt und ihr ein Angebot gemacht, das ihr noch nie jemand gemacht hatte.

»Du wirst meine Rache sein. Du wirst mein Zorn sein. Er ist in dir und jetzt … jetzt kannst du ihn herauslassen. Setz ihn frei. Schwelge in ihm. Ertränke dich in ihm.«

Konnte sie das? Sie hatte ihrem Zorn schon einmal erlaubt herauszukommen … und jetzt lag sie in ihrem Grab. Und ihr Ehemann schaufelte Erde auf sie. Begrub sie. Begrub die Wahrheit.

Ihre Wahrheit.

Nein. Sie würde ihm das nicht erlauben. Sie würde niemals zulassen, dass er damit durchkam. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal gebeten, sie in Ruhe zu lassen, und dann machte er so was. Er tötete sie.

Aber Skuld gab ihr mehr als nur eine zweite Chance. Das wusste sie, während der Zorn wie Wein durch sie hindurchfloss. Durch ihren Blutkreislauf, in ihre Muskeln.

Sie pulsierte vor Leben und Hass.

So. Viel. Hass.

Sie konnte es kaum erwarten, diesen Hass auf die Welt loszulassen.

Aber zuerst … auf ihn.

Die Erde über ihr war festgedrückt, aber sie war jetzt stärker. Nicht mehr die schwache Kreatur, die er mit bizarren Diäten und Einschränkungen, wann sie essen durfte, noch schwächer gehalten hatte. Kraft durchströmte sie, und sie benutzte diese Kraft, um die Fäuste durch die Erde zu stoßen, die er über ihr aufgehäuft hatte. Als sie nach oben drang, sich freikämpfte, hörte sie Stimmen. Er war nicht mehr allein.

Befehle wurden erteilt. »Lassen Sie die Schaufel fallen! Hände über den Kopf! Sofort!«

Die Polizei.

Es war ihr egal.

Ihre Hände stießen durch die Oberfläche, und sie nahm sich einen Moment Zeit, um die Finger zu strecken, bevor sie sie auf den Boden drückte und sich ganz heraushievte.

Als sie aus der Erde hervorbrach, beugte sich einer der Beamten vor, die Waffe vor sich ausgestreckt, und beobachtete sie mit aufgerissenen Augen.

Er war so schockiert, dass er sogar sprachlos zusah, als sie aus ihrem Grab sprang, sich von hinten auf ihren Mann stürzte und ihm die Arme um die Schultern und die Beine um die Taille schlang.

Sie machte den Mund weit auf und biss ihn seitlich in den Hals, zerfetzte Haut und Muskeln und tiefer liegende Blutgefäße.

Er schrie gellend, drehte sich im Kreis und langte nach hinten, in dem verzweifelten Versuch sie abzuschütteln. Aber sie würde nicht loslassen. Nicht bis er tot war. Sie wollte ihn tot sehen.

»Befreien Sie mich von ihr!«, flehte er die Beamten an. »Lieber Gott! Befreien Sie mich!«

Einige der Polizisten lachten, bis sie das Blut an der Schulter und am Oberkörper ihres Ehemannes herunterströmen sahen.

Weitere Hände griffen nach ihr und versuchten, sie wegzuziehen. Sie konnten nichts ausrichten. Sie war zu stark.

Zumindest war sie es, bis die Beamten von einem einzelnen Mann weggeschoben wurden, der sie mit seinen großen Händen um die Taille packte und sie wegriss.

»Himmel!«, schrie irgendjemand, als er den Fetzen Fleisch aus dem Hals ihres Mannes in ihrem Mund sah. Sie spuckte ihn zusammen mit Blut und Speichel aus und knurrte wie ein wildes Tier, während sie darum kämpfte, sich wieder auf ihn stürzen zu können. Um ihm den Rest zu geben.

Ihr Mann ließ sich zu Boden fallen, eine Hand auf seine Verletzung gepresst, den Blick starr auf sie gerichtet. Sie wussten beide, dass er sie getötet hatte … und doch lebte sie noch. Ihm zum Trotz lebte sie.

»Ich bringe dich um für das, was du getan hast!«, brüllte sie. »Ich bringe dich um! Ich bringe dich um! Ich bringe dich um!«

Sie schrie diesen letzten Satz immer wieder und wieder. Sie konnte sich nicht bremsen.

Der Mann mit den großen Händen trug sie schnell weg, ums Haus herum zu einem schwarzen SUV. Er packte sie sich auf nur einen Arm und öffnete die hintere Tür mit seiner freien Hand. Dann schob er sie in den Wagen und drückte sie mit einer Hand in den Sitz.

Er redete mit ihr. Nicht auf Englisch, sondern in einer Sprache, die entfernt vertraut klang. Er sagte immer wieder dieselben Worte. Sie verstand ihn immer noch nicht, aber die Stimme und der Klang der Worte drangen zu ihr durch, bis ihr Zorn sich auflöste.

Als sie sich endlich beruhigte, starrte er sie eine Weile an. Und sie erwiderte seine Musterung. Blondes Haar. Blaue Augen. Groß. Nordisch.

Er schaute zu den Beamten zurück, die auf sie zukamen.

»Bleib einfach ruhig«, befahl er ihr. »Ich bringe dich dorthin, wo du hinsollst, aber du musst dich beruhigen.«

Er richtete sich auf, ließ sie los und beobachtete sie noch eine Sekunde länger, bis er endlich seinen großen Kopf schüttelte.

»Ich hasse es, mich mit neuen Crows herumzuschlagen«, beklagte er sich. »Ich hasse es.«

Kapitel 1

Als er sie erneut am Knie berührte, knirschte Jace Berisha mit den Zähnen und zwang sich zu einem Lächeln.

Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Du schaffst das.

Obwohl sie es eigentlich gar nicht schaffen wollte. Sie wollte nicht in diesem vorübergehend geschlossenen Club in Santa Monica sein und um irgendwelchen von den Göttern gesegneten Ramsch feilschen. Sie wollte zurück im Bird House sein und lesen … egal was. Irgendwas. Aber leider war sie die Einzige im Crow-Clan von Los Angeles, die Russisch sprach sowie einen ganzen Haufen anderer slawischer und romanischer Sprachen plus noch ein paar Sprachen, die zu keiner der beiden Gruppen zählten. Eine Fähigkeit, die früher einem ganz anderen Zweck gedient hatte. Aber diese Fähigkeit war ihr Schlüssel gewesen. Der Schlüssel dazu, aus ihrem ersten Leben heraus- und – zum Glück – in ihr zweites hineinzugelangen. Allerdings hatte sie sterben müssen, damit das passieren konnte. Durch die Hand ihres miesen Exmannes.

Aber das war ein Preis, den sie jederzeit wieder bezahlt hätte, um hier zu sein.

Obwohl die Arbeit undercover nicht gerade ihre Stärke war, würde sie sie für die Frauen, die sie Schwestern nannte, und für die Göttin, die ihr so viel gegeben hatte, tun. Aus eigenem Willen. Das war etwas, das man ihr zu haben früher verboten hatte.

Sie musste bloß einen Weg finden, ihr inzwischen berüchtigtes Temperament zu zügeln.

Weil sie nicht nur eine Crow war. Sie war eine Berserker-Crow. Eine Crow, deren Zorn in Schlachten eingesetzt wurde, um Schrecken zu verbreiten und Zerstörung anzurichten, nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge.

Jace wünschte, sie würde ihre Rolle als Berserker-Crow als eine Art Fluch betrachten, aber das tat sie nicht. Sie freute sich an ihrer Wut, so wie sich manche Menschen an Babys oder einem tollen neuen Sportwagen erfreuten.

Trotzdem, wenn sie nur … wenn sie nur mehr Kontrolle darüber hätte. Sie hatte ein bisschen Kontrolle, aber sobald ihre Wut richtig entfesselt war, gab es kein Halten mehr, bis sie sie an der Person ausgelassen hatte, die sie provoziert hatte.

Eine Neigung, die mitten im Schlachtgetümmel gut funktionierte, weniger gut jedoch, wenn die Crows einmal etwas anderes probierten als ihre übliche Arbeitstaktik: »Reingehen, alle töten, rausgehen.«

Heute Abend versuchten die Crows zu verhandeln, eine Fähigkeit, für die die meisten von ihnen nur im Jewelry District in Downtown L. A. bekannt waren.

Sonst wurden die Crows hinzugezogen, damit sie Dinge zurückholten, die den Göttern gestohlen worden waren, und damit sie alle töteten, die etwas mit dem Diebstahl zu tun gehabt hatten. Und wenn auch das Blut eines Unschuldigen vergossen worden war, so … sagen wir, einiges von dem, was die Crows im Laufe der Jahre getan hatten, war legendär geworden.

Diesmal wussten sie mit Sicherheit, dass die Leute, die gegenwärtig den Armreif einer der Nornen in ihrem Besitz hatten, absolut ahnungslos waren, was sie da in Händen hielten. Sie hatten ihn nicht benutzt. Hatten kein Blut deswegen vergossen. Es waren einfach irgendwelche Clubbesitzer, die versuchten, das hübsche Armband an den Höchstbietenden zu verkaufen. Also war beschlossen worden, dass es unnötig sei, diese Männer zu töten.

Natürlich war keiner der Herren, mit denen sie es zu tun hatten, eine Unschuld im landläufigen Sinne, aber sie waren auch nicht durch und durch böse.

Zumindest glaubte Chloe, ihre Anführerin, das. Jace jedoch wusste es besser. Bevor ihre Mutter sie vor all den Jahren weggeholt hatte, war Jace unter Männern wie diesen aufgewachsen. Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. Sonst …

»Also«, versuchte Tessa es noch einmal und gab sich größte Mühe, den Mann neben ihr zu ignorieren, der an ihrem Hals schnupperte, »wie viel für das Armband?«

»Es ist teuer«, antwortete der massige Russe in gequältem Englisch. Sein Name war Wadim Ekimov, und er hatte in den Docks von San Pedro das Sagen. Das Wenige, was sie an Nachforschungen über Wadim angestellt hatten, bevor sie hierher gekommen waren, hatte gezeigt, dass er ein Gangster mittleren Formats war, aber auch nicht besser oder schlechter als die anderen. Er hatte definitiv keinen Überfall durch die Crows verdient, von dem sich weder er noch seine Männer je wieder erholen würden. Denn wenn die Crows anfingen, sich um jeden unbedeutenden Drecksack zu kümmern, der in Los Angeles lebte … tja, nun. Das wäre einfach eine schlechte Idee. »Wir können es nicht einfach verschenken, meine Hübsche.«

Dass diese Idioten keine Ahnung hatten, worum sie da feilschten, machte Jace langsam zu schaffen. Der Mann, der zwischen ihr und Tessa in der Sitznische saß und dessen Hand sich immer weiter an Jace’ Oberschenkel hocharbeitete, machte ihr noch mehr zu schaffen.

»Wir haben Geld«, versprach Tessa. »Und es ist einfach so entzückend, Wadim. Ich muss es haben.«

Die Hand auf Jace’ Oberschenkel kroch noch ein wenig höher hinauf, und sie war kurz davor, dem Mann die Finger zu brechen.

»Und was wird Wadim für ein solch hübsches Armband bekommen?«, fragte er und beugte sich über den runden Tisch, den Blick auf Tessa gerichtet.

»Meine Faust in deinen Arsch, wenn du uns keinen gottverdammten Preis nennst.«

Die Männer schauten alle zu Jace. Und in dem Moment begriff sie, dass sie das nicht nur laut ausgesprochen hatte … sie hatte es in makellosem Russisch gesagt, in dem südrussischen Dialekt der Männer.

Sie hätte ihr Geheimnis nicht auffälliger enthüllen können, wenn sie es auf eine Plakatwand am I-10 Freeway geschrieben hätte.

»Ahhh, ein Spitzel, Wadim«, witzelte einer der Männer, der immer noch keine der Frauen ernst nahm. »Sie haben eine hübsche kleine Spionin mitgebracht.«

Tessa lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Was ist los?« Tessa, eine Afroamerikanerin, die in San Diego geboren und aufgewachsen war, sprach Spanisch und ein wenige Koreanisch aus ihrer Zeit als Lernschwester in einem Krankenhaus in Koreatown, aber das war auch schon so ziemlich alles. Sie hatte jetzt keine Ahnung, was geredet wurde.

Jace begriff, dass sie hier jede Chance vermasselt hatte, diskret vorzugehen, und erwiderte: »Gib uns einfach das Armband, Wadim. Wir bezahlen dich. Bezahlen gut.«

»Und wie willst du uns bezahlen, kleines Mädchen?« Wadim packte sie plötzlich am Kinn und hielt sie fest.

Tessa sprang von ihrem Stuhl auf, aber einer der Männer hielt ihr eine Waffe an die Schläfe. Sie setzte sich schweigend wieder hin, aber ihr Gesicht sagte alles, was gesagt werden musste. Zumindest, was Jace betraf.

Diese Männer hatten gerade ihre einzige Chance vertan, nicht zu »Vogelfutter« zu werden, wie die anderen Clans es nannten.

»Ich mag es nicht, angefasst zu werden, Wadim Ekimov«, warnte Jace den Mann. »Also nimm deine Hände weg.«

»Oder was, kleines Mädchen? Was werden du und deine braune Freundin mit mir machen?«

»Die Frage«, erklang eine Stimme aus den dunklen Ecken des geschlossenen Clubs, »ist nicht, was sie machen wird.« Eine Klinge glitt an Wadims Hals entlang und drückte sich auf seine Halsschlagader. »Sondern was wird der Rest von uns machen?«

Wadim ließ Jace sofort los und hob die Hände.

Jace wischte sich die Stelle in ihrem Gesicht ab, wo er sie angefasst hatte. Nicht weil sie ein Problem speziell mit ihm hatte, sondern nur … wie gesagt, sie ließ sich nicht gern anfassen.

Sie tauchten aus der Dunkelheit auf und schoben sich unter die wenigen Lichter, die in dem größtenteils verlassenen Club noch brannten. Jace’ Team. Die Mädchen, mit denen sie kämpfte, für die sie lebte, für die sie sterben würde, sollte das jemals notwendig werden. Ihre Schwestern. Alle Crows waren ihre Schwestern, aber diese Frauen … sie bedeuteten ihr alles. Würden es immer tun. Sie liebte sie auf eine Weise, die sie nie in Worte fasste, die sie aber tief in ihren Knochen spürte. In ihrem Blut. In der Seele, die jetzt Skuld gehörte, bis Ragnarök kam. Weil sie das so entschieden hatte. Eine Entscheidung, die sie mit Freuden jederzeit wieder treffen würde.

Kera Watson, die sich als Letzte ihrem Team angeschlossen hatte, die aber von Natur aus den ausgeprägtesten Beschützerinstinkt jeder einzelnen Crow gegenüber hatte, hob von hinten Jace über die Lehne der Sitzbank hoch, weg von Wadim und seinen handgreiflichen Freunden.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Kera und ließ Jace schnell wieder los.

Kera war ehemalige Marinesoldatin und kannte sich mit Leuten aus. Verstand sie auf eine Weise, wie der Rest der Crows sich nicht wirklich die Mühe machte zu verstehen. Die ersten Dinge, die sie über ihr Team gelernt hatte, waren ihre persönlichen Marotten gewesen. Sie wusste, dass Jace sich nicht gern anfassen ließ, und sie wusste, dass sie nicht gern nah bei anderen saß. Also hatte Kera dafür gesorgt, dass sie ihre Freundin so schnell wie möglich aus dieser Situation herausholte. Das war Kera. Diejenige, die sich rund um die Uhr um die Gruppe kümmerte.

Jace nickte ihr dankend zu, bevor sie das Wort wieder an Wadim richtete.

»Gib uns das Armband«, sagte sie auf Englisch, damit alle es verstehen konnten. »Wir können hier alle gleich fertig sein, wenn du uns das Armband überlässt.«

Wadim drehte sich ganz leicht, um sie anzuschauen, und seine durchtriebenen Augen musterten sie und die anderen. »Warum ist das Armband so wichtig für euch? Warum braucht ihr es?«

Jace schüttelte den Kopf. »Feilsche nicht, Wadim. Nicht mehr. Dieses Recht hast du verloren, als ihr die Waffen gezogen habt. Gib uns einfach das Armband.«

»Na schön. Wir wollen eine Million dafür. In Euro.«

Jace stieß einen Seufzer aus. Männer. Immer so schwierig.

Die Crows lachten darüber, was den Russen nicht zu gefallen schien. Aber Wadims Forderung war lächerlich.

»Nein«, entschied Tessa schließlich. »Ihr könnt fünfzig Riesen haben. In amerikanischen Dollar. Und ihr werdet damit verdammt glücklich sein.«

»Fünfzig Riesen?«

»Fünfzig Riesen«, wiederholte sie. »Und dann verschwinden wir alle. Wäre das nicht schön? Wenn alle unversehrt aus dieser Sache herauskämen? Denn vertrau mir«, versprach Tessa grinsend, »Ihr werdet versehrt werden, wenn ihr dieses Armband nicht hergebt.«

»Ich habe eine bessere Idee …«, begann er, aber Jace stieß einen lauten Seufzer aus, worauf Wadim sie wieder ansah.

»Problem?«

Jace nickte. Sie wollte nicht mehr reden. Sie hatte das Reden satt.

»Weißt du«, erklärte Erin für sie, »du wirst wahrscheinlich gleich irgendwas wirklich Sexuelles und Widerwärtiges sagen, und dann wird sie wirklich sauer werden und das wird dir nicht gefallen. Uns schon«, fügte sie hinzu. »Aber dir nicht. Also gib uns einfach das verdammte Armband.«

Wadim schaute seine Männer an, und endlich stimmte er zu. »Wir geben euch das Armband. Wenn ihr das Geld jetzt dabeihabt.«

»Wir haben das Geld«, versicherte Alessandra Esparza ihm, knallte eine Aktentasche auf den Tisch und öffnete sie. Einer der Männer sah schnell die Stapel mit Geldscheinen durch, bevor er Wadim zunickte.

»Kommt.« Er stand auf, und Erin ließ die Klinge sinken, die sie ihm an den Hals gehalten hatte. Die Standardwaffe, die alle Crows fast an ihrem ersten Tag ausgehändigt bekamen. Aus feinstem Stahl gefertigt, handelte es sich dabei um eine dünne Klinge, die mühelos sowohl größere Arterien als auch harte Knochen durchtrennte. Man lehrte die Crows, mit einem solchen Messer in jeder Hand zu kämpfen, aber wenn sie jemals während eines Kampfes eins verloren, war das kein Problem. Sie besaßen dazu noch Krallen, die Fleisch und Knochen genauso mühelos zerfetzen konnten. Warum sie beides hatten, wusste Jace nicht, aber es kümmerte sie auch nicht. Manchmal war sie nicht in der Stimmung, Blut unter die Fingernägel zu kriegen.

Alle zusammen gingen sie nun in den hinteren Teil des Clubs und eine lange Treppe hinunter in den Keller – die Männer mit ihren Schusswaffen und die Frauen mit ihren Klingen. Hier unten wurde der ganze Alkohol gelagert. Sie gingen zwischen den Kisten hindurch, bis sie ein Hinterzimmer erreichten, dessen Tür Wadim aufschloss und aufdrückte.

Und dort fanden sie sie. Die Tür zu dem begehbaren, wandschrankgroßen Safe war aufgesprengt worden. Die sechs Männer, die darum herumstanden, erstarrten und sahen die Crows an. Die Crows erwiderten ihre Blicke.

Es waren die Protectors, ein mächtiger Clan, den der Gott Tyr erschaffen hatte, nachdem die Crows und Odins Ravens für Tyrs sehr moralischen Geschmack ein Dorf zu viel ausgelöscht hatten.

Tyr hatte seinen menschlichen Kriegern einen starken Sinn für Gerechtigkeit und das Schlachtmotto »Kein Feind soll überleben!« mitgegeben. Es brauchte nur einige wenige Protectors mit ihren Flügeln, die denen von Eulen ähnelten, die lautlos heranrauschen und ganze Bataillone von Crows und Ravens erledigen konnten. Zu Anfang hatten sie keinem anderen Zweck gedient, aber das hatte sich geändert, als es den anderen Clans dämmerte, dass sie die Ravens und die Crows brauchten, um Ragnarök fernzuhalten.

Damals war es für die anderen leicht gewesen, den Clan der Ravens als einen der offiziellen Neun zu akzeptieren. Auserwählt von Odin persönlich, waren sie alle von feinstem Wikingergeblüt. Die Crows jedoch …

Sie waren Sklavinnen, die von der Norne Skuld selbst an ihre skandinavischen Gestade gebracht und zu rachsüchtigen Kriegerinnen mit schwarzen Flügeln und dunklen Seelen gemacht worden waren. Sie nahm diese Frauen, wenn sie ihren letzten Atemzug taten, und sie gab ihnen eine Chance auf ein zweites Leben, eine Chance, endlich ein Ventil für ihren Zorn zu finden, nachdem sie aus ihrer Heimat gerissen und in ein fremdes Land verschleppt worden waren. Jahrhundertelang wurden sie nicht Teil der offiziellen Neun, weil alle vermuteten, dass die Crows verschwinden würden, wenn erst die Plünderungen und die Sklaverei verschwanden.

Aber das war nie geschehen. Die Crows waren jetzt genauso stark – wenn nicht noch stärker – als sie »damals« gewesen waren. Skuld wählte immer noch unter den Sterbenden aus, und wie ihre kleinen, aber brillanten geflügelten Namensschwestern gab es die Crows überall auf der Welt. Einige Gruppen waren kleiner als andere. Einige unendlich gefährdeter als andere. Aber sie alle arbeiteten zusammen, um die Welt vor sich selbst zu schützen. Kein leichter Job, aber einer, den sie alle liebten.

Aber sie waren trotzdem noch Menschen. Keine der Crows war unsterblich. Sie waren schneller, stärker und mächtiger, als sie es in ihren ersten Leben gewesen waren, aber sie konnten sterben, wenn eine wohlplatzierte Kugel sie traf oder ein Messer ihre Arterie durchtrennte. Immerhin war ihnen jetzt ein Platz an Odins oder Freyas Tafel in Asgard versprochen. Sie würden mit all den anderen Kriegern kämpfen, wenn Ragnarök kam. Das war mehr als alles, worauf die meisten anderen Menschen sich im Jenseits freuen konnten.

Und doch … obwohl die Crows und die Protectors nicht mehr die eingeschworenen Feinde waren, die sie einst gewesen waren – die sofort versucht hätten, einander ohne Fragen oder Konsequenzen zu töten –, vertrauten die Crows und die Protectors einander auch nicht wirklich. Wirklich überhaupt nicht.

»Was zum Teufel macht ihr hier?«, fragte Tessa die Männer.

»Nun, wenn du es unbedingt wissen willst …«, hob einer der Protectors zu sprechen an, aber dem Russen platzte der Kragen.

»Verräterische Schlampen«, knurrte Vadim.

»Warte«, griff Jace schnell ein und verfiel in der Hoffnung, Wadim beruhigen zu können, wieder ins Russische. »Hiermit hatten wir nichts zu tun. Wir haben immer noch eine Abmachung.«

»Scheiß auf dich und deine Abmachung«, zischte er, bevor er zurücksprang und in Erin hineinkrachte, die mit ihrer Klinge in der Hand immer noch hinter ihm gestanden hatte.

Erin prallte gegen die Tür, kurz benommen von dem Zusammenstoß mit dem großen Mann.

Er griff nach der Waffe, die er unter seinem Jackett trug, und Jace langte wütend nach ihm und riss die Hand mitsamt der Pistole zu Boden. In dem Moment krallte Wadim ihr die Finger seiner freien Hand in den Hinterkopf, und bevor sie den Russen aufhalten konnte, schmetterte er sie mit dem Gesicht voran gegen die Wand.

 

Danski »Ski« Eriksen krümmte sich, als er sah, wie Jacinda Berisha gegen die Wand knallte. Er schaute zu, wie die anderen Crows verstummten und die Hände sinken ließen, auf ihren Gesichtern ein Ausdruck der Hoffnungslosigkeit.

»Warum?«, fragte die Anführerin des Angriffsteams der Crows. »Warum hast du das getan?«

»Was?«, gab der massige Russe feixend zurück. »War sie dein Liebling? Habt ihr euch gegenseitig die Pussy geleckt?«

»Tja, das wird wohl kein gutes Ende nehmen«, murmelte Gundo hinter Ski. Gefolgt von einem geseufzten »Was für ein Idiot«.

»Holt die Bücher«, befahl Marbjörn Ingolfsson – sie nannten ihn meist einfach nur »Bär« – seinem Team. »Sie« – und alle im Raum wussten, wen er meinte – »wird dieses Gebäude niederbrennen!«

Bevor sie Bärs Befehle ausführen konnten, hörten sie alle das Knurren. Sie hatten es schon früher gehört. In Schlachten oder während besonders abscheulicher Nachforschungen und einmal bei einer Party, als eine betrunkene Walküre der Anführerin der Crows einen Boxhieb versetzen wollte und stattdessen Jace Berisha getroffen hatte.

Es war ein Geräusch, das sie im Laufe der letzten paar Jahre alle zu fürchten gelernt hatten.

Und Bär hatte recht. Sie würde dieses Gebäude und jeden darin niederbrennen.

Der Russe trat einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen, als Jace sich langsam zu ihnen umdrehte. Blut quoll aus einer offenen Platzwunde an ihrer Stirn, und ihre Nase wirkte ein wenig … zerdrückt. Aber es waren ihre Augen: Sie hatten sich von einem hübschen Dunkelblau in ein ebenso dunkles Blutrot verwandelt. Ihre Krallen schossen aus den Fingerkuppen hervor und bogen sich an den Spitzen, und ihre Flügel explodierten aus ihrem Rücken.

Die Menschen wichen zurück; einige versuchten wegzurennen.

»Scheiße, was bist du?«, schrie der massige Russe.

Sie würden niemals eine Antwort von Jace bekommen. Nicht wenn sie in dieser Verfassung war. Sie konnte sprechen. Aber sie beantwortete keine Fragen. Im Moment war sie in irgendeiner Wutspirale gefangen, die der Zusammenstoß mit der Wand ausgelöst hatte.

Jace fixierte den Russen, packte ihn an seinem maßgeschneiderten Jackett und riss ihn zu sich heran. Sie begann tatsächlich mit ihm zu reden, aber Ski vermutete, dass sie Russisch sprach.

Und obwohl er nicht wirklich verstand, was Jace sagte, wusste Ski, dass es nichts Gutes war. Bei den Worten, die sie aus ihrer Kehle presste, erbleichte das Gesicht ihres Opfers, und die Augen des Mannes weiteten sich in verzweifelter Angst.

Er versuchte, sich von ihr zu befreien, aber sie ließ nicht los. Stattdessen packte sie ihn fester und schlang ihm auch noch ihre Beine um die Taille. Und immer noch quollen diese russischen Worte aus ihr heraus. Ihre Stimme wurde lauter und lauter und immer rauer und roher. Ihr Gesicht war jetzt rot vor Zorn, ihre Muskeln angespannt, und die Adern in ihrem Hals und an ihren Armen pochten und pulsierten.

Dann begann es. Das Schreien. Das götterverdammte Schreien.

Jace ließ das Jackett des Russen los und schlug ihm ihre Krallen ins Gesicht, grub sie ihm ins Fleisch und hielt ihn fest. Dann packte sie immer noch schreiend mit den Zähnen seine Nase und … biss sie ab.

»Jesus im Himmel!«, bellte Borgsten und vergaß seine eigenen Götter, während sie beobachteten, wie Jace die Nase des Russen ausspuckte, damit sie sich die Adern in seinem Hals vornehmen konnte … während sie immer noch schrie.

In dem Moment versuchte das neue Mädchen, Kera – die es wahrscheinlich immer noch nicht besser wusste –, Jace von ihrem Opfer wegzuziehen. Jace hielt das Gesicht des Russen mit den Krallen fest, rammte ihrer Freundin einen Ellbogen in die Seite, während Kera sich verzweifelt bemühte, sie zum Loslassen zu bewegen.

Endlich griff Erin Amsel ein, die Skis Brüder als die »fiese kleine Rothaarige« bezeichneten. Gemeinsam gelang es ihnen, Jace wegzuziehen, dann hielt Kera die Berserkerin fest, während Jace wie ein wildes Tier keuchte und zwischen zusammengebissenen Zähnen ihren blutgesättigten Atem ausstieß.

Skuld hatte diese stille, hochgewachsene, hübsche Frau mit dem langen, lockigen braunen Haar, den tief liegenden blauen Augen und den kantigen Wangenknochen in eine wahre Berserkerin verwandelt. Es hatte nie irgendwelche Berserker in Skis Blutlinie gegeben, aber er hatte bei Familienzusammenkünften Geschichten über sie gehört. Vor allem wenn sie nach Island gereist waren, um die Familie seiner Mutter zu besuchen, oder nach Schweden zur Familie seines Vaters.

Ski fragte sich, wie das wohl sein mochte. Absolut keine Kontrolle zu haben. Seinem Zorn zu erlauben, über seine Impulse zu herrschen.

Neugierig und geduldig beobachtete Ski, wie Tessa auf den Russen hinabschaute. Der größte Teil der Nase des Mannes war abgebissen worden, und sein Gesicht war von Jace’ Krallen zerfetzt. Aber er war nicht tot. Er schrie und fluchte. Sowohl auf Russisch als auch auf Englisch.

Nach einigen Sekunden hob Tessa den Blick und sah, dass alle Russen die Waffen auf ihr Team gerichtet hatten. Einer zielte mit seiner Pistole direkt auf ihre Stirn. Während Tessa dem Mann in die Augen starrte, entfaltete sie langsam ihre Flügel. Sie erschienen aus ihrem Rücken, groß, schwarz und glänzend, und spannten sich fast anderthalb Meter weit.

Erschrocken traten die Männer zurück und sahen einander an. Um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht den Verstand verloren. Sie begriffen es nicht. Sie würden es niemals begreifen.

»Also«, fragte Tessa die Männer leise, »was werdet ihr tun?«

In dem Moment fing die Schießerei an. Bär stürzte sich sofort kopfüber auf die Kisten, die sie hervorgeholt hatten und schrie: »Beschützt die Bücher!«

Ski lachte, während einige Schüsse an ihm und den anderen vorbeizischten, aber die Russen zielten nicht auf ihn oder seine Brüder. Oder die verdammten Bücher.

Sie feuerten gute zwei Minuten lang mit semi- und nicht so semiautomatischen Waffen, bis die Männer innehielten und Rauch aus den Gewehrläufen aufstieg.

Sie sahen sich um, bis ihr Blick auf Ski zu ruhen kam. Er lächelte, winkte, deutete dann auf die andere Seite des Raums und sagte: »Hinter euch.«

Sie wirbelten herum, schockiert, die Crows hinter sich stehen zu sehen, unversehrt und scheinbar unbekümmert.

Dann ließ Kera Watson grinsend die immer noch blutschäumende Jace auf den Boden fallen. Sie landete in der Hocke, den Kopf gesenkt, aber sie hob den Blick, um ihre Beute anzupeilen. Und mit einem Schrei, der es mit jeder einstigen Wikingerin hätte aufnehmen können, stürmte sie auf sie zu.

Einige konnten noch Schüsse abfeuern, aber sie wich den Kugeln aus – nicht durch Geschicklichkeit, sondern aus einem puren, auf Adrenalin basierenden, animalischen Instinkt heraus – und fiel über den ersten Mann her, der ihr in die Quere kam, riss ihn zu Boden, während sie ihm mit den Krallen die Eingeweide bis zum Zwerchfell zerfetzte und ihm das Herz herausriss.

Entsetzt gafften einige der Männer sie an, während andere einfach ihre Waffen fallen ließen und verzweifelt zu fliehen versuchten.

Aber Annalisa Dinapoli war zur Stelle, um die Tür mit einer schwungvollen Handbewegung zuzuschlagen.

»Tötet sie alle«, befahl Tessa gelassen.

Bär tippte Ski auf die Schulter. »Bücher«, rief er Ski ins Gedächtnis. Der große Mann war jetzt ruhiger. Wahrscheinlich auch etwas peinlich berührt. Aber sie hatten Ormi, dem Anführer der südkalifornischen Protectors, versprochen, diese Bücher zu bergen und sie in ihre Bibliothek zurückzubringen. Wie diese Russen derart wichtige Artefakte in die Hände bekommen hatten, wusste Ski nicht. Und es kümmerte ihn auch nicht. Ormi hatte versucht, mit ihnen zu verhandeln, aber die Russen hatten Spielchen gespielt, und im Gegensatz zu den Crows hatte Ormi keine Geduld für solche Dinge.

Also hatte er Bär und sein Team ausgeschickt, die Bücher zu holen, und Ski befohlen, sie zu begleiten.

Ski war sein Stellvertreter. Ormi unterstand direkt ihrem Gott Tyr persönlich. Ski unterstand Ormi, und alle anderen unterstanden Ski. Er war mitgekommen, um dafür Sorge zu tragen, dass die Bücher in Sicherheit gebracht wurden, aber Bär verhielt sich wegen der Bücher und ihrer Pflege zwangsneurotischer, als Ski es sich hätte träumen lassen.

Ormi, der ebenfalls von dem goldenen Armreif wusste, den die Russen in ihrem Besitz hatten, hatte sich Sorgen gemacht, dass so etwas geschehen könnte. Dass die Crows kommen und die Bücher in dem darauf folgenden Gemetzel für immer verloren sein würden. Also hatte Ormi versucht, die Bücher an sich zu bringen, bevor die Crows wegen des Armbands kamen. Ein goldener Reif, der mit so viel Magie geladen war, dass er den halben Kontinent zerstören konnte. Natürlich nur, wenn jemand wusste, was er tat. Glücklicherweise hatten die Russen keine Ahnung, was sich wirklich in ihrem Besitz befand, aber die Nachricht hatte sich unter denen verbreitet, die sich damit auskannten. Den Crows war nichts anderes übrig geblieben, als das dumme Ding in Sicherheit zu bringen.

Ski würde niemals verstehen, warum die Götter darauf beharrten, Waffen und Schmuck mit magischen Kräften zu versehen und dann besagte Gegenstände zu verlieren. Ehrlich, wie viele Male hatte Thor diesen idiotischen Hammer verloren? Wie viele Male war Freyas lächerliche Halskette verschwunden? Wie oft waren Iduns verdammte Äpfel gestohlen worden?

Und dann blieb es an einem der Clans hängen, loszuziehen und diese verschwundenen Gegenstände von den Menschen zurückzuholen … nur damit die verdammten Dinger am Ende ein paar Monate oder Jahre später erneut verloren gingen oder gestohlen wurden.

Machten die Götter das mit Absicht? Er traute es ihnen zu. Angeblich konnte Unsterblichkeit langweilig werden.

Ski trat beiseite, als ein Arm an ihm vorbeiflog. Ein Arm. Warum war dieser Arm überhaupt vom Körper abgetrennt worden? Warum war das notwendig? Sicher, der Arm hielt eine Pistole, aber Ski fand es trotzdem übertrieben.

Andererseits waren die Crows dafür bekannt, in vielerlei Hinsicht zu übertreiben.

Zum Glück waren Odins Ravens nicht auch noch anwesend. Dumme Hornochsen ohne jedes Gefühl für Zurückhaltung, hätten sie die Russen schon längst getötet und den ganzen Club zerlegt, bis sie bekommen hätten, was sie wollten.

Aber die Crows … wenigstens hatten sie versucht, den Ball flach zu halten. Es war nicht ihre Schuld, dass die Russen nicht auf ihre Instinkte gehört hatten. Diese Instinkte mussten ihnen doch irgendetwas gesagt haben.

Apropos … der stämmige Russe tat sein Bestes, wegzukriechen, während seine Männer ringsum fielen. Aber Jace hatte ihn nicht vergessen. Sie würde ihn niemals vergessen.

Sie bekam seinen Knöchel zu fassen und zerrte ihn zurück, warf ihn auf den Rücken und ignorierte, was jetzt stark nach Betteln auf Russisch klang. Sie setzte sich rittlings auf die Hüften des Mannes.

Bevor er noch mehr sehen konnte, wandte Ski sich ab. Er hatte bereits gesehen, wozu Jace Berisha fähig war, wenn sie durchdrehte; er brauchte es sich nicht noch einmal anzusehen. Doch Sekunden nachdem er einen Schritt getan hatte, um den anderen bei den Büchern zu helfen, wurde er nach vorn gerissen und spürte einen brennenden Schmerz in seiner linken Schulter.

Gundo und Borgsten – zwei der Brüder, die er auch Freunde nannte – beugten sich vor, um die Lage zu sondieren. Blut quoll aus der Wunde, und die drei Männer drehten sich um und starrten auf den, der auf ihn geschossen hatte. Der Russe gab einen leisen, erstickten Laut von sich, und sie legten die Köpfe schief, wie Eulen es vielleicht getan hätten, um ein Geräusch besser hören zu können, aber diese Bewegung schien den Mann noch mehr zu ängstigen, und er brüllte seinen Kameraden etwas auf Russisch zu. Mehrere von ihnen kamen mit gezückten Waffen angelaufen.

Gundo drehte den Kopf um 180 Grad, bis seine Nase auf einer Linie mit seinem Rückgrat war, und rief nach dem Anführer seines Teams. »Bär?«

»Ja, ja«, erwiderte Bär, nur halb interessiert, während der Rest des Teams die Bücher sorgfältig in die Holzkisten packte und sie durch den Hinterausgang trug. »Aber beeil dich.«

Als Gundo den Kopf wieder herumriss, schrien der Mann und seine Kameraden panisch auf und eröffneten das Feuer …

 

Der Russe hörte auf, sich zu bewegen. Sie schlug noch einige weitere Male zu. Sie musste sicher sein, dass er tot war.

Er musste tot sein. Sie hätte ihren Job nicht richtig gemacht, wenn er nicht tot wäre.

Er bewegte sich nicht, also richtete sie sich auf. Sie hockte immer noch auf seinem Bauch, aber er atmete nicht mehr.

Gut. Gut. Ja. Gut.

Sie spürte jemanden hinter sich und fuhr zur Seite. Kugeln jagten vorbei. Weitere Schüsse folgten, und sie warf sich in die andere Richtung.

Sie schaute sich um, um denjenigen anzuvisieren, der versucht hatte, sie zu töten. Das Blut des toten Russen floss ihr noch übers Kinn.

Sie konnte es nicht fassen, dass jemand auf sie geschossen hatte. Auf sie! Neuerlicher Zorn durchströmte sie, und sie stand auf.

Sie ließ die Hände sinken und fuhr abermals ihre blutgetränkten Krallen aus, beobachtete mit großer Befriedigung die abgrundtiefe Angst in den Augen des Mannes.

Nichts machte ihr größere Freude, als die Angst in den Augen ihres Feindes zu sehen. Sie liebte es. Sie liebte es so sehr, dass …

Mit schmalen Augen und erneut aufbauender Wut beobachtete sie, wie der Mann eines anderen Clans lautlos hinter ihre Beute trat. Seine Hand schoss hervor, und er packte den Mann um die Kehle, genau wie eine Eule ihre Beute mit ihren mächtigen Krallen packen würde.

Er drehte die Hände, und das Genick knackte; Knochen brachen wie Kleinholz. Es sah so leicht aus, aber die stumpfen Finger des Protectors waren ebenso mächtig wie jede scharfe Klinge. Oder wie irgendein Schlegel oder Hammer.

Was dachte sich dieser Mann dabei, das zu tun? Das war ihre Beute gewesen. Ihre und nur ihre!

Und dieser … Mann dachte, er könne sie ihr einfach wegnehmen?

Mit immer noch ausgefahrenen Krallen stürzte sie sich auf ihn. Selbst als sie die Stimmen ihrer Crow-Schwestern hörte, die sie anflehten und »Nein, Jace! Nein!« schrien, hielt sie nicht inne. Griff ihn an, um sich zu rächen!

 

Sie rammte ihn wie ein Linebacker und schaffte es, Ski umzureißen. Er konnte die Macht hinter diesem Aufprall kaum fassen. Aber als sie auf dem Boden landeten, hob er die Beine, stemmte sie gegen ihre Hüften und warf sie nach oben und über seinen Kopf.

Er drehte sich im selben Moment wie Jace auf den Bauch. Sie sahen einander an und rappelten sich beide auf Hände und Knie hoch. Jace knurrte. Ski lächelte. Er konnte nicht anders. Sie war so süß, wenn sie mit dem Blut ihrer gemeinsamen Feinde getränkt war. Aber sein Lächeln schien sie nur noch wütender zu machen.

Sie kam auf ihn zu, aber ein großer Fuß landete auf ihrem Rücken, stieß sie zu Boden und hielt sie dort fest. Schreiend versuchte sie, sich zu befreien, aber Bär hielt sie mit der Kraft seines Beins gefangen und funkelte Ski an.

»Hast du jetzt genug Quatsch gemacht?«, fragte Bär ihn.

»Ich wusste nicht, dass ich Quatsch gemacht habe.«

Nachdem sie das letzte ihrer Opfer erledigt hatten, drehten die anderen Crows sich abrupt in die Richtung, aus der Jace’ Zornesschreie kamen. Sie schauten auf ihre Freundin herunter, dann hoben sie den Blick zu Bär.

Und dann gingen sie auf ihn los.

Nicht um zu kämpfen. Im Gegensatz zu der noch immer tobenden Jace hatten sie ihre Blutgier an den menschlichen Männern gestillt, die sie getötet hatten.

Nein. Sie näherten sich Bär, um ihn anzubrüllen. Alle gleichzeitig. Wie ein Haufen kreischender Vögel mit gesträubtem Gefieder und ausgestreckten Krallen.

Ski verstand nicht einmal, was sie sagten. Es war einfach eine Kakophonie weiblichen Gekreischs. »Ruhe!«, bellte Bär, hielt sich die empfindlichen Ohren zu, die Tyr ihm gegeben hatte, und brachte die Frauen für einen sehr kurzen Moment zum Schweigen.

»Ruhe?«, blaffte Tessa. Dann fingen sie alle wieder an zu schreien. Brüllten ihn an. Bedachten Bär mit allen möglichen Schimpfworten. Alessandra schrie den armen Mann auf Spanisch an. Leigh auf Japanisch. Maeve auf Hochchinesisch, was irgendwie faszinierend war, da ihre ganze Familie aus Indien stammte.

Ski rappelte sich hoch, äußerst amüsiert von alledem.

Aufgrund eines sehr alten Friedensabkommens zwischen ihren Clans wusste Ski, dass die Crows Bär nicht physisch angreifen würden, es sei denn, er kam ihnen zuvor. Und er würde niemals als Erster zuschlagen, wenn kostbare Bücher in Gefahr waren.

Denn wenn die Crows auch nur für eine Sekunde dächten, dass diese Bücher den Protectors wichtig waren, würde es ihnen das größte Vergnügen bereiten, mit ihren Krallen jedes einzelne zu zerfetzen, während der arme Bär den Verlust beweinte.

Zwar gab es einiges Gedrängel vonseiten der Crows, aber Bär war einen Meter dreiundneunzig groß und ungefähr dreihundert Pfund schwer, daher richtete ihr Gedrängel nicht viel aus.

Aber das Gebrüll … der arme Kerl konnte das ganze Gebrüll nicht aushalten.

All diese Crows, die den armen Bär gleichzeitig ankreischten …

Mit immer noch zugehaltenen Ohren brüllte Bär los, und die Crows rückten sofort etwas nach hinten, ihre Kampfklingen fest umklammert, bereit zum Angriff. Obwohl Ski nie verstand, wofür sie noch Kampfklingen brauchten, wenn ihre Krallen doch genauso viel Schaden anrichteten. Er fand sie überflüssig.

Da alle gerade still geworden waren, begriff Ski, dass nun der beste Zeitpunkt war, um aktiv zu werden. Er hockte sich hin, fasste Jace sanft ans Kinn und hob ihren Kopf an. Die Frau schnarchte mit geschlossenen Augen und offen stehendem Mund.

Ihr war einfach der Zorn ausgegangen, und das hatte immer zur Folge, dass eins von zwei Dingen eintrat: Schluchzen oder Schlafen.

Er war froh, dass es Schlafen war. Er hätte es gehasst, sie wieder weinen zu sehen. Als er es das letzte Mal miterlebt hatte, hatte es ihm ein bisschen das Herz gebrochen.

»Heb den Fuß, Bär«, befahl Ski.

»Aber …«

»Tu es einfach.«

Er hatte keine Wahl – Ski stand im Rang über ihm. Bär hob den gewaltigen Fuß, und Ski zog Jace vorsichtig heraus und hoch, bis er sie fest in den Armen hielt. Sie kuschelte sich an ihn, und ihr blutverschmiertes Kinn ruhte an seinem Hals und färbte die Vorderseite seines ärmellosen, weißen Kapuzenshirts in einem sehr dunklen Rot.

Ski rappelte sich hoch und trug Jace zu Kera Watson hinüber. Sie war körperlich die Stärkste der Crows – ein zusätzlicher Segen von Skuld, genau wie Jace’ apokalyptischer Zorn und Erin Amsels Macht über Feuer –, und sie nahm ihm die Frau mühelos ab und legte sich ihre Freundin über die Schulter.

Danke, formte sie mit den Lippen und sah ihn an. Er hatte herausgefunden, dass Kämpfen das Letzte war, was Kera Watson je wollte. Und er wusste das zu schätzen. Es machte alles viel leichter.

»Die Bücher sind verstaut«, verkündete Gundo von der Hintertür aus.

Ski nickte und tippte Bär auf den Arm. »Geh.«

»Ja, aber …«

»Bücher sind nicht sicher, bis sie in der Bibliothek sind«, rief er dem zwanghaften Bär schnell ins Gedächtnis.

Bär, der die Crows sofort vergaß, flitzte zur Tür hinaus, stieß Gundo beiseite und verschwand in der Dunkelheit.

Ski drehte sich wieder zu den Frauen um und tippte sich an einen nicht existenten Hut. »Ladies, wie immer … es war mir ein erstaunliches Vergnügen.«

 

»Du hast mich warten lassen.« Sie stand in Hels Halle, Eljudnir, vor dem Tisch der Göttin. »Wochenlang.«

»Na und?«, fragte Hel und schaute nicht einmal von ihrem Teller auf, der voller Speisen war, aber dennoch »Hunger« hieß. Das Messer in ihrer Hand hieß »Hungersnot«. Ihr luxuriöses Bett mit Fellen und Seidenlaken hieß »Krankenbett«.

»Ich lasse jeden warten. Weißt du, warum?«

Die Göttin warf sich ihr blondes Haar mit einer schnellen Kopfbewegung aus dem Gesicht. »Weil du es ka…«

»Weil ich es kann. Genau.« Hel lehnte sich auf ihrem Thron zurück, die Arme weit ausgebreitet.

Sie trug eine schwarze Rüstung, die sie vom Hals bis über den Torso bedeckte, die aber ihren Kopf, ihre Arme und ihre Beine freiließ. Das waren die Teile ihres Körpers, die normal erschienen.

Was war unter dieser Rüstung? Fäulnis.

Ein verfaulender Körper, der für alle Ewigkeit verfaulen würde. Oder bis Ragnarök kam.

»Also, was willst du, Wane?«, fragte Hel und steckte damit deutlich die Grenzen ab. Die Asen herrschten über diese Welt. Die Wanen taten es nicht. »Warum kommst du zu mir?«

»Du weißt, warum.«

»Weil du immer noch sauer auf deine Schwester bist?« Hel feixte. »Ich sehe, du trägst ihre Kette.«

»Gelegentlich. Wenn sie zu meinem Outfit passt. Aber sie gehört jetzt mir. Es wird alles mir gehören.«

»Und doch brauchst du meine Hilfe. Ja?«

»Willst du nicht, dass sie leiden? Sie haben dich dazu verurteilt, hierzubleiben. Sie haben …«

»Scht-scht-scht-scht«, sagte Hel und schwenkte ihr Messer. »Langweile mich bitte nicht mit Geschichten darüber, was meine Asenverwandten mir angetan haben. Es ist mir egal. Dies ist mein Reich, und es gefällt mir hier. Also, such dir ein anderes Thema, wenn du mein Interesse erregen willst.«

»Du bist Lokis Tochter. Betrachte es als eine weitere Möglichkeit, allen ans Bein zu pissen, was ja typisch für deine Familie zu sein scheint.«

»Wir langweilen uns tatsächlich oft. Muss an unserer gewaltigen Intelligenz liegen.«

»Wirst du mir helfen oder nicht?«

»Ich mag dich nicht. Aber ich verabscheue dich auch nicht. Für mich macht uns das beinahe zu Freunden.« Hel grinste die blonde Göttin in dem Hervé-Leger-Kleid an, an deren Hals, Handgelenken, Taille und Ohren Gold und Diamanten baumelten. »Und ich versuche immer, Freunden zu helfen.«

Kapitel 2

Ski schlief tief und fest. Wohlig. Glücklich. Aber das sollte nicht von Dauer sein. Er hörte Salka, seine Katze, fauchen, kurz bevor ihm jemand auf die Schulter tippte.

»Was?«, fragte er, ohne den Kopf vom Kissen zu heben oder die Augen zu öffnen. Seine Schulter schmerzte immer noch von der Schusswunde, die er in der Nacht zuvor davongetragen hatte. Aber die Kugel war entfernt worden, und er würde innerhalb von ein oder zwei Tagen vollkommen geheilt sein. Einer der vielen Vorzüge, wenn man von den Göttern gesegnet war. Aber die Holde Maid, die ihn behandelt hatte – Ormis unangenehme, aber überraschend liebenswürdige Ehefrau –, hatte ihm gesagt: »Sieh zu, dass du so viel Schlaf kriegst wie möglich. Falls diese großen Idioten dich lassen.«

Doch leider ließen ihn die großen Idioten nicht.

»Wir haben ein Problem«, eröffnete Bär ihm.

»Was für ein Problem?«

»Es geht um die Bücher, die wir gestern abgeholt haben.« Seufzend, und weil er begriff, dass Bär in absehbarer Zeit nicht weggehen würde, drehte Ski den Kopf, um den Mann anzusehen, aber am Ende musste er lachen.

»Du musst ihr das nicht erlauben, weißt du.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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