Caminocation - Dorina Vondersee - E-Book

Caminocation E-Book

Dorina Vondersee

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Beschreibung

Der Camino schreibt die schönsten Geschichten! Nachdem die Liebe ihres Lebens mit einer anderen Frau verheiratet worden ist, fällt Dorina in ein tiefes Loch. Um dort wieder herauszukommen, beschließt sie, den Camino Frances nach Santiago zu pilgern. Auf der Suche nach Heilung und sich selbst findet sie dort ganz besondere Menschen aus der ganzen Welt, die alle ihre eigenen Gründe haben, so eine Reise auf sich zu nehmen. Eine besondere Verbindung spürt sie zu Vida aus Litauen, mit der sie einen großen Teil des Weges wandert. Und sie lernt Peer kennen, einen Holländer, der sie vom ersten Moment an fasziniert. Bevor sie jedoch weiß, was sie für ihn empfindet, muss er schon wieder weiterziehen. Ein weiteres Mal wird Dorina damit konfrontiert, loszulassen und ihren eigenen Weg zu gehen. Allerdings hält der Camino noch weitere Überraschungen für sie bereit.

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CaminocationWie ich auf Umwegen mein Glück wiederfandDorina Vondersee

Dorina Vondersee ist Geschichtenerzählerin mit einer Leidenschaft für interkulturellen Austausch. Sie wurde 1995 in Norddeutschland an der Ostsee geboren. Nach ihrem Master of Education in Englisch, Latein und DaF an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel unterrichtete sie als enthusiastische Lehrerin schon in Deutschland, England und Tschechien. Seit 2020 lebt sie mit ihrem Ehemann in Prag. Abseits ihrer Bildungstätigkeit ist Dorina eine begeisterte Leserin, Schriftstellerin und Yogaliebhaberin, die gerne reist. Einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen hält der Camino de Santiago.

Nach einer wahren Begebenheit.

Die Namen der Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

IMPRESSUM 1. Auflage 2023 / Deutschland © 2023 Kopfreisen Verlag Sonnenstraße 116, 44139 Dortmund www.kopfreisen-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Autorin: Dorina VonderseeCaminocation – Wie ich auf Umwegen mein Glück wiederfand Lektorat: Romy Schneider www.kopfreisen-lektorat.de Umschlaggestaltung / E-Book-Formatierung: Stefanie Scheurich www.stefaniescheurich.de ISBN: 978-3-910248-08-3 Dieses Buch ist auch als Taschenbuch erhältlich (ISBN: 978-3-910248-07-6).

Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Tag:
Urlaub in Toulouse
2. Tag:
Wallfahrtsort Lourdes
3. Tag:
Der Atlantik und meine Haare
4. Tag:
Von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles (25 km)
5. Tag:
Von Roncesvalles nach Zabaldica (38,4 km)
6. Tag:
Von Zabaldica nach Muruzabal (27,5 km)
7. Tag:
Von Muruzabal nach Ayegui (27,4 km)
8. Tag:
Von Ayegui nach Torres del Rio (26,9 km)
9. Tag:
Von Torres del Rio nach Navarrete (34,1 km)
10. Tag:
Von Navarrete nach Cirueña (31,9 km)
11. Tag:
Von Cirueña nach Tosantos (34,3 km)
12. Tag:
Von Tosantos nach Cardañuela Riopico (32,4 km)
13. Tag:
Von Cardañuela Riopico nach Tardajos (24,4 km)
14. Tag:
Von Tardajos nach Castrojeriz (30,3 km)
15. Tag:
Von Castrojeriz nach Poblacion de Campos (29,7 km)
16. Tag:
Von Poblacion de Campos nach Calzadilla de la Cueza (33,3 km)
17. Tag:
Von Calzadilla de la Cueza nach Bercianos del Real Camino (33,9 km)
18. Tag:
Von Bercianos del Real Camino nach Leon (45,1 km)
19. Tag:
Von Leon nach Hospital de Órbigo (29,9 km)
20. Tag:
Von Hospital de Órbigo nach Santa Catalina de Somoza (26 km)
21. Tag:
Von Santa Catalina de Somoza nach Camponaraya (46,1 km)
22. Tag:
Von Camponaraya nach Trabadelo (23,6 km)
23. Tag:
Von Trabadelo nach Fonfría (30,5 km)
24. Tag:
Von Fonfría nach Barbadelo (32,6 km)
25. Tag:
Von Barbadelo nach Palas de Rei (39,4 km)
26. Tag:
Von Palas de Rei nach Santa Irene (42,9 km)
27. Tag:
Von Santa Irene nach Santiago de Compostela (23,5 km)
28. Tag:
Von Santiago de Compostela nach Vilaserio (33,5 km)
29. Tag:
Von Vilaserio nach Logoso (27,3 km)
30. Tag:
Von Logoso nach Fisterra (27,1 km)
31. – 33. Tag:
Zurück nach Santiago
Epilog
Danksagungen
Wissenswertes über den Camino Frances
Auch im Kopfreisen Verlag erschienen / Unsere Leseempfehlung
Gelegenheiten – Roman über den Mut seine Träume zu leben
Als Rangerin im Politik-Dschungel: Wie ich in der afrikanischen Wildnis die deutsche Politik verstehen lernte
20 Impulse, um deine Komfortzone zu verlassen – Journal für neue Perspektiven

Für meine geliebten Großeltern

Meine Jakobsmuschel an meinem Rucksack. #ENOUGH

Nach einer wahren Begebenheit. Die Namen der Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

Quelle: Caminoways.com

Gender-Disclaimer

Aus Gründen des besseren Leseflusses wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Prolog

Meine neuen Wanderstiefel in Größe 41. Vorfreude an! #SMILINGSHOES

»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall gehst du zu Fuß als junges, hübsches Mädchen mutterseelenallein achthundert Kilometer quer durch Spanien!«

Mit diesen Worten reagierten meine Eltern, als ich ihnen das erste Mal von meiner Idee erzählte, den Jakobsweg zu gehen. Doch wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ mich das einfach nicht mehr los. Und so war der Pilgerweg nach Santiago de Compostela bald mehr als nur eine Idee – er wurde mein Traum, meine Mission.

Meine Katharsis.

Eine schon zwei Jahre andauernde Depression hielt mich damals fest umklammert und ich brauchte dringend den berüchtigten Tapetenwechsel. Ich musste mich endlich befreien und weiterkommen im Leben. Zwar quälte ich mich jeden Tag zur Uni und funktionierte die meiste Zeit mehr oder weniger, doch tief in mir war ich todunglücklich.

Das Verhalten meiner Familie und Freunde in jener Zeit schwankte zwischen mitleidig, verständnisvoll, besorgt und wütend. Ich wusste, dass sie mir helfen wollten und es doch nicht konnten. Denn ich fühlte mich trotz all der Liebe um mich herum allein und hasste mich dafür. Es gab zu viele Tage und Nächte, in denen ich nur verschwinden wollte. Nicht weglaufen, sondern aufhören zu existieren. Weil leben so unerträglich wehtat.

Und all das nur wegen einer verdammten Trennung. Ich war fast drei Jahre lang glücklich mit einem Mann zusammen gewesen, der am Ende mit einer anderen Frau verheiratet worden war. Das scheint im Westen der Welt des 21. Jahrhunderts absurd und unmöglich. Doch in Indien ist es noch immer Brauch, dass ab dem 25. Lebensjahr ein »Heiratswunsch« bzw. Heiratsangebot der Eltern ausgesprochen wird. Es gibt sogar Onlineplattformen, aus denen man sich geeignete Heiratskandidatinnen oder -kandidaten aussuchen kann. Als ich in die indische Studentenszene integriert wurde, erlebte ich solche gezwungenen Hochzeiten leider öfter. Dieser Albtraum wurde auch meine traurige Wirklichkeit, aus der ich nicht mehr herauskam. Denn ich hatte nie zuvor jemanden so sehr geliebt und gedacht, er würde ebenso für mich empfinden.

Sein Name ist Amit, wir haben uns an der Uni kennengelernt und es war Liebe auf den ersten Blick. Wir lebten und reisten zusammen durch Europa – wenn auch heimlich – und je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto stärker wurde unsere Verbindung. Ich hätte alles für ihn getan, wäre sogar nach Indien gezogen, wenn er mich gefragt hätte. Natürlich hätte ich mich auch gegen meine Familie gestellt und erwartete das Gleiche von ihm.

OMNIA VINCIT AMOR – die Liebe besiegt alles.

Das war meine tiefste Überzeugung, für die ich unentwegt kämpfte, auch als der Kampf schon verloren war.

Er hatte seine arrangierte Verlobung vor mir geheim gehalten und als sie durch Zufall rauskam, jegliche Gefühle für seine Zukünftige geleugnet. Ich glaubte ihm, weil ich es wollte und die ganz große Liebe brauchte. Warum weiß ich nicht. Vielleicht brauchte ich jemanden, der mich liebte, weil ich es selbst nicht konnte. Doch letztendlich machte es mich krank. An einem grauen Tag im Januar 2017 küssten wir uns zum letzten Mal an einer Bushaltestelle, bevor er nach Indien zu seiner Hochzeit aufbrach. Der Regen vermischte sich mit meinen Tränen. Ich starrte ihm hinterher und verstand die Welt nicht mehr. Warum passierten solche Ungerechtigkeiten? Warum ich? Warum er?

Und warum war es damit nicht vorbei? Warum rief er mich einen Tag nach den Feierlichkeiten an und machte alles nur noch schlimmer? Warum trafen wir uns danach noch als Freunde, die doch niemals Freunde sein konnten? Warum konnte ich nicht einfach aufhören, ihn zu sehen, um nicht mehr an die zerbrochene Liebe und den Kummer erinnert zu werden? Warum stritten wir uns dann immer noch? Warum tat er mir das an? Warum klammerte ich mich so sehr an den Schmerz? Ich hatte so viele Fragen und doch keine einzige Antwort.

Mein hartes Lateinstudium konnte mich davon nur bedingt ablenken und ich hatte das Gefühl, dass ich rausmusste aus der Stadt, die so voller Erinnerungen und Angst war. Zu pilgern schien ideal, um wortwörtlich wieder voranzukommen. Ich war noch nie zuvor allein gereist, doch ich glaubte an die heilende Kraft der Pilgerreisen und der Camino war meine letzte Hoffnung auf einen Ausweg. Mit diesem Argument und sehr viel Dickköpfigkeit setzte ich mich schließlich gegen den Widerstand meiner Eltern durch. Natürlich versprach ich, mich jeden Tag zu melden. Außerdem besaß ich den schwarzen Gürtel im Judo und eine Dose Pfefferspray.

Und so kam der Tag, an dem ich früh morgens aufstand, meinen Rucksack nahm und mit Justus durch das nächtliche Kiel zum Bus schlenderte, der uns zum Hamburger Flughafen bringen sollte. Justus war mein Mitbewohner im Studentenwohnheim und sehr guter Freund, der ganz und gar nicht zufällig zur gleichen Zeit den Camino ging. Ich hatte ihm vorher mehrmals klar machen müssen, dass ich alleine gehen wollte. Doch er ließ nicht locker. Ich wusste, dass er schon seit einiger Zeit in mich verliebt war. Und ich, ich fühlte einfach nichts. Stattdessen fragte ich mich, ob ich überhaupt jemals wieder Liebe für jemanden empfinden könnte.

Selbst als ich das Flugzeug bestieg, kam mir die gesamte Reise immer noch surreal und unwirklich vor. Dann hoben wir ab und ich ließ das graue Norddeutschland hinter mir. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was mich in den nächsten Wochen erwartete. Das war der beste Teil, denn ebendiese Ungewissheit versprach mir in meiner Situation Erleichterung. Es war der 27. August 2018.

1. Tag:

Urlaub in Toulouse

Die hübsche Basilika Saint-Sernin in Toulouse. #COOLCALMCOLLECTED

Mein Abenteuer sollte mit einem Urlaubstag in Toulouse beginnen, damit ich ohne Stress in Südfrankreich an der Grenze zu Spanien ankommen konnte. Außerdem war es die nächstgelegenste Stadt zum Startpunkt des französischen Caminos, zu der es einen praktischen Direktflug von Hamburg gab.

Nach meiner Ankunft ging ich zuerst in die falsche Richtung, weil meine mobilen Internetdaten nicht funktionierten. Bevor mein Camino überhaupt losging, hatte ich mich also schon verlaufen. Dementsprechend erreichte ich meine Airbnb-Unterkunft erst gegen zweiundzwanzig Uhr. Mein Host Cedric war sehr freundlich und wir waren uns sofort sympathisch. Sein Englisch mit einem starken französischen Akzent war süß, er liebte das Reisen und sah gut aus. Ein waschechter Franzose wie aus dem Buch.

Obwohl ich einen langen, anstrengenden Tag hinter mir hatte, konnte ich bis Mitternacht nicht einschlafen. Es war für mich ungewohnt, ganz allein zu reisen und allein in einem fremden Bett zu schlafen. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich alles dabeihatte oder was ich überhaupt brauchen würde, nur dass es ein großes Abenteuer werden würde, das spürte ich deutlich. Kleine Selbstzweifel meldeten trotzdem, wie unvorbereitet ich eigentlich war. Eine Mischung aus Naivität und Zeitmangel hatte bewirkt, dass ich ohne jegliche Wandererfahrung oder körperliches Training losgeflogen war. Natürlich fehlten in meiner Heimat auch die Berge dazu.

Cedric hatte in seinem Wohnzimmer ein Bild hängen, das er erst am Vortag selbst gemalt hatte. Darauf lief ein Mensch ins Licht und hinter ihm flatterte ein Schleier. Sofort fühlte ich mich diesem Gemälde verbunden, denn ein solches Erlebnis wollte ich.

Außerdem hatte ich mehrere Klebezettel mit »ici et maintenant« (hier und jetzt) in Cedrics Wohnung entdeckt und nahm mir vor, diese Einstellung auf dem Weg zu praktizieren. Aus Neugier hatte ich Cedric auf die Notizen angesprochen.

»Ach, die nehme ich schon gar nicht mehr wahr. Sie sind noch von meiner Ex-Freundin«, sagte er.

Über sie zu reden, machte ihn sichtlich traurig. C’est la vie. Vielleicht hätte er die Post-its abnehmen sollen, doch alles hat seine Zeit.

Am nächsten Tag wollte ich eigentlich ausschlafen, um ganz fit zu sein, doch aus Gewohnheit wachte ich früh auf. Ich aß ein Croissant und wartete dann auf Luis, einem anderen der hundert Mitbewohner in meinem norddeutschen Wohnheim. Luis schwärmte ebenfalls für mich und reiste deswegen für einen Tagesauflug nach Toulouse. Doch auch für ihn fühlte ich nicht mehr als Freundschaft.

Toulouse gefiel mir auf den ersten Blick. Man nennt es die pinke Stadt, weil die Steine in den Wänden rosa erscheinen, wenn die Sonne an einem Sommertag untergeht. Zuerst schauten wir uns den prächtigen Palace du Capitole an und spazierten durch einen Park in der Nähe.

Ich genoss es, weil ich mit Luis ich selbst sein konnte. Auch in unserer Studentenstadt verbrachten wir sehr viel Zeit zusammen. Wir hatten viel gemeinsam und mochten uns grundsätzlich. Doch als er im Park plötzlich meine Hand nahm, nachdem sich unsere Hände beim Gehen ganz natürlich berührt hatten, empfand ich das als unangenehm und wehrte seine weiteren Versuche wie immer spielerisch ab. Er war so rücksichtsvoll, auf den nächsten Schritt von mir zu warten. Aber ich wollte das aus Tausend Gründen nicht, vor allem, weil ich seine Gefühle nicht erwiderte. Vielleicht wehrte sich mein Innerstes, wollte keine neuen Gefühle, keine neue Liebe zulassen. Denn ich hatte gelernt, dass Liebe Schmerz bedeutete.

Wir schlenderten weiter in die Kathedrale Saint-Etienne, die mir ziemlich baufällig vorkam. Die Basilika Saint-Sernin de Toulouse war dafür umso schöner und ich konnte in Ruhe beten. Zwischen den beiden Kirchen trafen wir überraschend Justus, begrüßten uns aber nur kurz. Die Welt ist ein Dorf.

Luis und ich gingen noch über die Pont Neuf, saßen an der Garonne und aßen eine leckere Pizza.

»Das sollten wir öfter machen!«, sagte er.

»Was? Pizza essen? Ich bin dabei«, sagte ich und grinste ihn an.

»Und reisen«, stellte er klar. »Leider erlauben mir meine Eltern eigentlich nicht zu fliegen. Sie haben irgendwelche irrationalen Ängste. Deswegen wissen sie auch nicht, dass ich hier bin.«

Erstaunt schaute ich ihn an. »Wirklich? Ich schätze es sehr, dass du trotzdem gekommen bist. Und, ich kenne deine Eltern nicht, nur in meiner Familie ist es so, dass sie auch nicht alles mögen, was ich mache, aber ich informiere sie. Meist ist es dann doch in Ordnung, weil sie sehen, wie glücklich ich bin. Sowieso könnte ich so etwas nicht für mich behalten.« Hoffentlich passiert ihm nichts, dachte ich noch.

Abends wollte ich noch etwas Wegproviant einkaufen und Zeit für mich haben, auch wenn Luis das nicht verstehen wollte. Zum Abschied schenkte er mir zwei Rosen. Das war lieb von ihm, jedoch unpraktisch, auf meiner Reise zu transportieren, also zupfte ich nur ein Blatt ab, um es in mein Tagebuch zu kleben, und erfreute Cedric mit den Rosen. Sie passten gut in sein Wohnzimmer. Wir sollten mehr Rosen verschenken!

Nach dem Duschen unterhielt ich mich noch lange mit Cedric über das Leben, Reisen und Freiheit. Wäre ich nicht allein gereist, hätte ich mich wahrscheinlich nicht zu ihm gesetzt und folglich unser inspirierendes Gespräch verpasst.

»Weißt du«, sagte er, »es ist für mich am wichtigsten, mit sich selbst im Reinen zu leben, vor allem frei von emotionalen Abhängigkeiten zu sein.«

Das fand ich interessant und hakte direkt nach. »Aber sind es nicht gerade Emotionen, die unser Leben lebenswert machen?«

»Nein«, erwiderte er freundlich, aber bestimmt, »jede Art von Abhängigkeit ist schlecht.«

Das leuchtete ein. Nur fehlte mir meist genau jene Balance. »Und wie macht man das?«, fragte ich.

Auch darauf hatte er eine Antwort. »Manchmal machen wir es uns schwerer, als es ist. Wie ändert man die Welt? Fang bei dir an, geh einen Camino oder was auch immer du gerade brauchst. Dann wird deine Umgebung sich automatisch verändern.«

Ich fragte mich, ob es wirklich so einfach wäre. Es stimmte jedenfalls, dass ich nur mich ändern konnte. Vielleicht war das schon genug. Authentisch und ehrlich zu sein. Die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen, war der Grund, weshalb ich Lehrerin werden wollte. Und Freiheit fing meiner Meinung nach im Denken an. Daran musste ich bei mir noch arbeiten und verstehen, dass ich das Glück in meinem Leben selbst bestimmen konnte.

An diesem Abend lag ich wieder lange wach und fühlte eine Mischung aus Aufregung, Nervosität und Anspannung, als ich daran dachte, dass der Beginn meines Caminos immer näher rückte.

2. Tag:

Wallfahrtsort Lourdes

Die Rosenkranz-Basilika und die drei Türme der Oberen Basilika in Lourdes. #LETITGO

Als zeremoniellen Beginn meiner Pilgerreise hatte ich einen Zwischenstopp in Lourdes gewählt. Mein Tag dort war eine der besten Erfahrungen auf meinem ganzen Weg. Dieses Ziel war nicht mehr als Urlaub gedacht, sondern ich wollte unbedingt zur katholischen Marienwallfahrtsstätte, die Grotte von Massabielle, wo Maria erschienen sein soll. Für mich stand mein ganzer Weg im Zeichen meines Glaubens und dieser heilige Ort sollte mir die Kraft geben, dass ich meinen Pilgerweg schaffte.

Auf der zweistündigen Zugfahrt von Toulouse nach Lourdes tauchten plötzlich für mich ganz unerwartet die Pyrenäen im Hintergrund der Landschaft auf. Da ich im flachen Norddeutschland lebte, erschienen mir die ungewohnten Bergzüge noch größer und imposanter. Dort sollte ich bald raufwandern. Neugierig beobachtete ich auch das Wetter, der Himmel war bedeckt und die Wolken hingen tief über den steilen Berghängen. Die Szenerie passte zu meiner nachdenklichen Stimmung, denn ich hatte angefangen, alte Nachrichten auf meinem Handy zu lesen und einzeln zu löschen. Das Löschen war wie eine schmerzhafte Erinnerungsschlacht und gleichzeitige Aufarbeitung. Ich wusste, dass meine Vergangenheit immer ein Teil von mir sein würde. Sie definierte bewusst und unbewusst mein Verhalten, mein Selbstwertgefühl und meine Wahrnehmung der Welt um mich herum. Es war mir deswegen wichtig, diese negativen Erinnerungen zu akzeptieren und im Löschprozess loszulassen, sodass sie ihre Macht über mich verloren.

Um halb elf vormittags kam ich in Lourdes an. Meine Airbnb-Unterkunft war das Gegenteil von Cedrics Wohnung: leider etwas vermüllt und heruntergekommen. Will, mein Host, ein gesprächiger Mann mit afrikanischem Familienhintergrund, machte das durch seine Herzlichkeit wieder wett. Aber eine Nacht reichte mir dort auf jeden Fall. Mein Zimmer teilte ich mit einer Frau, die entweder schlief oder schwieg. Das irritierte mich anfangs etwas, allerdings war ich auch nicht gekommen, um Freunde zu finden oder in Luxusunterkünften zu wohnen.

Am Nachmittag zog ich los, um die heiligen Stätten zu erkunden, ein riesiges Gelände, das sich über zweiundfünfzig Hektar erstreckt. Will hatte schon recht damit, dass der Wallfahrtsort zuerst an Disneyland erinnert: zu viele Souvenirshops, Restaurants, Hotels – zu viel Kitsch. Das war dann aber im sogenannten »Heiligen Bezirk« vorbei.

Mein erstes Herzensanliegen war es, zur Beichte zu gehen. Schon als ich dort auf dem Gang saß, um mich vorzubereiten, kamen mir die Tränen. Ich dachte, dass das Erinnern nach der langen Zeit doch eigentlich nicht mehr so schlimm sein sollte. Doch meine Gefühle und meine Geschichte in Gottes Hand zu legen, fiel mir trotzdem schwer. Dann war ich an der Reihe. Mein Beicht-Pater saß mir mit seinem leichten Buckel gegenüber, während seine runzligen Hände ruhig auf dem Tisch zwischen uns gefaltet waren. Er sprach ziemlich langsam auf Deutsch und ermunterte mich, mir Zeit zu lassen und alles rauszulassen. Ich weinte vom ersten Satz an. Bald noch heftiger. Ganz ehrlich formulierte ich, was in meinem Inneren so wehtat. Der Pater schaute mich ruhig an und hörte geduldig zu, ohne mich zu unterbrechen.

Das Besprochene in der Beichte soll geheim bleiben. Außerdem wusste ich bereits direkt danach nicht mehr, was genau ich gesagt hatte. Doch ganz ohne Rat verließ ich das Zimmer nicht: Ich hatte verstanden, dass der Heilungsprozess auch ein Weg war. Ein Weg, den ich gehen musste, anstatt in meinem Kummer sitzen zu bleiben. Der Pater schlug vor, dass ich meine Geschichte aufschrieb, egal wie weh es tat, und dann wortwörtlich an Gott abgeben könnte. Er sprach mich von meinen Sünden los und segnete mich auf meinem Weg. Danach war ich erschöpft, überwältigt und tausendfach erleichtert. Es war schwer, das Gefühl überhaupt in Worte zu fassen. Ein Teil davon war ein sehr tiefer Frieden. Ich spürte, dass das der Neustart war, den mein innerer Kompass zum Kalibrieren gebraucht hatte.

Erst nach einer längeren Atempause erkundete ich den Rest der Wallfahrtsanlage. Es gab eine Rosenkranzbasilika, eine Krypta und die Basilika der unbefleckten Empfängnis. Alles war schön an einem Berg gelegen und so weitläufig, dass sich die 25.000 täglichen Besucher gut verteilten. Es herrschte eine einzigartige und ergreifende Atmosphäre. So viele verschiedene Menschen, die alle an einem einzigen Ort durch ihren Glauben verbunden waren.

Ich berührte gemäß der Tradition die Felswand der heiligen Grotte und natürlich trank ich auch das heilige Wasser und wusch mein Gesicht damit. Es soll besonders rein und reinigend sein. Ein weiterer toller Moment war der Gottesdienst unter freiem Himmel am späten Nachmittag. Ich schaute von einer Terrasse aus zu und wieder kamen mir die Tränen.

Sowieso bin ich ein emotionaler Mensch und hatte an diesem Nachmittag schon stundenlang geweint, sodass ich mir am Abend ein reichhaltiges Abendessen gönnte. Das gab mir wieder Kraft. Auf die Rückseite der Papier-Tischunterlage schrieb ich eine Kurzform meiner tragischen Liebesgeschichte und faltete sie zu einem Papierboot. Wenn die Zeit reif war, würde ich es verbrennen.

Um einundzwanzig Uhr fand auf dem Gelände der Wallfahrtsstätte eine Kerzenprozession statt. Noch nie hatte ich eine so lange Prozession gesehen, so viele Menschen, die daran teilnahmen. Ich kaufte mir ebenfalls eine Kerze und reihte mich mit ein. Wir zogen über den langen Vorplatz bis zur Christus-Statue am anderen Ende, die wir umrundeten, und schließlich die Serpentinen hinauf zur Basilika. Auch wenn ich vieles nicht verstand, weil alles mehrsprachig war, tat es gut, das Salve Regina so feierlich zu singen und dabei meine Kerze hochzuhalten. Ich betete das Ave-Maria als Einzige in Hörweite auf Deutsch, so wie jede und jeder immer wieder in ihrer und seiner eigenen Sprache. Die Geräuschkulisse, die sich dadurch ergab, war einfach unbeschreiblich.

Etwas unheimlich war der Rückweg im Dunkeln zu meiner Unterkunft, aber ein Hoch auf Google Maps, das mich ohne Umwege zurückbrachte. Vor dem Schlafengehen wollte ich noch duschen, allerdings gab es nur eiskaltes Wasser, weil irgendetwas kaputt war. Das war die kälteste Dusche, die ich je hatte, und ich hoffte, dass ich da nicht zu oft durchmusste.

Was für ein Tag. Bereits vor dem offiziellen Start des Weges an der französischen Grenze hatte ich viel erlebt und diese Lourdes-Erfahrung reichte, dass es mir besser ging als in den vergangenen drei Jahren zusammen. Ich fühlte mich wie eine richtige Pilgerin, war freudig gespannt, was noch auf mich wartete, und unendlich dankbar, diese Pilgererfahrung machen zu können. Vor allem aber auch dafür, alleine unterwegs zu sein. Gott war sowieso bei mir. Überall, wo ich hinging, war er schon da.

---ENDE DER LESEPROBE---