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Die Ruhe auf Friedas Camping-Stellplatz wird nachhaltig gestört, als der „Probecamper“ und Ortsvorsteher Eginbert Bilsner mit einem Zelthering im Kopf von Bönles Sprössling Korbinian tot aufgefunden wird. Als auch dem Hund des Ermordeten und der Bienenkünstlerin Bibibee Böses widerfährt, und Tizian, der beeinträchtigte Freund Korbinians, zum Sündenbock gemacht wird, überschlagen sich die Ereignisse im herbstlichen Ried. Nachdem Vorahnungen einer blinden Seherin grausame Realität werden, ermittelt Bönle mit seiner Motorrad-Gang auf eigene Faust.
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Seitenzahl: 324
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Michael Boenke
Camping mortale
Krimi aus der Provinz
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Laminor / shutterstock.com; alexander_dyachenk / shutterstock.com; Lutz Eberle
ISBN 978-3-8392-7728-7
Für Johannes, Judith und Gregor, die drei »Zahnis«
Wie der Riednebel Dinge versteckt, aber nicht ungeschehen macht
Samstag, 1. Oktober
Kein Windhauch störte die Dunkelheit, kein Geräusch erschreckte die Nacht. Alles war doppelt eingehüllt, in den Totenfrack der Finsternis und das wandelbare Leichentuch des Nebels. Mal lag er in dichten Bänken am Boden, mal hob er sich und verschwand auf geheimen Befehl hin. Kein herbstlicher Windhauch bewegte die fahlen, gelben Blätter der Birken, kein nächtlicher Atemzug der Natur schüttelte dürre, fast zitronengelbe Nadelsträußchen von der mächtigen Lärche. Das Ried bereitete sich allmählich auf die Winterruhe und den eisigen Frieden des Frostes vor. Die immergrünen übrigen Nadelbäume bildeten einen unsichtbaren, im nächtlichen Schutz der Dunkelheit kaum durchdringbaren Parcours flachwurzelnder, mächtiger Riesen. Dunkler konnte eine Nacht im Ried kaum sein. Neumond und unberechenbarer Nebel machten es zeitweise unmöglich, etwas zu erkennen. Konturen, vom Weiß umhüllt, waren erst wahrnehmbar, wenn man direkt vor ihnen stand, Geräusche wurden vom Nebel gedämpft.
Ein Irrlicht tastete sich durch die Schwaden, leuchtete zitternd Boden und sinnlos den Himmel ab. Die Taschenlampe hatte keine Chance, den Dunst gänzlich zu durchdringen. Mikroskopisch kleine Wassertröpfchen bewegten sich in trägem Tanze auf den suchenden Lichtstrahl zu, um sich dann wieder aufzulösen.
Der Lichtkegel bewegte sich pendelnd zur Lärche hin, dort neben dem mächtigen Baum musste das kleine Zelt neben dem exklusiven Wohnmobil stehen.
Die Gestalt löschte das Licht der Taschenlampe. Jetzt galt es ganz leise zu sein. Sie verließ sich kurzzeitig, auf allen vieren kriechend, auf ihren Tastsinn. Die Aufgabe war klar, da gab es nichts falsch zu verstehen. Die Strafe musste sein.
Sie ertastete die feuchte Außenhaut des Zeltes, suchte die Schnur, fand das kalte Metall, das im Boden steckte. Mit dem Hammer, der mit etlichen Camper-Utensilien unordentlich verstreut neben dem Zelt auf dem feuchten Boden lag, zog sie einen Hering. Mit einem samtigen Schleifgeräusch löste er sich problemlos aus dem feuchten Boden. Sie tastete das spitz zulaufende Camper-Utensil sorgfältig ab und war zufrieden. Es schien bestens geeignet, die Tat zufriedenstellend auszuführen. So auszuführen, wie es sein musste, wie es der Schwere der Schuld entsprach.
Fast geräuschlos bewegte sich die Gestalt ins offene Zelt, ein Fuß, der heraushing, zeugte von einem Schläfer. Die Gestalt hielt den Atem an. Eine Wolke von Wärme, Alkohol und anderen Übelgerüchen schlug ihr feucht ins Gesicht, als sie tiefer ins Zelt hineinkroch. Das schwere Schnaufen zeugte von einem tiefen, narkotischen Schlaf. Bald würde er nicht mehr schlafen!
Bald wäre er das Opfer! Sie setzte den Metallhering an und holte mit dem Hammer aus.
Oberschwäbian Biker-Summer vom Feinsten und eine Beinahe-Havarie mit einem Milchtransporter
Get your motor runnin’, head out on the highway, looking for adventure, in whatever comes our way … Mein Kopf hatte einen Ohrwurm, die Melodie hatte sich festgefressen. Die mächtige Zweizylinder-V-Maschine stampfte unter mir, die 240er Hinterradwalze setzte breite Akzente auf den Asphalt. Jeder kleine Dreh am Gasgriff zum Körper hin wurde mit einem dumpfen Grollen und einem drehmomentstarken, unbändigen Vorwärtsdrang belohnt. Der kleinste Dreh aus dem Handgelenk, weg vom Körper, wurde mit dem Abbremsen des schweren Eisens und einem dumpfen Böllern aus den kurzen Endrohren quittiert.
Vor mir das Donnern der wilden Gang, sechsmal American way of sound vom Feinsten. Als Präsident genoss ich das Privileg, an letzter Position zu fahren. Auf jedem schwarzledernen Rücken vor mir prangte die stolze, rot gestickte, im Halbkreis formatierte Aufschrift MIKEBOSS. Unter dem Halbkreis grinste ein heller Totenkopf mit einer schwarzen Augenklappe. Meine BOSSler.
Vom Höchsten Richtung Illmensee, die sanften Hügel Oberschwabens genießend, zeugte das Donnern der Maschinen hinein ins Tal von unserer Ausfahrt. Weg vom Gas, das Gefälle reichte aus, die schweren Maschinen grollend Richtung See rollen zu lassen. Erschreckte, papageienbunt gekleidete Radfahrer reihten sich widerwillig hintereinander auf. Frühe, einfältige Wanderer in Kniebundhosen und karierten Hemden, ausgestattet mit blauen Survival-Rucksäcken, in denen ein Schinkenwurstbrot und bei den Veganern eine Biogurke auf Vollkornbrot schaukelte, gekrönt mit albernen Hütchen, drehten sich erschreckt um, stolperten schutzsuchend in den Straßengraben, da sie befürchteten, von nahenden Traktoren überrollt zu werden.
Born to be wild … I like smoke and lightnin’, heavy metal thunder, racing with the wind, and the feeling that I’m under …
Hinein in das kühle Waldstück, das mit seiner Mischbepflanzung eine herbstliche Farbexplosion im gleißenden Schein der jungen Sonne bot. Grün, Gelb und Rot verschwendete Mutter Natur in allen Farbnuancen, um, noch in herbstlicher Milde, die kalte Jahreszeit anzukündigen.
Hinein in die kleine, an der Straße entlang gezogene Ortschaft mit den bunt bemalten Wasserhydranten. Weg vom Gas in der rechtwinkligen Linkskurve. Fehlzündungen machten die fleißige, Gärtchen bestellende Bevölkerung unmissverständlich darauf aufmerksam, dass die MIKEBOSSler Richtung Heimat nach Riedhagen zu ihrem Frühschoppen unterwegs waren. Einige der Erschreckten erkannten uns, winkten, andere schimpften. Dann glitzerte auch schon der See als gleißender Spiegel in der tief stehenden Morgensonne, abgeerntete Felder lagen friedlich neben der Straße.
Nur noch wenige Minuten, dann würde ich mit meiner Gang Weißwürste und das Bierchen bei Frieda als Abschluss unserer Ausfahrt genießen. Ja, das Leben, speziell das Biker-Leben war herrlich.
Yeah, darlin’ gonna make it happen, take the world in a love embrace, fire all of your guns at once, and explode into space …
Jähe Vollbremsung, das Hinterrad stempelte, die Maschine zickte. Wenige Zentimeter vor Blackys Hinterrad kam ich zum Stehen. Die letzte Position hatte nicht nur Vorteile. Ganz vorne stand Joe, er hatte angehalten, um am Ortsschild von Riedhagen Tizian über die Straße zu lassen, der auf einem Handwagen eine Milchkanne über die Straße zum Abholplatz manövrierte. Er trug sein kariertes Arbeitshemd, eine Breitcordhose, deren Hosenladen offen stand, und seine obligate, helle Fischermütze mit den bunten Stickern und den Wanderabzeichen.
Erster Gang, Kupplung, Gas, vorbei an Tizian Kümmerle, der uns grinsend mit der Linken zuwinkte. Ekstatisch reckte er seine Rechte in die Höhe und imitierte eine Gashand, dazu ahmte er laut kreischend den Ton eines aufheulenden Motors nach. Dann hüpfte er aufgeregt auf einem Bein rückwärts.
Der gute Service macht’s im Großen und Ganzen aus
Zufrieden betrachtete Frieda ihr Reich. Sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Kittelschürze mit dem feinen, blauen Blumenmuster spannte sich bedenklich über der Brust, als sie einen wohligen Seufzer der Zufriedenheit über die Tische der Gartenwirtschaft hinweg hinunter ins diesige Ried schickte. Bald würden sich letzte Nebelfetzen zu einem sonnigen Spätherbsttag auflösen. Ein paar Meter höher, über der hellen, dunstigen Grenze, herrschte schon früher Sonnenschein. Stolz blickte sie auf die tauglänzenden hellen Dächer der wenigen Wohnmobile, die eine Terrasse unterhalb der Gartenwirtschaft parkten. Ein paar Zelte hatten sich dazwischen geschmuggelt. Aber – man lebte ja in einer toleranten Gesellschaft.
Das war schon eine gute Idee gewesen, die Sache mit dem Womo-Stellplatz.
Friedas Riedstellplatz, ein Campertraum mit kulinarischem Service. So wurde der neue Stellplatz im Internet beworben. Sie suchen die Ruhe? Ein unverfälschtes Naturerlebnis? Sie wollen Ihr regionales Menü im Wohnmobil genießen? Dann sind Sie im Campertraum-Resort auf Friedas Riedstellplatz herzlich willkommen. Service wird bei uns GROß geschrieben! Lassen Sie Ihre Seele unter Bibern und Störchen baumeln.
Ein Teil des Services war Korbi, er lieferte Schwäbische, Südkurier, aber auch die BILD an die Mobile, ebenfalls war er für den Brötchenservice zuständig, um sein Taschengeld aufzubessern. Bald würde er mit seiner Tour beginnen. Frieda nickte stolz ins Ried hinunter. Korbi, ihr Enkel, war ihr Stolz und eine Hilfe.
Bald würden die MIKEBOSSler zum Frühschoppen nach ihrer allsamstäglichen Morninghasbroken-Tour einrücken. Die Weißwürste, ein Zugeständnis an das benachbarte Bayern, sutterten bei 70 Grad in aller Ruhe vor sich hin und warteten in ihrem heißen Bad auf die hungrige Gang. Dani, ihr Schwiegersohn und Chef der motorradbegeisterten Gruppe, hatte schon vor Jahren das Ritual der Morgenausfahrt – da sind einfach weniger Arschlöcher auf der Straße – eingeführt. Sie hörte aus der Ferne schon das dumpfe Grollen der hubraumstarken Motoren. In wenigen Minuten würden die hitzeknisternden Maschinen im gekiesten Hof stolz nebeneinander stehen. Frieda nickte noch einmal zufrieden ins Ried, schaute kritisch zu den Wohnmobilen, drehte sich in der fast menschenleeren Gartenwirtschaft des Goldenen Ochsen um die eigene Achse und winkte hinab ins Ried.
Cäci, ihre Tochter, war von ihrem Zuhause, das romantisch am Rande des Naturschutzgebietes lag, auf dem Weg zu ihrer Zweitarbeitsstelle als Juniorchefin des Goldenen Ochsen. Cäci winkte aus der Distanz zurück.
»Bekomme ich jetzt endlich mein Bier oder muss ich warten, bis die da hier ist?«
Alfons Bäuerle, ein regional bekannter Alkoholiker, war schon sehr früh von Wilhelmsdorf zu Fuß angereist und deutete mit zitternder Hand auf Cäci, die sich mit forschem Schritt ihrer Arbeitsstätte näherte.
Frieda duldete den bedauernswerten Stammgast, ging zum Tischchen, das etwas abseits stand.
»Brauchst du ein Aspirin zum Bier, Fone?«
»Mir wär ein schnelles Konterbier lieber.«
»Wie siehst du denn aus, bist du gestürzt?«
Frieda deutete auf die blutigen Hände von Alfons, auch auf der verschmutzten Jacke waren dunkle Flecken zu erkennen.
»Kann schon sein.«
»Hast du wieder die Abkürzung durchs Ried genommen?«, fragte Frieda besorgt und reichte Alfons den Putzlappen, mit dem sie den Tau von den Tischen gewischt hatte, damit er sich die schmutzigen Hände reinigen konnte. Alfons nickte, reinigte sich die Hände, fuhr sich mit dem Lappen oberflächlich über die Jacke des hellen Trainingsanzuges und über die Oberschenkel.
»Danke, Frieda.«
Aufgeregt winkte er zu Cäci. Doch bevor er ihr etwas zurufen konnte, rief es von der Tür zum Ausschank hin in Richtung des Ungeduldigen:
»Nur Geduld, Alfons, gleich hört das Zittern wieder auf.«
Ohne sich zum Problem-Stammgast hinzuwenden, begann Cäci ihren Arbeitstag und rief Frieda zu:
»Ist Korbi schon wach, hat er gut geschlafen?«
Frieda antwortete entrüstet:
»Natürlich, er schläft immer gut bei mir. Er wartet, bis die Brötchen geliefert werden, dann macht er seine Runde. Und wie hat Annamirl geschlafen?«
»Zweimal ist sie heute Nacht gekommen, das ist okay.«
»Hast du sie schon zu Hilde gebracht?«
»Nein, Mama, ich lasse sie allein im Haus, bis sie sich zu Tode geschrien hat oder verhungert ist.«
»Sei nicht so frech zu deiner alten Mutter, ich meine es doch nur gut! Wenn du mal in mein Alter kommst, wirst du merken, dass die Sorgen nicht weniger werden.«
»Ach, Mama …«
Cäci verschwand kopfschüttelnd in der dunklen Öffnung zum Schankraum. Die Altwirtin drehte sich von Alfons weg, fasste sich seufzend ins Kreuz und mahnte:
»Wenn ich stürz, dann ist’s wegen dem Alter, und du stürzt vom Saufen und bist noch so jung.«
Alfons, der mittlerweile die 50 überschritten hatte, schüttelte den Kopf, die langen, fettigen Haare tanzten in dunklen Strähnen um das bleiche Gesicht. Er klatschte mit beiden Händen auf den Tisch und goschte:
»Ich brauch keine Moralpredigt, ich brauch ein Bier und einen Schnaps.«
»Oh, Kerle, du säufst dich noch zu Tode. Aber des einen Leid, des anderen Freud.«
Sie hob die Rechte und rieb Zeigefinger gegen Daumen.
Cäci löste ihre Mutter am »Sozialtisch«, wie sie ihn nannten, ab, stellte ein Herrengedeck vor Alfons ab, der selig lächelte, als er den Klaren rasch ergriff.
»Das nenne ich Service.«
Der Kopf zuckte in den Nacken, das leere Schnapsgläschen knallte auf den Tisch, die Rechte ging zum Bierkrug. Nur wenige Augenblicke und die Halbe war nur noch ein Viertel. Mit dem Handrücken fuhr er über den ungepflegten Bart, in dem sich der Schaum in weißen Bläschen gesammelt hatte. Ein Rülpser, ein wohliges Aaaah.
»Noch eine Halbe, Cäci!«
»Nicht so schnell. Soll ich wieder anschreiben, Fone? Oder willst du es abarbeiten?«
»Nein, ich bin flüssig, hä hä! Wann kommen denn die Motorradfahrer?«
Zum Beweis für seinen neuen Wohlstand zog er einen Fünfziger aus der Hosentasche und wedelte stolz damit. Cäci staunte.
Am Trampelpfad zur unteren Terrasse wackelte Korbi mit dem Radanhänger im Schlepp, um seine Zeitungs- und Brötchentour zu starten. Er winkte Alfons aus der Ferne freundlich zu. Dieser rief über die Tische hinweg:
»Lies die Zeitungen nicht leer, sonst gibt’s kein Trinkgeld von den Campern, hä hä!«, scherzte er dem kleinen Mann lautstark zu. Korbi konterte keck über die leeren Stühle und Tische hinweg:
»Sauf du meiner Oma den Goldenen Ochsen nicht leer! Und von dir bekomm ich eh nie ein Trinkgeld!«
Stolz schwenkte Alfons den Fünfziger in Richtung Korbi und triumphierte:
»Heute schon, Korbi, heute gibt’s Trinkgeld!«
Noch regierte die Heiterkeit in Friedas Revier.
Ein Frühschoppenidyll, das eine dramatische Wendung erfährt
Die schwarze Flotte knisterte ihren arhythmischen Hitzeblues in einer Reihe vor dem Goldenen Ochsen auf dem gekiesten Parkplatz. Die niedrig gehaltene Ligusterhecke erlaubte den Bikern vom Stammtisch aus lediglich einen Blick bis zur Taille der mächtigen Maschinen.
Cäci positionierte den Kessel mit den Weißwürsten vorsichtig auf einem Bastuntersetzer mittig auf dem Tisch.
»Brezeln und Butter kommen sofort.«
Im Abdrehen bekam ich einen liebevollen Klaps auf die Schultern. Ich fragte:
»Mit Annamirl und Korbi alles okay?«
Cäci nickte.
Ich ergänzte:
»Und Tizian muss mit der Milchlieferung auch bald hier sein, den hätten wir beinahe am Ortseingang umgefahren!«
»Oh, ist aber nichts passiert?«, besorgt schaute Cäci in die Runde.
»Nein, aber du weißt ja, wie der durch die Gegend wackelt. Hört nichts, sieht nichts, ist nur in seiner Welt.«
»Vielleicht war er auch nur übermüdet, der steht manchmal mitten in der Nacht auf, um die Milch abzuholen und den Lebensmittelautomaten zu bestücken. Auch wenn er nichts zu tun hat, geistert er durch die Gegend.«
Cäci zuckte mit den Schultern und ergänzte, nun ganz Psychologin:
»Er liebt seine Aufgaben, man muss ein bisschen für ihn mitdenken, dann klappt das schon. Ich seh ihn manchmal vom Dachfenster aus, wie er mit dem alten Kramer-Traktor seines Opas über die Kümmerle-Wiesen donnert. Den Führerschein hat er ja nie geschafft. Zu viele Handicaps … Wir müssen einfach froh sein, dass wir gesunde Kinder haben.«
Ich nickte zustimmend und fragte, um das Thema zu wechseln:
»Ist Annamirl Bonneville schon bei Hilde?«
Cäci verdrehte die Augen und schnaubte:
»Habe ich auch schon Mama gesagt! Sie liegt ganz allein im Ried, wird vermutlich gerade vom Killer-Biber angenagt und schreit sich die Seele aus dem Leib! Natürlich ist sie bei Hilde, wo denn sonst, wenn du die Morgensonne mit deinen Bikern genießen musst. Und außerdem: Nenn sie doch einfach Annamirl und lass Bonneville weg!«
Das saß. Ich erkannte die Vorwurfskommunikation.
»Sie heißt aber Annamirl Bonneville«, mahnte ich.
Cäci konterte:
»Noch ist sie nicht getauft!«
Im Abgang streckte Cäci den Zeigefinger ihrer Rechten mahnend in die Höhe. Frieda stemmte im Gegenverkehr vier Halbekrüge auf einmal an den Tisch:
»Das Wasser und das Flaschenbier kommen gleich!«, nickte sie mit strengem Unterton Goldi und Flaschen Gordon zu.
Blacky, einzige Frau unserer Biker-Gang, hob zwei Krüge kontrollierend gegen die steigende Sonne.
»Das müsste das Radler sein.«
Sie zog den Krug zu sich und blickte zum Kirchturm hoch.
»Wo bleibt denn Deo, der ist doch meistens der Erste?«
Sie ahmte seinen Dialekt nach, und als Schwarze war es ihr vorbehalten, Deo gegenüber politisch unkorrekt zu scherzen:
»Oh, ich bin gerada erst fünf Minuta da, die Frieda wollte, dass ich da Weißwürsta probiere, ob da Temperatur schtimmt und ob da Bier kalt genug ist.«
Wir lachten und prosteten uns, alle nun mit Getränken versehen, zu.
»Wenn man vom Teufel spricht …«
Das Gekreische eines hochdrehenden Zweitaktmotors kündete von der Ankunft unseres schwarzen Pfarrers Deodonatus Ngumbu. Mit blockierendem Hinterrad bremste er seine NSU-Quickly auf dem Kies ab und lehnte sie gegen die Ligusterhecke. Blacky hob zum Gruße die Faust und rief über die Hecke:
»Hi, Brotha, zu faul, die paar Meter zu laufen?«
Deo, der wie immer seine Dienstkleidung, eine schwarze Soutane, trug, strich sich über sein lockiges Haar, winkte lachend herüber und korrigierte:
»Sista, du musst wissa, ein Pfarra hat imma Dienst und ich muss nachher noch eina Krankakommunion für einas meina Schäflein ausfahra. Und morga ist da Erntadankfest und die Leute bringat jetzt noch Kübissa, Krautköpfa und den ganza Filafanz, das kann ma ja nicht nua vo da Alta schmeißa, das muss schön arrangiert werda. Dani, könntast du mia heute Mittag noch a bissale helfa? Ich nehm dia dann die Beichte umasonst ab!«
Ich nickte in sein schallendes Lachen hinein und klopfte demonstrativ auf meinen Kopf:
»Den Helm mal wieder vergessen?«
Der Geistliche blickte entsetzt, und zum Beweis für seinen Seelsorgerstress kramte er eine Silberdose aus der Tiefe seiner Soutane und schwenkte sie über seinem Kopf.
»Was ist das, dein Schnupftabak? Ich hätte auch gern eine Prise!«
Mittlerweile hatte sich der mächtige Pfarrer vom Gartenwirtschaftseingang her genähert und grinste grüßend in die Runde.
»Das würde euch Gottlosa auch nicht schada, von wega Schnupfatabak, das ist der Leib des Herrn, da Hostie, die bringe ich eina kranka Frau. Ich werde ihr auch noch da Beichte abnehma. Das arme Gemeindamitglied kann leida nicht mehr am Gottesdienst teilnehma. So ist das Leba halt, die eina wollat und könnat nicht, die andara könnat und wollat nicht. Oooh, da weißa Wurscht sehat aber heute wieda mal fantastisch aus! Frieda, auch eina Halba, bitte!«
Goldi hob sein Wasserglas in Richtung des Geistlichen, mit der anderen Hand deutete er in Richtung des Zweitakters:
»Meinst du, ein Wasser wäre nicht besser, wenn du noch fahren musst?«
»Eina geht imma!«
Vom Sozialtisch kam eine weinerliche Nachfrage:
»Ich würde auch gerne auf euer Wohl anstoßen, aber man hat mir ja nichts gebracht!«
Alfons deutete auf das geleerte Gedeck. Und weil es gutes samstägliches Ritual war, luden wir Alki-Fone, wie wir ihn nannten, zu einem Frühstück mit Flüssigem ein, nicht ahnend, dass er unerwartet zu kleinem Wohlstand gekommen war. Mit der Auflage, dass er am Siechentisch blieb, spendierten wir aus der Vereinskasse Fone ein weiteres Gedeck, was wiederum Deo dazu animierte, eine der neutestamentlichen Perikopen wider das Ausgrenzen von ›besondara Menscha‹ zum Besten zu geben. Unseren Rat, sich zu Alki-Fone zu setzen, so wie sich Jesus dem Aussätzigen zugewandt hatte, wollte Deo dann doch nicht befolgen, vielmehr bedrängte er mich, um von seinen seelsorgerischen Pflichten abzulenken:
»Wie sieht es nun aus mit da Taufe? Da Annamirl Bonnavilla sollte endlich gatauft werda, und ich habe dir versprocha, dass ich gerne da Götte bin, wie bei Korbi. Eina bessera Taufpate wie mich findat ihr nicht.«
»Bitte, Deo, sage nicht Bonnavilla, das hört sich an wie eine Feriensiedlung. Meine Tochter heißt Bonneville, wie das legendäre englische Motorrad, das von 1956, das den Geschwindigkeitsrekord aufgestellt hat. Und mit der Taufe, das stimmt, da muss ich mit Cäci …«
Ich nickte, er hatte schon recht, unsere Tochter Annamirl Bonneville konnte keinen besseren Götte als Deo bekommen:
»Stimmt, dann wärst du Täufer und Taufpate!«
Und so nahm dieser Samstagsfrühschoppen seinen ungewöhnlichen Lauf.
Korbis Geschrei riss den Stammtisch aus dem weißwurstseligen Gleichgewicht. Das war kein kindliches Gequengel, das war Panik.
»Der Bilsner, der Bilsner, der …«
Der Korbi bemerkt, dass der Pilsner Eki was im Kopf hat
Korbi tat es gerne, er wusste, dass er es nicht musste. Es gefiel ihm aber, dass die Leute auf ihn warteten, eigentlich auf die Zeitung und die Brötchen. Ebenso bereitet ihm der Small Talk mit den unterschiedlichsten Gästen Freude. Natürlich war das Trinkgeld, das gelegentlich astronomisch hoch ausfiel, ein zusätzlicher Motivator. Auch gefiel ihm die Ordnung, die Reihenfolge, alles war durchschaubar und berechenbar. Platz um Platz konnte systematisch abgearbeitet werden.
Platz 1, am nächsten zur Gartenwirtschaft gelegen, hier rasteten zurzeit die Kapulskis. Zunächst hatte er etwas Schwierigkeiten mit dem Namen, da er nicht sonderlich schwäbisch klang. Aber der Papa hatte ihm dann erklärt, wo Gelsenkirchen ist, was der Ruhrpott ist, und Schalke kannte er natürlich vom Sport. Und Theo erklärte ihm stolz, dass er Platzwart auf Schalke sei.
Was glaubst du denn, wer für den tollen Rasen sorgt?
Anfänglich hatte Korbi den Theodor Kapulski gar nicht verstanden. Aber bald schon konnte sein Gehirn ihn ins Schwäbische übersetzen. Frau Kapulski durfte er Susi nennen, sie war ganz okay, nervte ihn jedoch mit ihrem Schmuse- und Streichelwahn.
Na, was bist du denn für ein schmuckes Kerlchen?
Das Problem bei den Kapulskis war eigentlich nur die Tochter. Schon der Name war für Korbi ein Problem, wie konnte man ein Kind nach einer Stadt benennen? Da war es deutlich einleuchtender, Korbinian T. Rex zu heißen, oder wie sein neues Schwesterchen, Annamirl Bonneville. Das waren ganz normale Namen. Aber nicht Paris. Paris war eine Stadt – basta! Außerdem war Paris eine echte Zicke, sie grüßte nicht, sie lachte nicht, sie spielte nicht, sie saß nur mit ihrem Handy da und tippte und wischte missmutig. In ihren Ohren trug sie ständig Stöpsel.
Cäci und der Papa meinten, sie sei in der Pubertät, und bald würde er auch dahin kommen. Korbi hoffte es nicht. Paris konnte ihn mal mit ihrer Pubertät.
Platz 2, das war seltsam, auf Platz 2 war gestern noch der lustige Herr Fink, auch ihn durfte er mit seinem Vornamen anreden, Friedhelm. Nun war er weg, mit seinem seltsamen, alten Wohnmobil. Komisch, vielleicht hatte er da etwas falsch verstanden. Die Brötchen würden an Papas Biker-Morninghasbroken-Stammtisch ihre Abnehmer finden und wenn nicht, die letzte Hoffnung war der Götte Deo. Die Mama nannte ihn, aber das durfte er nicht hören, Mülleimer – der isst ja alles! Auf jeden Fall musste er nachfragen, warum der Friedhelm abgereist war.
Platz 3 machte immer besonders viel Spaß, die lustige Dauer-Camperin, der lilafarbige VW-Bus mit den rosa Herzchen und der großen gelben Aufschrift Brunetta Tower – Tanzästhetik und noch viel mehr zum Buchen. In kleineren Buchstaben und schwarz war zu lesen: Auch online unter: brunettatowertanzästhetik-undnochvielmehr.de.
Für Korbi stellten sich viele Fragen, er bekam die unterschiedlichsten Antworten. Cäci, die Mama, meinte, die ist schon viel zu lange hier, das ist einfach schlecht für das Geschäft und den guten Ruf. Dani, der Papa, wiederum sah sie als ganz nette, exotische Attraktion auf dem Platz. Seine Oma, Frieda: Das ist eine Schlampe, aber gut fürs Geschäft. Auf weitere Nachfragen bekam Korbi unbefriedigende Auskünfte. Aber die Brunetta war nett.
Platz 4 war schon seit zwei Tagen unbesetzt, was außergewöhnlich war.
Und auf Platz 5, dem Premium-Platz, wie seine Oma ihn nannte, standen ein schickes Wohnmobil und ein winziges Zelt. Hier nächtigte seit gestern auf Probe der Ortsvorsteher von Riedhagen, Eginbert Bilsner, den alle in Riedhagen nur Pilsner Eki nannten. Korbi hatte von Frieda die Anweisung, ihn besonders freundlich zu behandeln und ihn niemals mit seinem Spitznamen anzureden. Das sei sehr wichtig, es ginge um viel. Auf Korbis Nachfragen hieß es nur: Das verstehst du noch nicht, den Stellplatz haben wir ihm zu verdanken, vielleicht wird da noch viel mehr daraus …
Aber eins wusste Korbi, der Pilsner Eki war ein Arschloch, ein echtes sogar. Er gab kein Trinkgeld und nannte ihn immer: Naduwonneproppen. Und er musste ihm gestern ständig Bier bringen, auch wenn es nicht in seinen Zeitplan passte. Statt die paar Meter zur Gartenwirtschaft zu laufen, rief er mit seinem Handy in der Wirtschaft an und bestellte ein Bierchen nach dem anderen, später noch ein Sektchen für die Bruni, danach eine Vesperplatte mit der guten Leberwurst, aber bitte für zwei, aber schnell,und noch eine Käseplatte, aber ohne Blauschimmel … Und so ging das den ganzen Abend hin und her, und das ohne einen Cent Trinkgeld. Die Bruni drückte ihn zwar ein paar Mal zu sich ran: Na, mein Hübscher, du bist ja unbezahlbar. Doch der Bilsner wollte nur vor der Brunetta angeben, das wusste er. Aber das war ihm egal, am nächsten Morgen lag der Eki dann wieder bewusstlos im Zelt.
Und jetzt stand Korbi auf Befehl seiner Oma zuerst auf Platz 5, was er gar nicht leiden konnte, das Alphabet fing ja schließlich auch nicht bei Z an. Geh zuerst zum Bilsner, das ist wichtig, der wollte geweckt werden, und nimm ihm noch das Fläschchen mit. Und wenn du ihn nicht wach bekommst, nimm ein bisschen kaltes Wasser.
»Hallo, Herr Bilsner, ich soll Sie wecken, hallo, die Brötchen und die Zeitung, und von der Oma noch einen speziellen Gruß. Hallo, Herr Bilsner …«
Korbi stand etwas ratlos vor dem Zelt. Keine Reaktion aus der Stoffbehausung. Korbi blickte zur Lärche hoch, deren gelbe Nadeln im Kontrast zum Blau des Himmels standen. Immer noch kein Muckser aus dem Zelt. Der Reißverschluss war geöffnet, Herr Bilsners nackte, gelbliche Fußsohlen waren zu erkennen. Er hatte den Schlafsack wohl nur als Decke genutzt.
Korbi versuchte es etwas lauter, wollte aber die übrigen Gäste nicht stören:
»Hallo, Herr Bilsner, die Zeitung, die Brötchen, der Gruß von meiner Oma!«
Keine Reaktion aus dem Zelt. Der Herr Bilsner hatte wohl gestern Abend mal wieder zu viel getrunken, mit seiner Platznachbarin zusammen. Aber er wollte ja geweckt werden. Korbi kitzelte mit der aufgerollten Zeitung den Bilsner an den Füßen und zog am Schlafsack, der Blick auf den Kopf des Daliegenden wurde frei.
»Heilandsakrament«, stammelte Korbi.
Zuerst stand er wie vom Donner gerührt, dann, unter Missachtung des Ruhegebotes auf dem Platz, raste er wie ein geölter Blitz zur Gartenwirtschaft und schrie, so laut er konnte:
»Der Bilsner, der Bilsner, der hat was im Kopf!«
Der Pilsner Eki hat tatsächlich was im Kopf, es nützt ihm jedoch nichts
Korbis Stimme überschlug sich:
»Der Bilsner, der hat was im Kopf!«
Meine Jungs kommentierten, noch gelangweilt:
»Außer einem Rausch hat der noch nie was im Kopf gehabt!«
»Hei, da muss was sein, so kenn ich den Buben nicht!«
Auch Blacky, weiblich, sensibel, gab einen Kommentar ab:
»Mein Gott, der ist ja ganz durch den Wind, was ist denn mit Korbi los?«
Deo war aufgesprungen und lief mit ausgebreiteten Armen meinem Sohn entgegen, packte ihn im Lauf unter den Armen und hob ihn mühelos hoch:
»Was hast du denn, Korbi, ist dir da Leibhaftige begegnat?«
»Lass mich runter, der Bilsner, der hat was im Kopf!«
Ich war ebenfalls aufgesprungen und übernahm von Deo meinen heranstürmenden Sohn, dem das blanke Entsetzen im Gesicht stand.
»Was ist, Korbi? Beruhige dich! Was ist mit dem Bilsner?«
Korbi riss sich von mir los, drehte sich um und eilte in Richtung der Stellplätze, winkte uns, ihm zu folgen, nahm jedoch die Abkürzung durch die Sträucher, über den Hang, hin zur stolzen Lärche.
»Kommt schnell mit, der hat was im Kopf!«
Die Kommissarin, Frau Petra Krieger, tippte mit einem Kugelschreiber, der auch als Laserpointer missbraucht werden konnte, auf meine Brust:
»Bönle, Sie halten sich vor allem aus allem raus und den Mund und zu meiner Verfügung. Herr PKA Nedlich wird im Anschluss Ihre Campinggäste befragen. Ich kümmere mich um die Gäste der Gartenwirtschaft. Ihre Mutter erstellt mir eine Liste der Gäste, mit Adresse et cetera und allem Pipapo!«
Ihr blond gekrönter Kopf drehte sich bestätigend nickend zu Cäci und Frieda.
Das Zwetschgenmännchen neben ihr nickte zustimmend, wie der Mohr aus meiner Kindheit, dem man zur Adventszeit in der Kirche, vor der Krippe drapiert, Zehn-Pfennig-Stücke einwarf, um seinen Kopf dankend auf und ab zu bewegen. Der junge PKA Gilbert Nedlich schickte mir ein verdorrtes Grinsen, fuhr sich nachdenklich durch den spärlichen Dreitagebart und hob unauffällig, Blickkontakt mit mir suchend, den Mittelfinger und murmelte:
»Bönle, du hältst dich zur Verfügung.«
Ich konterte:
»Immer noch PKA?«
Ich blickte demonstrativ auf seinen Mittelfinger und dann deutlich tiefer.
»Was unten fehlt, nützt oben auch nichts!«
»Bönle, ich … ich … ich sag dir eins!«
Er kam mir ganz nahe, die Kommissarin stoppte ihn mit einem Griff auf seine Brust. Setzte ihn mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung ihres Kopfes und einem eisigen Blick zurück auf seine Ausgangsposition. Ich fuhr mir durch das frisch rasierte Gesicht, streichelte meinen korrekt gestutzten Bart und hob ganz langsam meinen kleinen Finger. Der PKA baute Druck wie ein Sicomatic auf. Sein fahles Gesicht nahm einen pastösen Rotton an.
»Frau Bönle, soll ich einen Psychologen schicken, wegen des Jungen?«
Besorgt nickte die Kommissarin zu Cäci, die Korbi an der Hand hielt.
»Meine Frau ist Psychologin, außerdem hat Korbi schon Erfahrung mit Leichen, äh, Leichenteilen. Sie erinnern sich? Sie sollten besser einen Psychologen zu Ihrem PKA schicken, der hätte es nötiger. Korbi ist ein echter Bönle, er ist stabil, aber Ihr PKA, der hätte …«
Die Kommissarin stotterte:
»Lassen Sie das Geschwätz, Bönle! Sorry, hatte vergessen, dass Ihre Frau Psychologin ist. Ist ja schon ein heftiger Anblick für ein Kind, aber Ihre Frau, die wird das schon regeln. Und den zweiten Teil Ihres Satzes vergessen wir. Herr Nedlich, haben Sie die Spusi schon angefordert?«
Der PKA Nedlich schäumte vor Zorn, nun hochroten Kopfes fummelte er am Handy herum und gab sich geschäftig. Noch einmal, vermutlich eine Übersprungshandlung, warf er einen Blick ins Zelt, schüttelte ungläubig den Kopf und bemerkte:
»Das mit der Hand des Opfers sieht schon komisch aus.«
Auch für mich und all diejenigen, die ins Zelt geschaut hatten, war es kein alltäglicher Anblick, denn unser Ortsvorsteher, der Eginbert Bilsner, hatte nicht nur etwas an der Hand, er hatte tatsächlich etwas im Kopf.
»Also, lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Der Tote ist Eginbert Bilsner und ist wohnhaft hier in Riedhagen. Er ist der Ortsvorsteher von Riedhagen, arbeitet aber auch als Koch am Bodensee. Seinen Urlaub wollte er vom Dienstag bis zum kommenden Sonntag auf dem Stellplatz 5 verbringen. Ist das richtig so?«
Dreimaliges Kopfnicken.
Für die Befragungen wollte die Kommissarin einen eigenen Raum. Dazu hatten wir die Gruselkammer des Goldenen Ochsen aufgesucht, das ehemalige Jagdzimmer von Friedas Mann und somit Cäcis verstorbenem Vater. In diesem Zimmer hingen an den Wänden verstaubte Präparate oder Teile von ehemaligen Lebewesen, meist Köpfe. Nun verbreiteten sie ihren morbiden Charme nahezu unbemerkt. Die Zeit der großen Hochzeiten war vorbei. Und Scheidungen wurden ungern in großen Sälen mit ausgestopften Tieren gefeiert. Auch die Zeit der großen Taufen war vorbei, da alleinerziehende, esoterisch versaute, oberschwäbische Mütter, die eine bunte Hindu-Gottheit aus Kunststoff in ihrem Garten stehen hatten, sich gerne mal einen dunklen Henna-Punkt auf die Stirn pinselten, an die Kraft der Bäume glaubten und wussten, dass die Katholischen sowieso alle nur pädophil waren, ihre Kinder lieber in einem Mondscheinritual an einem Quellbach mit ihren Freundinnen selbst tauften, während ihre Exmänner, die sich löblicherweise von ihnen schon längst getrennt hatten und mit einer Thai, die man aus einem Urlaub mitbrachte, problemfrei zusammenlebten, sich dem Suff hingaben – verständlicherweise.
»Und der Zweck des Campens auf dem Stellplatz, wenn ich das richtig verstanden habe, war ein sogenanntes Probecampen seitens des Herrn Bilsner, um eine Erweiterung des Stellplatzes zu diskutieren oder einen Ausbau zum Campingplatz anzudenken? Ist das ebenfalls richtig?«
Dreimaliges Kopfnicken.
»Und es ist ebenfalls richtig, dass das Grundstück, in der Verlängerung Ihres Stellplatzes, entlang der Straße bis hin zum Naturschutzgebiet Herrn Bilsner gehört und an Ihr Grundstück, von hier aus gesehen links, grenzt, das mit dem Bönle-Haus und dem Haus von Frau Hilde Knaus, Ihrer Nachbarin, endet?«
Cäci und ich nickten. Frieda stimmte ebenfalls zu und ergänzte:
»Das Grundstück von Frau Knaus endet mit ihrer Lama-Weide und dem Stall für die Tiere. Die Hilde Knaus züchtet nämlich Lamas. Lehrerin, die haben Zeit für so was!«
»Und das Stück rechts, entlang der Straße, könnte man das als Campingplatz nutzen?«
Frieda schaute nachdenklich.
»Prinzipiell schon, es läge an der Straße, die Erschließung wäre in Ortsnähe kein Problem. Aber ich weiß nicht, es wäre schon recht nahe am Naturschutzgebiet. Und die Riedhagener sind gespalten. Einerseits bringt der Tourismus Geld, andererseits verändert das einiges.«
Die Kommissarin resümierte weiter:
»Und es ist also richtig, dass das Opfer hier campte, um mit Zelt und Wohnmobil das Campen – wie soll ich sagen – zu testen? Auch wenn ich mich wiederhole: Herr Bilsner war hier zum Probecampen, um eine Vorstellung zu bekommen, wie die Örtlichkeiten sind? Und wie Sie sagten, oder besser, wie im Ort gemunkelt wird, auf seinem Grundstück, der Straße entlang, selbst einen Camping- oder Stellplatz, in Konkurrenz zu Ihrem Stellplatz zu errichten?«
Dreimaliges Nicken.
»Und auf den Plätzen 2 und 4, da war niemand?«
Die Blonde deutete durch das Fenster in Richtung der Stellplätze.
Frieda strich sich nachdenklich über ihre Kittelschürze, kratzte sich an der Schläfe, fuhr sich über das Kinn:
»Das ist schon sehr merkwürdig. Der Vierer, da war niemand, der ist schon seit Tagen unbesetzt, aber der Zweier, der war besetzt. Der muss gestern Abend oder heute Nacht abgefahren sein, der mit dem alten Hanomag-Mobil. Das Geld war in einem Umschlag im Briefkasten gelegen. Und wenn die Camper nach unten zur Straße hin rausfahren, dann merken wir das oben an der Rezeption nicht. Aber komisch ist das schon, dass der Fink so sang- und klanglos abgehauen ist.«
Die eifrige Kommissarin blickte zu Cäci und Frieda:
»Die Anmeldebögen, die brauche ich schnellstmöglich. Wie hieß der auf dem Zweier noch mal?«
»Fink, Friedhelm Fink, war ein Stuttgarter Autokennzeichen, habe ich alles oben. Auffällig war sein altes Wohnmobil, so ein Eigenbau auf Hanomag-Basis«, erklärte Frieda.
Ich staunte über Friedas Fachkompetenz.
»Können Sie mir nun die Dame von Platz 3 vorbeibringen? Wie war noch mal ihr Name, stand doch groß mit Telefonnummer auf dem Bus?«
Höflich nickte die attraktive Kommissarin in meine Richtung.
»Äh, ich denke, das ist eher so eine Art Künstlername, denke ich. Tower, Brunetta Tower.«
Die Kommissarin grinste süffisant:
»Schöner Name für einen Pornostar.«
Ich mimte den Erstaunten:
»Ach, das dachte ich nicht, dass Sie sich auch in diesem Genre auskennen.«
Sie winkte ab und befahl:
»Bönle, lassen Sie das, holen Sie mir die Dame und zwar flott. Sie sind nun entlassen, halten Sie sich aber bitte in den nächsten Tagen für Einzelbefragungen bereit.«
Mit einer kecken Handbewegung scheuchte sie uns aus der Gruselkammer.
Ich holte, wie befohlen, der engagierten Kommissarin die Dame von Platz 3. Diese saß mit einem Sektchen vor ihrem lilafarbenen VW-Bus mit den rosa Herzchen und der gelben Aufschrift, aus einem Bluetooth-Lautsprecher jammerte ein Barde, Tränen würden nicht lügen.
Mit den Frenchnails fuhr sie sich theatralisch unter die Augen und hauchte:
»Das ist ja sooo scary, der war so nett, der Egi… und jetzt … Wer tut denn so was Böses, das muss doch …«
Sie brachte den Satz nicht zu Ende, leerte ihr Glas mit einer gekonnten Hand-, Kopf- und Schluckbewegung und folgte mir brav bis zum Befragungszimmer. Ich erwähnte aus Gründen des Respekts gegenüber dem Aufgespießten nicht, dass wir Eginbert Pilsner nicht liebevoll Egi nannten, sondern Eki.
Brunetta Tower blieb in der Tür zur Gruselkammer stehen und war begeistert, wieder gingen die lila Fingernägel Richtung Gesicht:
»Auemtschiii, das ist ja geiiil, die vielen Tiere! Waren die alle einmal echt?«
Ich nickte und ließ die beiden Schönen und das Zwetschgenmännchen allein.
Die Kommissarin arbeitete eifrig, sie hatte die Aufnahmefunktion ihres Handys gestartet, obwohl PKA Nedlich analoge Notizen anfertigte.
Und so ging es im Jagdzimmer noch lange hin und her. Auch meine Gang wurde befragt. Niemand schien zu bemerken, dass Alki-Fone verschwunden war.
Auf dem Stellplatz, auf der Wiese zum Ried hin und in der Gartenwirtschaft geisterten noch lange Männchen und Weibchen in Weiß herum. Sie trugen Aluköfferchen, Kameras und andere nützliche Utensilien der Spurensicherung. Vor allem um das kleine Zelt herum verrichteten sie gewissenhaft und in routinierter Ruhe ihre Arbeit.
Ich warf noch einmal einen abschließenden Blick in Bilsners Zelt, das neben seinem Womo aufgestellt war. Zwei Herren der Spusi waren gerade dabei, indem einer von ihnen den Kopf des Getöteten mit seinen behandschuhten Händen fixierte und ein anderer mit einem Zimmermannshammer, den er sich aus meiner Werkstatt geliehen hatte, da so etwas nicht zur Standardausstattung der Spusi gehörte, den Metallhering aus Bilsners Kopf herauszuziehen, mit dem er auf dem Boden festgenagelt war.
Korbi hatte schon recht, der Bilsner hatte was im Kopf.
Alki-Fone fehlt, und es wäre beinahe nicht aufgefallen
Nachdem die Aufregung und auch die letzten Dunstschlieren über dem Ried verschwunden waren, auch die Kommissarin und ihr getreuer PKA den Rückzug angetreten hatten, nur noch ein paar wenige weiße KTUler und Pressefritzen herumgeisterten, gingen wir wieder unserem, nun verlängerten Frühschoppen nach. Von allen Tischen, die mittlerweile mit Spaziergängern, Herbsttouristen und regionalen Gelegenheitsalkoholikern besetzt waren, bemerkte man aufgeregtes Getuschel und ungläubiges Kopfschütteln. Wortfetzen wie: Saumäßig brutal; Jetzt bist nicht einmal mehr beim Camping sicher; Das muss ein verrückter Mann gewesen sein, so was macht keine Frau; So einer gehört ins Irrenhaus; Früher gab es so etwas nicht … sorgten für ein Ab- und Anschwellen der Biergarten-Diskussion.
Wir Stammtischler sinnierten über die Befragungstechnik und andere Qualitäten der Kommissarin. Vor allem unser Flaschen Gordon, der getrennt von seiner Frau lebte, war von minnenorientierter Bewunderung für die blonde Ermittlungsbeamtin. Mit einem hörbaren Plopp zog er das Bierfläschchen von den gierigen Lippen:
»Welch Wuchs, Respekt, und die ist doch bestimmt schon über 40. Sehr gepflegtes Äußeres. Ja ja, wie schon die alten Römer wussten: Pulchra mulier nuda erit quam purpurata pulchrior!«
»Häääääää?«, tönte es mehrkehlig aus der Runde.
»Das war Lateinisch!«
Deo schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schimpfte:
»Aba bitte, Gordon, lass das, du bist nicht da Einzige am Tisch, der Latein beherrscht, und außadem, es sind noch Kinda am Tisch! Da Korbi möchte so was Unanständiges nicht höra, ich übrigens ebafalls nicht!«
»Papa, was hat der Gordon gesagt? Du hast doch in der Schule auch Latein lernen müssen!«
»Ähm, das heißt eigentlich nur: Eine schöne Frau wird nackt schöner sein als in Purpur gekleidet.«
»Papa, was ist Purpur?«
»Äh, wie soll ich das erklären? Der Papa, der hat doch viele Schallplatten, auch die von Deep Purple, mit Ian Gillan, Jon Lord, Roger Glover, Ian Paice und dem Wahnsinnsgitarristen Ritchie Black.«
»Papa, ich will nur wissen, was Purpur ist!«
»Okay, Korbi, Purple heißt Lila oder Violett, also die Farbe, und die war früher sehr kostbar, die hatte man aus der Purpurschnecke hergestellt und das war nicht sehr einfach, da …«
Mein Sohn kratzte sich kurz am Kopf und fragte neugierig:
»So lila wie der VW-Bus von der Brunetta? Und danke Papa, das reicht mit den Erklärungen, ich habe das mit der Schnecke schon begriffen. Aber Deo, warum regst du dich dann so auf, wenn der Gordon das erklärt?«
Mein aufgeweckter Sohn blickte verständnislos zu seinem Götte und hakte nach:
»Was ist da so schlimm dran? Wenn die Mama zum Papa abends ins Bett kommt, dann …«
»Ist gut, Korbi, geh jetzt zur Oma, die hat ein Eisle für dich! Bestimmt sogar ein Erdbeer…«
Meine alberne Bande grölte und lachte und forderte Korbinian auf, weiterzuerzählen. Ich unterband diesen Unsinn mit der Autorität meines Amtes als Präsident und schickte meinen Sohn mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger zur Eistruhe, die unter einem blau-weiß gestreiften Sonnenschirm im Eingangsbereich brummend und kondensierend vor der Gaststätte stand. Außerdem erinnerte ich die pietätlose Truppe, im Angesicht des Todes eines Bekannten mehr Contenance zu bewahren.