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Ein abgetrenntes Körperteil im Ried. Ein Junge, der von einer Brücke springt. Berufsschullehrer Daniel Bönle hegt den Verdacht, dass seine Schüler mit okkulten Umtrieben in der Umgebung zu tun haben. Bei einer nächtlichen Floßfahrt spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu, als Daniels Freundin Cäci auf eine Gruppe stößt, die bizarre Rituale ausübt. Als ein eigentlich toter Schüler erneut getötet werden soll, beschließt Bönle, die Hintergründe zu erforschen …
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Seitenzahl: 321
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Michael Boenke
Kuhnacht
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Michael Boenke
ISBN 978-3-8392-4144-8
Für meine Familie
Put your faith in what you most believe in
Two worlds, one family
Trust your heart
Let fate decide
To guide these lives we see
(Phil Collins, Two worlds)
Samstag, 9. Juni, früher Nachmittag, Ende der Pfingstferien, Pfrungen-Burgweiler-Ried, Riedwirtschaft
It’s not time to make a change,
Just relax, take it easy.
You’re still young, that’s your fault,
There’s so much you have to know.
Find a girl, settle down, if you want you can marry.
Look at me, I am old, but I’m happy.
(Cat Stevens, Father and Son)
Korbinian T. Rex krabbelte durch das Gras. Seine überdimensionierten Knopfaugen sogen aufmerksam alle visuellen Eindrücke in den zuständigen Bereich seines kleinen Gehirns. Von unten sahen alle Menschen so groß aus. Er bewegte sich zu einem Auto hin, ein Mann schüttelte eine Decke aus. Das war interessant. Vielleicht gab es da auch etwas zu essen.
Als Korbinian T. Rex wieder abdrehte, steckte der Rest eines Saitenwürstchens in seinem Mund, das durch rhythmische Saugbewegungen Eigenleben entwickelte, was an einen mahnenden Zeigefinger erinnerte. Der heftig Saugende verzog kurz sein Gesicht, das ausgeprägte Kindchenschema mutierte noch putziger.
Winzige fliegende Insekten, die der feucht schwammige Riedgrund ausgespuckt hatte, tanzten in pulsierenden Wolken um den quasi Vierbeinigen herum. Sie verdichteten sich faustgroß, dunkelschwärmend wie ein aggressives Einzellebewesen um das Köpfchen des tollpatschigen Winzlings, um sich sofort wieder, wie auf geheimen Befehl hin, unsichtbar in parasitäre Einzelwesen zu zerstäuben. Auch sie hatten es kumulativ auf das Saitenwürstchen, das aus dem Mund des Säugers baumelte, abgesehen. Die Musik wummerte, das Idyll begleitend, ausladend in Schockwellen durch die Holzwände des Nebengebäudes hinaus ins sonnendurchflutete, tannengesäumte, riedige Juni-Grün:
You helped to smash walls
Without rising to fame
You are the one who crossed borders
No one knows your name
You are the one who set the boundary stone
Far over the edge
But you were not alone
Nevertheless you’ve got my respect
Cause you reached the same
Das Trio gab alles, um auch die Outdoorler mit dem saftigen, lebensbejahenden Bad Saulgauer-Homemade-Rock-Sound zu beglücken. You’re in somebody’s shadow – wie wahr, das sonnenblaue, oberschwäbische Leben im tannenbeschatteten, feuchten Ried kann schön sein.
Die hohen, lichtungsbildenden Nadelgewächse schienen bis in ihre dunklen Nadelspitzen hinein den erdigen Sound aufzunehmen, ihn von dort über Zweiglein, Äste und Stamm bis hinab in Wurzeln und Würzelchen zigtausendfach in die herrliche Riedlandschaft hinein zu verstärken. Eigentlich gründete der trommelfellstrapazierende, riedfüllende Sound auf einem Missverständnis. Doch das Missverständnis lockte mehr Gäste in die moorige Landschaft als das geplante Event. Die engagierte Ried-Wirtstochter hatte geplant, Paul Schlau, den handorgelnden Volksmusikanten, zu engagieren. Doch verbale Kommunikation, vor allem fernmündlicher Natur, findet nicht immer auf der Sachinhaltsebene statt, vor allem beim Empfänger. Und so wurde aus Paul Schlau Coleslaw. Und die rockten nun das Ried um die Riedwirtschaft herum – und wie.
Korbinian T. Rex zuzelte immer noch hingebungsvoll im Rhythmus der metallig-herben Klangsymbiosen an seinem Wurstzipfelchen herum, das ihm aus seinem speckbäcklig umrandeten Göschchen baumelte. Er schüttelte ebenso energisch wie erfolglos sein Köpfchen, um die allzu lästigen Fluginsekten auf Distanz zu halten und um das leckere Wurstgehängsel nicht mit so vielen teilen zu müssen.
»Meinst du, das ist gut für ihn?«
»Hä?«
»Die Wurst.«
»Was für eine Wurst?«
»Na die Saitenwurst. Wo schaust du denn immer hin? Wahrscheinlich zu der!«
Cäcis Kopf und Augen wippten zu einer erschöpften Tänzerin, die noch immer zur klingenden Rhythmik zuckend die Lichtung vom Nebengebäude zum Wirtschaftsgebäude hin durchtanzte. Eigentlich wäre sie mir nicht aufgefallen.
»Ich habe ihm keine Saitenwurst gekauft.«
»Ich ihm auch nicht.«
»Dass die Leute immer fremde Kinder füttern müssen!«
»Frechheit.«
»Lass sie ihm, scheint ihm doch zu schmecken.«
»Das sehe ich nicht so, er spuckt sie immer wieder aus. Guck, wie er das Gesicht verzieht! Und die vielen Fliegen! Tu doch was!«
»Tun tut man nicht sagen tun.«
Ich räkelte mich in der wärmenden Sonne und genoss die Atmosphäre der im Ried eingebetteten Gastwirtschaft. Zugleich ignorierte ich meine Adressatenrolle.
Cäci, die stolze Mama, schaute gleichermaßen besorgt und zufrieden zu meinem Sohn. Korbinian T. Rex Bönle, der sich im Allrad-Gang wieder etwas weiter von uns entfernte, den Wurstzipfel nun fest in der linken Hand.
»Ist das alles, was dir dazu einfällt? Typisch Lehrer, seit du an der Schule bist, hast du noch mehr dumme Sprüche drauf! Unternimm lieber etwas! Mit deinem acht-Stunden-Deputat kannst du etwas mehr für die Familie tun. Du hast doch reduziert auf acht Stunden. Nicht am Tag, in der Woche! Wegen dem Buben! Und ich habe die Einrichtung der Praxis am Hals, nebenher schon die ersten Patienten. Und du? Acht Stunden in der Woche. Ich komme zurzeit locker auf zehn oder mehr am Tag. Und du? Du kümmerst dich um nichts!«
Cäci schien angebrannt, ich musste etwas unternehmen:
»Hei, Korbi, wo ist der Baba? Daaa!«
Korbinian T. Rex drehte sein pausbäckiges Köpfchen, in dessen Zentrum nun wieder das Würstchen steckte, zu Papa, quasi mir, dann fixierte er leicht schielend die Mama, lachte zahnlos, wobei ihm in Ermangelung von Intelligenz das Fleischbrätgehängsel aus dem Mund ins Gras fiel. Flugs griff er wieder danach, erwischte aber auch eine Löwenzahnblüte. Das adrette, zentrale Wurst-Blüten-Arrangement im Gesichtchen zauberte ein heiteres, jedoch leicht einfältiges Gesamtbild unseres drallen Sohnes.
»Unternimm doch endlich was, der Löwenzahn ist bestimmt nicht gut! Vielleicht sogar giftig. Ist bestimmt gedüngt hier! Du siehst doch, dass ich esse!«
Cäci nickte auffordernd in Richtung des kleinen, wiesenmäandernd vagabundierenden Windelträgers.
»Hallo, Korbi, guck mal, wo ist der Baba? Daaa!«
»Daniel, ich möchte jetzt in Ruhe essen, kümmere dich bitte um deinen Sohn!«
»Warum ich? Das ist auch dein Sohn. Außerdem, wer soll hier düngen? Und Löwenzahn kann man essen, da macht man Salat draus.«
»Ach, plötzlich ist es auch mein Sohn, das ist ja ganz was Neues. Du alter Macho hast ihm ja schon den Nachnamen Bönle gegeben. Jedem stellst du ihn als Korbinian T. Rex Bönle, ich betone Bööönle, vor. Eigentlich heißt er Maier … Maier wie ich, verstehst du, Em, A, I, Eier, so lang wir nicht verheiratet sind! Und er soll keinen Löwenzahn essen, er ist doch kein Schaf!«
Das Braun in Cäcis Augen ging fast schon ins Rötliche, feuerrot, glutrot. Nur noch Glut. Ihre Fingernägel der Linken musizierten einen stakkatohaften Takt auf den Tisch. Crescendo! Sie stocherte mit der Rechten gabelbewehrt heftig mit dem Vierzack in die knuspernde Rinde ihres Krustenbratens, die splitterte knöchern. Ich erkannte die Gefahr:
»Spatz, wir heiraten, sobald der Stress in der Schule etwas nachlässt, eventuell schon in den Sommerferien.«
»Pah, Sommerferien, wir haben jetzt Juni, da sind wir schon viel zu spät dran! Und wann hattest du schon mal Stress in der Schule? Der einzige Stress ist vielleicht der, dass du jetzt für sechs Stunden nach Sigmaringen fahren musst, aber das hast du dir selbst zuzuschreiben. Geschieht dir ganz recht, in der freien Wirtschaft hätte man dich gefeuert. Fristlos. Du brauchst dich gar nicht zu wundern, dass die dich mitten im Schuljahr nach Sigmaringen verpflanzt haben. Acht-Stunden-Deputat und Stress! Ha, Stress und du, das ist ein Anachronismus, ha!«
»Du meinst Antonym oder Disparität? Und das macht mir nichts aus, direkt nach den Pfingstferien in Sigmaringen anzufangen. Gute Leute werden auch unterm Jahr abgeworben.«
»Ach, lass mich in Ruhe … essen!«
»Okay, dann nächstes oder übernächstes Jahr.«
»Was?«
»Heiraten.«
Mit versöhnlichstem Howard Carpendale-Lächeln versuchte ich, meine schöne Psychologin zu besänftigen. Von Berufs wegen durchschaute sie mich jedoch. Cäci zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Eine entzückende Falte entstand über der Nasenwurzel. Das war gefährlich. Gefährlich für mich.
»Lass das Geschwätz, schau lieber nach Korbi! Daniel, du siehst, dass ich esse. Ich möchte nicht, dass der Krustenbraten kalt wird. Und dein Bier wird bestimmt nicht kalt!«
»Aber warm.«
Immer wenn Cäci Daniel statt Dani sagte, war der kritische, der rote Bereich erreicht. Wie bei einem Sicomatic-Kochtopf – alle Ringe sichtbar.
Trotzdem war ich nicht in der Stimmung, ihrem Sohn die Löwenzahnblüte aus seinem pausbäckigen Gesicht zu entfernen – auch Mütter haben Pflichten, und nur weil man acht Stunden unterrichtet, heißt das noch lang nicht, dass man keine Ferien hat.
»Nur weil ich schneller als du gegessen habe, möchte ich deswegen nicht diskriminiert und entwürdigt werden.«
»Wie bitte? Spinnst du? Was soll das jetzt schon wieder heißen?«
Cäci führte eine rasche Tipp-Bewegung an ihrer rechten Schläfe aus. Ich kannte diese Bewegung schon lang und sehr gut. Ihr schien sie angeboren. Ich hatte sie in ihrer Symbolik verinnerlicht.
»Ich springe doch schon die ganze Zeit hinter Korbi her. Was glaubst du, was die MIKEBOSSler von mir denken? Wie sieht das denn für einen Mann aus?«
Ich nickte zum verwaisten Nachbartisch. An den Stuhllehnen hingen wie schwarze, bunt tätowierte Häute schwere Lederjacken. Auf jedem Rücken prangte die stolze, rot gestickte, im Halbkreis formatierte Aufschrift MIKEBOSS. Unter dem Halbkreis grinste ein Totenkopf mit einer Augenklappe. Auf der mit Löwenzahn gesprenkelten Wiese lagen, wie achtlos drapiert, mattschwarze Halbschalen-Helme. Meine Gang, meine Jungs. Ich war stolz auf sie. Schämte mich ein bisschen, da ich familientechnisch mit dem Auto hier war, auch der batteriebetriebene Fläschchenwärmer neben meinem Bierglas störte mich. Aber darüber konnte man mit Cäci ja gar nicht reden. Vom zweiten Spucktuch fange ich jetzt erst gar nicht an. Obwohl ich Situationen sehr gut einschätzen kann und auch mit Empathie gut ausgestattet bin, hatte ich mir die Sache mit so einem Kind deutlich einfacher vorgestellt. Ich hatte mal einen Zwerghasen, so ungefähr.
»Die sind drinnen beim Headbangen, jetzt steh schon auf! Die sehen dich nicht!«
Cäci blitzte mich mit ihren braunen Rehaugen gefährlich an. Zur Bestätigung ihrer Aussage warf sie demonstrativ das brünette Haar hinter die Schultern. Das sollte wohl fordernd, einschüchternd und männlich aggressiv wirken. Frauen sind trotzdem anders als Männer.
»Das gelbe Top steht dir super, passt verdammt gut zur Levi’s und den Cowboy …«
»Lass den Quatsch!«
Eigentlich wollte ich noch …stiefel sagen, hatte aber gegen die mählich Zürnende keine Chance. Ärgerlich warf sie die Gabel in den Teller, sodass die aromatische braune Krustenbratenbiersoße mit Kümmel ebenso verärgert aufspritzte und den Weg zu meinem schön taillierten Hemd nahm. Gott sei Dank trage ich immer schwarz. Das hölzerne, längliche antike Gebäude in meinem Rücken röhrte, während ich noch den Blick in die rhythmisch wippenden Tannenwipfel genoss:
Why don’t we see the facts?
Superficiality just ain’t right
To see the facts would mean
One giant leap for mankind
»Ich gehe ja schon.«
Umständlich motivierte ich meine handpunzierten und handbemalten Caborca-Boots, den benachbarten Holzlatten-Klappgartenstuhl, dessen grüne Rahmenfarbe überall absplitterte, zu verlassen. Zu spät, Cäci war schon gefährlich schnaubend in der Art eines verärgerten Nashornweibchens aufgesprungen und stampfte auf Korbinian T. Rex, unser allerliebstes Söhnchen, zu. Die Männer, die die übrigen Outdoor-Tische belagerten, schielten, in der trügerischen Hoffnung, dass ihre Partnerinnen es nicht bemerkten, zu Cäci. Muttermitkind schien manchem Alibi genug, ganz offen Cäcis Gesamterscheinung zu bewundern. Ich konzentrierte mich eher auf Korbinian, nahm nebenher ein Stück der Kruste von Cäcis Krustenbraten. Die Kruste war immer das Beste. Fantastisch, er schien ganz nach seinem Vater zu kommen! Zufrieden positionierte ich, von krustenberstendem Mundmahlwerk-Geräusch begleitet, mein attraktives Schuhwerk wieder auf den Nachbarstuhl und ließ meinen Blick kurz zu den von warmen Aufwinden sanft tänzelnden, im Blau versinkenden Tannenwipfeln wandern, um sofort wieder den Blickkontakt mit Korbinian T. Rex herzustellen. Mit dem nahezu geleerten Weizenbierglas prostete ich meinem rundum zufriedenen Söhnchen zu, Krustenbrösel feuerwerkten ins friedliche Grün:
»Hei, Korbi, wo ist der Baba? Daaaaaa!«
Beinahe hätte ich mich verschluckt. Zu viel Multitasking. Cäci zog Korbinian T. Rex, dem kleinen Hosenscheißer, die gelbe Blüte aus dem Mund, das Würstchen durfte er behalten. Beherzt griff sie unter sein Bäuchlein, verwinkte ohne Erfolg den kopfumkreisenden Insektenschwarm, hob den wonnigen Sohn hoch und streckte ihn mir schon im Anmarsch entgegen:
»So, sitz ein bisschen beim Papa. Die Mama will jetzt endlich mal in Ruhe essen.«
Das war natürlich feinste Psychologinnen-Rhetorik, mit dem Kind reden, aber der Adressat der Vorwurfskommunikation war natürlich ich. Sie verstand ihr Handwerk. Und Korbinian T. Rex würde auf diesen billigen Trick mit Sicherheit nicht hereinfallen – hoffte ich.
»Wo ist meine Kruste?«
Ich zwickte Cäci in die schlanke Seite:
»Da.«
»Lass das!«
Cäci schien irgendwie sauer.
»Komm, Korbi, nimm das Würstchen raus, gib es brav dem Baba, das sieht ja schon richtig pfui aus, komm, gib es dem Baba, trink ein bisschen Wasserle.«
Der kleine Widerborstige wollte das Würstchen nicht herausrücken. Ich zog daran. Korbi, nicht blöd – ganz der Vater – erhöhte den Saug-Gegendruck. Ich war letztendlich stärker, mit einem lauten Blopp hatte ich das runzelige Fleischprodukt aus dem zahnfreien Mund entfernt.
Erkannte den Fingernagel!
Sprang auf. Ließ das Ding, vor Ekel spastisch zurückzuckend, auf Cäcis entkrusteten Braten mit Kartoffelsalat und Soße fallen.
»Pfui Teufel!«
Wiederum spritzte es kurz auf. Diesmal waren die Flecken sichtbar – auf Cäcis sonnenblumenblütengelbem Top. Sie sprang auf, fuchtelte ganz Frau mit beiden Händen:
»Iiii, pfui Teufel, was ist denn das? Schnell … desinfizieren, Korbi hat das im Mund gehabt.«
Gott sei Dank trinken meine motorradfahrenden Freunde schon am frühen Nachmittag Schnaps. Vom Nebentisch griff ich mir, legitimiert durch meinen präsidialen Biker-Status, die nach oben schlankende Glasflasche mit dem medizinisch desinfizierenden Inhalt. Den Willi. Ich entkorkte ihn mit meinen Backenzähnen, steckte meinen Zeigefinger in den Flaschenhals, schüttelte und kippte. Dann rieb ich vorsichtig Korbinian T. Rex’ Mund aus. Er honorierte, die medizinische Notwendigkeit missachtend, meine Spontandesinfektion mit fürchterlichem Gebrüll. Meine Biker-Freunde würden mir den Alkohol-Missbrauch verzeihen, ich wusste es.
Cäci hatte verständlicherweise keine Lust mehr auf ihren Krustenbraten, außerdem fehlte die Kruste.
Der abgehackte Finger auf ihrem Teller hinderte sie hauptursächlich daran, weiter zu essen. Da haben selbst Psychologinnen mentale Probleme – Ekelschwelle.
Samstag, 9. Juni, später Nachmittag, Riedwirtschaft
Drah di net um oh oh oh
schau, schau, der Kommissar geht um oh oh oh
er hat die Kraft und wir san klein und dumm
und dieser Frust macht mich stumm.
Drah di net um oh oh oh
schau, schau, der Kommissar geht um oh oh oh
wenn er di anspricht und du weißt warum
sag ihm dein Leben bringt di um
alles klar, Herr Kommissar.
(Falco, Der Kommissar)
»Das war mir ja fast schon klar, dass Sie hier dieses amputierte Körperteil gefunden haben! Wer denn sonst?«
Dräuend ragte sie vor unserem Tisch auf, nahm mir einen Teil der Sonne. Die MIKEBOSSler kamen zögerlich näher. Sie kannten sie noch – allzu gut.
Petra Krieger, die fescheste Kommissarin nördlich der Alpen zeigte mit ihrem schlanken, mehrfach silberberingten, attraktiven und lebendigen Zeigefinger abwechselnd auf den toten Finger und auf meine Wenigkeit. Ihr Outfit war, und da blieb sie sich erfreulicherweise treu, Männer nervös machend strukturiert. Da beginnt man am besten bei der unteren Mitte: enger schwarzer Stretch-Minirock in aufregendem Kontrast zu ihren marylinblonden schulterlangen Haaren. Oberer Bereich: züchtig hochgeschlossene blütenweiße Bluse. Nicht ein Hauch von Transparenz, leider. Ganz unten: sauerkirschrote Highheels, die nach einem Waffenschein verlangten und offensichtlich nicht wiesentauglich, geschweige denn riedtauglich waren, trugen die Frau von edler Statur. Elegant balancierte sie ihre 52 Kilogramm, geschätzte 48, auf den Ballen ihrer Füße aus, was ihren sonnenstudiogebräunten Waden eine sportliche, leicht knödelige Dynamik verlieh.
»Den habe nicht ich gefunden, das war Korbi. Wollen Sie nicht Platz nehmen? Sie stehlen mir die Sonne.«
Galant verwies ich auf den freien Stuhl am runden Tisch.
»Dann bringen Sie schleunigst den Herrn Korbi, vermutlich einer ihrer Mopedfreunde, zu mir, damit ich ihn befragen kann! Und zu viel Sonne tut nicht gut, kanzerogen.«
Sie ließ einen frostigen Blick zu meiner Motorrad-Gang blitzen. Die spontan einen Schritt zurückwichen, um nicht kryokonserviert zu werden.
Ich deutete auf meinen Sohn, der schutzsuchend an der vom Spucktuch geschützten Schulter seiner Mutter hing.
»Das ist mein Sohn, Korbinian T. Rex.«
»Wie bitte?«
»Unser Sohn!«
Tatsächlich überrascht, den Mund leicht geöffnet, schaute mich die schöne Kommissarin ungläubig an.
»Sie haben sich wirklich vermehrt? Oh mein Gott, Herr Bönle, wenn der nur einen Bruchteil Ihrer Gene hat … Das Grauen, es hat sich tatsächlich vermehrt!«
Sie schüttelte mit gespielter Abscheu den platinerblondeten Kopf, schob sich die schlanken Hände vors Gesicht, zog schauspielerisch erstklassig die highheelroten Winkel ihrer sauerkirschprallen Lippen nach unten und suchte augenzwinkernd den Blickkontakt zu Cäci. Cäcilia Maier, meine Noch-Lebenspartnerin, imitierte paviansimultan die abstoßende Mimik. Frauensolidarität – einfältige.
»Aber es besteht ja die Hoffnung, dass er mehr nach Ihrer Frau kommt.«
Cäci grinste, weibliche Doppel-Solidarität quasi. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken, ich kannte meine Kommissarin.
»Danke für das schöne Kompliment, aber Frau stimmt immer noch nicht, wir sind immer noch nicht verheiratet.«
Vorwurfsvoll, fast schon gekränkt suchte Cäci den Blickkontakt zu mir. Mir waren in diesem Satz zu viele immer noch nicht. Ich drehte meinen Kopf zu den MIKEBOSSlern, die außenringbildend jeden Gesprächsfetzen gierig aufsaugten, und zwinkerte keck, den Mund immer wieder anspitzend, in ihre Richtung. Sie konterten mit eindeutig zweideutigen Gesten – Motorradfahrer.
»Lassen Sie den Blödsinn! Also, woher haben Sie den Finger!«
»Der ist mir angewachsen, den habe ich schon seit meiner Geburt, ich denke, das ist genetisch ver…«
»Lassen Sie den Blödsinn, Sie wissen, welchen Finger ich meine. Mit solchen Scherzchen können Sie nicht einmal Ihren Mofa-Freunden imponieren. Reden Sie, wo haben Sie oder besser Ihr Sohn den abgetrennten Finger genau gefunden?«
Auffordernd nickte die Kommissarin Cäci und mir zu, setzte sich zu uns an den Tisch. Die MIKEBOSSler siedelten wieder am Nebentisch, hielten sich an ihren Bierkrügen mit ihrem Lieblingsgebräu Walder fest und begutachteten das kriminale Schmuckstück von oben bis unten. Unterhielten sich flüsternd – was selten vorkam und schnalzten immer wieder anerkennend mit der Zunge. Ich verstand sie nicht, konnte sie aber verstehen.
Cäci und ich ergänzten uns in harmonischer Parallelität in unseren Schilderungen zum abgetrennten Körperteil. Die Kommissarin lauschte und notierte. Ein technisches Gerät, das an eine Motorrad-Nummerntafel mit Touchscreen erinnerte, war ihr dabei behilflich. Sie war schon immer eine ganz Moderne.
»Haben Sie eine Idee, wem der Finger gehören könnte?«
»Glauben Sie, dass das Korbi schadet? Leichengift und so?«
»Warum Leiche?«
»Der Finger ist doch tot.«
»Meine Frage war, ob Sie einen Verdacht haben, wem der Finger gehören könnte.«
»Bin ich die Polizei oder Sie? Meine Finger sind noch alle dran.«
Zum Beweis hob ich meine Hände und fuchtelte der Hochattraktiven vor dem Gesicht herum.
»Lassen Sie das! Mit Ihnen zu reden ist immer noch recht anstrengend. Zeigen Sie mir bitte die Stelle, wo Sie das erste Mal gesehen haben, dass Ihr Grobian den Finger, äääh, gehabt hat.«
»Korbinian, Frau Tiger. Das ist ein Name. Ein deutscher Name. Auch mein Vater trug diesen Namen mit Stolz. Menschen mit Ihrem Bildungsstand kennen diesen Namen oft nicht mehr und würden Ihrem Kind wahrscheinlich einen Unterschichten-Namen geben. Kääffin.«
»Herr Bönle, ich weiß nicht, warum, aber es dauert bei Ihnen immer nur Sekunden, bis Sie mich nerven!«
Und so kam der Tag doch noch zu einem äußerst attraktiven und heiteren, musikalisch jedoch umstrittenen Abschluss. Die Kommissarin und das regionale Coleslaw-Trio hatten das Ihrige getan, mich bei bester Laune zu halten. Die Coleslaw bildenden Mannen waren bedauerlicherweise von einem drittklassigen Panflöte pustenden Indianer-Duo, das seit Wochen die Bad Saulgauer Innenstadt unsicher machte, abgelöst worden und trugen dazu bei, mein Wohlbefinden zu senken. El Condor pasa, alles nur nicht El Condor pasa.
Auch die telefonische Botschaft unseres Privat-Hausarztes Herr Dr. Bein, dass wir wegen des Leichengifts wohl nichts zu befürchten hätten, ließen mich und meine Cäci wieder versöhnlicher werden. Dr. Bein meinte noch, ich solle unbedingt wegen der anderen Angelegenheit bei ihm vorbeikommen – demnächst. Dr. Bein war Freund und medizinischer Berater von Cäci und mir. Mit Korbi waren wir natürlich bei einer Kinderärztin. Und da war ich tatsächlich Cäcis Meinung, dass bei Kindern Frauen einfach besser sind. Aber wie gesagt, wegen der anderen Angelegenheit bald zu Dr. Bein, der als Chirurg im Bad Saulgauer Krankenhaus arbeitete. Aber Cäci durfte es nicht wissen.
Unversöhnlich waren die MIKEBOSSler wegen des Alkoholmissbrauchs: Ich musste ihnen eine neue Flasche Willi bezahlen. Ich tat mein Möglichstes, den dadurch entstandenen finanziellen Verlust über meine Schluckmuskulatur zu kompensieren. Cäci fuhr dann abschließend von der konkurrierenden Riedwirtschaft zum nahen Riedhagen in den Goldenen Ochsen zu ihrer Mutter nach Hause. Das war mir nicht recht, wir waren mit dem Chevy Impala die 1,6 Kilometer angereist, da war ich immer etwas in Sorge um das Fahrzeug. Frecherweise wollte meine Schöne mit Korbi bei ihrer Mutter nächtigen. Ich musste die circa 100 Meter – gefühlte 20 Kilometer – zu Fuß vom Goldenen Ochsen in mein geerbtes Reich zurücklegen. Aber manche Tage entwickeln abschließend eine Eigendynamik, die fast schon etwas Peripatetisches hat, etwas Herumschlenderndes.
Sonntag, 10. Juni, morgens gegen 2:00 Uhr, Inzigkofer Park, bei der Teufelsbrücke
And as we wind on down the road
our shadows taller than our soul
there walks a lady we all know
who shines white light and wants to show,
how everything still turns to gold
And she’s buying a stairway to heaven.
(Led Zeppelin, Stairway to heaven)
An und für sich wäre es ein freundliches und interessantes Fleckchen Natur. Bäume, Felsen, Wiesen, Donau. Alles, was man so braucht für eine beamtentaugliche, naturbejahende Naherholung. Aber auch der Hartzvierler findet hier gemütliche Nischen, wo er Wodkaflaschen, Zigarettenschachteln, Kippen und Fastfood-Verpackungsmaterial in felsigen Nischen und Ritzen oder am Donauufer zurücklassen kann. Denn auch der Hartzler hat ein Recht auf artgerechte Umweltverschmutzung, nicht nur der Spitzenmanager mit seinem 500er, der schon beim Starten mehr Abgase ausstößt als eine Hartzler-Raucherfamilie das in ihrem ganzen Leben tut. Ganz zu schweigen von den Privatjets oder den Latexspuren, die eine Horde Versicherungsmanager rund um den Globus legt. Würde man diesen Lust-Gummi recyceln, dann bräuchte ein Hartzler seine abgefahrenen Sommerreifen nicht mühsam mit dem Linolschnittmesser aus seiner misslungenen Grundschulzeit zum Winterreifen nachschneiden. Ja, so sieht’s aus.
An Wochenenden pilgern kleine Familien durch den herrlichen Naturpark und bestaunen die steilen Felsen mit den Höhlen. Erwachsene Männer in teurer Outdoor-Kleidung okkupieren Grillstellen und machen aus Wurst Kohle, während sich ihre Kinder felsstürzenderweise ein Schultergelenk ausrenken. Die Gattinnen stehen weg vom Feuer, wegen der Kleidung, das roch, außerdem wäre ihnen ein Latte in Sigmaringen lieber gewesen. Der herrliche Park schlängelt sich zwischen der Donau und der Gemeinde Inzigkofen und ist Eigentum des Fürstenhauses. Die stolzen Inzigkofer verdanken ihren Park der Säkularisation, seit 1802 gehört er dem Fürstenhaus Hohenzollern-Sigmaringen. Und heute darf jeder, ob Prinz oder Hartzler, durch den Park flanieren.
Immer wieder öffnet sich der Blick hinunter zur Donau, die träge auf den Amalienfelsen zusteuert, um in einem Linksbogen ein kühnes Ausweichmanöver zu tätigen. Vor allem die steinerne Teufelsbrücke, die zwei Felsvorsprünge stolz miteinander verbindet, zieht die Spaziergänger magisch an. Ehrfürchtig, den Schwindelreiz genießend, schauen Erwachsene auf die Geröllhalde in der Tiefe. Größere Kinder machen sich einen Spaß daraus, hinunterzuspucken und zu zählen, wie lang es braucht, bis der Auswurf über 20 Meter weiter unten landet. Väter erzählen ganz kleinen Kindern die Geschichte, woher der Name Teufelsbrücke kommt. Die Kinder sind danach alle therapiebedürftig.
Hört mal zu, sagen die Väter, das war nämlich so: Der Fürst Karl hat seinem Baumeister gesagt: Bau eine Brücke über die Schlucht, weil über eine so schöne Schlucht gehört eine schöne Brücke. Der freche Baumeister hat aber gesagt: Der Teufel soll die bauen, aber nicht ich! Kaum hat der Baumeister das gesagt, stand der richtige Teufel stinkend und dampfend vor ihm und versprach dem erschrockenen Baumeister, eine Brücke über die Schlucht zu bauen. Aaaaber beim Teufel hat das immer einen Haken, nämlich unter der Bedingung, dass die Seele von dem, der als Allererster über die fertige Brücke geht, dem Teufel gehört. Sie beschlossen den Handel, aber als die Brücke fertig war, jagte man einen alten Köter darüber, und der Teufel war der Depp.
Nach dieser Erzählung hielten die Väter ihre Kinder über das massive Steingeländer, zwangen sie, in die Tiefe zu schauen und machten ihnen dadurch noch mehr Angst. Die Mütter unterhielten sich übers Fettabsaugen.
Jugendliche wiederum, die aus dem Religionsunterricht wissen, dass es gar keinen Teufel gibt, setzen sich cool, um ihren Mut zu zeigen, auf das steinerne Geländer, und schmeißen, zum Ärger der Fischer am Ufer der Donau, Steine, Kippen, Getränkedosen und gebrauchte Tempo-Taschentücher in den Wipfel der einsamen Tanne unter ihnen.
Nun war es anders. Es war schon nach Mitternacht. Die Brücke zog sich als düster drohender, in der Mitte nach oben hin spitz zulaufender Bogen in die Dunkelheit der Nacht hinein von Felswand zu Felswand.
Flüchtende, schlitternde Schritte durchbrachen jäh die üblichen Geräusche der Nacht.
Der Junge wusste, wenn er die Brücke hinter sich hatte, dann ging es fast nur noch bergab, dort würden sie ihn trotz seiner Verletzung nicht mehr einholen. Dann würde er nur noch wenige Meter bis zu seinem Moped sprinten, das in einem Gebüsch beim Amalienfelsen versteckt war. Den Schmerz in seiner rechten Hand würde er ignorieren. So könnte er ihnen entkommen.
Vor ihm der enge Durchlass, der in den Fels geschlagene Tunnel. Jetzt, in der dunklen Nacht, konnte man die bräunlichen Flechten in der Steinröhre nicht erkennen. Hinaus aus dem kurzen Steindurchgang, kiesiger Untergrund jetzt nach dem rutschigen Stein, die Stufen, nur wenige, direkt vor der steinernen Brücke. Mit seiner linken Seite schrammte er an das Holzgeländer, das vor der treppig ansteigenden Brücke die linke, steil zur Donau abfallende Seite sicherte. Das Gebälk ächzte. Die Teufelsbrücke lag nur wenige Meter unter ihm. Die Schritte der Verfolger kamen immer näher. Er stolperte über die letzte abwärtsführende Holzstufe, bevor er die steinerne Brücke erreichte. Mit seiner rechten Hand versuchte er, den Sturz auf den felsigen Boden abzufedern. Der Schmerz kam wie ein Blitz zurück in seine Hand und durchfuhr den ganzen Arm. Der Finger! Wenn sie ihn erwischten, was würden sie ihm noch antun? Ohne auf den Schmerz einzugehen, stützte er sich vom Boden hoch und hastete die wenigen Schritte zur Brücke. Die Dunkelheit machte ihn unsicher. Die Verfolger kamen immer näher. Er spürte die ersten Steinstufen unter seinen Füßen. Schneller, er konnte ihnen entkommen. Hoch, hoch bis zur höchsten Stelle, der kleinen Plattform, dann ebenso viele Stufen auf der anderen Seite hinunter. Am abgesägten Baum vorbei, dann wäre er gerettet.
Der helle Strahl traf ihn wie ein Blitz in den Augen und ließ ihn sofort in der Mitte der Brücke anhalten. Hastig drehte er seinen Kopf in die andere Richtung. Wo waren die Verfolger? Die Antwort gab der zweite Strahl. Sie hatten ihn.
Vor und hinter sich hörte er das Keuchen seiner Häscher. Der grelle Schein der Taschenlampen blendete ihn. Nur Keuchen, Dunkelheit und schmerzende Lichtimpressionen. Dann das rhythmische Stampfen der Füße, dazu der langsam anschwellende Gesang:
»Spring! Spring! Spring! Spring! …«
Die irritierenden Lichtkugeln tanzten gleißend hell von beiden Richtungen immer näher an ihn heran.
»Spring! Spring! …«
Sie würden ihn töten, er wusste es, er kannte sie. Er war einer von ihnen. Auch er hatte den Eid geschworen.
Spring! Spring! Spring! Spring!, hämmerte es im tödlichen Rhythmus in seinem Kopf.
Dann war es plötzlich ganz ruhig in ihm. Lichter tanzten. Er hatte nur eine Chance. Rasch ging er zwei Schritte auf den Lichtertanz am Ende der Brücke zu, schwang sich unter Zuhilfenahme der unverletzten linken Hand auf das steinerne Geländer. Tief einatmen. Beim Absprung in das dunkle Nichts hielt er die Luft an. Sein rotblondes Haar leuchtete ein letztes Mal im zitternden Spot einer Taschenlampe auf.
Das Letzte, was Peter hörte, war: »Spring!«
Das Letzte, was Peter sah, waren die steinernen Stufen der Teufelsbrücke von unten. Die Treppe zum Himmel.
Sonntag, 10. Juni, früh am Morgen, Inzigkofen, unterhalb der Teufelsbrücke an den Wassern der Donau
In einem Bächlein helle,
da schoss in froher Eil
die launische Forelle
vorüber wie ein Pfeil.
Ich stand an dem Gestade
und sah in süßer Ruh
des muntern Fischleins Bade
im klaren Bächlein zu.
Ein Fischer mit der Rute
Wohl an dem Ufer stand,
Und sah’s mit kaltem Blute,
wie sich das Fischlein wand.
(Christian Friedrich Daniel Schubart, Die Forelle)
Frank Bärzel war schon früh losgezogen, um sein Anglerglück zu finden. Ja, was gab es Schöneres und Ursprünglicheres als die Jagd auf die Regenbogenforelle. Und wenn einer wusste, wo die größten Forellen bissen, dann der Frank. Als leidenschaftlicher Verfechter der Bärzel-These hatte er die Wassertemperatur beobachtet, und da die Donau unter 19 Grad hatte, aber auch über fünf Grad lag, stand dem Anglerglück nicht mehr viel im Wege. Selbst die Solunarzeit hatte er berücksichtigt und war zur morgendlichen Dämmerung gestartet. Wobei er sich nicht ganz sicher war, ob er sich da nicht verrechnet hatte. Aber Erfahrung, langjährige, war wichtiger, und die hatte er. Vom Amalienfelsen her, wo er sein Fahrrad mit dem Anhängerchen parkte, schritt er nun mit der Rute, dem Köfferchen und viel Bier am Ufer unterhalb des Wanderweges gegen den Flusslauf zu seiner Geheimstelle. Dort beißt sie, die Forelle. Er hatte seine spezielle, feinfühlige recht kleine Forellenrute mitgenommen, die war einfach sensibler. Als Rolle diente eine kleine, leichtläufige Stationärrolle mit einer hervorragenden Bremse. Die 0,18 Millimeter-Schnur würde mit Sicherheit ausreichen. Köder – nur Natur. Mehlwürmer aus eigener Zucht, nichts anderes.
Jawoll, hier war er der Natur am nächsten, hier war die Donau am schönsten. Hier lohnte sich der Kampf mit dem Element und dem Tier. Keiner kannte die Donau zwischen Laiz und Dietfurt besser als er. Auch das Altwasserstück, das jenseits der Donautalstraße lag, war ihm bestens vertraut. Aber genau diese Stelle hier, die von oben die Mäander des jungen Flusses wie ein großes M erscheinen ließ, war sein Revier. Er kannte das Gurgeln der Wasser zu jeder Jahreszeit. Hier hatte er schon oft den nächtlichen Igel oder die scheue Bisamratte gesehen und sogar den schillernden Eisvogel beobachtet, wie er flink ins Wasser eintauchte, um wenig später ein silbrig zappelndes Fischchen auf einem Ast zu verspeisen. Ja, das war sein Revier. Er öffnete noch im Gehen ein Fläschchen Petri-Bier, seufzte zufrieden und verfälschte laut singend Marius Müller Westernhagen: Ich bin wieder hier, zieh an meinem Bier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hoffentlich beißt mich kein Zeck …
Unterhalb der Teufelsbrücke stellte er sein Equipment am steinigen Ufer der Donau ab, die Getränke platzierte er wenige Meter entfernt unter einer einsamen Tanne, deren Wipfel die kühne Steinbrücke zu kitzeln schien.
Und nun Petri Heil, auf zum Ufer, zum Kampf mit der Forelle. Er stapfte gummibestiefelt zur Donau hin, als ihm einfiel, dass es nie zu früh für ein zweites Petri-Bierchen war. Er ging durch steiniges Geröll zurück zum Fuß der mächtigen Tanne, um ein weiteres Fläschchen aus dem Six-Pack-Gebinde zu befreien, als ihm die sirupartige dunkle Flüssigkeit am Karton auffiel. Sie tropfte von oben auf Verpackung und Flaschen.
»Ja, sag auch, wo kommt denn das her?«
Er tupfte vorsichtig in die zähe Flüssigkeit und schnupperte daran. Blut, das war Blut.
Oben zwischen den Ästen hing der Körper. Als ob man eine Vogelscheuche zwischen zwei Astgabeln drapiert hätte. Aber Vogelscheuchen bluten nicht. Der nunmehr nervöse Petrijünger Frank rief nach oben:
»He, was machst denn da, wie bist denn da ’nauf kommen?«
Als Antwort kam ein kaum wahrnehmbares Stöhnen.
»He, geht’s dir nicht gut?«
Als Antwort kam nichts mehr. Frank zückte seinen ganzen Stolz, das Smartphone. Mit den vielen notwendigen Angler Apps: Fangbuchapp, Fischhitparade, Anglerwitze, Fisch&Sex …
Der zitternde Daumen tippte 112.
Montag, 11. Juni, morgens, Sigmaringen, Gewerbliche Schule, Rektorat und Klassenzimmer der Tischler
Well we got no choice
all the girls and boys
makin’ all that noise
’cause they found new toys
well we can’t salute ya
can’t find a flag
if that don’t suit ya
that’s a drag
(Alice Cooper, School ’s Out)
»Herr Bönle, man hatte mich ja gewarnt vor Ihnen, aber dieser Einstand bedarf keines weiteren Kommentares. Gehen Sie nun in Ihre Tischler-Klasse. Sie sind schon spät genug dran. Sollte ich noch einmal eine ähnliche Provokation, und ich sehe dies wirklich als Provokation und nicht als Scherz, erleben, dann werde ich ein Disziplinarverfahren gegen Sie einleiten. Ist ja nicht Ihr erstes in Ihrer kurzen Schulkarriere. Wir brauchen Sie zwar hier dringendst für das Fach Religion, aber Sie wissen, jeder ist ersetzbar! Ich hoffe, Ihr Fahrzeug ist versichert und Sie können den Schaden, der an meinem Fahrzeug entstand, begleichen.«
»Nochmals Entschuldigung, Herr Fröhlich, es war nicht im Geringsten meine Absicht, in irgendeiner Weise etwas zu tun, was Sie oder die Schulharmonie stört. Aber ein Unfall ist doch keine Provokation.«
»Nicht der Unfall, Herr Bönle, ist das, was mich stört. So etwas kann jedem mal passieren. Es ist die Art und Weise der Entstehung. Ihre Anreise an Ihrem ersten Arbeitstag mit diesem Fahrzeug betrachte ich schlichtweg als eine Provokation!«
Der kleine, rundliche Direktor Friedhelm Fröhlich meines neuen Wirkungsortes in Sigmaringen versuchte, seinem hochroten Kopf eine blassere Farbnuance zu geben. Es misslang. Er begutachtete mich noch einmal vom dunklen Haar bis zum abschließenden Cowboystiefel, deutete dann mit seinem molligen Zeigefinger auf meine linke Brust:
»Muss das sein? Und nun, ab in den Unterricht!«
Vorsichtig, unzählige Entschuldigungsformeln murmelnd, bewegte ich mich rückwärts in leicht gebeugter Haltung aus dem Rektorat der Sigmaringer Berufsschule – meiner neuen Arbeitsstätte.
Auch die Sekretärinnen, an denen ich mich galant vorbeibewegte, schienen sowohl von meinem Schuhwerk als auch von meinem Brustschmuck, der mein schwarzes Knitterseiden-Jackett schmückte, angetan.
Die netten Kollegen meiner Stammschule in Bad Saulgau nannten es grinsend Strafversetzung. Ich sah es eher als eine Art Beförderung an, in der schönen Hohenzollerischen Kreisstadt mit dem stolzen Schloss als Wahrzeichen sechs Stunden unterrichten zu dürfen. Etwas ärgerlich war die Versetzung mitten im Schuljahr, das heißt, direkt nach den Pfingstferien. Am heutigen Montag startete mein neues, zweites Lehrerleben. Immerhin zwei Stunden waren mir in meiner alten, geliebten Schule vergönnt. Mein Deputat hatte ich auf summa summarum acht Stunden reduziert, um mich der schwierigen Aufgabe der Erziehung meines Sohnes besser widmen zu können und um Cäci beim Berufseinstieg zu entlasten. Außerdem konnte Cäci nicht kochen.
Es ist schon möglich, dass mein in Pädagogenkreisen viel beachteter Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung Wider einzu-Tode-Evaluieren der Pädagogik, in dem ich die Angestellten des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg progressiver Verdummung und crescendierender Infantilität bezichtigte, einen kleinen Ausschlag gab für den Zwangswechsel in das Hohenzollern-Städtle.
Vielleicht trug auch der Aufmacher in der BILD-Zeitung nach meiner Beteiligung an der Festnahme eines Mörders im klösterlichen Milieu: Religionslehrer Rambo – Schuss treffsicher ins eigene Gesäß dazu bei, mich aus dem Schulleben Bad Saulgaus zu entfernen.
Vielleicht lag es auch ein bisschen an der Anzeige wegen unerlaubten Waffenbesitzes oder auch an der Sache mit der bärtigen Nonne – wer konnte das schon so genau wissen? Da muss man sich nicht unbedingt den Kopf darüber zerbrechen.
Ich selbst hatte mich mental schnell mit dem Wechsel abgefunden: Variatio delectat! Auch die längere Anfahrstrecke von nun 35 Kilometern ist eigentlich kein Problem für einen flexiblen und modernen Menschen wie mich. Eigentlich!
Aber genau hier lag das Problem, war die Ursache meines unglücklichen Einstiegs an der Berufsschule im schönen Sigmaringen.
Eigentlich wollte ich mit meiner Harley Davidson Streetbob im Oldschool-Look anreisen. Das kam immer gut an, vor allem bei den Kolleginnen. »Oh, Sie fahren Motorrad, was denn? So wie Sie aussehen, bestimmt eine Harrlai? Ist das bequem mit dem Hochlenker? Auf einer Harrlai wollte ich schon immer mal mitfahren!« Und schon hatte man mit den attraktivsten, langbeinigsten, wohlgeformtesten, lederminirocktragenden, whiskytrinkenden Biker-Kolleginnen Freundschaft fürs Leben geschlossen. Ruckzuck ist man zu einem Lagerfeuer am Amalienfelsen an der Donau mit nächtlichem Nacktbaden eingeladen. Ruckzuck!
Eigentlich sprang die Nachtschwarze mit ihren 1600 Kubikzentimetern immer an. Eigentlich!
Ich entschloss mich dann spontan, den Chevy Impala zu nehmen. Das kam immer gut an, vor allem bei den Kolleginnen. »Oh, gehört der Oldtimer Ihnen, darf man da mal mitfahren? Das ist ein Amischlitten, gell? Hat der Automatik? Mit so was wollt ich schon immer mal mitfahren!« Und schon hat man mit den knuffigsten, Petticoat tragenden, colamitwhiskyontherockstrinkenden, pferdeschwanzfrisierten Rock ’n’ Roll-Kolleginnen Freundschaft fürs Leben geschlossen. Ruckzuck ist man zu einer Dessous-Party mit Buddy Holly Liedern eingeladen. Sixties Style. Ruckzuck!
Eigentlich sprang er immer an. Eigentlich!
Cäci war mit ihrem roten Mädchen-Auto mit den Kulleraugen-Scheinwerfern schon früh nach Bad Saulgau gestartet, die neue Praxis herrichten. Ein paar Meditationsbilder aufhängen, eine buddhistische Klangschale aufstellen, ein Zimmerbrünnchen mit sich ständig drehender Marmorkugel installieren, ein paar robuste Pflanzen platzieren. All so ein Firlefanz halt, den man eben zwecks Kundschaft und Wellness-Feeling in so einer Praxis braucht.
Gott sei Dank hatte ich den prähistorischen Fahr-Mähdrescher in den Pfingstferien restauriert. Und so fuhr ich nun mit dem kleinen roten Bauerngefährt mit der Typenbezeichnung M66 und dem gottlob schmalen Schneidwerk nach Sigmaringen an meinen neuen Arbeitsplatz. In Ermangelung von Geschwindigkeit kam ich dort eine halbe Stunde zu spät an. Und dann noch der kleine Fauxpas beim Einparken. Wie immer – an jeder Schule dieser Welt – waren die Parkplätze für die leitenden Angestellten der Bildungsanstalt nur spärlich besetzt. Aber weil Lehrer grundsätzlich nicht einparken können, gab es nur enge Lücken – für mein spezielles Gefährt. Die rot leuchtende Schramme vom vorderen Kotflügel bis hin zum hinteren Kotflügel am blütenweißen neuen Q7 meines Chefs bemerkte ich erst beim Heruntersteigen vom Mähdrescher. Eigentlich bin ich ein sehr versierter Automobilist und Motorradfahrer, nur mit dem Mähdrescher hapert es noch ein bisschen. Die Breite des Mähbalkens hatte ich offensichtlich falsch eingeschätzt.
»Vergessen Sie nicht, wir sind hier kein landwirtschaftlicher Betrieb, sondern eine innovative Berufsschule im fortlaufenden Evaluationsprozess, und nun gehen Sie bitte schleunigst in Ihre Klasse. Achten Sie bitte darauf, ob alle Schülerinnen und Schüler anwesend sind. Die Klasse gilt als problematisch, vor allem was die Anwesenheitspflicht betrifft. Ich hoffe, Sie regieren mit strenger Hand!«
Mit einer wischenden Handbewegung entfernte mich mein neuer Rektor aus seinem Hoheitsbereich und tat sofort geschäftig, indem er zu einem antiken Pelikan-Füller mit Goldfeder griff und sinnlos Blätter auf seinem mächtigen Schreibtisch hin und her bewegte. Ich nutzte seine Ignoranz, um ihn kurz zu studieren. Circa 40, latenter Choleriker und, was mir am besten gefiel, das auf seinem Kopf war garantiert ein Toupet. Nicht schlecht gearbeitet, aber trotzdem … gut, dass ich in meiner vorherigen Karriere an der Gewerblichen Schule in Bad Saulgau Friseurinnen mit Katholischer Religionslehre beglücken konnte. In Bad Saulgau unterwies ich zurzeit hoffnungsvolle Eleven lediglich mit zwei Stunden Religion in einer Klasse, deren Kürzel ich mir nicht einmal merken konnte – irgendetwas mit 2PW1R2R oder so ähnlich. Vermutlich war das Kürzel länger als die eigentliche Berufsbezeichnung. Die zwei Stunden wurden mir garantiert reingedrückt, um etwas mehr Fahraufwand zu haben, eine kleine Bestrafung für meine Verfehlungen. Aber alles hat seinen Nutzen. Alles ist nie umsonst. Alles wird wieder gut.