Kässpätzlesexitus - Michael Boenke - E-Book

Kässpätzlesexitus E-Book

Michael Boenke

4,4

Beschreibung

Das heitere Kässpätzleswettessen in sommerlich oberschwäbischer Idylle nimmt ein jähes Ende: eine tote Mitesserin - erstickt am schwäbischen Gaumenschmaus. Ein Unfall, so ergeben es die Untersuchungen. Dann wird eine zweite Tote gefunden, gegart im Dampf des Pasteurschranks einer oberschwäbischen Brauerei. Und wiederum heißt es: ein tragischer Unfall. Daniel Bönle, mittlerweile Hausmann, wird in die skurrilen Ereignisse hineingezogen. Seine Ermittlungen führen ihn auch wieder ins geheimnisvolle Ried ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 285

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
10
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Boenke

Kässpätzlesexitus

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliche Kässpätzle Sommer, Sonne, Riedidyll in Oberschwaben. Eine Brauerei richtet ein Kässpätzleswettessen aus, an dem auch die Motorrad-Gang von Daniel Bönle teilnimmt. Während des kulinarischen Wettbewerbs kommt es zu einem tragischen Unglück. Eine Teilnehmerin, die eine Gruppe Motorradfahrerinnen unterstützt, erstickt beim Wettbewerb am schwäbischen Nationalgericht. Ein Unfall, so heißt es. Wenig später findet man im Pasteurschrank der Brauerei eine Tote, die schon beim Kässpätzlesevent eine Rolle spielte. Im Dampf durchgegart! Daniel Bönle, der mittlerweile als Hausmann und stolzer Jung-Vater in seinem neuen Heim sein Dasein fristet, mag nicht an die Aneinanderreihung von Zufällen glauben. Hat die Damen-Biker-Gruppe etwas mit den Todesfällen zu tun? Und welche Rolle spielt der Neue in Bönles Biker-Gang? Plötzlich ergeben sich viele Fragen und wenige Antworten.

Michael Boenke wurde 1958 in Sigmaringen geboren und lebt heute im oberschwäbischen Bad Saulgau. Er absolvierte ein Studium der Germanistik und Katholischen Theologie. Von 2002 bis 2010 war er am Institut für berufsorientierte Religionspädagogik an der Universität Tübingen und als Schulbuchautor tätig. Seit September 2010 unterrichtet er am Berufsschulzentrum in Bad Saulgau. Nach Veröffentlichungen als Schulbuch-, Sachbuch- und Kinderbuchautor gab der begeisterte Harley-Fahrer 2010 sein erfolgreiches Krimidebüt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2021

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jack Jelly / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4600-9

Widmung

Für Johannes, der etwas geschafft hat, was ich nicht geschafft habe!

1. Monkey

»Schlitzbüchs! Du elendige! Wart bloß, nachher setzt’s was! Und fahr nicht so schnell in Hof rein, du machst ja die Säue ganz verrückt! Und den Auspuff reparierst jetzt endlich mal. Ich möchte nicht noch mal die Polizei auf dem Hof haben.«

Wirkungslos streiften die Worte die Tannen und Birken, die den Hof als lebende, jahreszeitlich grün gekleidete Schutzsoldaten umgaben. Der Bauer stemmte die Fäuste in die Hüften, spuckte auf den Boden, schüttelte den Kopf und zischte:

»Schlitzbüchs, dir werd ich schon noch Mores beibringen!«

Die Tochter öffnete mit einer Hand routiniert den Helmverschluss des mattschwarzen Bell-Helmes, zog ihn, das Gesicht schmerzlich verziehend, vom Kopf und schüttelte ihr blondes, schulterlanges Haar aus.

»Hast du gehört?«, schimpfte der Vater über die Hühner hinweg, die nach der rasanten Einfahrt der jungen Frau aufgeregt wieder ihre Pickplätze eingenommen hatten.

»Das solltest selbst du begreifen, dass ich unter dem Helm nichts höre! Aber, wenn man seinen Verstand versoffen hat …«

»He, ich hab mit dir geredet, ras nicht so in den …«

»Aber ich nicht mit dir!«

»Unverschämtes Luder, wart bloß …«

Der echauffierte Ried-Landwirt griff zu einer abgebrochenen Holzstange, die einst, zu besseren Zeiten, dazu diente, Stangenbohnen ein Wachs- und Tragegerüst zu geben, und rannte drohend auf seine Tochter zu. Die Beschimpfte stieg lang- und breitbeinig in provokantem Zeitlupentempo über das blaue Minimotorrad, streckte dem heranstürmenden und schwankenden Vater die Zunge heraus und zeigte ihm den mehrfach Silber beringten Mittelfinger der rechten Hand. Der Bauer hob die Bohnenstange über den Kopf und – stolperte wenige Schritte vor seinem Opfer, landete auf dem gekiesten Boden des heruntergekommenen Hofes.

»Schlitzbüchs, du elendige … solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst … deine Schwester, nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester … was hab ich bloß mit dir falsch gemacht? Die Chantal macht bloß Freud, und du, du bist, du, du …«

»Nix, mach eine Entziehungskur, Papa, dann wär auch die Mama noch hier, dann wär die nicht weggelaufen. Und lass mich einfach mein Leben leben und nicht das meiner Schwester!«

Sie half ihrem Vater auf die Beine, entwand ihm die Waffe Bohnenstange und schmiss sie leichthändig, mit erstaunlicher Energie in die verstörte Hühnerschar. Widerwillig machte sich der Vater von seiner Tochter los.

»Lass mich, das kann ich allein!«

»Mal sehen!«

Der 45-jährige Landwirt klopfte unsicher stehend mit tapsigen Handbewegungen über seinen verwaschenen ›Blauen Anton‹, um die Kieselsteinchen zu entfernen. Mit weitem, regional eher untypischem Seemannsgang versuchte er, den Kurs zum Stall hin zu halten.

Der sichere Hafen.

Sein Reich.

Der Stall.

Das Versteck.

Der Schnaps!

Jacqueline spuckte auf den Boden, stieß mit ihren verwitterten Cowboystiefeln die ärgerlich ächzende Eingangstür auf.

»Hi!«

»Hi!«

»Was war wieder los?«

»Nix, er ist wieder besoffen! Er hat mich wieder als Schlitzbüchs beschimpft!«

»Nimm das nicht so ernst, Schaki, du weißt doch, seit die Mama weggelaufen ist, ist alles schlimmer geworden, noch schlimmer, jetzt geht er bestimmt wieder in den Stall!«

Jacqueline schüttelte langsam den Kopf.

»Das ist doch egal, der war doch schon wieder auf Alk, der konnt sich kaum auf den Beinen halten.«

Die hagere Chantal zuckte mit den Schultern. Gemeinsam gingen sie in die Küche, in der der Geruch von abendlichen Pfannkuchen den vom mittäglichen Kohl überlagerte.

»Pfannkuchen, Schanti?«

Chantal nickte.

»Warst du wieder mit den Brides unterwegs?«

Jacqueline nickte.

»Wie möchtest du deinen ersten?«

»Mit Speck und Zwiebeln. Isst du nichts?«

»Hab schon!«

»Glaub ich nicht!«

»Lass mich!«

»Hast du’s wieder rausgekotzt?«

»Lass mich in Ruhe!«

»Gell, du hast wieder alles rausgekotzt?«

»Lass mich endlich in Ruhe! Ich lass dich leben, du lässt mich leben, okay?«

»Ja, okay, aber du musst normal essen!«

Jacqueline scannte ohne Emotionen die schlanke Silhouette ihrer Schwester. Eigentlich sahen sie sich sehr ähnlich, wenn sie nur ein bisschen etwas aus sich machen würde.

»Du verkümmerst noch auf dem Hof hier«, murmelte kopfschüttelnd die Schwester.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts!«

Chantal wendete routiniert den Pfannkuchen, schüttelte ihn zuvor kurz auf der schwarz glänzenden Bratfläche der gusseisernen Pfanne. Auf der goldbraunen Oberfläche verteilte sie mit einem Löffel gerösteten Speck und Zwiebeln aus einer weiteren Pfanne.

»Schnittlauch?«

»Mhh.«

»Mama hat ihn auch immer mit Schnittlauch gegessen!«

»Mhh.«

»Hat sie sich heute gemeldet?«

»Hmm.«

»Ihr neuer Lover ist ein Arsch!«

»Ich weiß, aber er säuft wenigstens nicht!«

»Mensch, Schaki, du trinkst doch auch, wenn du mit deinen Brides unterwegs bist!«

»Das ist was anderes, wir genießen Alkohol, Papa säuft. Ich bin noch nie umgefallen. Papa sieht man häufiger in der Horizontalen als in der Vertikalen!«

»Ihm fehlt Mama!«

»Die ist gegangen, weil er so säuft.«

Chantal lieferte den Pfannkuchen aus der heißen Pfanne an ihre Schwester Jacqueline. Geschickt hatte sie ihn mit dem Pfannenwender zu einem halbierten, gefüllten Pfannkuchen geformt und sanft auf Jacquelines Teller gleiten lassen.

»Lass dir’s schmecken, Schaki!«

»Mhh. Wie macht man eigentlich Pfannkuchen?«

»Mein Gott, ich glaub’s ja nicht, das bekommt doch jeder hin.«

»Quatsch keine Opern, wie geht’s? Das würde ich gerne mal mit den Brides machen.«

»Soll ich dir das jetzt wirklich erzählen?«

»Los, mach schon!«

»Mehl, Eier, Milch, Salz, Prise Zucker. Das ist alles!«

»Wie viel von dem Zeugs?«

»Ich nehme bei 500 Gramm Mehl nur ein Ei …«

»Und wie viel Milch?«

»Schau, bis der Teig so eine Konsistenz hat. Und ich mach immer mehr Pfannkuchen, die halten prima ein paar Tage im Kühlschrank, das gibt dann mit einer Fleischbrühe eine tolle Flädlesuppe. Das hat die Mama auch immer so gemacht.«

»Ach lass mich mit Mama in Ruhe!«

»Machen deine Brides jetzt mit beim Kässpätzleswettessen am Samstag in K’wald?«

»Klar sind wir dabei! Wir müssen die arroganten Harley-Säcke doch schlagen. Dieses Mal holen die Brides den Pokal!«

»Wer ist noch mit dabei?«

»Der Witwer-Klub, die haben gegen uns keine Chance, das sollen hundsalte Säcke sein, die nur teilnehmen, um nicht zu verhungern. Der Älteste soll 100 sein oder mehr. Aber die Junge Union, die können fressen, da müssen wir aufpassen.«

»Nur vier Mannschaften?«

»Nein, noch ein paar Vereine aus der Umgebung und irgend so ein Saufverein.«

»Wie viele Leute pro Mannschaft?«

»Fünf, wir brauchen noch eine Mitesserin. Du kommst doch auch, Schanti? Bitte, dann kommst du hier mal raus. Wir brauchen dich als Verstärkung, reinstopfen kannst du ja, darfst nachher auch alles wieder rauskotzen!«

»Lass das, ich will nicht, dass du so mit mir redest. Mit Sicherheit gehe ich nicht zu diesem Wettfressen! Außerdem will ich hier nicht raus. Wenn ich sehe, wie du lebst, immer nur deine Brides, ihr seid doch so was von billig.«

»Ich habe wenigstens noch meinen Job als Taxifahrerin, aber du hängst nur hier ab. Seit Mama weg ist, redest du davon, die Mittlere Reife nachzumachen. Lupf doch endlich deinen faulen Arsch und versteck dich nicht nur hier auf dem Hof.«

»Fauler Arsch, das sagt die Richtige, wer macht denn hier alles, putzen, kochen, Garten, die Schweine, den Vater versorgen, wenn er mal wieder alles vollgekotzt hat? Wer? Sag’s! Wer? Los, sag’s!«

»Ach, fuck you! Verreck doch hier und sei stolz drauf! Lass mich jetzt in Ruhe essen. Ich muss gleich bei meinen Brides sein!«

»Fuck you selbst, Biker-Schlampe!«

2. Jeauloise minds

»Die arrogante Kuh, die rällige, ich könnt ihr den Hals umdrehen. Das war mir klar, dass sie Berthold anmacht, die Büchs, die verdammte!«

Flora warf ihr langes, rotes Haar energisch aus dem Gesicht, die grünen Augen eisten Monscheri.

»Hei, bleib cool, Sister, du weißt doch, wie sie ist, das vergeht schnell wieder. Und mich brauchst du nicht so anzustieren, ich kann nichts dafür, Sister.«

»Schon, aber ihr scheint’s nur drauf anzukommen auszuspannen. Sie soll die Finger von Berthold lassen, auch wenn sie die Chefin ist!«

»Ja, das weißt du doch! Sie muss alles dominieren, was meinst du, wie’s ihrer Schwester geht?«

Flora rutschte auf der schmalen Sitzbank ihrer schwarzen Honda Monkey nervös hin und her. Sie trommelte einen Stakkato-Rhythmus auf den mit aufgeklebten Blümchen versehenen Tank der winzigen Viertaktmaschine. Die silbernen Ringe verstärkten den blechernen Klang.

»Hey Sister, ganz ruhig, deine Maschine kann nichts dafür.«

Monscheri verzog ihre vollen Lippen und legte eine blendende Reihe weißer Zähne frei. Viel zu groß, um bequem auf ihrem kleinen Gefährt zu sitzen, stand Monscheri breitbeinig neben ihrer Monkey mit der Zebramuster-Lackierung. Als Monscheri das Viertaktbrummen einer weiteren Monkey hörte, stellte sie einen Fuß provokativ auf den Sattel ihrer auf dem Seitenständer ruhenden Maschine, was ihre langen Beine noch besser zur Geltung brachte. Sie strich sich durch den Afrolook, um die Haare noch weiter aufzustellen, und demonstrierte die coolste Mimik ihres schwarzen Gesichts. Ebenso schnell mutierte das Gesicht wieder freundlicher, als sie die Maschine von Aische, begleitet von einer Staubfahne auf den Kiesparkplatz am Seepark einbiegen sah.

Monscheri nahm den Fuß vom Sattel und hob die Hand zum Gruß. Dreimal machte sie eine Faust in der Luft. Das Erkennungszeichen der Busty Biker Brides.

»Hey, das ist Aische! Die Chefin hat’s mal wieder nicht nötig, pünktlich zu sein.«

Flora schüttelte, immer noch verärgert, den Kopf. Die Haare blitzten trollingerrot in der Sonne des frühen Abends.

»Schaki war noch nie pünktlich, ich kratz ihr die Augen aus, wenn sie kommt!«

»Sister, bleib cool.«

Monscheris Mund wurde noch breiter. Sie klopfte versöhnlich auf Floras schmächtigen Rücken.

Aische hob noch in der Anfahrt die Hand zum Brides-Gruß. Dann drückte sie einfach auf die Hinterradbremse, stellte ihre Monkey auf dem Kies mit einem knirschenden Geräusch quer, schon war der schwarze Bell-Helm mit den drei weißen B vom Kopf gerissen. Schwarzes, langes Haar ergoss sich aus dem Helm. Die attraktive Dunkeläugige grinste:

»Hätte mich gewundert, wenn ich die Letzte wäre. Ich bin ja schon zu spät. Wo ist Schaki? Hat sie gesimst?«

»Die soll nur kommen, der kratz ich die blauen Augen aus! Nur weil sie die Chefin ist, schmeißt sie sich an jeden ran!«

»Oh, oh, du bist doch sonst unsere Aufreißerin, Flora. Immer noch sauer wegen deinem Bauernbuben Berthold? Der passt doch zu Schaki, der kann doch dann den He­berle-Hof übernehmen – bevor er ganz zusammenfällt.«

Die drei Biker Brides lachten. Sie umarmten sich, die drei winzigen Hondas standen nun einträchtig in einer Reihe. Die roten Punkte auf dem Tank von Aisches Maschine leuchteten blutrot.

Vom Litzelbacher Weg her dröhnte Schakis Maschine mit der defekten Auspuffanlage. Die drei Brides grinsten:

»Achtung, die Chefin.«

»Ich kratz ihr die Augen aus, ich geb ihr eins aufs Maul.«

Monscheri und Aische zwinkerten sich zu.

Nachdem Schaki die Monkey-Parkreihe perfektioniert hatte, ging sie selbstbewusst breitbeinig auf ihre drei Mit-Brides zu. Das blonde Haar warf sie mit einer streichenden Handbewegung von der Stirn über den Kopf in den Nacken. Dann der obligate Gruß.

Ihre blauen Augen blitzten, als sie mit einem strahlenden Lachen zuerst auf Flora zuging und die Arme weit öffnete.

»Tag, Flora, altes Flittchen. Alles im grünen Bereich?«

Flora öffnete ebenfalls ihre Arme, versuchte ihr heiterstes Lachen. Die Rivalinnen umarmten sich. Rot und goldblond. Rot einen halben Kopf kleiner. Schwarz gesellte sich dazu. Die Farben Deutschlands. Ein enger Multikulti-Zirkel.

Schaki, Präsidentin der Busty Biker Brides, deutete nur leicht mit dem Kopf Richtung See. Die Vier wussten, wohin es ging. Dort, direkt am Wasser konnten sie sich ungestört unterhalten und gleichzeitig den Wakeboardern zuschauen, die sich über den See der Pfullendorfer Seepark-Anlage ziehen ließen.

3. Blattschuss

Ich lag auf dem Balkon unseres neuen kleinen Reiches mit der Zweifachdoppelgarage und dem riesigen Stellplatz. Blickte ich zum fernen Hang, den Kopf leicht nach rechts drehend über die wenigen Häuser Riedhagens hinweg, sah ich den Giebel mit den dunklen Fenstern meines Erbreiches, meiner vorherigen Behausung. Schaute ich geradeaus, aber ganz leicht nach links, dann konnte ich in circa 200 Metern Entfernung die Rückseite des ›Goldenen Ochsen‹ mit seinem kastanienbaumgeschwängerten Biergarten sehen. Ein angenehmer Anblick, vor allem in dieser Hitze. Hätte ich nach hinten durch den Neubau blicken können, sähe ich direkt auf die Weide mit den Lamas, dahinter öffnete sich das naturbelassene Ried.

Mit dem Fernglas konnte ich sogar von dem Balkon aus auf Korbi aufpassen, den ich heute Morgen schon mit dem Chevrolet Impala, den liebte er ganz besonders, zu Frieda in den ›Goldenen Ochsen‹ gebracht hatte. Eine der russischen Bedienungen hatte ihn gerade auf dem Schoß, und er nuckelte an irgendetwas Gelbem herum. Ich wusste nicht was, ich legte das Fernglas auf die hölzerne Balkonbrüstung, um das Bild nicht zu verwackeln. Nicht, dass die Russin ihm zu viel Süßes gab. Bei den Russinnen weiß man ja nie, die verwöhnen ein Kind schnell. Ich musste mir unbedingt ein Fernrohr mit Stativ kaufen, um besser auf Korbi aufpassen zu können. Er war jetzt fast drei, in dem Alter ist man recht mobil.

Aber was tut man nicht alles als Vater. Nicht nur, dass ich für die Erziehung meines Sohnes den Beruf temporär aufgegeben hatte, nein, ich hatte mir sogar ein Smartphone geleistet, um den vielfältigen Erziehungsaufgaben noch gewissenhafter nachgehen zu können. Friedas Nummer und die Nummern aller Bedienungen waren auf dem handlichen technischen Wunderwerk gespeichert. Ich zog das schwarze Phone, das ich mit dem MIKEBOSS-Logo, einem Totenkopf mit Augenklappe und dem Schriftzug unseres harleyvergötternden Vereins, verschönert hatte, aus meiner Hosentasche und whatsappte zu Oxana. Ich hatte mich durch das Fernglas versichert, dass es tatsächlich Oxana war und das Gelbliche, an dem Korbi nuckelte, mir nicht bekannt.

Entwarnung, ein Apfel. Vermutlich ein Delicious.

»Alles okay, Dani?«

»Ja, nur ein Apfel.«

»Willst du wirklich nicht rüberkommen? Nur auf einen Kaffee?«

»Mal sehen, ich muss doch auf Korbi aufpassen.«

»Das geht genauso von meinem Balkon aus, da wärst du sogar ein paar Meter näher dran.«

Wenn ich meinen Kopf um ungefähr 30 Grad, geschätzt, nach links drehte, sah ich zu meiner Nachbarin. Ein schönes, kleines Fertighaus. Zoomte ich mit meinen Augen ein bisschen, sah ich den Balkon mit dem Glasscheibengeländer. Zoomte ich noch mehr, sah ich auch einen Balkon, Hildes. Wie immer, wenn Cäci nicht hier war, sonnte sie sich meist oben ohne auf ihrem Balkon. Hilde legte Wert auf nahtlose Bräune. Vielleicht litt sie sogar unter einer Textilallergie, das weiß man ja nie.

Hilde, die Lama züchtende, sportive Grundschullehrerin, die zurzeit in Sigmaringen an der Berufsschule unterrichtete, versuchte es noch einmal. Diesmal mit Psychologie.

Sie stand auf, räkelte sich, streckte die Arme weit nach oben, knetete mit beiden Händen unsichtbaren Hefeteig, den Kopf weit in den Nacken, ein erzwungenes Gähnen, gemütliche Müdigkeit suggerierend, und gurrte:

»Ach, komm doch kurz rüber, grübel nicht nur auf deinem Balkon rum, du hast doch ganz schön viel mitgemacht in letzter Zeit: Hochzeit, Hausbau, Kind und ähh … du weißt schon, das war ja nicht ganz einfach für dich. Komm doch rüber, dann kannst du das ähh … vielleicht besser verarbeiten, wenn wir darüber reden. Vielleicht machst du dir Vorwürfe. Komm, ich mach dir einen Kaffee!«

Sie verschränkte beide Hände im Nacken und streckte sich ins Hohlkreuz, drehte den Oberkörper mit starrem Becken energisch von links nach rechts, Knackgeräusche begleiteten die im oberen Körperbereich nicht unansehnliche Übung zur gymnastischen Ertüchtigung.

»Mit Milch?«

»Äh, zwei, äh ja, äh, nein. Ich glaube, ich komme später noch mit Cäci rüber.«

»Cäci kommt normalerweise erst gegen 18 Uhr, es ist noch nicht einmal 16 Uhr. Und wie gesagt, das weiß heute jedes Kind, wenn man nicht verarbeitet, ähh, solche Ereignisse, dann kann das unter Umständen sogar zu Psychosen führen. Das weiß man heute.«

Eine neue, nicht weniger attraktive, eurythmische Körperübung begleitete diese Aussage keuchend. Sie beugte nun den Oberkörper, die Hände immer noch im Nacken verschränkt, langsam rhythmisch von oben nach unten, wobei ein schlankes Bein über die Ferse am Balkongeländer abgestützt wurde. Gott sei Dank hatte mein neues Smartphone eine Kamerafunktion.

»Aber nur für den Eigengebrauch!«, mahnte die gymnastikbegeisterte Nachbarin von Balkon zu Balkon.

»Und jetzt komm schon, ich mach dir einen Lattematschiatto! Bei einem Latte kann man besser reden, verarbeiten, ich denke, wenn du das nicht machst, kommen irgendwann Schuldgefühle, obwohl ich mir bei dir da nicht so sicher bin! Also, wie wär’s mit einem Lattematschiato?«

»Macchiato, das heißt ja auch nicht Lambortschini, sondern Lamborghini, auch nicht Butschatti, sondern Bugatti. Es heißt eigentlich auch nicht Tschirokonto oder Tschournalist, aber das wissen heute nicht einmal mehr Fernsehjournalisten, geschweige denn Lehrerinnen.«

Hilde löste den Körperspannungsbogen und lümmelte beleidigt zurück in ihren Deckchair.

Ja, verarbeiten, da hatte Hilde, die flexible Nachbarin nicht ganz unrecht, obwohl die Frage nach der Schuld in diesem speziellen Falle nicht ganz einfach zu klären war. Ja, auch der Umgang mit Susi, so sagen meine Kritiker in dieser heiklen Angelegenheit, sei nicht gerade ein Lehrstück an Sensibilität gewesen. Ja, die Susi, die hat das natürlich mitgenommen, das Ganze, zweifelsohne. Aber uns erst, die MIKEBOSSler und vor allem mich als Präsident.

Natürlich war da der kleine unschöne Streit, den auch Susi mit aller Härte geführt hat, wem Butzi mehr gehört, seiner Familie, quasi seiner Frau und seinen minderjährigen, kleinen Kindern oder den MIKEBOSSlern, quasi uns, also quasi mir. Gott sei Dank konnten wir uns durchsetzen, wegen Eiche rustikal. Nicht vorstellbar – Eiche rustikal und Butzi. Aber erst nach Androhung rechtlicher Schritte war Butzis Lebensgefährtin bereit, die Rechte an Butzi an die MIKEBOSSler abzutreten. Aber Frauen sind in solchen Sachen erfahrungsgemäß recht zäh. Es war ja auch ein sensibler Bereich, das musste selbst ich eingestehen.

Und so konnten wir unseren Butzi nicht in Eiche rustikal, sondern ganz in Schwarz mit unserem Totenkopflogo zur letzten Ruhestätte tragen. Natürlich waren wir MIKEBOSSler an diesem traurigen Tag alle in Schwarz, natürlich trugen wir unsere schwarzen Kutten. Wie hätte das denn zu Eiche rustikal gepasst? Wir hätten uns lächerlich gemacht – und das im Angesicht des Todes. Aber Frauen sind da wirklich zäh, ja fast schon penetrant. Wir hatten uns dann gütlich geeinigt, mit Druck erreicht man, vor allem in so einer heiklen Situation, überhaupt nichts. Und ich ging mit meinem gesamten psychologischen und nicht zuletzt pädagogischem Geschick vor und ließ Susi einfach mal ausrechnen, mit wem Butzi mehr Zeit verbrachte: mit seiner Familie oder den MIKEBOSSlern. Das Ergebnis war eindeutig.

Zuletzt ließ sie sich aber dadurch überzeugen, dass ich Deutsch mal fachfremd unterrichten musste und Susi in eine kommunikationsanalytische Falle tappte. Ich fragte sie nur: Wer sagt denn von den Streitparteien unser Butzi? Da brach sie in Tränen aus, typisch Frau, und kreischte mich an, wir sollen doch tun, was wir wollten, das täten wir eh immer. In Anbetracht der tragischen Gesamtsituation hätte ich von Susi einen einfühlsameren Ton uns gegenüber erwartet. Schließlich hatten wir unseren Butzi verloren.

Schwarz war sofort klar, die Frage, wohin unser Logo sollte, war dann eine längere Diskussion. Gesicht wollte es auf den Längsseiten, links und rechts. Joe wollte die Logos verstreut auf allen sichtbaren Seiten haben. Flaschen-Gordon, der immerbesserwisserische Latein- und Sportlehrer, wollte aus unerklärlichen Gründen gar keinen Totenkopf auf dem Sarg. Ich plädierte abschließend und entscheidend, meiner präsidialen Verantwortung in dieser Frage bewusst, für die Oberseite und das gesamte MIKEBOSS-Emblem, damit unser letzter Blick von oben herab auf Butzi auch ein Blick auf unser schönes Logo mit dem Totenkopf und der Augenklappe war. Gott sei Dank konnte ich mich durchsetzen, aber nur mit der Unterstützung Deos, der diese Anbringung eines einzelnen Abzeichens, das gen Himmel zeigte, »wüadavolla« fand.

Und dann war es wider alle Erwartungen doch noch eine richtig schöne Leich geworden. Zunächst hatten wir MIKEBOSSler den Sarg mit dem herrlichen Logo, das viele stille Bewunderer fand, in die kleine Kapelle geschoben. Natürlich waren wir nun ein Mann weniger, um zu schieben, aber Butzi konnte aus leicht erklärlichen Gründen nicht am Schiebeprozess teilnehmen. Nicht, dass er sich gedrückt hätte. Er lag im Sarg. Schon hier, bei der ersten konzertierten Aktion der MIKEBOSSler nach Butzis Tod fehlte er uns.

Aber wie gesagt, es wurde eine richtig schöne Leich, auch weil wir uns bei der Musikauswahl durchsetzen konnten. Susi wollte natürlich ›So nimm denn meine Hände‹. Das geht ja gar nicht, Butzi ist nicht im Alter von 104 Jahren, dement und inkontinent an Altersschwäche gestorben. Er wurde im zartesten Alter von einer Kugel dahingestreckt. Da kann man doch nicht ›So nimm denn meine Hände‹ vom MP3-Player über die Kapellenlautsprecher knirschen lassen. Da braucht man eine Anlage mit Schmackes und ›Highway to hell‹.

Wir trugen den Sarg mit den sterblichen Überresten Butzis zum ausgehobenen Grab, wobei es mit den Cowboystiefeln und dem groben Kies doch eines kleinen Balanceaktes bedurfte, ungestolpert zum frisch ausgehobenen Erdhaufen zu gelangen. Beim Absetzen des Sarges auf die Ablassvorrichtung mit Seilwinde schoss es Gesicht dermaßen ins Kreuz, dass ein Schmerzstöhnen die Stille durchbrach. Voller Mitleid lugten neugierige Blicke unter halb gesenkten Lidern zu uns MIKEBOSSlern.

Es wurde dann aber auch noch eine sehr schöne Leich, weil Deodonatus eine Laudatio auf seinen Freund Butzi hielt. Dem stattlichen Massai und Riedhagener Pfarrer liefen wieder und wieder Tränen der Trauer über sein dunkles Gesicht. Ständig musste er von Weinkrämpfen geschüttelt seine schöne Rede unterbrechen.

»Da Butzi wa wirklich eina guta Mensch, auf keina andara Mensch trifft da Schprichwoat bessa zu, raua Schala, aba weicha Kean.«

Als Deodonatus Ngumbu, unser Buschpfarrer in seiner über 30-minütigen, tränenreichen Rede zu der Stelle kam, als Butzi ihm sein Missionsfahrzeug beschaffte und fahrtüchtig machte, gab es kein Gesicht auf dem kleinen Friedhof, das nicht tränennass glänzte.

»Und da kam da Butzi bei mia voabei gedonnat mit da wundaschöna Zweitakta. Mit da NSU Quickly von Neunzehhundatsiebanafuffzig. Noch heuta ist das meina Dienstfaazeug und hat mich noch nie in da Stich gelassa.«

Ein kumulatives Aufschluchzen ließ die Trauergemeinde erbeben.

Es war eine sehr schöne Leich.

»Und füa da Butzi hab ich noch seina Lieblingslied, es soll uns alla daran erinnara, was füa ein verruckta Hund da Butzi war.«

Und wieder flossen Sturzbäche der Trauer über das schwarze Antlitz, als nach einem zarten Kopfnicken zu einem der rot-weiß gekleideten Ministranten, der unauffällig einen Musikplayer aktivierte, die ersten Takte von ›Breaking the law‹ in konzertreifer Lautstärke über den ansonsten eher schweigenden Ort grollten.

Den musikalischen Höhepunkt markierte jedoch der Auftritt der Löchligugger in ihrer herrlichen, fasnetletztsaisonalen, wunderschönen Indianer-Uniform. Für ihr auf tragische Weise zu Tode gekommenes Mitglied Butzi intonierten sie trefflich, den Umständen des Ereignisses sensibel angepasst, Butzis Guggen-Lieblingslied ›Über den Wolken‹. Als dann alle Löchligugger abschließend, zweistimmig a cappella den Refrain sangen, waren es Tränen-Tsunamis, die sich über den kleinen oberschwäbischen Friedhof Bahn brachen.

Die Leich wurde noch schöner, als die frischgebackene Witwe Susi am Grab, jeder Ganghofer-Verfilmung zur Ehre gereichend, bewusstlos zusammenbrach und kurz danach eine, allen übrigen Trauergästen gänzlich unbekannte Blondine mit einem schwarzen, jedoch kaum daumenbreiten Ledermini bekleidet bei der Kondolenztour vor dem offenen Grab stand, die Hände gen Himmel streckte, was die Kürze des ledernen Lendenschurzes noch unterstrich, und verzweifelt aufschluchzte:

»Waruuuum?«

Butzis Kinder standen winzig und fassungslos mit zusammengekniffenen Mündern Händchen haltend da und verstanden nichts von alledem.

Der abschließende Leichenschmaus in Friedas ›Goldenem Ochsen‹ endete dann im üblichen Besäufnis und war der krönende Abschluss einer schönen oberschwäbischen Leich. Noch einmal wurden die Umstände des Butzischen Todes dramatisch aufgearbeitet.

Eigentlich, wenn man ehrlich ist, könnte Butzi noch leben. Dann könnte er im Krankenwagen von Unfall zu Unfall, von Patient zu Patient fahren, um dann nach getaner Arbeit mit seinen MIKEBOSSlern bei Frieda, in der Riedwirtschaft, im ›Stengel‹ oder im ›Franzis‹ ein Bier zu trinken. Oder am Wochenende mit seiner Truppe ausfahren, gelegentlich auch mal zu Hause sein, um ein neues Kind zu machen. Aber da nützt das ganze Philosophieren nichts, obwohl er schon noch leben könnte, wenn wir nicht gewettet hätten.

Eigentlich hatte das Ende da angefangen, wo es gerade endete, nämlich in Friedas ›Goldenem Ochsen‹. Genauer gesagt in der Gruselkammer, wie wir MIKEBOSSler sie nannten, im Kaiserzimmer, wie es Cäci spöttelnd titulierte, im Jägerstüble, wie es Frieda liebevoll bezeichnete.

Das Nebenzimmer war von Cäcis Vater, einem passionierten Jäger geschmacklos, dennoch liebevoll eingerichtet worden. Der Jägerstammtisch war hier zu Hause, vor allem nach einem Gemetzel bliesen sie hier in volltrunkenem Zustand auf ihren Hörnern und berichteten von erlegten Fasanen in Geiergröße, von dahingestreckten Hasen in Wildschweingröße und von gemeuchelten Wildschweinen mit den Ausmaßen eines Nashorns.

Über der antiken Wurlitzer hingen hohläugige, gelbgruselnde Schädel von erlegten Säugetieren und grinsten hämisch von der dunklen Holzwand. Die meisten Entfleischten hatten Geweihe. Auf den Geweihen saßen wiederum die trefflich präparierten, gefiederten Freunde des Waldes und der Wiese: Fasane, Elstern, Eichelhäher, aber auch Raubvögel wie Bussarde und Sperber hockten mit dünnen, drahtfixierten Beinchen auf den Geweihen. Im Zentrum des morbiden Arrangements thronte jedoch der mächtige, präparierte Kopf eines Ebers, den Cäcis schmächtiger Vater zu seinen Lebzeiten vom Leben in den Tod befördert hatte. Nun waren sie beide tot. Der eine Krebs, der andere Kugel.

Hätte Cäcis Vater den Eber nicht geschossen, würde Butzi heute wahrscheinlich noch leben. Und wären wir auf die Wette, entstanden in alkoholgeschwängerter, klandestiner Atmosphäre nicht eingegangen, obwohl es keine schlechte Wette war, würde Butzi jetzt nicht kalt im Sarg liegen, sondern mit uns philosophieren.

»Wetten, dass ich mit einem Eberfell durch den Wald laufe!«

Eigentlich ist das zuerst mal nichts Aufregendes oder Außergewöhnliches, vor allem nicht für Butzi. Interessanter wird das schon, wenn man weiß, dass es nachts sein sollte und zu einem Zeitpunkt, wo Wildsauen mal wieder ganze Landstriche nächtens umgepflügt hatten und die ortsansässige Jägerschaft beschlossen hatte, die Sau zu jagen. Man muss zu unserer Ehrenrettung aber auch sagen, dass wir zum Zeitpunkt der Wette nicht mehr ganz nüchtern waren und somit der Spaß größer schien als das Risiko.

Die Wildschweindecke holten wir aus Friedas Asservatenkammer – und dann ging’s los:

In den Wald!

Zu den Jägern!

Butzi klasse!

Auf allen vieren!

Geschmeidig!

Grunzend!

Der Schuss!!

Kein Grunzen!

Fassungslosigkeit!

Vor allem bei seinem Vater. Ein guter Schütze. Ein Blattschuss.

In der »Schwäbischen« tags darauf: »Tragischer Jagdunfall. Vater erschießt als Wildschwein verkleideten Sohn.« Der »Südkurier« ganz ähnlich: »Wildschwein entpuppt sich als Sohn. Jäger war der Vater.« Die »BILD«-Zeitung: »Blattschuss – Sau ist Sohn.«

Wenn ich meinen Blick vom ›Goldenen Ochsen‹ weg ein bisschen, aber nur ein kleines bisschen nach rechts und dann Richtung Ortsmitte und dann nach oben bewegte, konnte ich den schönen Zwiebelturm der Riedhagener Kirche erkennen. Dort ist auch der Friedhof, wo wir unseren Butzi zu Grabe getragen haben.

4. Viererbande

Die vier schauten von der Bank aus auf den glitzernden See. Immer wieder kommentierten sie kunstvolle Figuren oder Stürze der Wakeboarder, die neben dem Restaurant starteten und dann über einen Parcours gezogen wurden. Vor allem an der Rampe wurde es spannend.

Schaki stand langsam auf, drehte sich, sodass sie den dreien ins Gesicht blicken konnte, den See nun im Rücken, steckte die Hände in die viel zu enge Hose, wippte breitbeinig, das Haar rotsonnenblond.

»Wir müssen eine Strategie gegen die Jungs entwickeln. Gefährlich werden können uns nur die Junge Union und die Harley-Deppen! Die Freaks haben letztes Jahr den Pokal und das Preisgeld mitgenommen. Von denen braucht bestimmt keiner die Kohle. Habt ihr gesehen, was der Bönle, der arrogante Sack, sich für eine Hütte ins Ried gestellt hat?«

Flora blickte unterwürfig zur Präsidentin der Busty Biker Brides hoch und nickte eifrig:

»Die haben Kohle ohne Ende, er hat doch von seinen Eltern wahnsinnig viel geerbt, und Cäcilias Mutter gehört doch halb Riedhagen. Ich weiß von Cäcilia, dass sie das Grundstück von ihrer Mutter geschenkt bekommen haben. Stell dir mal vor, so ein Riesengrundstück in der Lage, einfach geschenkt.«

Um ihrer Fassungslosigkeit und ihrer Unterwürfigkeit gegenüber Schaki noch mehr Ausdruck zu verleihen, zog Flora das Genick ein, schob ihre Schulterblätter zusammen, sodass sie noch schmaler erschien, und hob die Hände, drehte die Handfläche gen Himmel, als ob sie Segen empfangen wollte.

»Du arbeitest doch stundenweise bei der Bönle, kannst du aus der Psychotante herausbekommen, ob die Harley-Deppen eine Strategie für den Samstag haben?«

Flora nickte eifrig:

»Kann ich nächstes Mal versuchen, aber was meinst du mit Strategie?«

»Na zuerst mal, wer alles mitisst, wer die neue fünfte Person ist. Dieser Butzi kann ja wohl nicht mehr mitessen, der liegt einsachtzig tief. Der Ersatz für den wäre interessant. Der Butzi hat für die ja eigentlich den Sieg erfressen. Wenn da ein schwacher Ersatz kommt, haben wir die besten Siegchancen!«

»Brutal, die Sache mit Butzi: der eigene Vater!«

»Wer sich zur Jagdzeit als Wildsau verkleidet und vor den Jägern herumhüpft, muss damit rechnen, abgeknallt zu werden!«

Die sitzenden drei schwiegen. Flora nickte unsicher.

Aische meldete sich zu Wort, mit beiden Händen fuhr sie durch ihr dunkles Haar, ihre Kajal umrandeten, dunklen Augen schauten an Schaki vorbei auf den See, wo eine glitzernde Fontaine vom Sturz eines Wakeboarders berichtete:

»Das ist gut, wenn Flora Bönles Frau ein bisschen befragt, aber wichtiger ist doch, wer bei uns als fünfte Frau antritt!«

Schaki drehte ihrer Gang langsam den Rücken zu und studierte ausgiebig den Versuch des gestürzten Jungen, das Ufer zu erreichen und redete leise mit dem See:

»Ich habe da eine Idee, meine Schwester, die hat …«

»Waas, deine Schwester?«

Drei ratlose Augenpaare blickten in Schakis Rückseite.

»Lasst mich doch zuerst mal ausreden, meine Schwester kann …«

»Die hat doch eine Essstörung, die kann doch uns nicht bei einem Wettessen unterstützen, jemand mit einer Essstörung, Schwachsinn!«

Monscheri schüttelte ihre Lockenpracht und tippte sich mit ihrem langen, schwarzen Zeigefinger gegen die dunkle Stirn.

»Verdammt noch mal, ich habe gesagt, ihr sollt mich ausreden lassen!«

Ärgerlich drehte sich Schaki zur Dreiergruppe.

»Genau das ist ja unsere Chance, ich kenne die Essgewohnheiten von meiner Schwester. Schanti kann Unmengen in kürzester Zeit in sich hineinstopfen und genau so schnell kann sie alles wieder hinauskotzen. Genau das ist unsere Chance! Die bekomme ich schon rum, die wird uns zum Sieg fressen. Die 500 Euro gehören uns!«

Die Chefin hob die Faust zum Brides-Gruß. Die drei staunten.

5. Vierer- bis Fünferbande

Im ›Goldenen Ochsen‹ unter der Sau. Hämisch grinsend, wohlwissend, dass sie an allem schuld war, stierte sie auf uns herunter. Frieda, seit Butzis Ableben sehr besorgt um ihre Buben, stürmte mit einem weiteren Tablett zapf­frischschäumenden Gerstensaftes in das Jägerstüblein. Hier waren wir unter uns. Eine Butzenglasscheibe trennte uns vom niederen Volke, das Schnitzel mit Pommes und Soße essend, bierschorlesauertrinkend, hefealkoholfreischlürfend nebenan vor sich hin schwieg. Die Zeit des rauen Gelächters würde erst später sein.

Vier WalderBräu Hell, eins davon in der Flasche, lachten trotz unserer verständlicherweise nicht allerbesten Laune versöhnlich schäumend und bernsteinfarben aus schlanken Gläsern und einer grünen Flasche.

»Vier Helle. Buben, Kopf hoch! Das Leben geht weiter! Was schaut ihr denn so?«

»Sorry, Frieda, wir haben Naturtrüb Hell bestellt, kein Helles!«

Joe, Hausmann mit überkandidelter Lehrergattin und drei unerzogenen Kindern, zeigte auf das tabletttrohnende Arrangement.

Frieda, meine kugelrunde und in der Brustregion überdimensional ausgestattete Schwiegermutter, lachte so herzhaft auf, dass der oberste Knopf ihrer antiken, blaugemusterten Kittelschürze frech aufsprang und schamlos den oberen, doppeltvernähten Rand einer nicht minder attraktiven, fleischfarbenen Büstenstützapparatur freigab.

»Das heißt jetzt neu!«

»Aah, nicht mehr WalderBräu naturtrüb hell?«

»Nein, nur noch Walder Hell.«

Flaschen-Gordon, der sein Bier nur aus der Flasche trank, war begeistert:

»Wow, nur noch Hell, wie ›Bat out of hell‹!«

»Oder ›Highway to hell‹!«

»Oder ›Hells bells‹.«

Wir kriegten uns kaum mehr ein vor Lachen, als es vom Eingang her dunkel dröhnte:

»Oda auch ›Hell-o again‹!«

Das Lachen brach jäh ab. Deo, unser dunkelhäutiger Geistlicher, mächtig die Tür des Nebenraumes ausfüllend, kommentierte seinen Scherz gestenreich:

»Von da Auwat Carpendale, da berühmta Schlagastar. Hello again, du, ich möchta dich heuta noch sehn. Ich will dir gegenübasteha, viel zu lang war dea Zeit. Ich saga nua hello again.«

Deodonatus Ngumbu, unser Pfarrer aus dem Busch, unser mächtiger Massai, ein Howard-Carpendale-Fan. Das war mir neu.

»Oda da heallicha neua Song: Teila …«

»Kenn ich nicht Teila, ich kenne nur Leila, wer ist Teila?«

Aufgeregt fuchtelte Deo mit seinen schwarzen Pranken:

»Nicht Teila, sondan Teila: Keina weiß wie es kommt, Keina weiß wie es geht, doch wenn wir teilea, könna wia versteha. Und was ist richtig, und was ist es nicht, nua wenn wia teila, kommt eina andera Sicht.«

Für die nächste Strophe übte der schwarze Barde sogar ein paar tänzelnde Schritte:

»Willst du mit mia lacha, willst du mit mia weina, sag wasa du brauchst, um glücklich zu sein. Es wiad füa alla mea geba, schwea wiad zu leicht, wenn wir teila!

Das ist auch von da christlicha Punktaschtand eina seah wichtiga Lied. Da Grundprinzip ist de Teila!«

Endlich setzte sich Deo.

»Eina WaldaBräu natuatrüb hell, bitte!«

»Hell!«

Als Präsident der MIKEBOSSler, die geschwächt schon morgen zum traditionellen Kässpätzleswettessen in Königseggwald antreten mussten, hatte ich Freund und Pfarrer Deo zur heutigen Krisensitzung eingeladen. Ich machte meinen Vorschlag, fiel mit der Tür ins Haus, warum lange um den heißen Brei herumreden?

»Deo, würdest du das für Butzi tun? Ich weiß, er hätte es so gewollt. Es gibt nur einen, der ihn würdevoll ersetzen kann. Machst du für ihn mit beim Kässpätzleswettessen?«

Deo war gerührt, feucht schimmerte es in seinen Augen, als er nickte:

»Klaa, füa da Butzi tu ich das gean, ea hätta das Gleicha füa mich getan.«