Versumpft - Michael Boenke - E-Book

Versumpft E-Book

Michael Boenke

4,8

Beschreibung

Nach einem Grenzstreit Bönles mit seinem Nachbarn Lederer verschwindet dessen Gattin Valentina spurlos. Sie wird kurz darauf in der Nähe des Bönle-Grundstücks mit einem Schraubenzieher in der Brust aufgefunden. Als wenige Tage später auch Lederer getötet wird, gerät Bönle unter Verdacht. Er entzieht sich einer Verhaftung, versteckt sich im Ried und versucht auf eigene Faust den Täter zu ermitteln. Nachdem dann auch noch eine Schülerin Bönles mit eingeschlagenem Schädel in dessen Ehebett aufgefunden wird, scheint die Lage für den Lehrer aussichtslos. Kann er seine Unschuld beweisen?

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Michael Boenke

Versumpft

Kriminalroman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Kässpätzlesexitus (2015), Kuhnacht (2013)

Nonnenfürzle (2012), Riedripp (2011), Gott’sacker (2010)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Wolfgang Veeser

ISBN 978-3-8392-5392-2

Widmung

Für Ansgar (1961 – 2016)

1. Gartengespräche

Das Ried lag so, wie es seine Gewohnheit war, zwischen Ostrach und Wilhelmsdorf. Satte Sommerfarben, verschwommen in flirrender Hitze, bestätigten den alljährlichen, medial angeordneten Jahrhundertsommer. Mehr blutsaugende Fluginsekten als in den vorherigen Jahren besiedelten die Lüfte, die potenziellen Opfer und im vorherigen Larvenzustand die Gewässer und Pfützen. Über den dunklen Waldstücken schraubten sich Bussarde und Rotmilane in die blaue Höhe, um dann jäh auf ein kleinsäugendes Opfer niederzustürzen. Die Krähen machten ihnen ihre alltägliche Jagdlust zu einem weiteren Abenteuer, da sie ihnen gewöhnlich die Lufthoheit streitig machten. Kleine wendige Falken tauchten dort auf, wo lästige Tauben Häuser und Gartenmobiliar versauten. Hätte sich einer der kühnen gefiederten Jäger aus hohen Lüften senkrecht nach unten stürzen lassen, wäre er direkt auf einem der Tischchen in Friedas kastanienbewachsenem Biergarten gelandet.

Der »Goldene Ochsen« atmete noch die gleiche Ruhe wie vor 100 Jahren. Vom Ziegeldach stieg Hitze schlierig und spiegelnd in das Blau. Das kommunikative und kulinarische Zentrum Riedhagens wurde von Frieda, der feisten Wirtin in monokratischer Manier und freundlichster Despotenschaft geführt.

»Wer will noch was bestellen?«

Vier müde Hände deuteten in Richtung Raubvögel. Frieda lächelte mit zufriedener Strenge.

»So ist’s recht! In der Hitze müsst ihr was trinken. Da verliert man viel zu viel Flüssigkeit, der Körper dyrydiert.«

»Dehydriert«, erklärte der ansonsten eher wortkarge Flaschen-Gordon.

»Egal, ihr müsst auf jeden Fall was trinken, es muss um die Zeit ja nicht immer Bier sein. Ihr könnt vielleicht zwischendurch auch mal ein Spezi oder ein Wasser trinken.«

Seit der Preis einer Flasche Mineralwasser den einer Flasche WalderBräu deutlich überstieg, zeigte Frieda öfters auch mal ihre vernünftige Seite und versuchte, ihre Gäste zu einem Glas erfrischendem Mineralwasser zu überreden. Ihre jetzigen Bemühungen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Drei der Herren bestanden auf ihr kühles »Walder«, der vierte gönnte sich jedoch ein Mineralwasser.

»Also jetzt kommt mal zur Sache. Sollen wir jetzt Deo zum Ehrenmitglied ernennen, ja oder nein?«

»Der ist doch schon längst Ehrenmitglied, der kommt fast zu jedem Stammtisch.«

»Aber nicht offiziell! Wir müssen ihn offiziell zum Ehren-Biker ernennen.«

»Das können wir aber nicht ohne Dani machen, das muss der Präsi mitbestimmen.«

»Dann haben wir ja bald mehr Ehrenmitglieder als eigentliche Mitglieder.«

»Warum? Wer ist noch Ehrenmitglied?«

»Frieda, vor zwei Jahren haben wir Frieda zum Ehrenmitglied ernannt. Das weiß ich noch ganz genau, das war das Jahr, als das Kässpätzlewettessen war und die Sache mit den Zwillingen. Den Heberle-Zwillingen.«

»Stimmt. Aber sind das schon zwei Jahre, ich dachte eins? Das war ja eine unheimliche Geschichte mit den Heberle-Zwillingen und jetzt liegt die Chantal auf dem Friedhof. Deo war auch beim Wettessen mit dabei. Ich denke, der hätte eine offizielle Ehrenmitgliedschaft verdient, also mit allem Drum und Dran: Urkunde, Geschenk, Rede vom Präsi, also das ganze Geraffel und nicht nur schanderhalber Ehrenmitglied.«

»Aber Deo hat doch gar kein richtiges Motorrad.«

»Eine Quickly ist auch ein Rad mit Motor, also ein Motorrad.«

»Ha, Motorrad, die Quickly ist mit Deo auf dem Sattel langsamer als jedes E-Bike!«

»Es kommt doch bei einem Ehrenmitglied nicht auf die Motorisierung oder die Geschwindigkeit an. Dann dürftest du mit deiner Harley auch nicht bei uns mitfahren, du fährst ja selten über 70!«

»Doch, ich finde schon. Denk deinen Satz einfach mal weiter, aber Denken war ja noch nie deine Stärke: Irgendwann sind dann Elektro-Autofahrer unsere Mitglieder, wenn jeder mit jedem Gefährt bei uns Mitglied oder Ehrenmitglied werden kann!«

»Ehrenmitglied, maximal Ehrenmitglied. Vielleicht will ja Deo gar nicht Ehrenmitglied werden, er scheint sich auch ohne diese Auszeichnung ganz wohl bei uns zu fühlen. Vielleicht will er mit seinem Beruf das gar nicht haben. Äh, aus ethischen oder solchen Gründen!«

Es wurde immer lauter am Tisch. Die frisch gefüllten Bierkrüge, auch eine Flasche, ebenso das Glas Mineralwasser perlten und schäumten gegeneinander und sorgten nicht für die nötige Entspannung. Die Diskussion um Deodonatus Ngumbus Ehrenmitgliedschaft im erlauchten Kreis der Riedhagener Motorradgang wurde immer engagierter und hitziger geführt.

»Wir sollten einfach warten, bis Dani kommt.«

»Warum ist der denn noch nicht hier?«

Frieda, die gerade um die Ecke schaute, um nichts zu verpassen, rief:

»Es gibt auch Leute, die noch arbeiten, der ist in der Schule und hat heute erst nach der sechsten Stunde aus. Nicht jeder kann schon am frühen Nachmittag in Gastwirtschaften herumlungern.«

»Ich habe, äh, Ausgang! Ich lungere nicht rum!«

»Sei froh, dass ich meine Mittagspause bei dir mache!«

»Wann wird denn Dani ungefähr hier sein?«

Frieda trat aus dem Schatten des dunklen Eingangs zum Tisch unter der mächtigen Kastanie, um, kurz geblendet von der unbarmherzigen Augustsonne, im Licht zu stehen. Blinzelnd stand sie vor den Vieren und sinnierte ins Ried, das sich hinter dem Biergarten weit öffnete. Lediglich zwei Häuser waren vor die das Ried begrenzenden Nadelgehölze gebaut und markierten den Dorfrand Riedhagens. Frieda nickte zu einem der Gebäude.

»Ich glaube, Cäci ist schon da, ich sehe ihr Auto. Dann kommt Dani bestimmt auch bald. Aber vor den Ferien geht’s in der Schule ja immer drunter und drüber. Ich wollte nicht Lehrer sein!«

»Lehrerin, Frieda, du bist weiblich!«

»Ach was, redet nicht so blöd daher. Das sieht man mir doch an, dass ich eine Lehrerin wäre und kein Lehrer, aber um das geht’s ja nicht. Ich wollt das nicht machen, die Jugend, die wird ja immer schwieriger. Mit ihren Handys und so. Gestern waren welche im Biergarten, die wollten nichts trinken, die wollten Porkemanns jagen.«

»Pokemons.«

»Egal, ich kann den Dani nur bewundern, wie der seinen Job aushält, bei der Jugend. Früher gab es so etwas nicht!«

Frieda stemmte zur Bestätigung beide Fäuste in ihren Hüftspeck, streckte ihr Doppelkinn in Richtung Ried, dorthin, wo das Heim ihres Schwiegersohnes leuchtend weiß am Rande des Rieds in der Sommerhitze stand.

»Ihr solltet nur mal eine Woche unterrichten müssen, dann wüsstet ihr, was das bedeutet. Was glaubt ihr, warum der schon hier sitzt?«

Frieda deutete auf Flaschen-Gordon, den Lateinlehrer, der verlegen sein Bierglas drehte, als die couragierte Wirtin ihn anvisierte.

»Der hat den Burn-out, euer Kumpel, den Burn-out. Was glaubt ihr, warum der jetzt schon hier sitzt? Den Burn-out habt ihr bestimmt nicht. Ihr Tagdiebe! Was glaubt ihr, warum der in der Irrenanstalt ist?«

»Ich bin nicht in der Irrenanstalt, ich bin in der Psychosomatischen!«

Flaschen-Gordon schien leicht verärgert über die unpräzise Terminologie Friedas und deren Interpretation seines Aufenthalts in der Psychosomatischen Akutklinik. Flaschen-Gordon gehörte mit zu den Gründungsmitgliedern der MIKEBOSSler und war als Latein- und Sportlehrer vom Kreisgymnasium Riedlingen nach einem Versetzungsantrag seit dem neuen Schuljahr im Wilhelmsdorfer Gymnasium untergekommen. Seine Psyche war jedoch ins Ungleichgewicht geraten, nachdem einer seiner engsten Freunde durch eine leichtsinnige Wette das Leben verloren hatte. Einmal in der Woche ging Flaschen-Gordon auf Butzis Grab.

»Egal, wie man dazu sagt, die Schule ist dir einfach über den Kopf gewachsen. Da kann man schon verrückt werden mit der Jugend heute. Und das an einem Gymnasium hier auf dem Land. Wilhelmsdorf ist ja nicht Stuttgart-Mitte. Oder Berlin-Neukölln, dort, wo’s halt so zugeht. Und trotzdem ist’s zum verrückt werden hier. Und der Dani ist ja nicht einmal an einem Gymnasium, wo es ja noch gesittet zugeht. Der kämpft an der Front! An der Berufsschule!«

Flaschen-Gordon schüttelte langsam seinen Kopf und blickte über den angrenzenden Hühnerstall zum Kirchturm, dorthin, wo der Friedhof das Kirchlein wie ein Hufeisen umgab:

»Das ist nicht nur Burn-out, das ist … das ist … alles!«

»Ach was, Kopf hoch, wie heißt das in dem Lied? ›Doch wenn du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo der Mut wieder her und sagt dir, dass alles besser wird und dass die Hoffnung zuletzt stirbt.‹ Das läuft doch den ganzen Tag im Radio. Von dem, der so näselt.«

»Ja, Jan Delay, das heißt aber Mucke und nicht Mut!«

»Egal, seid einfach fröhlicher, trinkt was, das Wichtigste ist sowieso die Gesundheit. Das werdet ihr schon noch merken, wenn ihr in mein Alter kommt.«

Stolz warf die feiste Wirtin den Kopf in den Nacken, und keiner der sonnenmüden Herren wagte, der sich in Rage redenden Wirtin in ihrer fein geblümten Kittelschürze zu widersprechen.

2. Schulgespräche

»So, dann können wir heute ja mal ausnahmsweise ein bisschen chillen, vielleicht ein Filmchen schauen oder …«

»Das machen wir schon seit Wochen. Können wir zur Abwechslung nicht ein bisschen Unterricht machen? Mündliche Prüfung vorbereiten? Es ist immerhin die letzte Doppel-Stunde vor dem Mündlichen!«

Erstaunt nahm ich meine Stiefelchen vom Pult und ging auf die Klasse zu. Das waren ja ganz neue Töne. Lernen, sie wollten etwas lernen? Zum Zeichen meiner uneingeschränkten Autorität nahm ich meine Hände aus den Hosentaschen und wedelte mit dem rechten Zeigefinger Kurven in die stickige Klassenzimmerluft.

»Okay, die schriftlichen Prüfungen sind geschrieben, ihr kommt in Deutsch ins Mündliche. Wenn ihr unbedingt wollt, können wir das noch mal wiederholen, was prüfungsrelevant ist … zum 100. Mal! Und passt bitte auf, das ist die letzte Einheit vor der Prüfung.«

Ich nickte in das kleine Häuflein derer, die ich nun nicht mehr ganz fachfremd auf die Deutschprüfung vorbereiten musste. Die aktuelle politische Situation hatte es erforderlich gemacht, dass ein Großteil qualifizierter Deutschlehrer abgezogen wurde, um Flüchtlingen, überwiegend aus Syrien, die schöne deutsche Sprache beizubringen, damit sie ihren, so kanzlerinnensuggeriert, angestammten Berufen als Ärzte, Architekten und qualifizierte Techniker deutschkundig nachgehen könnten. So kam ich in den letzten Ferien und nach vielen Fortbildungsstunden zu einer Schnellbleiche »Große Fakultas Deutsch. Ein Sonderlehrgang für motivierte BS-Lehrer«. Natürlich hatte ich da sofort zugeschlagen. Mit Geografie und Katholischer Religionslehre saß man quasi auf einem Schleudersitz. Und speziell ich mit meiner beruflichen Genesis war schon öfters ins schulische Schleudern geraten und immer wieder im Fokus übertriebener Beobachtungen durch das Oberschulamt. Also Schnellbleiche, neue Fahrt, neues Glück.

Und jetzt: »Die Leiden des jungen Werthers« mit Genetiv-S. Das war wichtig, das »s«. Von einem gewissen Goethe. Dann, als ob das nicht ausreichen würde, um die Studierfähigkeit an einer Fachhochschule zu erlangen, auch noch das Adoleszenzdrama »Frühlings Erwachen« von einem mir gänzlich unbekannten Herrn Wedekind. Aber mit einer Portion »Kommunikation«, Schulz von Thun und Watzlawick, etwas Literaturgeschichte light und eben den literarischen Themen hatten wir genug Pulver für eine ansprechende mündliche Prüfung beieinander.

»Okay, wir leben nicht in Nordkorea, demokratische Abstimmung, wo sind noch Lücken? Was soll wiederholt werden? Also ich plädiere für den Werther!«

»Nein, Kommunikation!«

»Ich habe noch Lücken bei Frühlings Erwachen!«

»Ich bei der Literaturgeschichte!«

»Ich begreife gar nichts bei Frühlings Erwachen!«

»Kommen Balladen auch noch dran? Da bin ich voll blank!«

Also entschied ich mich für den Werther. Der Briefroman, da kannte ich mich am besten aus.

»So, nehmt eure Lektüre heraus. Geht mal zur ersten Herbst-Passage. Was fällt da auf?«

Die drei Schülerinnen und zwei ihrer männlichen Kollegen griffen zum gelben, kaum briefmarkengroßen Format und blätterten widerwillig darin.

»So, nun vergleicht mal diese Herbstszene mit der ersten Frühlingsszene. Welche Unterschiede in der psychischen Verfasstheit des Werther lassen sich herausarbeiten? Ihr habt 20 Minuten Zeit. Obwohl, das wird euch mal wieder nicht reichen, machen wir gleich 40 Minuten. Also geht jetzt ran, ihr habt genügend Zeit. Wenn ihr gut arbeitet, gibt es abschließend noch ein paar heiße Tipps zur Prüfung.«

Es war ein zähes Ringen mit den Schülern und ihrem Intellekt, die Sprache des stürmenden und drängenden Goethe in Einklang mit den Waaas? und Häääs? und Lols und Omgs der Schüler zu bringen. Abschließend, um größere Katastrophen zu verhindern, gab ich einen der angekündigten heißen Tipps:

»Leute, alle mal zuhören! Wie gesagt, die goldenen Worte fallen direkt vor der Prüfung. Für alle jetzt: Schaut euch noch einmal die Theorie zu den Balladen an. Das Lyrische, das Erzählende, das Dramatische, ihr erinnert euch?«

Schweigen.

»Hallo, Lyrik, Epik, Drama, Goethes Ei!«

»Waaas?«

Keiner schien sich zu erinnern.

»Das Ur-Ei, in dem alle Formen noch vereinigt sind, das, was ich gerade gesagt habe! Und vor allem, denkt an eine ganz spezielle Ballade, die wir stundenlang bearbeitet haben. Natur, Stichwort Natur.«

Stille.

»Wo leben wir hier denn?«

»In Oberschwaben?«

»Ja schon, aber ich kenne jetzt keine berühmte Oberschwaben-Ballade. Was haben wir denn bei Wilhelmsdorf, Ostrach, Rieeeedhausen? Was haben wir denn da? Bei Rieeeedlingen?«

»Die Behindis?«

»Quatsch! Kennt ihr spezielle Behinderten-Balladen?«

Langsam zweifelte ich an den Früchten meiner Unterweisungen. Vor allem an deren Ernte.

»Leute, wir haben hier eine einzigartige Naturlandschaft. Das Ried, Sumpf, Moor prägen die Natur hier. Wer erinnert sich an eine Ballade, die mit dem Moor zu tun hat?«

Die bleiche Antonie wagte es und streckte. Das konnte eigentlich nur schief gehen, sie war eine typische Inklusionistin, mit vielfältigen Handicaps ausgestattet, aber nett. Später würde sie bestimmt Politikerin werden, bei den Rot-Grünen. Antonie, mein kleines Sorgenkind, erstaunte immer wieder mit scheinbar surrealen Einschüben, die dann seltsamerweise im Gesamtkontext einen Sinn ergaben. Aber nicht immer.

»Ja bitte, Antonie?«

»Wir hatten doch das mit dem Mohr, der in ein Tintenfass gesteckt wurde, der, der so ziemlich rabenschwarz war. Das kann ich sogar halb auswendig …«

»Nicht der Mohr wurde in das Tintenfass gesteckt, sondern die drei Buben, weil sie den Mohren wegen seiner Hautfarbe diskriminiert haben. Und Antonie, da hast du jetzt etwas falsch verstanden oder ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Ich meine nicht Mohr, sondern Moor.«

Antonie dachte heftig nach, kratzte sich bis tief in die strubbelige Frisur hinein:

»Sie haben doch auch einen Mohren als Freund, der ist doch Pfarrer? Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Das war der Struwwelpeter, da musste ich als Strafarbeit das Gedicht mit diesem Mohren auswendig lernen.«

Fehlerfrei rezitierte sie:

»Es ging spazieren vor dem Tor

Ein kohlpechrabenschwarzer Mohr.

Die Sonne schien ihm aufs Gehirn,

Da nahm er seinen Sonnenschirm.

Da kam der Ludwig hergerannt

Und trug sein Fähnchen in der Hand.

Der Kaspar kam mit schnellem Schritt

Und brachte seine Brezel mit;

Und auch der Wilhelm war nicht steif

Und brachte seinen runden Reif.

Die schrie’n und lachten alle drei,

Als dort das Mohrchen ging vorbei,

Weil es so schwarz wie Tinte sei!«

Ich verhinderte weiteres Missverstehen und unterbrach die gelehrsame Elevin, bevor sie alle Verse herunterratterte:

»Ja, Antonie, das hast du gut gelernt, aber der Kontext war ein ganz anderer. Du darfst auch Mohr und Moor nicht verwechseln, ich meinte das Moor mit zwei o. Verstehst du? Ich dachte da an die naturmagische Ballade von der Droste: Der Knabe im Moor. Und den Struwwelpeter vom Heinrich Hoffmann vergessen wir jetzt mal ganz schnell. Dort ging es mir doch um politisch korrekte Sprache. Also, ist die Botschaft angekommen? Schaut euch von der Annette von Droste-Hülshoff ›Der Knabe im Moor‹ an: O schaurig ist’s übers Moor zu gehen, wenn es wimmelt vom Heiderauche … und so weiter und so fort. Ihr erinnert euch?«

Ratlose Gesichter. Die Ballade hatten wir sechs Stunden lang diskutiert, analysiert, interpretiert, quasi seziert.

Endlich der wohlverdiente Kaffee im Lehrerzimmer. Ich wusste, es war nicht gern gesehen, aber ich legte die Beine auf den Tisch hoch, meine Stiefelchen auf eine noch von Weihnachten stammende lila eingefärbte Serviette mit güldenen Sternchen. Der Espresso in meinem leopardengemusterten Tässchen schmeckte kräftig. Ach ja, die Maschine entkalken, bei einem 60-köpfigen Kollegium war das dringendst nötig. Ich kam nicht mehr aus dem Vorferien-Stress heraus. Irgendwann, wenn das so weiter ging, würde ich wie mein Freund Flaschen-Gordon enden, der gerade mit einem Burn-out bei den Psychos in der Klinik oben in Bad Saulgau abhing. Bestimmt hatte er gerade eine therapeutische Sitzung mit einem schönen Stuhlkreis und musste von seiner Kindheit erzählen.

Eine sanfte Hand auf meiner linken Schulter riss mich aus meiner meditativen Entkalkungsprozedur. Die scharfe Essigsäure stieg mir als Opener und Wiedereintritt in die reale Schulwelt von der Nase ins Gehirn. Hilde, meine Ried-Nachbarin und Kollegin, stand schräg hinter mir, hatte sich angeschlichen, damit ich nicht fliehen konnte.

»Hi, Dani, auch Hohlstunde?«

»Äh, ja.«

»Trinken wir einen Kaffee zusammen?«

»Geht nicht, du siehst doch, dass ich gerade entkalke.«

»In deinem tollen Tässchen ist noch ein kleiner Schluck, darf ich den?«

»Okay.«

Eigentlich bot Hilde all das, was sich Männer wünschten und eine moderne Frau brauchte: Sie hatte eine tolle Figur, sah klasse aus, hatte perfekte Maße, sah spitze aus, war gut gebaut, hatte eine Top-Figur …

Trotzdem minnte sie seit Jahren vergeblich um mich. Cäci hatte das Rennen gemacht. Bei der Hochzeit, die noch heute Dorfgespräch war, gehörte Hilde zu den Brautjungfern, die am Kirchenausgang in einem transparenten Blüschen Blumen streute, mit einem Löwenzahnkränzchen im Haar, mir keck zuzwinkernd.

Heute nutzte sie die Chance des leeren Lehrerzimmers und ging auf Tuchfühlung:

»Na, wie schmeckt denn die Ehe mit Kind?«

»Wie Espresso. Mal bitter, mal süß!«

»Überwiegen die süßen Momente?«

»Wie bei einem Espresso, sie sind in ausgewogener Harmonie.«

»Du weißt ja, wo du hin musst, wenn du ein Stückchen Zucker mehr brauchst!«

Ja, ich wusste es. Hilde leckte mit der Zungenspitze den Zucker aus meinem winzigen leopardengemusterten Espresso-Tässchen, hob es abschließend kurz in die Höhe:

»Auf eine weiterhin gute Nachbarschaft. Ach, bevor ich’s vergesse: Die unangenehme Sache mit dem Lederer, ist die jetzt endgültig erledigt? Weißt du, ich habe mich, als ich das Grundstück von deiner Mutter gekauft habe, schon darauf verlassen, dass die Grenzfragen eindeutig geklärt sind.«

»Keine Sorge Hilde, du weißt, dass alles für uns entschieden wurde.«

»Dem Lederer stinkt’s nur, dass wir seinen Riedblick ein bisschen einschränken. Vielleicht hat er tatsächlich auch vorgehabt, ein kleines Hotel unterhalb seiner Villa hinzustellen, wer weiß?«

»Und du meinst, da kommt nichts mehr auf uns zu?«

»Nein, keine Sorge, der wird noch ein bisschen herumstänkern, aber rechtlich ist alles geklärt. Der soll froh sein, dass er keine Anzeige wegen Urkundenfälschung bekommen hat.«

»Na, wenn du’s sagst, Dani.«

Mit einem kleinen Klaps auf mein Gesäß verabschiedete sich meine wohlgeformte Nachbarin Hilde von mir. Sie schüttelte ihr kurzes Haar, schwenkte provokativ die Hüften und sang nach einer Melodie, die mich stark an ›Lady in Black‹ erinnerte:

»Eigentlich habe ich auch noch Unterricht, eigentlich habe ich auch noch Unterricht …«

Ja, das machte die Hilde schon richtig. Man musste in diesem Beruf relaxed die Sache angehen und auch auf sich achten, nicht nur auf die Schüler, ansonsten konnte es einem wie Flaschen-Gordon ergehen. Der war vielleicht in diesem Augenblick in einem zähen Einzelgespräch mit seinem Psychiater. Vielleicht musste er nach Freudschem Vorbild auf einer unbequemen Couch liegen und reden. Obwohl er so gern gar nicht redete. Vermutlich musste er gerade schwere Traumata aus seiner Kindheit aufarbeiten. Referieren, wie er vielleicht von Onkeln und Tanten gequält wurde, oder wie er in den 60er-Jahren als Kind Kleidungsstücke tragen musste, die kratzten.

3. Immer noch im Biergarten

Flaschen-Gordon, Gesicht, Joe und Goldi waren mittlerweile bei allerbester Laune. Vor allem Flaschen-Gordon, der dem therapeutischen Alltag der Bad Saulgauer Psychosomatischen für einige Stunden entflohen war, hielt glückselig sein Fläschchen »Walder« zwischen beiden Händen und spielte, verträumt ins Ried blickend, mit dem Bügelverschluss des erfrischenden Trunkes. Gesicht, der muskelbepackte Fitnesscenter-Betreiber, machte seinem Spitznamen wieder einmal alle Ehre, mit minimalistischer Mimik folgte er aufmerksam der Gesprächsrunde, um immer wieder einen trockenen Kommentar einzuwerfen. Joe, der ewige Hausmann, wischte den überlaufenden Schaum vom kondensatglitzernden Krug, während das jüngste Mitglied der MIKEBOSSler, sowohl Mitgliedszeit als auch Alter betreffend, Goldi, an seinem Mineralwasser herum nuckelte. Goldi war bekennender Antialkoholiker und überzeugter Vegetarier, beides jedoch temporär und vor allem situativ. Frieda saß nun auch mit am Tisch bei einem Glas Hahnenwasser, wie sie Leitungswasser nannte. Das Bild wurde erfreulich aufgefrischt durch Cäci, die immer wieder achtsam zu »Disney-World« schaute, dem Kinderbereich mit Rutsche, Schaukel und Sandkasten. Korbinian T. Rex Bönle, Cäcis Nachwuchs war gerade mit Inbrunst dabei, goldgelbe frisch geschlüpfte Küken die glattglänzende Rutschbahn hinunterrutschen zu lassen.

Cäci führte in diesem Moment das Wort:

»Da müsst ihr schon warten, bis mein Mann kommt, da könnt ihr nicht einfach so darüber hinweg entscheiden. Als Präsident müsst ihr ihn wenigstens fragen. Ihr wisst, dass er eigentlich alles abnickt, aber in diesem speziellen Fall, wenn es auch noch um einen seiner besten Freunde geht, müsst ihr ihn schon in die Entscheidung mit einbeziehen. Auch wenn jetzt schon eine Mehrheit für die Ehrenmitgliedschaft Deos gegeben ist.«

Cäci warf ihr brünettes glattes Haar energisch mit einer strammen Handbewegung hinter sich und streckte, im Klappstuhl wieder zurückrutschend, ihre langen Beine mit einem kiesschlurfenden Geräusch von sich, steckte die schlanken Hände in die Hosentaschen, blickte prüfend zu Korbi, seufzte:

»Korbi, lass das, das ärgert die Bipperle!«

Frieda stimmte nickend ihrer Tochter zu, bei jedem Brustkontakt des Doppelkinns entstand ein Dreifachkinn:

»Ich sag’s euch doch, ihr müsst auf Dani warten, sonst wird er sauer. Und ihr wisst ja, bei dem geht’s lange, bis der verärgert ist, aber wenn’s dem reicht, dann kann er richtig unangenehm werden.«

Joe lachte laut auf und signalisierte damit, einen Kommentar abzugeben:

»Das stimmt, so wie bei unserem letzten Treffen, da ist er ja völlig ausgeflippt, so habe ich ihn noch gar nie erlebt.«

»Ach lass das, das war eine Ausnahme, der Lederer hat ihn doch nur provozieren wollen.«

Joe neigte in gespieltem Erstaunen seinen Kopf zur Seite:

»Ach, und was war mit Lederers Partnerin? Der wäre er beinahe ins Gesicht gesprungen.«

Cäci hatte sich in Kampfposition begeben, die Beine nach hinten, die Füße um die Stuhlbeine, die Unterarme lagen auf dem Tisch, die zu Fäusten geballten Hände zeigten helle Knöchel.

»Wisst ihr, wenn es um euren Grund und Boden geht, würdet ihr genauso reagieren. Es kann ja wohl nicht sein, dass er behauptet, Hildes und unser Grundstück würden um einige Quadratmeter auf seinem Grund liegen. Und dieses dumme Geschwätz, er würde dafür sorgen, dass beide Häuser wieder wegkommen würden, das ist doch alles nur Säbelrasseln.

Mit Frieda war ich auf dem Vermessungsamt, da stimmt alles mit der Grenzeinhaltung. Dem stinkt’s nur, dass er jetzt nicht mehr so gut ins Ried schauen kann und seinen Grundstücken unterhalb seines Hauses ebenfalls der Riedblick verbaut ist. Aber er hat doch gewusst, dass das alles unterhalb seines Grundstückes Frieda gehört, und es war seit Jahren klar, dass wir da einmal hinbauen werden.«

»Aber dass Dani so ausrastet, das hätte ich nicht gedacht!«

4. Rückschau – Gartenfreud und Gartenleid

Das Meteorologische Institut Berlin hatte dem antizyklonalen Luftstrom den Namen Elisabeth gegeben, wir nannten das stabile Hoch, das seit Wochen die Wetterlage in nahezu ganz Europa bestimmte, nur Hoch Eli. Die adiabatisch erwärmte Luft hing ebenso über Oberschwaben, sodass kaum ein Quellwölkchen das betörende Blau des Himmels trübte.

Gestört wurde die friedliche Stimmung in Friedas Biergarten lediglich durch die Anwesenheit der Lederers. Das Pärchen wirkte auf den ersten Blick nicht disharmonisch. Im Gegenteil, er könnte der beleibte Vater sein, der seine Tochter zu einem »Eisbecher Schwarzwälder Art« eingeladen hat, währenddessen er wichtig auf einem Tablet mit Daumen und Zeigefinger herumtapst. Die Tochter im Ultramini, in enger Bluse, wasserstoffblond, auf älter geschminkt, desinteressiert ins Ried sinnierend. Aber falsch, es war das Ehepaar Lederer. Er: Riedhagener mit Leib und Seele, heimatverbunden, Gemeinderatsmitglied und Besitzer einer Immobilienfirma. Der 42-Jährige saß in kurzer bayerischer Wildlederhose und rot kariertem Hemd breitbeinig am Nachbartisch und traktierte sein Tablet der neuesten Generation mit seiner Rechten. Die Linke lag auf dem Schenkel seiner Gattin Valentina. Theodor und Valentina, das Start-up-Pärchen Riedhagens. Wenn sie im Cabriolet durch Riedhagen flogen, er mit dicker Zigarre im Mund, sein Markenzeichen, sie mit einem Kopftuch aus Seide zum Schutz des blondierten Haares, drehten sich die meisten Riedhagener nach ihnen um. Jawoll, die hatten was erreicht. Die hatten es geschafft. Yes, we can! Wir schaffen das!

Die anderen hielten sie einfach für Arschlöcher.

Unser Bikerstammtisch war wegen Hoch Eli verlegt worden. Nicht Saulgau, das Badstädtchen mit dem ebenfalls kastaniengeschwängerten Biergarten, war heute unser Ziel. Riedhagen bei der Schwiegermutter war heute Treffpunkt. Der »Goldene Ochsen«. Da konnte ich nach Hause laufen, und die anderen waren nicht mein Problem. Als Präsident waren einem heutzutage kaum mehr Privilegien vergönnt. Wie ist es denn dem guten Guttenberg ergangen? Und außerdem ist es nur zum Wohle der Vereinskasse, denn Frieda spendet uns für jedes getrunkene Bier ein Zehncent-Stückchen in das Porzellanschwein.

Die schweren Maschinen standen hitzetickend vor dem Eingang des »Goldenen Ochsen«. Die Motoren gaben über die Kühlrippen schlierende Wärme an die Umwelt ab und leisteten einen winzigen Beitrag zur globalen Erwärmung und zur Abschmelzung der verdammten Gletscher, die eh kein Mensch brauchte. Die Harleys zeugten mächtig von der Anwesenheit der fünf MIKEBOSSler. Keiner hätte es gewagt, einen der Helme, vier Halbschalen und ein Vollvisierhelm, oder gar eine der Maschinen, in deren Zündschlössern ganz selbstverständlich die Schlüssel steckten, widerrechtlich zu entwenden. Allzu provokant und arrogant war diese Form männlicher Reviermarkierung, als dass es jemand gewagt hätte, die »Lex MIKEBOSSlica« zu missachten. Das Revier war klar abgegrenzt.

Joe, Gesicht, Flaschen-Gordon, Goldi und meine präsidiale Wenigkeit hatten den schönsten Platz. Reserviert stand auf dem stilisierten Metallmotorrad, das Hermann, mein Leib- und Hofmechaniker, so originell mit seinem Schweißbrenner für unseren Stammtisch erstellt hatte. Man müsste mal über eine Ehrenmitgliedschaft Hermanns nachdenken …

»Hallo, Ruhe jetzt, hört einfach mal zu! Wir sollten ein bisschen eine Struktur in unsere Diskussion bringen. Eine Struktur, Ruhe bitte, wir sind nicht in der Schule!«

Ich hieb mit meiner flachen Hand auf den Tisch, dass die Gläser zitterten, und versuchte, das kleine Grüppchen zum Schweigen zu bringen.

»Also, alle herhören, bevor Deo kommt. Ihr wisst, um was es geht. Deo, so mein Wunsch, soll Ehrenmitglied der MIKEBOSSler werden. Die Gründe habe ich eben schon dargelegt und argumentativ …«

»Lall doch nicht herum, lass uns endlich abstimmen!«

»Also, dann stimmen wir halt ab. Wer ist dafür, dass Deo, obwohl er nur eine Quickly fährt und trotzdem unsere Belange voll unterstützt, Ehrenmitglied unserer Gang wird? Ich denke an seine wertvolle Unterstützung beim letzten Kässpätzlewettessen, ohne ihn hätten wir keine so gute Platzierung erzielt. Nicht unerwähnt möchte ich auch die Segnung der Motorräder lassen, bestimmt ist uns dadurch das eine oder andere Unglück erspart geblieben. Auch seine moralische Unterstützung in einigen, wie soll ich sagen, kritischen Situationen darf nicht unerwähnt bleiben, denn …«

»Komm endlich zur Sache. Abstimmung!«

»Okay, wer ist für Deos Ehrenmitgliedschaft? Eigentlich brauchen wir nicht abstimmen, das ist reine Formsache.«

Gesicht schaute ausdruckslos in die Runde, tat, als ob er abzählen würde:

»Das ist eindeutig, nur einer! Und wenn deine Präsidenten-Stimme nicht wieder das Fünffache zählt, ist die Sache klar. Das geht ja nicht gegen Deo, aber ich meine, wir brauchen aktive, bikende Mitglieder und keine Ehrenmitglieder!«

Das war eindeutig eine Niederlage für mich, damit hätte ich nicht gerechnet, dass meine Freunde so intolerant waren und Deo wegen seines untermotorisierten Fahrzeuges mobbten. Ich musste mit einem Trick arbeiten.

»Ihr wisst ja, dass wir die offizielle Ernennung mit einem bacchantischen Fest feiern werden? Okay, das geht euch halt verloren, also fürs Protokoll: Deo wird mit 4:1 Gegenstimmen nicht …«

Goldi hob die Hand und rief:

»Stopp, das mit dem Fest wurde bis jetzt nicht erwähnt. Wer ist dafür, dass wir noch mal abstimmen?«

Fünf Hände gingen in die Höhe.

Eine zweite Abstimmung brachte das von mir gewünschte Ergebnis. Ich erhob mich kurz vom Platz und verkündete:

»Einstimmig beschlossen wurde, dass Deo zum Ehrenmitglied der MIKEBOSSler ernannt wird. Der Zeitpunkt der Ernennung wird vom Präsidenten ad hoc festgelegt, sie findet nämlich im Rahmen des Sommerfestes als spezieller Festakt statt.«

Gerade, als ein vierkehliger Proteststurm anhob, denn das Sommerfest stand unmittelbar bevor, rettete mich der zu Ehrende.

»Ruhe, Deo kommt! Das soll doch eine Überraschung bleiben!«

Sofort kehrte Ruhe am Tisch ein, als sich mächtig und schwarz Deodonatus Ngumbu, der Riedhagener Pfarrer, dem Tisch im Schatten der mächtigen Kastanie näherte. Deo warf fast noch mehr Abendschatten als die ausladenden Äste des dicht belaubten Baumes. Auch wirkte der von der untergehenden Sonne erzeugte Schatten-Zwilling Deos auffallend lang und schlank. In der unverzichtbaren Soutane kam der mächtige Massai, dessen Vater bei Nairobi eine große Rinderherde besaß, auf den Tisch zu und verdeckte kurz zur Gänze die rötlich hinter dem Ried untergehende Sonne. Helle Fetzen aus kaum wahrnehmbarem Nebel legten sich über die Felder zwischen den dunklen Waldstücken.

»Und, bist du mit der Quickly angereist?«

Der Geistliche nickte und lachte, dass ein weißes Band in seinem Gesicht erschien:

»Natülich, und ich habe sie an deina Haaley angelehnt, Dani!«

Ich sprang auf:

»Du hast es nicht schon wieder getan?«

»Doch!«

Der weiße Balken in Deos Gesicht wurde noch breiter. Ich wusste, dass er nicht log, das konnte er schon von Berufs wegen gar nicht.

»Hei, beruhige dich!«

Goldi, unser temporärer Wassertrinker, machte eine beschwichtigende Handbewegung, stand jedoch von Neugierde getrieben auf und ging zur biergartenbegrenzenden Ligusterhecke.

»Hei, kommt schnell her, das müsst ihr gesehen haben, schnell!«

Goldi winkte uns aufgeregt. Wir stellten uns auf die Zehenspitzen und guckten über die Hecke. Goldi schlug sich auf die Oberschenkel:

»Schaut euch den an!«

Ein Tourist mit keckem Schlapphütchen, fein kariertem kurzärmeligen Sommerhemdchen sowie kurzer, der gängigen Mode entsprechender beigefarbener Hose, von Trägern gehalten, stand vor meiner chromblitzenden Harley, an der tatsächlich Deos perlgraue und jadegrüne über 50 Jahre alte Quickly S lehnte. Der Mann schien begeistert vom außergewöhnlichen Motiv. Er dirigierte nun seine Familie, eine magere Schwarzhaarige und zwei Mädchen im Prä-Teenalter, vor das schandhafte Arrangement, gesellte sich selbst dazu, fuhr seinen Handystick weitestmöglich aus und rief: »Tschieees!«

Kein Sturm der Entrüstung kam aus den Mündern meiner Gang. Nein, sie brüllten los vor Lachen, auch Deo bekam feuchte Augen.

»Oh, Dani, bista nun traurig, weil deina Haaley mehr im Zentrum steht als du selbst? Oda ist es tatsächlich da Schande, dass eina Quickly deina Haaley entehrt? Aba wie steht schon in da Bibal: Die Letzta werda die Ersta sein!«

Das Gelächter wurde lauter. Mittlerweile gab es noch mehr Zaungäste, die von schwäbischem Wunderfitz getrieben, über den Liguster schauten. Links neben mir stand plötzlich Lederer:

»So, der Herr Lehrer, oder soll ich sagen, der Herr Grenzschummler … hat das deine Eitelkeit verletzt?«

Lederer streckte seinen rot karierten Ranzen bis in die Ligusterhecke und deutete auf mein schwarzes chromveredeltes Eisen.

»Lederer, wir haben darüber geredet, die Sachlage ist eindeutig, die Grenzen liegen seit Urzeiten fest. Mein Haus steht eindeutig dort, wo es hingehört. Das Grundstück hat Frieda gehört, du hast damals allem zugestimmt, und dass du jetzt nicht mehr so gut ins Ried hinein siehst … Man hat kein Recht auf einen Riedblick. Außerdem steht Hildes Haus ja auch noch vor deinem. Und jetzt zu behaupten, wir hätten unerlaubterweise ins Naturschutzgebiet gebaut, ist ja mehr als lächerlich. Du weißt genauso gut wie ich, wo die Grenzen verlaufen! Hinter Hildes und meinem Grundstück beginnt das Naturschutzgebiet. Genau da, wo die Pfähle mit den grünen dreieckigen Schildern stehen. Und für mich ist das Ganze juristisch abgeschlossen! Du weißt, dass deine Klage abgelehnt wurde!«

»Für mich ist da noch lange nichts abgeschlossen, du wirst dich wundern, ich gehe bis in die letzte Instanz. Und wenn dein Junge noch einmal über mein Grundstück läuft, dann brenn ich ihm eins mit dem Luftgewehr drauf!«

Was gerade noch heiterste Abendstimmung mit goldrot geschwängertem Sonnenuntergang war, drohte in einen handfesten Streit zu kippen. Lederer, mein, aber auch Friedas und ebenso Hildes Nachbar, war mit dem ehemals zugestimmten Bau der beiden Häuser am Rand des Riedes plötzlich nicht mehr einverstanden. Man munkelte, er wolle unterhalb seines Hauses ein »Hotel Riedblick« bauen, da das Ried immer mehr touristisch genutzt wurde. Um eine Genehmigung für diesen Bau zu bekommen, müsste er aber einen Teil meines Grundstücks haben und das dazugehörige Wegerecht. Beide Rechte, Grenz- und Wegerecht, waren jedoch juristisch geregelt und notariell beglaubigt auf unserer Seite. Friedas ehemaliges Grundstück entsprach dem Grenzrecht. Lederer, Betreiber der kleinen, aber feinen Firma Ried­Immo, wollte dies nun nicht mehr anerkennen und versuchte seit einem Jahr mit allen Mitteln, Cäci und mir einen Teil des Grundstückes abzuluchsen. Er bot einen horrenden Preis für die Zufahrtsrechte und einen kleinen Teil, ca. 400 Quadratmeter, unseres Grundstückes. Cäci und ich gingen auf das Geschäft nicht ein, wir wollten kein »Hotel Riedblick« hinter unserem Haus haben. Auch Frieda, die sonst jeden zusätzlichen Gast in ihrem Unternehmen schätzte, war vom Gedanken, neben sich ein Hotel zu haben, nicht begeistert.

»Wenn du das wagst, Lederer, dann mach ich dich alle. Lass bloß meinen Jungen aus dem Spiel und die Finger von meiner Familie, und wenn du jetzt dein dummes Maul nicht hältst, prügel ich dich vor den Augen deiner Valentina aus dem Biergarten! Hast du mich verstanden?«

Ich packte Theodor Lederer am Kragen, um die Ernsthaftigkeit meiner Aussage zu unterstreichen. Eine sanfte Hand zog mich beiseite:

»Lass das, Dani, mach dir an dem aufgeblasenen Hirsch die Hände nicht schmutzig.«

Meine Gattin hatte recht. Auch meine Jungs konzentrierten sich nun wieder mehr auf die Harley-Schändung und den Hobbyfotografen.

»Ist Korbi eigentlich schon im Bett?«

Cäci legte den Kopf schräg, grinste vorwurfsvoll:

»Ich hab’s dir doch vorhin schon gesagt, Oxana passt auf ihn auf.«

»Auf, Dani, wir trinken noch einen! Lass den Trottel reden, es ist doch längst alles geschwätzt!«

»Du darfst dich nicht von ihm provozieren lassen!«

Joe klopfte mir auf die Schulter.

Auch Deo musste seinen Senf zur Causa Lederer dazugeben: