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Albert Camus' mysteriöser Todesfall neu aufgerollt: eine perfide Verschwörung des KGB? Eine Mischung aus Investigativ-Roman und Spionage-Thriller – glänzend recherchiert und hochspannend. Frankreich, Januar 1960: Albert Camus und sein Verleger Michel Gallimard sind auf dem Weg nach Paris, als ihr Auto ins Schleudern gerät und gegen einen Baum prallt – Camus ist sofort tot. Die Kollision wird als tragischer Unfall zu den Akten gelegt. Doch mehr als vierzig Jahre später tauchen Informationen auf, die ein neues Licht auf das angebliche Unglück werfen: Sind dem Autor seine sowjetkritischen Reden letztlich zum Verhängnis geworden? Wurde Camus' Tod vom KGB geplant?
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Seitenzahl: 211
Im Anhang finden sich ein Personen- und Sachregister sowie ein Literaturverzeichnis zur deutschen Übersetzung.
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Camus deve morire« bei Nutrimenti, Rom.
© 2023 Giovanni Catelli
© 2013 Nutrimenti srl
© der deutschsprachigen Ausgabe: Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli unter Verwendung eines Motivs von wikimedia-commons/gemeinfrei
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-071-6
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Im Gedenken an Imre Nagy und Salvador Allende
Das Unrecht, das nicht im Laufe des Lebens [2] einer Generation wiedergutgemacht wird, endet im Nichts – als sei niemals etwas geschehen. Alles verschwindet – die Ermordeten und die Mörder.
Jan Zábrana
Es geht darum, unversöhnt [1] und nicht mit vollem Einverständnis zu sterben.
Albert Camus
In diesem beunruhigenden Buch [3] macht sich Giovanni Catelli daran, das Rätsel des Autounfalls zu lösen, der sich am 4.Januar 1960 ereignet und Albert Camus und seinen Verleger Michel Gallimard das Leben gekostet hat. Basierend auf jahrelanger sorgsamer Recherche konstruiert der Autor zwingende Argumente, um seine Behauptung zu stützen, sie seien die Opfer eines geplanten Mordes gewesen. Eine schreckliche Schlussfolgerung, aber schaut man sich die Belege an, die Catelli uns gibt, wird es schwierig, ihm nicht zuzustimmen. Dieser »Autounfall« sollte jetzt in eine andere Schublade eingeordnet werden, die der politischen Meuchelmorde. Camus wurde zum Schweigen gebracht, als er sechsundvierzig Jahre alt war.
Vorwort
Albert Camus war ein freier Mann, unzähmbar, gefährlich. Gefährlich für die Macht, jede Art von Macht, denn er deckte ihre physiologische Verwandtschaft mit der Willkür, dem Missbrauch, der Ungerechtigkeit auf. Gefährlich für das schlechte Gewissen – der Franzosen wie der algerischen Rebellen, der Kollaborateure von gestern und der Stalinisten. Gefährlich für die bürgerliche Moral wie für die Schicht der Intellektuellen. Er war stets gefährlich, weil er in der Lage war hinzusehen – mit dem Blick seines kritischen Geistes, seiner unbeugsamen Anständigkeit und seiner bedingungslosen Liebe für den Menschen, für jedes Leben.
Vielen kamen sein Tod und sein künftiges immerwährendes Schweigen sehr gelegen: den französischen Nationalisten, die die Unabhängigkeit Algeriens nicht wollten, den algerischen Extremisten, denen seine gemäßigte Einstellung hinsichtlich des Schicksals der »Pieds-noirs« nicht passte – sie wären im Fall der Unabhängigkeit die französischen Algerier gewesen. Sein Tod kam den reaktionären Kräften entgegen, die in Camus einen Vertreter der Résistance und der Linken sahen, wie auch den Stalinisten und der Sowjetunion, die er mit ungewöhnlicher Härte für ihren Einmarsch in Ungarn 1956 kritisiert hatte. Und er passte auch den spanischen Faschisten, denen er sich mit Beiträgen und öffentlichen Reden entgegenstellte, die er bei jeder Gelegenheit anprangerte, damit der Westen sie nicht in den internationalen Institutionen akzeptierte.
Dass Camus’ Tod das schlichte Ergebnis eines gewöhnlichen Verkehrsunfalls gewesen sein sollte, war schon immer schwer zu glauben. Das Schicksal verschwört sich nicht zufällig gegen einen einzelnen Mann. Es sind eher die anderen Menschen, die so etwas tun.
Nun ist aus dem trüben Fluss der Zeit eine deutliche Spur aufgetaucht, die auf einen Namen hinweist, eine Anordnung, eine Tötungsabsicht. Vielleicht hat tatsächlich jemand Albert Camus’ Tod beschlossen. Diese Spur ist ziemlich deutlich, und deswegen ist es unsere Pflicht, ihr nachzugehen, damit das, was geschehen ist, nicht dem Vergessen anheimfällt, sondern ans Tageslicht kommt und in den Fokus der historischen Forschung gelangt. Die nackte Wahrheit über die Ereignisse soll unseren Nachfahren bekannt sein, und sie sollen sie voll und ganz verstehen.
Im Laufe der Nachforschungen spielen einige reale, zum Teil noch lebende Persönlichkeiten von großem literarischen wie menschlichen Ansehen die Hauptrollen. Ihre Lebenswege haben sich mit dem Camus’ gekreuzt, häufig auf eine unvorhersehbare, aber immer fruchtbare und manchmal entscheidende Weise.
Diese Personen haben in Prag und in Moskau gelebt. Es sind Jan Zábrana, Marie Zábranová und Boris Pasternak. Die Wahrheit über das Schicksal von Albert Camus kann also aus Prag und aus Moskau sowie aus Paris kommen.
Ein Komplott
Albert Camus starb an einem Januartag im Jahr 1960. Der Mann, der sein ganzes Leben lang für das Menschliche eingetreten ist, gegen die Ungerechtigkeit und gegen das Absurde, verschied ohne Grund, ohne erkennbare Ursache, noch dazu unter einem Umstand, den er selbst als ein Extrem des Absurden definiert hat: den Verkehrsunfall.
Auf einer breiten Landstraße in Frankreich, nicht weit von Paris, bei bestem Licht zur Mittagszeit war der Wagen ruhig und schnell unterwegs, mit Michel Gallimard, dem Verleger und Freund, am Steuer. Auf weiter, gerader Strecke ließ nichts die kommende Tragödie erahnen.
Alles geschah dann ganz plötzlich.
Vorbeifahrende Autofahrer bestätigten später, dass das Auto mit hoher Geschwindigkeit »eine Art Walzer tanzte«. Nach einigen Schlenkern, die die Passagiere auf den hinteren Sitzen (die Ehefrau und die Tochter von Michel Gallimard) als eine scharfe Kurve wahrnahmen – »als sei unter dem Fahrzeug etwas zusammengebrochen« –, traf das Auto mit voller Wucht eine der Platanen, die die Straße säumten, kollidierte einige Meter entfernt mit einem weiteren Baum und wurde praktisch völlig zerstört.
Camus erlitt einen Schädel- und Halsbruch und war sofort tot. Michel Gallimard wurde blutend auf dem Boden gefunden. Er sollte einige Tage später im Krankenhaus sterben. Seine Frau lag am Unfallort neben ihm und stand unter Schock. Die Tochter fand sich in zwanzig Metern Entfernung wieder, bewusstlos und voller Schlamm, aber unverletzt.
Nach dem Biografen Herbert Lottman »scheint der Unfall auf ein blockiertes Rad oder einen Achsbruch zurückzuführen zu sein, doch nicht einmal die Experten konnten sich diesen katastrophalen Unfall erklären, auf gerader Strecke, einer neun Meter breiten Straße und bei wenig Verkehr«.
Genau.
Die Ereignisse wiesen von Anfang an einen Riss auf, es gab einen Sprung in der offenbaren Logik der Dinge. Nichts Triftiges, sicher, aber genug, um den Zweifel zu säen, das Gefühl, dass die Realität vom Schein der Dinge verdeckt würde und dass sich hinter der scheinbaren Einfachheit des Geschehens ein anderes Muster verstecken könnte.
Viele wiesen die grausame Gradlinigkeit des Ereignisses zurück, den schlichten, fatalen Ausgang des tödlichen Unfalls. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Die Ironie des Schicksals konnte doch nicht auf so perfekte Weise das reale Geschehen mit der gleichsam übernatürlichen Vorahnung Camus’ in Einklang bringen.
Wer Camus liebte, wer seine Würde und seine Botschaft bewahren und schützen wollte, dem kamen eine dermaßen schlichte Offensichtlichkeit, ein so »symmetrisches« Schicksal falsch vor, unglaublich, irreal. Noch viele Jahre später, mit einiger Distanz zu den Fakten und den genauen Umständen, sollte auch anderen stillen Weggefährten ein einfacher Unfall unangemessen, nicht authentisch vorkommen, wie ein unglücklicher und wohlfeiler Theatercoup.
Diese stumme Gewissheit sollte die Betroffenen lange begleiten, zusammen mit einer vagen Unruhe und einem Gefühl, dass Betrug und unsichtbare Machenschaften am Werk waren. Bis eines Tages das Schicksal, das pure und wahre Werk des Zufalls, eine Spur zutage förderte, ein unerwartetes Zeugnis, den harten Beweis, der die Zeiten überdauerte. Das Indiz, das den Anschein auf den Kopf stellte und ein fernes Komplott enthüllte.
Symmetrie
Die Schicksalhaftigkeit ist einfach wunderbar: Sie erlaubt – praktisch wie durch Zauberhand –, langjährige Probleme zu lösen, unentwirrbare Schwierigkeiten und peinliche Zufälle zu klären.
Ein Mann, ein Intellektueller von großem Ruhm, der sich an verschiedenen Fronten engagiert, der sich ganz allein Weltmächten entgegenstellt, sagt eines Tages: »Der Gipfel der Absurdität ist der Tod durch einen Verkehrsunfall.« Und siehe da, als sei er ein Prophet des Absurden, ist ausgerechnet er ein Kandidat für einen solchen Tod und stirbt bei einem Unfall.
Wenn so etwas passiert, hat die scheinbare Symmetrie des Schicksals ihren Kreis vollendet, die unbeabsichtigte Prophezeiung erfüllt, die Überlegungen des Opfers und seine Mutmaßungen über die Zukunft bestätigt.
Im Fall von Albert Camus blendet alle eine gewaltige Illusion, Kenner wie Unwissende, Intellektuelle wie die Öffentlichkeit, Kritiker wie Gefolgsleute. Es wird eine Symmetrie gegeben haben, aber sie bezieht sich nur auf die Attacke, die Bedrohung und das unerklärliche Ende, absurd, wie es im Buche steht, als sei es geplant und vorherbestimmt gewesen. Welches Schicksal hätte besser gepasst als diese extreme Kohärenz, diese erfüllte Prophezeiung, dieses Ende, das so hellsichtig die Logik eines Lebens bestätigt? Welche bessere Synthese könnte es geben zwischen Wahrheit und Täuschung, Absurdität und Komplott, Bestimmung und Planung, Prophezeiung und Ausführung?
Die Realität, die Wahrheit der Fakten, kann mit einer solchen Perfektion nicht mithalten, mit dieser totalen Konvergenz, dieser vollkommenen Schicksalhaftigkeit und dieser perfekten Intrige: der absolute Unfall und die absolute Sabotage.
Nach sechzig Jahren haben wir uns immer noch nicht aus dieser tödlichen Umarmung von Illusion und Wahrheit befreit, bei der die Beweise die Wucht des Hinterhalts zu stützen und zu absorbieren scheinen, bis sie mit ihrer Transparenz, ihrer scheinbaren Neutralität alles ausradieren.
Jedoch hat das Schicksal die Ereignisse nicht für immer begraben. Es hat im Lauf der Jahre zarte, ferne Spuren der Wahrheit gesät. Die verlässlichsten hat es in Prag hinterlassen, im Jahr 1980, also bereits zwanzig Jahre nach dem Unfall. Es sind entscheidende Spuren, die eine kalte und minutiöse Präzision erkennen lassen, die reich an Details sind und in Verbindung mit unbestreitbaren Fakten und Daten stehen. Fakten und Daten, die man in der Tschechoslowakei von 1980 unmöglich kennen und überprüfen konnte, befand sich das Land doch im Würgegriff der Sowjetunion, erst recht nach den Ereignissen in Folge der Charta 77.
Diese Spuren hat das Schicksal einem besiegten Mann geschenkt, der sich schon mit dem übermächtigen Geist der Geschichte wie auch mit seiner persönlichen Niederlage und seiner Verzweiflung abgefunden hatte.
Dieser Mann hat sie bewahrt, ohne jemandem davon auch nur ein Wort zu sagen.
Wenige Jahre später ist er gegangen.
Für immer.
Dieser Mann war ein Dichter, ein Übersetzer, ein leiser und unermüdlicher Zeuge der unglücklichen Zeit, die die Geschichte seinem Land, seinen Eltern und ihm selbst vorbehalten hatte.
Er wusste, dass er sich unterwerfen musste, doch wollte er dies nicht tun, ohne zu erinnern, ohne die Zerstörung zu dokumentieren und eine Chronologie des Zerfalls niederzuschreiben. Nur für sich selbst vielleicht, vielleicht aber auch für den, der sich in Zukunft über diese Jahre beugen würde, schrieb er ein Tagebuch, in dem er Ereignisse und Gedanken versammelte, mit denen er sich jeden Tag dem Ekel und der Erniedrigung entgegenstellte.
Über Jahre gelang es ihm zu widerstehen. Dann wurde er krank.
Er hinterließ seine Unterlagen der geliebten Ehefrau. Dann ging er.
Er war der Mann aus Prag.
Die Reste des Wagens, in dem sich Camus befand, nach dem tödlichen Unfall.
Der Traum
In der Nacht des 2. Januar 1960 hatte Albert Camus einen Alptraum. Er träumte, er würde in der Dämmerung auf einer Landstraße von vier Männern ohne Gesichter verfolgt. Sie liefen langsam, so als wollten sie ihn gar nicht wirklich einholen, dennoch kamen sie näher und wurden immer bedrohlicher. Auch er lief trotz seiner kranken Lungen, erstickte fast bei der extremen Kraftanstrengung, atemlos, lief, drehte sich mehrfach um, um seinen Vorsprung einzuschätzen, und versuchte vergeblich, diese Gesichter aus Gummi, diese blanken Visagen ohne Physiognomie, zu erkennen.
Endlose Zeit lief er, ohne an etwas anderes zu denken als die Flucht, nach Luft schnappend, verzweifelt, wie ein Ertrinkender. Da sah er in einer Seitenstraße ein Auto ankommen, stürzte hin, um es anzuhalten, indem er mitten auf der Kreuzung mit den Armen wedelte. Es gelang ihm einzusteigen, und der Wagen fuhr sofort wieder los.
Er versuchte, Luft zu bekommen und sich von der Anstrengung zu erholen. Im Dunkel, das sich unversehens ausbreitete, bemühte er sich, das Gesicht des Fahrers zu erkennen, aber die absolute Finsternis hinderte ihn daran. Der Wagen fuhr jetzt mit großer Geschwindigkeit, immer schneller, durch eine verlassene, anonyme Landschaft. Er stellte dem Fahrer eine Frage, ohne eine Antwort zu erhalten. Die Stille im Wageninneren wurde dichter. Plötzlich erleuchteten die aufgeblendeten Scheinwerfer eine große Kurve und ließen frontal die hohe Mauer eines Bauernhofs erkennen. Das Auto fuhr mit wahnwitziger Geschwindigkeit, ohne das geringste Zeichen des Einlenkens. Als der Aufprall unvermeidlich schien, warf er sich mit einem Schrei auf das Lenkrad. In diesem Moment fiel er aus dem Bett und erwachte, immer noch keuchend vor Angst.
Die Reise
Obwohl er bereits ein Zugticket für die gemeinsame Reise mit René Char gekauft hatte, stieg Albert Camus am Montag, den 3. Januar 1960 in das Auto seines Freundes und Verlegers Michel Gallimard, um sein Haus im südfranzösischen Lourmarin in Richtung Paris zu verlassen. Gallimards Ehefrau Anne und seine Tochter Janine begleiteten sie, zusammen mit ihrem Hund. Um das Auto nicht zu überfrachten, hatte Char sich entschieden, wie geplant mit dem Zug zu fahren.
Am Tag zuvor hatte Camus bereits seine Ehefrau Francine und die Kinder zum Bahnhof von Avignon gebracht, damit sie vorausfuhren. Am Morgen des 3. Januar rief er seine Sekretärin in Paris an, um ihr mitzuteilen, welche künftigen Anfragen abzulehnen seien, und um seine Rückkehr zu bestätigen. Vielleicht wurde der Anruf abgehört, aber auch so ließen zahlreiche Quellen exakt bestimmen, wo sich der Schriftsteller aufhalten würde. Am 30. Dezember hatte er der Schauspielerin Catherine Sellers, einer seiner Geliebten, geschrieben, um seine bevorstehende Ankunft mitzuteilen. Am 31. hatte er ihr noch einmal geschrieben, beginnend mit den Worten »Das ist mein letzter Brief …«, und den Tag seiner Ankunft angekündigt: »Dienstag, meine Liebe, küsse ich dich schon …«
Am 30. Dezember hatte er auch der wichtigsten Frau in seinem Leben, seiner berühmten Gefährtin, der Schauspielerin Maria Casarès, geschrieben und ihr detaillierte Informationen zukommen lassen. »Ein letzter Brief … nur um dir zu sagen, dass ich Dienstag ankomme, ich fahre mit den Gallimards zurück. (Sie kommen Freitag hier an. Ich rufe dich bei meiner Ankunft an, aber wir können uns schon für Dienstag zum gemeinsamen Abendessen verabreden.)«
Verschiedene Personen konnten also mit hinreichendem Vorlauf die Reiseetappen und Pläne von Camus kennen. Die Entourage der beiden Schauspielerinnen war voller potenzieller Informanten. Die politisch engagiertesten waren die in Maria Casarès’ nahem Umfeld, und die Informationen, die sie erhalten hatte, waren die genauesten. Vielleicht gelangten von ihr – ohne dass sie es geahnt hat – die entscheidenden Hinweise zu Camus’ Mördern.
Am 29. Dezember hatte Camus zudem an Mi, eine neue Gefährtin in Dänemark, geschrieben, die ebenfalls im Begriff war, nach Paris zu reisen.
Es dürften tatsächlich viele gewesen sein, die die Pläne des Schriftstellers gekannt und von seiner Absicht, mit den Gallimards im Auto zurückzukehren, gewusst haben konnten. Es blieb also genügend Zeit, um eine Operation zu organisieren. Die Gelegenheit war besonders günstig.
Die Abfahrt
Am Morgen des 3. Januar also stieg Camus, nachdem er wie üblich Madame Ginoux die Hausschlüssel anvertraut und ihr versichert hatte, in acht Tagen zurückzukehren, in den hochmotorisierten Facel Vega, um seine Reise anzutreten.
Der Verleger Robert Laffont hatte Michel Gallimard einige Tage vorher geraten, mit dem Zug in den Süden zu fahren, aber Gallimard hatte darauf bestanden, Camus zu besuchen und mit ihm zurückzukehren. Die Geometrien des Schicksals sind häufig zufällig, leicht und luftig wie Schaum. Sie kondensieren plötzlich wie durch einen Zauber. Manchmal jedoch gräbt sich ihre Spur mit heimlicher Hartnäckigkeit in die Dinge ein und entspricht, aus der Ferne betrachtet, einem präzisen Muster, einer genauen Absicht und einer definitiven Exaktheit.
Genau an jenem Tag hatten dieser Wagen und diese Menschen eine vorgezeichnete Route vor sich. Und andere Männer würden dieser Route folgen.
Nachdem sie ihren Freunden Mathieu und Jacques Polge Adieu gesagt haben, nimmt die Gruppe die Nationalstraße 7Richtung Orange, wo man zum Mittagessen anhalten wollte. Die Fahrt ist entspannt. Michel Gallimard, gewöhnlich schnell unterwegs, lässt es ruhiger angehen und unterhält sich mit seiner Familie und seinem Freund Albert. Diese Entscheidung garantiert vielleicht für den Moment noch die Unversehrtheit der Reisenden.
Jemand begleitet sie, ganz still, ohne aufzufallen. Die Reise ist noch sehr lang, die Möglichkeiten, aktiv zu werden, sind noch vielfältig.
Am Nachmittag wird die Reise fortgesetzt, das Ziel ist bekannt: das Hotel und Restaurant Le Chapon Fin im Ort Thoissey, kurz hinter Mâcon. Da die Ferien zu Ende gehen und sie das hohe Verkehrsaufkommen vorhergesehen haben, haben sie Zimmer gebucht, um sich zu erholen und die Reise in zwei Etappen aufzuteilen. Keinerlei Eile treibt sie. Und auch das Schicksal kennt im Vorhinein die eigenen Termine.
Die Übernachtung würde die Reise weniger anstrengend machen. Am nächsten Tag würden sie nach Paris weiterfahren, ausgeruht und ohne Zeitdruck. Die Nacht würde lang sein in dem kleinen Ort, und nicht alle sollten schlafen.
Die Reisenden sind ahnungslos und fröhlich. Sie erwartet ein heiteres Abendessen in geselliger Atmosphäre. Noch stehen die Stunden offenbar unter einem guten Stern und bringen nur angenehme Momente hervor. Die geheimen Gesetze der Welt, ihre gewetzten Waffen scheinen weit weg. Der Zugriff der Macht auf die einzelnen Geschicke ist noch unsichtbar, weit entfernt, unwirklich. Überlassen wir die Männer und Frauen ihren letzten Stunden der Unbeschwertheit.
Der Mann aus Prag
Der Mann aus Prag war ein Dichter. Ein Mann, den die Geschichte früh durch das Schicksal seiner liebsten Angehörigen verletzt hat. Die Eltern, Sozialisten, sind nach 1948 vom Regime verfolgt und inhaftiert worden. Er hat sie unter der Last der Gefangenschaft, der Entbehrungen und Krankheiten vergehen und sterben sehen. Die Hoffnungen einer ganzen Generation auf eine gerechtere Gesellschaft sind früh von der Bürokratie, der stumpfsinnigen Unterdrückung und der Geheimpolizei erstickt worden.
Die Literatur war für ihn stets der Rückzugsort vor den kontinuierlichen Umstürzen der Existenz, vor den täglichen Schwierigkeiten, dem zunehmenden Sich-Auflösen der Hoffnungen, der Illusionen. Neben der Poesie eröffnete ihm die Kunst der Übersetzung geheime Paradiese, die die Geschichte, das Leben und die tägliche Verzweiflung nicht erreichen konnten. Nach und nach erarbeitete er sich einen immer solideren Ruf, eine immer klarere moralische Autorität, und blieb dabei in der Stille und im Schatten der unerträglichen Attacken der Ereignisse, der Beleidigungen, die die Geschichte, die Imperien, die Invasoren seinem Land weiterhin antaten. Jenem Land von wunderbarer Bildung und Kultur hatte das kurze Jahrhundert die Unabhängigkeit geschenkt, aber ziemlich schnell auch die Nazibesatzung und nach der Befreiung eine neue ausländische Tyrannei. Pravda vítězí – die Wahrheit wird siegen, behauptete der Prophet Jan Hus, verraten und verbrannt auf dem Scheiterhaufen Jahrhunderte zuvor. Aber das Leben des Menschen ist kurz, zerbrechlich, seine Kraft begrenzt. Das Leben der Staaten, der Imperien – mögen sie auch träge, zynisch und unterdrückerisch sein – ist so viel länger und widerstandsfähiger, dass es eine hoffnungslose Kampfansage an das unbewaffnete Individuum darstellt.
Die kurze Periode von 68, der Prager Frühling, war wie ein Traum gekommen, die Utopie des Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der Dritte Weg, der von den beiden Großmächten so gefürchtet wurde und den sie nicht schnell genug ersticken konnten. Denn beide wussten um die Gefahr, wussten, welche Kraft durch Hoffnung genährt wird, durch Bildung und die Freiheit des Geistes. Er war kurz, jener Traum, aber er war dennoch in der Lage, in wenigen Monaten Jahre der Angst und der Repression, Jahre der düsteren Kurzsichtigkeit und der gemeinen Denunzierungen, der erstickenden Kontrolle wiedergutzumachen.
Im Sommer verwirklichte sich noch ein anderer Traum, diesmal ein privater: die Übersetzung des »Doktor Schiwago«, seit Langem beabsichtigt, errungen auf Umwegen, die eines eigenen Romans würdig wären, und schließlich fast fertig – bis in einer Schicksalsnacht im August der Einmarsch begann, der eiserne Schlag, der den Vertrag des Warschauer Paktes brach. Die schwarze Horde, die Panzer, die Besatzer, alle wie Schakale von der Leine gelassen, um neue Veröffentlichungen zu verbieten, erneut die unzensierte Freiheit zu ersticken, die Alexander Dubček vergeblich den fernen Herren – den Herrschern dieses Teils der Welt – schmackhaft zu machen versucht hatte.
In jener kurzen Zeit war alles möglich erschienen: Die Zensur war verschwunden, man plante neue Bücher, neue Übersetzungen, ohne Angst vor einem Veto, ohne Angst davor zu haben, zu reden, die eigenen Ideen, Meinungen und Hoffnungen auszudrücken. Die Möglichkeit, zu schreiben, frei zu übersetzen ohne politischen oder ideologischen Opportunismus, erschien fast unwirklich, wenn man die dunklen Jahre von Gottwald, des Prozesses gegen Slánský und der immer engeren Kontrolle durch die Mächtigen miterlebt hatte. Für die Intellektuellen war es ein geradezu irrealer Freiheitsrausch, der die anschließende Rückkehr zur Ordnung, zum feigen Gehorsam gegenüber den Anordnungen der Partei, gegenüber dem kulturellen und literarischen Geschmack, den ihre Statthalter, die Verantwortlichen der Kulturpolitik, zum Ausdruck brachten, umso schmerzhafter machte.
Alles sollte nun viel schwieriger werden, vor allem für jemanden, der sich eine Nische gegraben hatte, um zu schreiben, zu übersetzen, zu atmen, für jemanden, der die Zwischenräume, die die Macht frei ließ, für sein eigenes Talent nutzte, für seinen eigenen klaren Blick, seinen eigenen Geschmack als Dichter und Übersetzer. Es gibt einen beispielhaften Satz in seinem Tagebuch, der sein Gefühl von totaler Niederlage und der Vergeblichkeit jeglichen Schaffens bezeugt, das er – und vielleicht nicht nur er – angesichts der eigenen historischen Lage gefühlt hat: »… das eigene Talent heimlich wie ein Stück Scheiße unter dem Sand des Strandes zu vergraben, mitten in der Nacht.«
Er war der Mann aus Prag.
Sein Name war Jan Zábrana.
Jan Zábrana
Jan Zábrana betrat die Bühne der schicksalhaften Ereignisse in einer Buchhandlung am Opletalova-Platz in Prag an einem Nachmittag mit kaltem Licht, das sich schon der Dämmerung zuneigte.
Ich war stehen geblieben, um das Haus gegenüber anzuschauen, durch dessen Fenster man die Leere und den Himmel sah. Alles war zusammengebrochen, lediglich die Fassade hielt sich in einem fragilen Gleichgewicht aufrecht, in Erwartung einer Zukunft, die kommen würde, um sie zu stützen. Die ganze Vergangenheit war verschwunden, weggerutscht wie Sand unter den Füßen. Die zarte Architektur der Erinnerung war geblieben, ein Trugbild der Dinge, die hier stattgefunden hatten, die elegante Form einer Illusion, die nur der Tag mit seinem Licht entlarvte. In der Nacht wurden die Fenster wieder dunkel, das Nichts verdichtete sich jenseits der Fassade; niemand hätte die Abwesenheit eines wirklichen Hauses, seiner Mauern und der vom Schatten geschützten Zimmer vermutet.
Ich betrat die Buchhandlung, die Höhle voller Wärme, Licht und Worte, die ich manchmal besuchte in meinen Tagen als Vagabund, und ich verlor mich zwischen den Regalen, bewegte mich ohne einen bestimmten Wunsch. Da bemerkte ich auf einem Brett ein weißes Buch von erheblichem Umfang, das wegen seines Glanzes, verstärkt durch die Zellophanhülle, zwischen den anderen hervorleuchtete.
Ich las den Titel: »Celý život«.
Jan Zábrana. »Ein ganzes Leben«.
Ich kannte den Autor, seine Gedichte, aber ich hatte noch niemals dieses Buch in den Händen gehabt. Die Ausgabe war ganz neu. Der Verkäufer informierte mich, dass das Werk vor einer Weile in zwei Bänden erschienen und nach kurzer Zeit vergriffen gewesen sei. Der Autor erzählte von den dunklen und für ihn wie für andere schmerzhaften Jahren, und die Leser hatten in jenen Notizen, jenen täglichen Erinnerungsstücken, eine Spur des verbrachten Lebens gesucht, der Jahre, die auch sie erlebt hatten und die niemals gänzlich vorbei waren.
Später, in meinem Sessel, in der tiefen Stille der Nacht, in der ich durch die Fenster die Strömung der Moldau hörte, las ich die Gedanken von Zábrana. Wie er sich den dünnen Blättern Papier anvertraute, um mit der Niederlage zurechtzukommen, der Verhöhnung der Dinge, dem Fortschreiten des Todes in seiner Generation ohne eine mögliche Flucht oder Rettung. Ich las, wählte zufällig Seiten in dem voluminösen Band aus und näherte mich Zábranas späteren Jahren. Ich kam zum Sommer 1980. Ich las nur einen Abschnitt, und während ich las, bemerkte ich, wie ich den Atem anhielt. Mit großer Detailgenauigkeit wurde ein tödlicher Unfall geschildert, der sich zwanzig Jahre zuvor ereignet hatte: Albert Camus’ Unfall.
Die Wahrheit
Die Worte waren präzise, einfach, geradeheraus. Eine mysteriöse Sparsamkeit, eine schicksalhafte Ordnung schien sie auf der Seite aneinanderzureihen. Eine lang vergangene Zeit, viele komplizierte Ereignisse, ein tödliches Komplott, die Täuschung der Dinge, die leichtfertige Kurzsichtigkeit der Menschen – dies alles war in jenen Worten enthalten und destilliert. Ein nicht wiedergutzumachendes Ereignis, der Tod eines Mannes, der an die Tode antiker Heroen erinnert, die vom Schicksal oder vom Neid der Götter niedergestreckt werden, während sie an der Schwelle zu ihren größten Taten stehen. Davon wurde erzählt, ein Schicksal in kurzen Sätzen zusammengefasst, besiegelt mit knappen, absoluten Formulierungen.
Wie die Geste des Schicksals, die wie der Blitz zuschlägt und nicht einmal Raum fürs Erstaunen gewährt, der Stimme keinen Atem lässt und keine Erinnerung an das Gefühl des Verlustes gestattet.
Alles war klar.
Die Gesetze der Welt hatten sich über einem Leben, über einem Mann geschlossen.
Die Gesetze der Täuschung und des Vergessens wurden dann darübergelegt, fein säuberlich, um den Namen der Mörder und die zentralen Ereignisse der Opferung vor der Geschichte und dem fragilen Erinnern der Menschen zu verbergen. Alles war äußerst schnell abgelaufen.
Und das ewige Vergessen, das Dunkel der Zeit, hatte sich sofort wieder über eine bereits verschwundene Realität, über die Gesten der Dinge, über das stumme Geschehen gelegt.
Wie Funken von einem fernen Feuer, von einem fernen Brand ohne Zeugen, gelang es den kurzen Worten eines Mannes dennoch, das zu retten, was das immerwährende Dunkel zu ersticken und für immer aufzulösen versuchte. Eine entrückte und mysteriöse Gerechtigkeit schien hier am Werk zu sein, die einen fragilen, unbekannten Zeugen als Boten auf die unwirtliche Welt entsandte, um einer unwissenden und besiegten Epoche zuzuflüstern und einem gerechten Mann den letzten Rest einer Wahrheit zu offenbaren – gleichsam das matte Glitzern eines von niemandem beobachteten Schiffsbruchs –, damit seine Spur für immer erhalten bliebe.
Am Ende des Sommers 1980 schrieb Jan Zábrana in seinem Tagebuch:
Von einem Mann, der viele Sachen weiß [4]