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Carl Friedrich von Weizsäcker hat es wie kein Zweiter verstanden, die seit fast vier Jahrhunderten andauernde Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft zu überwinden. In der Welt der Physik ebenso zu Hause wie im Reich der Philosophie, errichtete er eine Brücke zwischen dem Denken Platons und der modernen Quantenphysik. Eine Brücke, die noch viele überschreiten werden, die erkannt haben, dass allen Phänomenen in Wahrheit die EINHEIT DES SEINS zugrunde liegt.
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Seitenzahl: 319
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Ino WeberCarl Friedrich von Weizsäcker Ein Leben zwischen Physik und Philosophie
Ino Weber
Carl Friedrich von Weizsäcker
Ein Leben zwischen Physik
ISBN 978-3-86191-025-1
Deutsche Originalausgabe
1. Auflage
© 2012 Crotona Verlag GmbH & Co.KG
Kammer 11 • D-83123 Amerang
www.crotona.de
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
Titelphoto mit freundlicher Genehmigung
der Carl Friedrich von Weizsäcker-Gesellschaft
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
Zur Persönlichkeit – Lebenslauf und Familie
Physik
Die Quantentheorie als wissenschaftliche Revolution
Weizsäckers Leistungen als Physiker
Wissenschaft und Wirklichkeit im Licht der Quantentheorie
Die unvollendete große Einheitstheorie
Politik
Theoretische Politik – Macht an sich und ihre menschliche Tragik
Mitarbeit am Uran-Projekt im 2. Weltkrieg
Der Friedensforscher – Theorie und Praxis („Göttinger Erklärung“)
Das Starnberger Institut – ein gesellschaftspolitisches Denklabor
Wissenschaft und Politik
Philosophie
Weizsäcker und die Griechen – die Liebe zu Platon
Die Vernunft der Affekte – Probleme der Rationalität
Religion
Religion in Toleranz – Weizsäckers theologische Haltung
Meditation: Theorie und Praxis
Nachwirkungen
Anhang 1
Anhang 2
Anhang 3
Literatur
Carl Friedrich von Weizsäcker war ein Mann der Wissenschaft, der aufgrund seines philosophischen und politischen Sachverstandes oft um Rat gefragt wurde. Er war als Redner zu allen möglichen Anlässen – und keineswegs nur auf wissenschaftlichen Fachtagungen –, sehr begehrt. Weizsäcker besaß jedoch nicht nur eine ungemein vielseitige fachliche Kompetenz, sondern er strahlte auch eine angenehme menschliche Wärme aus. Diese persönliche Ausstrahlung von Besonnenheit, Würde und Menschlichkeit war in der Hektik und Ungeduld der modernen Welt eine ebenso wohltuende wie seltene Eigenschaft.
Weizsäcker war eine Ausnahmeerscheinung – als Wissenschaftler und als Mensch! Auf so unterschiedlichen Feldern wie Physik, Philosophie und Politik hat er Wegweisendes geleistet. Dabei erstreckte sich sein Engagement jeweils bis weit ins Private. Er tauchte voll und ganz in die jeweiligen Welten ein. Sein Wissen um die großen Zusammenhänge wuchs stetig an, und er wollte es mitteilen, möglichst ein größeres Publikum inspirieren.
Der eigentliche Grund für Weizsäckers Ausrichtung auf eine größere Öffentlichkeit lag sicher in seinem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein, denn er hielt es für seine wichtigste Pflicht, vor dem drohenden Dritten Weltkrieg zu warnen und positiv auf die Politik einzuwirken, sie für das Friedensproblem und seine eigentlichen Ursachen zu sensibilisieren. Es war sein sehnlichster Wunsch, die Menschen zur Einsicht zu führen und ein neues Bewusstsein für alle großen Weltprobleme zu befördern. Dabei bildeten die Intellektuellen und die Politiker Weizsäckers erklärte Zielgruppe, besonders für sie waren seine anspruchsvollen Erkenntnisse und Analysen gedacht. Doch seine vielfältigen Themen sowie sein überaus klares und gründliches Denken vermochten weite Kreise der Bevölkerung anzusprechen. Dies beweisen die immer sehr gut besuchten Vorträge und der große Erfolg seiner Bücher.
Wissenschaftliche Genauigkeit ist sicher ein Markenzeichen dieses großen Denkers, und so kann es nicht verwundern, wenn seine Aussagen für manche Leser oft schwer verständlich sind. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Weizsäcker stets in größtmöglichem Respekt vor der Wahrheit dachte und handelte. Philosophisch und politisch voll und ganz der Wahrheit verpflichtet, im strikten Bemühen um Redlichkeit, gab er kaum wirkliche Empfehlungen, aber viele Anregungen für ein neues, modernes Denken und Handeln. Er zwang den Menschen zum selbstständigen Nachdenken und wollte ihn zudem auch zur Selbstkritik anleiten.
Carl Friedrich von Weizsäcker war kein Gesellschaftskritiker im eigentlichen Sinn, schon gar kein Moralist, der etwas besser als andere wissen wollte, sondern er praktizierte an sich selbst die härteste Selbstkritik. Dieser Charakterzug disziplinierte ihn zu extrem gründlichem Denken, immer auch aus der Sicht der Gegenparteien, und förderte auf diese Weise zahlreiche wertvolle Erkenntnisse zutage.
Ziel dieser Studie ist es, nicht nur die rein wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch die persönlichen Thesen und Ansichten, ja die tiefsten Ahnungen dieses großen Denkers transparenter zu machen und zusammenzufassen. Interdisziplinäres Forschen, offenes Denken in wirklich alle Richtungen sowie die Freiheit des Geistes vor dem Hintergrund tiefer Menschlichkeit, das ist, in wenigen Worten umrissen, die Ganzheit, um die es Weizsäcker zeitlebens ging. Religion war ihm ein außerordentlich wichtiges Feld – und keinesfalls nur aus intellektueller Perspektive. Er sprach freimütig von eigenen Erlebnissen, aber auch von der Entwicklung seines persönlichen Glaubens. Auch diese Seite seines Lebens werden wir nachzuzeichnen versuchen.
Weizsäckers tiefe Menschlichkeit wird erst dann voll verständlich, wenn man sein Gefühl für die religiöse Wahrheit, seine Achtung vor den höchsten Fragen des Geistes, seine eigene Spiritualität, vielleicht sogar das persönliche Gespür für die göttliche Gegenwart im Dasein, im Kosmos sowie im Wesenskern der Menschen, gebührend berücksichtigt.
Zweifellos kam auch eine gesteigerte Geistigkeit in Weizsäcker selbst zum Ausdruck. Man sah dies schon an den Gesichtszügen, und man hörte es am überlegen ruhigen Sprechen, besonders auch am wohltuend warmen Tonfall seiner Stimme.1
Er war ein Suchender und ein Wissender, sich wohl bewusst, dass man nie vollständig zu Ende denken kann. Man darf angesichts seines Werkes und seiner persönlichen Ausstrahlung vielleicht annehmen, dass dieser Mann mehr als bloß eine Ahnung von den höchsten Ebenen des Geistes besaß – und genau darum kann er durchaus als moderner Weiser bezeichnet werden.
Ein guter Wissenschaftler muss neue Thesen aufstellen und ungewöhnliche Gedankengänge wagen. Die übliche Methode dafür ist, nach Analogien zu suchen. Dies beherrschte Weizsäcker absolut meisterhaft, da er die Themen in ihrer komplexen Tiefendimension überblickte. Dies machte noch etwas anderes erst möglich: Weit über den Tellerrand der Physik, aber auch über die üblichen Deutungen von politischen, wirtschaftlichen und historischen Zusammenhängen hinaus zu schauen. Weizsäcker tat dies mit unvergleichlicher Akribie und Sorgfalt, doch auch mit dem großen Mut für wirklich kreative, ja sogar zukunftsweisende Denkansätze. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an einem relativ groben Schema, analog zu Weizsäckers Hauptthemen: Physik, Politik, Philosophie und Religion. Seine Interessens- und Arbeitsgebiete waren sehr differenziert, und die genannte Einteilung kann dies nur schlagwortartig andeuten. Sie erleichtert aber den Zugang.
Alle wichtigen wissenschaftlichen Sachgebiete hatte er in Grunderkenntnissen stets präsent, so dass er aus dem Stehgreif darüber sprechen konnte. Zudem vermochte er die notwendigen Querverbindungen herzustellen, um seinen Zuhörern, ebenso wie den Lesern seiner tiefschürfenden Texte, eine Erkenntnis auf höchstem Niveau, gleichsam eine ganzheitliche Erkenntnis, zu ermöglichen. Das Talent, gut zu sprechen und sich klar auszudrücken, ist auch unter hochkarätigen Wissenschaftlern äußerst selten. Aufgrund seiner vielseitigen Begabungen und Interessen war es fast unvermeidlich, sich auch auf dem Gebiet philosophischer Grundfragen zu bewegen. Besonders dieses Interesse gereicht uns heute zum Vorteil, denn wir können die allgemeinen Gedankengänge, die sich hier finden lassen, auf das praktische Leben beziehen und somit leichter aufnehmen. Seine schonungslos vorgebrachte und gut begründete Kultur- und Ideologiekritik zeigt bereits die entscheidenden Ansatzpunkte, um eine bessere Zukunft zu gestalten, und insofern eröffnet sie weitreichende Perspektiven. Nicht nur von den Regierenden, sondern von der gesamten Gesellschaft forderte er ein radikales Umdenken, einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel. Das Kapitel „Wissenschaft und Politik“ zeigt im Detail, was er kritisierte und forderte, während das Schlusskapitel „Nachwirkungen“ den Blick auf die praktische Nutzanwendung der Weizsäckerschen Gedanken lenkt und dabei auch eine etwas freiere Deutung wagt.
Weizsäcker regt zum Nachdenken an. Er vermag dies aufgrund seiner Persönlichkeit, noch mehr aber durch seine Themenwahl. In der Philosophie, speziell in den klaren Konzepten zur modernen Ethik, liegt sicher die größte Nachwirkung seines Lebens. Weizsäcker war ein das eigene Denken fördernder Philosoph. Zurückhaltend in seinen Forderungen an andere, gab er aus Prinzip keine konkreten Handlungskonzepte oder Empfehlungen, und daher entwickelte er auch kein geschlossenes philosophisches System. So sind wir auf Deutungen angewiesen, die einerseits den Geist richtig erfassen, andererseits zur konkreten Praxis überleiten können.
Klugheit ist keine Charaktereigenschaft, sondern ein Umstand, der teils in die Wiege gelegt wird, den man sich aber zum größeren Teil durch harte Arbeit erwerben muss. Klugheit an sich kann andere Menschen kaum beeindrucken, wirkt oft sogar sehr abstoßend. Bei Weizsäcker jedoch wirkte sie nie auf diese negative Weise. Menschliche Wärme, Verständnis, Toleranz und stete Lernbereitschaft, das waren seine herausragenden Charaktereigenschaften. Ein entscheidend wichtiges Element kommt noch hinzu – Weizsäckers tiefe Gläubigkeit. Diese legte er in freier Denkweise offen dar, intensiv und authentisch, vom Intellekt kontrolliert, doch ehrlich bewegt. Er hat seinen christlich-protestantisch geprägten Glauben mutig zum Ausdruck gebracht, sogar öffentlich. Als Freidenker war er sehr aufgeschlossen für alle Weltreligionen und ihre jeweiligen Blickwinkel auf die Wahrheit. Er meditierte täglich und zog daraus nicht nur Kraft, sondern auch geistige Erkenntnisse. Erst in dieser außergewöhnlichen Kombination entsteht der Mensch Carl Friedrich von Weizsäcker als Ganzheit. Dieses Zusammenwirken aus Wissen und Gefühl, die Paarung aus suchender Willenskraft und Gelassenheit, aus Hoffnung und gesundem Skeptizismus, macht ihn zum Vorbild für viele. Er kann mit Fug und Recht als Wegbereiter unseres modernen Zeitalters betrachtet werden, der die Wissenschaft in neuem Licht erscheinen lässt, aber auch vor ihren Gefahren ausgiebig warnt. Doch er versäumt nicht, die notwendige Besinnung auf menschliche Werte, auf eine universelle Ethik, als positives Gegengewicht in Erinnerung zu rufen.
Wie kaum ein anderer dachte Carl Friedrich von Weizsäcker vorrangig global. Er war ein Weltbürger, dem die ganze Menschheit am Herzen lag, der aber im selben Maß jeden einzelnen Menschen als eigenständiges Individuum wahrnahm und respektierte. Was wirklich beeindruckend ist: Weizsäcker lebte diese Ethik mustergültig vor, als ungemein fleißiger Arbeiter in den endlosen Welten des Geistes. Sein Streben und Wirken reichte bis weit in die reale Politik hinein. Alle diese Aktivitäten übte er sehr bewusst, dezent und zurückhaltend aus, immer auf die Wahrheit und eine möglichst gute und seriöse Wirkung bedacht. Weizsäcker trug sein Wissen und sein geistiges Innenleben aktiv nach außen, in Reden und Vorträgen, im Briefwechsel mit namhaften Persönlichkeiten und vor allem in zahllosen Gesprächen, die er bereitwillig suchte. Diese Form der Aktivität ist nicht nur wissenschaftlich geprägt, sie ist vom philosophischen Willen nach einer wirklichen Erfahrung, speziell der Erfahrung des allgemein Menschlichen, beseelt. Carl Friedrich von Weizsäcker war und ist ein Vorbild, ein vorbildlicher Mensch mit charakterlicher Größe. Sein Werdegang ist einzigartig. Was man aber sehr wohl übernehmen oder jedenfalls stark auf sich wirken lassen kann, ist sein humanistisches Denken, getragen von nüchterner Vernunft und liebevoller Weitsicht. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, dieses wichtige, aber im alltäglichen Gang der Gesellschaft und Wirtschaft leider oft völlig missachtete Gebot, bekommt in der Person Weizsäckers eine neue und sehr reale Bedeutung.
Es gibt nur sehr wenige Menschen der Neuzeit, die man mit Recht als weise bezeichnen kann. Bei Carl Friedrich von Weizsäcker darf es geschehen, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen; denn das Element der Klugheit tritt deutlich zurück hinter einer wahrhaft philosophischen Lebenshaltung. Auf seine vornehme, zurückhaltende Art übte er sehr wohl auch Kulturkritik. Dies war aufgrund seiner klaren Analyse der Wirklichkeit unausweichlich. Jedoch blieb er überaus selbstkritisch und bescheiden, lebte eine absolut mustergültige Haltung vor. Was kann die Nachwelt von einem Universalgelehrten solchen Ranges lernen? Diese Studie will eine Antwort versuchen, versteht sich aber vorrangig als Schlüssel zu Weizsäckers gewaltigem geistigen Werk.
Kindheit, Jugend
und wissenschaftliche Karriere in Grundzügen
Carl Friedrich von Weizsäcker wurde am 28. Juni 1912 in Kiel geboren und starb im Alter von 94 Jahren in Starnberg bei München, nur zwei Monate vor Vollendung des 95. Geburtstags.
Kiel war nur eine Zwischenstation im beruflichen Werdegang des Vaters Ernst von Weizsäcker (bis 1918 Marineoffizier). Schon 1915 lebte die Familie wieder in Stuttgart, wo beide Elternteile ursprünglich herstammten. Dort wuchs auch der junge Carl Friedrich auf. Heimatgefühle verband er daher zeitlebens mit dieser Stadt und mit der Württembergischen Landschaft, trotz des Geburtsortes im hohen Norden Deutschlands.
Stuttgart kann sogar als Zentrum und Stammsitz der weitverzweigten Weizsäcker-Familie gelten. Schließlich war der Großvater, Karl Hugo von Weizsäcker, von 1906 bis 1918 Präsident des Württembergischen Staatsministeriums (vergleichbar mit dem Amt eines Ministerpräsidenten). Im Jahr 1916 wurde der hochdekorierte Großvater, ein sehr angesehener Staatsmann, von König Wilhelm II. von Württemberg mit der erblichen Freiherrnwürde geadelt. Somit war auch der Enkel Carl Friedrich in den Adelsstand erhoben.
Im verträumten Städtchen Oehringen, gelegen im Hohenloher Land (zwischen Neckar und Tauber), kommt der gesamte „Weizsäcker-Clan“ alle fünf Jahre zusammen. Die Tradition, das Familientreffen in Oehringen abzuhalten, besteht seit 1967. Der organisatorische Aufwand ist enorm, denn schließlich treffen sich jeweils weit über einhundert Personen, oft hochrangige Persönlichkeiten mit dicht gefülltem Terminkalender, die aus aller Welt anreisen.2
Die Mutter Marianne, eine geborene von Graevenitz (1889-1983), lebte bis zu ihrem Tod in der württembergischen Heimat, und der erwachsene Sohn ließ es sich nicht nehmen, sie so oft wie möglich zu besuchen. Im Elternhaus herrschte eine sehr tolerante und liebevolle Atmosphäre. Über Politik wurde eifrig diskutiert, denn schließlich war der Vater, Ernst von Weizsäcker, seit 1919 als Diplomat tätig. Man besaß also auch Informationen aus erster Hand.
Über die frühe Kindheit ist nicht viel zu berichten. Es versteht sich von selbst, dass der Erste Weltkrieg (1914-1918) eine nachhaltige Wirkung auf den Jungen ausübt, obwohl er die Vorgänge geistig noch nicht zuordnen kann. Gerade in den Kriegsjahren verbringt Carl Friedrich viel Zeit zusammen mit dem Großvater in Stuttgart. Die beiden verstehen sich offenbar prächtig. Sie scherzen miteinander: Der Alte nennt ihn „Spitzbub“ und der Junge kontert frech, schimpft ihn einen „Spitzgroßpapa“. Beim gemeinsamen Pilzesammeln im Wald begeistert sich der Opa für ein sehenswertes „Parlament“ von Steinpilzen. Das Politische wird Carl Friedrich von Weizsäcker von frühester Kindheit an nahegebracht, vom Vater gibt es diesbezüglich einige lehrhafte Unterweisungen, später auch für den kleinen Richard. Ein ebenso liebevolles Verhältnis bestand zu den beiden Onkeln Viktor von Weizsäcker und Fritz von Graevenitz. Letzterer war Bildhauer. Vor allem bei ihm entwickelt der begabte Schüler und angehende Wissenschaftler einen ausgeprägten ästhetischen Sinn, ein Gespür für die künstlerische Haltung sowie für die Bedeutung von Kunst und Kreativität.
Der Onkel väterlicherseits, Viktor von Weizsäcker, war ein fortschrittlicher Arzt, ein Neurologe und Psychologe mit besonderem Hang zur Anthropologie und Philosophie. Psychosomatische Medizin ist zur damaligen Zeit ein weitgehend unbekanntes Fachgebiet. Sein Onkel Viktor hat sogar eine völlig neue ganzheitliche Methode erfunden, die sogenannte Gestalttherapie. Der junge Mann gewinnt entscheidende Einblicke, denn er erhält die Information gewissermaßen aus erster Hand. Carl Friedrich von Weizsäcker schreibt über seinen Onkel: Er „öffnete mir unerlässlich wichtige Horizonte“.3 In späteren Jahren setzte sich Weizsäcker noch sehr intensiv mit diesem Gedankengut auseinander, las die Schriften des Onkels mit großer Aufmerksamkeit und kam, wie immer, während der Analyse zu eigenen Erkenntnissen und Überzeugungen: „Jahrzehntelang konnte ich über Äußerungen von ihm meditieren.“
Gerade im Gespräch, in der Diskussion mit den Erwachsenen, deren Umgang er von klein auf bevorzugt, entsteht Weizsäckers sehr differenziertes Urteilsvermögen. Wissbegier ist ein Charakterzug, der sich bei ihm sicher auch mit den familiären Verhältnissen erklären lässt. Doch die Intensität seiner urpersönlichen Gefühlslage, sein unablässiges Drängen und der unbezähmbare Wille, stets ein ganzheitliches Wissen zu erlangen, bleibt ein bemerkenswertes Phänomen.
Da ist ein achtjähriger Junge, der inständig wissen möchte, wie alles zusammenhängt, der das Ganze zu ergründen trachtet, freilich ohne sich dieses Streben schon geistig klar bewusst machen zu können. Das „Ganze“ versteht er zunächst auch mehr kosmologisch, nicht philosophisch. Es ist das Weltall, das ihn fasziniert, weil es eine unbegreifliche Ganzheit widerspiegelt. Als 12-jähriger, frisch ausgestattet mit einer Sternenkarte, geht er in die Nacht hinaus, um Beobachtungen anzustellen, und hat dabei ein intensives religiöses Erlebnis. Neben der intellektuellen Veranlagung spricht dies für eine besondere Gefühlsintensität.
Die große Leidenschaft für Astronomie ist sehr auffällig, und sie gipfelt im klar geäußerten Wunsch, dieses Fach einmal zu studieren. Keine Frage, dass diese Leidenschaft eng mit der Wissbegier zusammenhängt, speziell mit der philosophischen Neugier für die Urgründe und den Sinn des Daseins. Ein tiefes Gefühl für Schönheit und Gesetzmäßigkeit schwingt ebenfalls dabei mit.
Ob das Kind mehr oder weniger deutliche Ansätze zur Genialität zeigt, lässt sich heute nur schwer beantworten. Carl Friedrich ist sicher kein typisches „Wunderkind“. Doch gewisse Auffälligkeiten sind zweifellos vorhanden, wie z.B. sein geliebtes „Schwätzen“ (schwäbisch „schwätze“), sogar eine Art frühes Dozieren, ein altkluges Benehmen, das jedoch bereits durchaus auf Wissen beruht, und schließlich die Fähigkeit, sich mit Erwachsenen gut unterhalten zu können. Der große Intellekt leuchtet also bereits sehr früh in ihm auf.
In den ersten Schuljahren zeigt er sich als stilles, schüchternes, nach innen gekehrtes Kind. Er ist ein wenig scheu und ängstlich, außerdem auffallend träumerisch. Dem widerspricht nicht der bereits hell auflodernde Ehrgeiz. Das Verhältnis zur Schule ist rein äußerlich schon dadurch erheblich gestört, dass die Familie in jenen Jahren sehr häufig umzieht. Stuttgart – Basel – Den Haag – Kopenhagen – Berlin, so heißen die Stationen von 1915 bis 1929.
Besondere Schulerlebnisse Weizsäckers sind nicht überliefert, vielleicht mit einer Ausnahme: Sein Gespräch mit dem sehr verehrten Lehrer Hilmer von der St. Petri-Realschule in Kopenhagen, der ihm zusätzlich Privatunterricht in Latein und Griechisch erteilte. Weizsäcker selbst berichtete von einem „Begeisterungsausbruch“ während einer solchen privaten Stunde. Anlass dazu war sein gedankliches Abschweifen, nämlich zum Lieblingsthema Weltall. – Diese Größe, dieses Wunder! – Wir können sein wirkliches Gefühl weder nachempfinden noch korrekt wiedergeben. Doch Hilmer ging sogleich darauf ein und ermahnte den Schüler: „Aber vergiss es nie, größer als das Weltall ist dein Geist, Carl Friedrich v. Weizsäcker, der das Weltall zu denken vermag.“ 4 Weizsäcker zitiert diesen Satz in seiner „Selbstdarstellung“, abgedruckt ganz am Ende des Buches „Der Garten des Menschlichen“. Ob der Lehrer seinen jungen Schüler wirklich derart formell mit dem vollen Namen ansprach und ob dieser Satz, aus der Erinnerung hervorgeholt, tatsächlich so formuliert war, ist heute unerheblich. – Der Geist ist größer noch als das Weltall. – Diese Aussage versinnbildlicht auf wunderbare Weise Weizsäckers gesamtes Lebenswerk, seinen persönlichen geistigen Kosmos.
Das Abitur legte Weizsäcker in Berlin ab, wo er 1929 auch das Studium aufnahm. Seine Entwicklung zum Wissenschaftler wird im Kapitel „Physik“ näher beschrieben.5
Viele Anmerkungen, auch einige kleine Geschichten und Anekdoten zur Persönlichkeit Weizsäckers, sind an anderer Stelle dieser Studie eingeflochten. Es sei diesbezüglich vor allem auf das Kapitel „Religion“ verwiesen, doch findet sich reichhaltiges Material auch in Teilen der „Politik“-Kapitel. Dieses Extra-Material ist allerdings nicht in voller Breite dargelegt, sondern es wird meist auf den Kern der Aussage reduziert. Weizsäckers Denken hat erst derjenige wirklich verstanden, der es in eigenen Worten ausdrücken kann. Es geht daher hier primär um das reine Verständnis der Aussagen und darum, auch die komplexeren Gedankengänge in ihrer eigenständigen Logik nachvollziehen zu können. Selbst wenn sich eine Deutung ein wenig vom Original entfernt, bleibt der Sinngehalt das Entscheidende. Statt den allerfeinsten Nuancen des Gesagten nachzuspüren, ist es sinnvoller, zunächst einmal die Bedeutung als solche zu erfassen. Vereinfachung in Maßen kann das effektiv Gemeinte, das zu Sagende, sogar wesentlich deutlicher machen als es einzelne Textpassagen vermögen, die viele Einzelaussagen enthalten, ohne jedoch eine Quintessenz aufzuzeigen. Weizsäcker selbst zieht keine Resümees. Man muss dies nachholen, um seine Gedanken einzufangen, sie geistig zu verarbeiten und vielleicht auch einen praktischen Nutzen daraus zu ziehen.
Die lebensentscheidende Begegnung mit Werner Heisenberg ist im Kapitel „Physik“ nacherzählt, denn dort ist sie thematisch besser aufgehoben. Zu dem genialen Physiker (Nobelpreisträger des Jahres 1932) sollte sich eine lebenslange Freundschaft entwickeln.
Lebenslauf
Carl Friedrich von Weizsäcker, geb. am 28. Juni 1912 in Kiel. Seit 1937 verheiratet mit Gundalena, geb. Wille (Historikerin)
Eltern:
Ernst v. Weizsäcker (Offizier, Diplomat), Marianne v. Weizsäcker (geb. v. Graevenitz, Krankenschwester)
Geschwister:
Adelheid, Heinrich und Richard (geb. 1920)
Kinder:
Carl Christian (geb. 1938), Ernst Ulrich (geb. 1939), Elisabeth (1940), Heinrich (1947)
1918-29
Schulen in Wilhelmshaven, Stuttgart, den Haag, Basel, Kopenhagen, Berlin (1927-1929)
1929
Abitur in Berlin (Bezirk Wilmersdorf)
1929-33
Studium der Physik, Astronomie und Mathematik in Berlin (Friedrich-Wilhelm-Universität), ab 1929/30 in Leipzig
1933
Promotion zum Dr. phil. in Leipzig bei Werner Heisenberg. „Durchgang schneller Korpuskularstrahlen durch ein Ferromagnetikum“
1936
Habilitation an der Universität Leipzig.
„Über die Spinabhängigkeit der Kernkräfte“
1936-42
Assistent am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, ab 1937 auch Dozent für theoretische Physik an der Universität Berlin
1942-44
Professor für theoretische Physik an der Universität Straßburg
1946-57
Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen und Honorarprofessor an der Universität Göttingen
1957-69
Professor für Philosophie an der Universität Hamburg
1970-80
Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg
Weizsäcker war in erster Linie Physiker, aber auch Philosoph und Friedensforscher. Obwohl er mit Leib und Seele Wissenschaftler war, engagierte er sich doch auch mit großer Kraft für politische Ziele. Als Philosoph erkannte er früh die Notwendigkeit eines umfassenden Bewusstseinswandels. Von ganz eigenständigem Wert und vielleicht wichtiger als alle tagespolitischen Bemühungen der Berufspolitiker sind seine tiefsinnigen Anregungen für eine Weltinnenpolitik. Frei von jeglichen spekulativen Tendenzen, war Weizsäcker davon überzeugt, dass eine übergeordnete politische Vision durchaus notwendig ist. Mit deutlichen Worten zeigte er auf, was im globalen Interesse geschehen müsse, um eine friedliche, lebenswerte Zukunft zu sichern. Dabei verzichtete er darauf, die mögliche, ja aus seiner damaligen Sicht wahrscheinliche Zukunft im Detail auszumalen. Seine sehr vorsichtige Form einer „Vision“ war getragen von einer fundamentalen Analyse aller relevanten Fakten und Problemlagen. Was er herausfand, ist trotz der veränderten und scheinbar immer rascher fortschreitenden weltpolitischen Voraussetzungen von verblüffender Aktualität. So bilden Weizsäckers Überlegungen und Anregungen im Bereich der Weltpolitik, zumal in der Friedensforschung, ein wertvolles Vermächtnis an die Nachwelt.
Von religiösem Empfinden und klarem Denken gleichermaßen tief geprägt, vertrat Weizsäcker einen hohen moralischen Anspruch. Er legte den Finger in die Wunde, übte mutig Kritik, wollte aber niemanden verletzen. In vorbildlicher Denkweise, liberal und philosophisch, gab er niemals vor, im Besitz einer letztgültigen Wahrheit zu sein. Es lag ihm deshalb auch fern, anderen seine Erkenntnisse aufzuzwingen. Er zielte vor allem auf ein eigenständiges Mitdenken seiner Ansprechpartner ab.
Weizsäcker maß sich nicht an, ein völlig neues Gesellschaftssystem zu empfehlen, hielt es nicht einmal für sinnvoll, ein solches auszuarbeiten. Stattdessen mahnte er die mögliche, allein schon durch die Vernunft gebotene Umsetzung einer universellen Ethik an. Dieses Wertesystem wies bei ihm allerdings unverkennbar starke urchristliche Züge auf. Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden hatten in Weizsäckers Ethik einen außerordentlich hohen Stellenwert. Nächstenliebe kann man kaum durch Predigten erzeugen, man muss sie selbst empfinden und praktizieren. Genau das konnte man Weizsäcker deutlich anmerken, in seinen Vorträgen und mehr noch im persönlichen Gespräch. Schon seine Stimme, ihr warmer Tonfall, ließ kaum Zweifel über das innerste Wesen dieses Mannes aufkommen. Die Menschenliebe war in der Tat Weizsäckers stärkste Kraft, welche seine geistigen Energien harmonisch bündelte.
Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, der Erfolg wäre ihm in die Wiege gelegt worden. Geboren in einer sehr angesehenen Gelehrtenfamilie, wohl behütet, liebevoll erzogen und nach Kräften im Talent gefördert, war der Weg sicher gut vorbereitet. Doch es waren höchst unsichere Zeiten. Schicksalhafte Einflüsse, unvorhersehbare Ereignisse, die Weltwirtschaftskrise 1929 und die Wirren der beiden Weltkriege konnten so manchen Lebensweg nachhaltiger bestimmen als eine noch so gute Bildung. Das altdeutsche Schulsystem wies ohne Zweifel ganz besondere Härten auf, die mit den heutigen Anforderungen schwer vergleichbar sind. Für eine gute Bildung mussten erhebliche Widerstände überwunden werden, durch großen Fleiß, starke Willenskraft und Eigeninitiative. Weizsäckers Weg verlief auch aus einem anderen Grund nicht einfach, denn der Vater war im diplomatischen Dienst tätig und wurde häufig versetzt. Fünfmal musste Carl Friedrich die Schule wechseln, sich auf ganz verschiedene Schultypen einstellen, im In- und Ausland. Schließlich legte er in Berlin das Abitur ab, mit durchwegs guten Noten. Vom Intellekt her bereitete ihm keines der Schulfächer Schwierigkeiten, wobei sich jedoch eine besondere Begabung für Physik und Mathematik schon früh abzeichnete.
Ein Diplomat verdiente damals nicht so viel, wie man meinen könnte, und die Familie empfand sich ganz und gar nicht als reich, erst recht nicht zu jener Zeit, als man in einer wenig komfortablen Berliner Altbauwohnung lebte.
Zu wissen, was man will, kann bereits eine gute Basis für den erfolgreichen Lebensweg sein. Beim jugendlichen Weizsäcker kam dieses „Geschenk“ in Form einer denkwürdigen Begegnung – mit Werner Heisenberg. Weizsäcker war erst vierzehn Jahre alt, als er den späteren Nobelpreisträger zum ersten Mal traf, doch da er bereits einen brillanten Intellekt entfaltet hatte, wurde es ein mehrstündiges Gespräch. Heisenberg überzeugte ihn davon, Physik zu studieren, nicht Philosophie oder womöglich Theologie. Vielseitige Anlagen und Interessen waren in Weizsäcker von früher Kindheit an vorhanden. Daher wollte der junge Mann zuerst Sternenkundiger werden, aus purer Begeisterung für die Größe des Weltalls, mit einem religiös geprägten Empfinden für die unfassbaren Geheimnisse des Kosmos.
Weizsäcker wurde Physiker, mit all den Verwicklungen, die durch die zeitgeschichtlichen Umstände bedingt waren. In der Nachkriegszeit warf man ihm und Heisenberg vor, sich nicht entschlossen genug vom Nazi-Regime distanziert, sich gar mit den Machthabern allzu bereitwillig arrangiert zu haben. Richtig ist dagegen: Carl Friedrich von Weizsäcker war nie konkret an der Entwicklung einer atomaren oder sonstigen Waffe beteiligt, weder theoretisch noch praktisch. In der Tat kam er nie in die furchtbare Zwangslage einer konkreten Gewissensentscheidung, denn die technischen Möglichkeiten und die notwendigen Rohstoffe zur Herstellung einer Atombombe waren während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland nicht gegeben.
Weizsäcker war ein sehr junger Physiker, und der einzige Fehler, den er sich selbst später eingestehen musste, war eine gewisse politische Naivität. Seine moralische Integrität jedoch steht außer Zweifel, wenn man seine Beweggründe und seinen Charakter genauer kennt.
Was für eine Persönlichkeit war der Mensch Carl Friedrich von Weizsäcker? Es wäre völlig verfehlt, ihn nur als Physiker, als unerhört klugen und ehrgeizigen Forscher zu sehen.
Die Existenz der Atombombe hatte die Welt für immer verändert. Jede Form der künftigen Außen- und Weltpolitik würde unter diesem Damoklesschwert ihre Entscheidungen treffen müssen. Den Frieden zu bewahren, war nunmehr das wichtigste Anliegen der Menschheit. Aber reichten die rüstungspolitische Vernunft und das politische Durchsetzungsvermögen der Machthaber dafür aus? Wann würden endlich jene internationalen politischen Strukturen entstehen, die Weizsäcker dringend anmahnte, damit der möglicherweise alles vernichtende Atomkrieg verhindert werden konnte? So intensiv wie kaum ein anderer beschäftigte sich Weizsäcker wissenschaftlich mit diesen lebenswichtigen Fragen. Es galt, jede Spur von Naivität abzulegen und der Gefahr ins Auge zu sehen. Tatsächlich gelang es Weizsäcker in jahrelanger mühevoller Arbeit, sich eine umfassende rüstungspolitische Kompetenz anzueignen und gangbare „Wege in der Gefahr“, so sein Buchtitel aus dem Jahr 1976, aufzuzeigen. Spätestens in den Siebzigerjahren, als Direktor eines interdisziplinär forschenden Instituts, sollte er sich ein außerordentliches Fachwissen im Bereich des politischen Handelns, vor allem die theoretischen Hintergründe betreffend, gezielt aneignen. Er begann, konkreten Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen und reale geistige Macht auszuüben, denn über die Jahre war er zum gefragten Ratgeber aufgestiegen. Bundeskanzler Willy Brandt wandte sich mehrmals an ihn.
Weizsäcker war ein Weltbürger. Er nahm an zahllosen Konferenzen teil und suchte das intensive Gespräch mit Fachleuten. Zeitlebens führte er eine erstaunlich umfangreiche Korrespondenz mit hochrangigen Politikern und Staatsoberhäuptern, Philosophen und Schriftstellern. Mit Henry Kissinger verband ihn ein freundschaftliches Verhältnis. Mit der geistigen Elite Deutschlands und einigen kirchlichen Würdenträgern stand er in regem Austausch, so etwa mit Martin Buber, dem pazifistischen Rebellen Gollwitzer oder dem theologischen Querdenker Hans Küng. Er setzte sich bei Tschernenko eindringlich für die Freilassung des sowjetischen Regimekritikers und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow (1921-1989) ein. Sogar mit Erich Honecker gab es einen Briefwechsel.
Heinrich Böll wollte 1972 die Entspannungspolitik aktiv unterstützen und schlug Weizsäcker vor, sich in Brüssel zu treffen, doch dieser war für spontane Aktivitäten nicht zu haben. Seine Begründung: Mangelnde Vorbereitung und öffentliche Erklärungen, die nicht ausreichend durchdacht sind, schaden nur der Sache.
Mit Martin Heidegger, den er bereits 1935 kennengelernt hatte, traf er sich regelmäßig zu ausgiebigen philosophischen Debatten; auch dem illustren Gesprächszirkel der früheren griechischen Königin wohnte er seit 1960 viele Jahre bei. Dies alles verschaffte ihm einen geistigen Horizont, ein weltpolitisches Wissen und eine profunde Menschenkenntnis, die nur wenige Menschen auf der Welt besitzen. Er war wissenschaftlich, geistig, politisch und gesellschaftlich auf der Höhe des Geschehens.
Zweimal, 1964 und 1979, hatte Weizsäcker selbst die Gelegenheit, aktiv in die Politik einzusteigen und für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren. Er lehnte aus persönlichen Gründen ab. 1979 trugen SPD und FDP die Kandidatur an ihn heran, bedrängten ihn förmlich, allerdings erst sechs Tage vor dem Wahltermin. Das zeugt von sehr schlechtem Stil. Weizsäcker reagierte mit sicherem Instinkt, war nicht dazu bereit, der Koalition lediglich aus einer Verlegenheit zu helfen. Bereits 1964 hatte Helmut Schmidt vertraulich mit ihm gesprochen, aber eine prompte Ablehnung erhalten; denn zu jener Zeit ging es beruflich nicht. Die Wissenschaft hatte nach seiner innersten Überzeugung klaren Vorrang.
Als Bundespräsident zu wirken, wäre selbstverständlich eine hohe Ehre und ein weites Betätigungsfeld gewesen, zumal für einen philosophisch hochgebildeten Mann mit unzweifelhafter Moral, feinem diplomatischen Spürsinn und noch dazu großer sprachlicher Ausdruckskraft. Sicher hätte er sich nicht hinter formellen Zwängen versteckt, sondern auch mutig die notwendige Kritik angebracht. Diese Aufgabe übernahm von 1984-1994 Richard von Weizsäcker – in hoch respektierter Art und Weise. Der ehemalige Berliner Bürgermeister füllte das Präsidentenamt mit Bravour aus, so dass gewissermaßen „der Ruhm in der Familie blieb“.
Carl Friedrich von Weizsäcker trat nie in eine Partei ein, wurde aber mehrfach für die SPD aktiv. Obwohl er sich selbst als skeptischen Konservativen einordnete und seine Herkunft weder leugnen konnte noch wollte, fand er anfangs die bürgerliche Welt durchaus fragwürdig. Jeglicher Fanatismus lag ihm fern, was ein unabhängiges Urteilen möglich machte.
Weizsäckers Rolle als Friedensforscher und Rüstungsgegner ist weitreichend gewesen und hatte Bedeutung für Deutschland und Europa. Die Erklärung einiger hochkarätiger Wissenschaftler, der „Göttinger Achtzehn“ im Jahr 1957, bewirkte letztlich, dass Adenauer auf die atomare Rüstung Deutschlands verzichtete. Weizsäcker hat den überaus klaren und eindringlichen Text der Erklärung maßgeblich selbst verfasst, nach Rücksprache mit den berühmten Unterzeichnern. Es war seine erste große politische Aktion – und eine der wirkungsvollsten seines Lebens. Sie bot Gelegenheit, seine hochstehende Ethik in der Praxis zu demonstrieren. Wie er selbst rückblickend feststellte, ging es ihm und den Physiker-Kollegen keineswegs nur um die deutschen Belange, sondern um „einen Schritt in Richtung der Nichtverbreitung der Kernwaffen“.6 Das ethisch motivierte weltpolitische Anliegen schwang in der Erklärung deutlich mit und wurde auch von der Öffentlichkeit genau so aufgefasst.
Weizsäckers beruflicher Aufstieg zeichnete sich sehr früh ab: Promotion mit einundzwanzig, Habilitation mit vierundzwanzig, erfolgreiche Betätigung als Grundlagenforscher auf dem noch neuen Gebiet der Kernphysik, Lehrtätigkeiten als Professor für Physik, später auch im Fach Philosophie. Persönlich und beruflich bedeutsam ist die enge Zusammenarbeit, ja Freundschaft mit Werner Heisenberg. Schon in jungen Jahren hatte er ständigen Kontakt mit Nobelpreisträgern, und dies setzte sich bis weit in die Fünfzigerjahre fort. Praktisch die gesamte Riege deutscher und auch ausländischer Nobelpreisträger im Fach Physik (z.B. Max von Laue, Max Born, Niels Bohr), teilweise auch im Fach Chemie (z.B. Peter Debeye, Otto Hahn), war ihm durch persönlichen Umgang bekannt. Niels Bohr ragte in gewisser Weise heraus, denn er war der wahrhaft entscheidende Gesprächspartner, um die weitreichenden Konsequenzen der Quantentheorie besser zu verstehen. Der dänische Atomforscher war, ebenso wie Weizsäcker, gerade an den philosophischen Konsequenzen der physikalischen Entdeckungen sehr interessiert. Bohrs Denkansätze wirkten so nachhaltig auf Weizsäckers gesamte Physik- und Naturauffassung, dass dieser die persönliche Begegnung im Jahr 1932, vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, als die zweitwichtigste nach Heisenberg empfand.
Schon in der Entwicklung der wegweisenden Quantentheorie wirkte Weizsäcker an der vordersten Forschungsfront mit. Die genialen Forscher jener Zeit inspirierten sich oft gegenseitig. Eine vergleichbare wissenschaftliche Revolution wie in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, als die Quantentheorie entstand, hat es seither in der Physik nicht mehr gegeben.
Weizsäcker, der nach der Ganzheit des Wissens strebte, boten sich vielfältige Möglichkeiten und Kontakte. Nur Einstein hat er nie kennengelernt, obwohl er die zufällige Begegnung in Berlin insgeheim erhoffte. Sie wäre durchaus möglich gewesen, zumal sein Wohnort ganz in der Nähe lag.
Bei Kriegsbeginn, am 1. September 1939, war Weizsäcker bereits zweifacher Familienvater. Knapp einen Monat zuvor hatte sich der emigrierte Albert Einstein durch Unterschrift auf einem brisanten Brief Leo Szilards an den amerikanischen Präsidenten gewandt. Der Briefschreiber drängte darauf, den Bau einer Atombombe zu veranlassen, um mit der sich abzeichnenden Bedrohung durch das Dritte Reich fertig zu werden. In Deutschland ahnte niemand etwas davon, schon gar nicht von den realen Konsequenzen dieses Appells. Selbstverständlich blieb das „Manhattan-Projekt“, wie man das forcierte atomare Forschungs- und Rüstungsprogramm der USA seit 1942 bezeichnete, streng geheim.
Weizsäcker wurde bereits im Herbst 1938 dem Heereswaffenamt in Berlin unterstellt, wie Heisenberg und andere Fachkollegen. Sein bisheriger Arbeitsplatz am ehrwürdigen Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik blieb bestehen, doch nun sollte hier die (militärische) Nutzbarmachung der Kernspaltung erforscht werden. Als Ziel wurde eine kontrollierte Kettenreaktion in einem Uranbrenner vorgegeben. Im Erfolgsfall hätte dies fraglos auch friedfertigen Zwecken dienen können, allerdings waren die näheren Umstände eindeutig: Man forderte von den Forschern ganz konkret, die Möglichkeiten zum Bau einer Kernwaffe abzuschätzen.
Außenstehende können kaum begreifen, dass ausgerechnet Weizsäcker, der philosophisch denkende, friedliebende und mit moralischem Feingespür begabte Wissenschaftler, sich daran beteiligte. Auch Werner Heisenberg, der bis 1942 in Leipzig tätig war, wirkte beim „Uran-Projekt“ mit. Otto Hahn wies eine Beteiligung 1939 schroff zurück. Er antwortete mit persönlicher Entrüstung, drohte gar mit Selbstmord, falls Hitler die Verfügungsgewalt über eine Atombombe erhielte. Er hätte diese Konsequenz als seine persönliche Schuld empfunden! Wie konnte ein moralisch empfindender Wissenschaftler 1939 reagieren? Welche Position war die vernünftige? Bei Weizsäcker war die Gemengelage aus rationalen und irrationalen Motiven offensichtlich komplex. Auswandern kam für ihn allerdings überhaupt nicht in Frage. Es gab sicher keine Absicht, die Atombombe zu bauen, aber auch keinen verschwörerischen Plan, es gegebenenfalls zu verhindern.
Einzelne Beweggründe herauszugreifen, wird der Komplexität der Lage nicht gerecht. Auffällig ist nur Weizsäckers Entschlossenheit, unter offenkundig militärischem Auftrag weiter zu forschen, sie ist eine unzweifelhafte Tatsache. Es bestand die erhebliche Gefahr, Hitler in den Besitz einer Atombombe zu bringen, und dies wurde von den Beteiligten anscheinend in Kauf genommen. Die wissenschaftliche Neugier war sicher ein gewichtiger Grund, aber es gab möglicherweise noch ein stärkeres, wenngleich nur halbbewusstes Motiv: Weizsäckers Vorstellung, mithilfe der künftigen Bombe, deren Entwicklung in Anbetracht des weltweiten wissenschaftlichen Fortschritts ohnehin nicht mehr zu verhindern war, könne die Menschheit schließlich die Institution des Krieges endgültig abschaffen, einfach deshalb, weil sie unter dieser immens zerstörerischen Bedrohung dazu gezwungen sein würde. Natürlich setzte dieses Gedankenspiel ein Obsiegen der Vernunft voraus, was angesichts der weltpolitischen Lage äußerst zweifelhaft erscheinen musste.
In der Zeit von 1946 bis 1957 widmet sich Carl Friedrich von Weizsäcker noch intensiver als bisher der Physik, nämlich als Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut in Göttingen und zusätzlich als ordentlicher Professor für Physik an der Göttinger Universität. Seine fast einjährige Internierung, vor allem das letzte halbe Jahr in Farm Hall (England) bis März 1946, hatte allerdings Spuren hinterlassen, nicht aufgrund auszuhaltender Härten, sondern weil genügend Zeit war, um über den grauenvollen Krieg und die eigene Rolle im Nazi-Deutschland nachzudenken. Wie Weizsäcker sich selbst eingestehen musste, überstiegen die Ereignisse seine „intellektuelle Verarbeitungsfähigkeit“,7 Trotz bewusster geistiger und ethischer Distanz übte Hitler eine mysteriöse Anziehungskraft auf ihn aus, wobei besonders seine Gabe beeindruckte, dem verzagten Volk wieder Hoffnung zu geben inmitten des niederdrückenden wirtschaftlichen Elends in den frühen Dreißigerjahren. Man muss dies richtig verstehen: Für Weizsäcker stand zweifelsfrei fest, dass es sich in der Person Hitlers um einen gefährlichen Scharlatan, einen menschenverachtenden Rassisten, Kriegstreiber und Verbrecher handelte, den Weizsäckers Vater zutiefst hasste und dem auch der Sohn durchaus reserviert gegenüberstand. Aber der Diktator schien „irgendeine Mission“8 zu haben.
Ahnungen und unklare Wahrnehmungen waren zwischen 1933-1945 derart vorherrschend, dass die gebotene „rationale Nüchternheit“ erst nachträglich neu erlernt werden musste. Nach Weizsäckers eigener Aussage blieb sein geistiges Verhältnis zu den politischen Zeitproblemen, ja seine gesamte Vorstellung von Politik überhaupt, bis 1952 eher unscharf. Ernst von Weizsäcker, der seinen ältesten Sohn schon als Kind spielerisch und doch sehr gründlich in politischer Theorie unterwies, riet ihm einmal rundheraus, möglichst nicht in die Politik zu gehen.
1945 spürt Weizsäcker deutlich die kollektive Selbstverblendung, die nach Kriegsende in Deutschland weiter andauert. Was offensichtlich fehlt und dringend nachgeholt werden muss, ist eine intensive, heilsame Trauerarbeit. Wer die historischen Fakten leugnet oder nicht anzuschauen bereit ist, kann seine eigene Schuld nicht erkennen. In der Konsequenz wird so auch die Arbeit am notwendigen Bewusstseinswandel verweigert, was für die kulturelle Entwicklung ein ausgesprochenes Hemmnis darstellt. Verdrängung ist ein politisch eminent gefährliches Problem. Neue Krisen sind vorprogrammiert. Dies sind wichtige Überzeugungen, die zu jener Zeit in Weizsäcker heranreifen.
1950 reist er in die USA und stattet der Quäker-Universität in Haverford (Pennsylvania) einen Besuch ab. Von Professor Douglas Steere, den er als Freund bezeichnet, ist er tief beeindruckt, denn dieser Mann ist offenbar ein lebendes Beispiel dafür, wie glücklich eine strikte Glaubensauslegung gemäß der Bergpredigt und das furchtlose, unbeirrte Praktizieren dieses Glaubens machen können. Gern hätte er ebenfalls der inneren Stimme gehorcht, aber zu einem solchen Schritt, die angestammte Zugehörigkeit zu seiner lutherischen Kirche einfach aufzugeben, ist er dann doch nicht bereit. Außerdem ist er davon überzeugt, dass auch die modernen Quäker kaum etwas Konkretes zur Rettung der Welt beitragen können.
Weizsäcker erfuhr viel von den Gräueltaten der Nazis. So verzichtete er auch konsequent auf die gängige Schutzbehauptung, nicht gewusst zu haben, was an Unrecht tatsächlich geschehen war. Zur relativ schonungslosen Selbstkritik gehörte der leise Vorwurf, den er gegen sich erhebt, als die Wahrheit über Auschwitz bekannt wird: „… ich hätte es ja wohl erfahren können. Aber man war ja auch in der Selbstverteidigung begriffen.“9 Auch Weizsäcker war letztlich nicht frei davon, während der Aufarbeitung des Erlebten zugleich nach geeigneten Gründen zu suchen, die ihn entlasten und das eigene Verhalten rechtfertigen konnten. Doch eins wurde ihm allmählich vollkommen klar: Er hatte den Nationalsozialismus zwar überlebt, aber noch längst nicht bewältigt.
Sich seiner Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Oberschicht sehr bewusst, erkennt Weizsäcker das widersprüchliche Problem, dass man trotz aller moralischen Bedenken mit den Nazis zusammenarbeitete. Für dieses Phänomen gibt er zwei Gründe an: „Bewahrung des Bestandes“ und „Hoffnung auf eine Änderung“. Wohl ahnend, dass diese Motive seinen Stand in wenig schmeichelhaftem Licht erscheinen lassen, schiebt er den Hinweis nach: „Einige aus dieser Schicht haben sich dann zum aktiven Widerstand entschlossen, bis zum Opfer der eigenen Person; diese, zu denen ich persönliche Beziehungen hatte, habe ich hoch geachtet, aber ich habe mich ihnen nicht angeschlossen.“10
Ernüchtert von der Gewissensklärung, kommt bald ein neuer politischer Wille zum Vorschein. Allerdings scheitert Weizsäcker zunächst noch an der harten Realität. Nicht zuletzt machen ihm sein immenses Arbeitspensum und die Zersplitterung seiner vielen Interessen sehr zu schaffen. „Ich fühlte einen Auftrag, etwas für eine radikale Veränderung zu tun, aber ich fand die Kraft nicht in mir vor.“11 Er gerät in eine längere Phase depressiver Verstimmungen, die erst 1952 endet. Ausschlaggebend war eine schmerzhafte, aber offenbar sehr heilsame persönliche Krise, eine sogenannte „midlife crisis“, wie er es selbst nannte. Der feste Entschluss, sich auf die familiären und beruflichen Pflichten zu beschränken, zugleich die bewusste Aufgabe einiger bislang gehegter „Größenträume“, machten den Weg frei für reale Erfolge.
1954 gelingt es Weizsäcker, in der Deutung der Quantentheorie einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Diesem wissenschaftlichen Erfolg folgt 1957 mit der „Göttinger Erklärung“ auch die politische Wirkung.