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Amerika, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: In Kansas, dem Kornspeicher der Vereinigten Staaten, wächst nichts mehr, der Boden ist ausgelaugt und verödet. Dorthin kommt Carleton, Agronom und Abgesandter der Regierung in Washington. Er soll das Land wieder fruchtbar machen. Auf der Suche nach dem widerstandsfähigsten Getreide reist er nach Russland, in die Steppen und Eiswüsten. Und er wird fündig: Mit einem russischen Wunderweizen wird in Amerika der Hunger besiegt, Reichtum schwappt über das Land. Doch der Überfluss erzeugt eine neue Krise. Und wieder ist Carleton zur Stelle und begibt sich auf eine halsbrecherische Reise, um Amerika zu erlösen. Carleton selbst aber kann von dem Reichtum nicht profitieren. Er bleibt sein Leben lang ein armer Hund.
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Seitenzahl: 74
Thomas Hürlimann
Carleton
Ein Stück
FISCHER E-Books
»Unendlichkeit, wo Lilien sind wie Gift und Schlangen wie Libellen: zart und tödlich in einem«
Gottfried Benn
Das Stück erzählt eine wahre Begebenheit. Gottfried Benn wollte in den frühen dreißiger Jahren ein Libretto für Paul Hindemith verfassen, Thema: Carleton.
Carleton wurde 1866 in Jerusalem, Ohio, geboren und starb im April 1925 in Paita, Peru, an akuter Malaria. Er ernährte die Welt, aber nicht seine Familie. Er machte Amerika zum großen Kornland und blieb selbst ein armer Schlucker.
Aus dem Libretto ist nichts geworden. Da schrieb Benn Gebührt Carleton ein Denkmal? Diesem Essay sowie dem Buch The Hunger Fighters von Paul de Kruif habe ich die Daten und Fahrten Carletons entnommen.
PERSONEN:
In Berlin, in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1933:
Dr. Gottfried Benn
Jule Leibowitz
Gertrud Hindemith, die Gattin des Komponisten
Patient
In Amerika, Rußland, Langemarck, Peru:
Carleton, Agronom des Agrarministeriums Washington
Amanda Carleton-Faught, seine Frau
Lucy, die Tochter der Carletons
Angus Fixter
Wark, Prediger, dann Unternehmer
Jackrabbit
Der Kornhändler und seine Frau
Kapturak
Ein Zuhälter mit seiner Nutte
Revolutionär
Abraham, Wanderer zwischen Rußland und Amerika
Sarah, seine Frau
Truffaldino
Zwei Zöllner
Unterleutnant
Soldat
Der Tod
Koch
Die Arnholt-Sisters
Farmer, Sichler, Auswanderer, Hüte, Angestellte
Berlin, 30. Januar 1933.
Praxis Dr. Gottfried Benn.
Dr. Benn, im Arztkittel. Jule Leibowitz tritt ein, mit einem Koffer.
DR. BENN
Ihren Krankenschein.
(Sie steht. Er blickt auf.)
Leibowitz?
JULE LEIBOWITZ
Heimgekehrt.
(Draußen marschiert SA.)
DR. BENN
(ins Sprechgerät.) Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler macht diesen Tag zum Feiertag. Erkläre meine Praxis für geschlossen.
(Zu Jule Leibowitz.) Mein Gott, Jule, sind Sie noch bei Trost? Sie haben Deutschland rechtzeitig verlassen.
JULE LEIBOWITZ
Papa sang uns ganze Partien aus dem Ring vor. Ohne Goethe kann ich nicht fühlen, ohne Nietzsche nicht denken.
DR. BENN
Die können Sie auch in den Staaten lesen.
JULE LEIBOWITZ
Und mit wem rede ich über Ihre Gedichte, Herr Doktor Benn? Drüben wurde mir klar, daß ich eine deutsche Züchtung bin.
DR. BENN
Unsere Wissenschaft ist gerade dabei, das semitische Element als Fremdkörper herauszuschälen.
Ein Patient.
DR. BENN
Die Praxis ist geschlossen.
PATIENT
Auch für einen alten Frontknochen? Meine Lunte ist entzündet.
DR. BENN
Kommen Sie morgen wieder.
PATIENT
Deutschland!
DR. BENN
Deutschland!
(Patient ab.)
DR. BENN
(ins Sprechgerät.) Falls die Hindemith kommt: Ich habe einen komplizierten Fall. Irgendwas Ansteckendes.
SPRECHGERÄT
Deutschland!
DR. BENN
(schluckt eine Tablette.) Der Magen.
JULE LEIBOWITZ
Sie sind bleich.
DR. BENN
Habe seit Tagen nichts gegessen.
(Straße: Deutschland den Deutschen! Juda verrecke!)
DR. BENN
Jule Leibowitz …
JULE LEIBOWITZ
Jaja, Benn, um große Dinge muß es sich handeln, wenn es so laut zugeht.
(Deutschland den Deutschen!)
DR. BENN
Fürchte, muß deutlich werden. Bin liiert. Sie kann jeden Augenblick hereinplatzen.
SPRECHGERÄT
Gertrud Hindemith.
DR. BENN
Die Frau unseres ersten Tonsetzers. Hinlegen!
JULE LEIBOWITZ
Nein, Benn, das geht nicht. Das kann ich nicht.
DR. BENN
Mensch, Jule, Hitler ist Kanzler, das Volk schöpfungsnah, die Geschichte tätig, und ausgerechnet an diesem Tag: du.
JULE LEIBOWITZ
Verlange ich, daß wir gleich heiraten und den Sumpf der biologischen Erbmischung vergrößern?
DR. BENN
Leg dich bitte auf den Stuhl!
Gertrud Hindemith, in Gala, tritt ein.
GERTRUD HINDEMITH
Gottfried, wo bleiben Sie! Ganz Berlin stürzt sich in einen Fasching, und Sie plagen sich mit einer Syphilis ab?
(Jule Leibowitz verschwindet hinter den Wandschirm.)
GERTRUD HINDEMITH
Mein Mann ist sehr, sehr ungeduldig. Große Zeiten wollen große Opern.
DR. BENN
Ja, Gertrud, soviel Anfang war noch nie.
GERTRUD HINDEMITH
Dann greifen Sie zu! Seien Sie kreativ!
(Leise.) Wenn ihr am Libretto arbeitet, können wir uns täglich sehen.
DR. BENN
Ich habe eine Patientin hier.
JULE LEIBOWITZ
Hello!
GERTRUD HINDEMITH
O, eine Amerikanerin?
JULE LEIBOWITZ
Yes, Ma’m.
GERTRUD HINDEMITH
Und ich dachte schon, Ihnen sei wieder eine Ihrer Jüdinnen zugeflogen. Dafür haben die eine feine Witterung. Wie die Motten zum Licht flattern sie auf einen Herrn von Rasse zu. Sehen wir uns im Kempinski? Der Fackelzug wird gigantisch, Gottfried, Deutschland erwacht!
DR. BENN
Deutschland!
GERTRUD HINDEMITH
Ick liebe dir.
(Ab.)
Jule Leibowitz tritt hinter dem Schirm hervor, in schwarzem Dessous.
(Benn steht.)
JULE LEIBOWITZ
Ich habe etwas für dich.
DR. BENN
Zieh dich an.
JULE LEIBOWITZ
Stoff.
(Sie öffnet den Koffer.)
Unterwegs in den Staaten las ich ihn auf.
Aus dem Koffer: Carleton.
CARLETON
Gestatten:
(Devot.) Carleton. Agronom.
JULE LEIBOWITZ
Er lancierte den achten Schöpfungstag.
CARLETON
Im Dienst des Agrarministeriums.
JULE LEIBOWITZ
Er grub dem Hunger ein Grab. Er füllte den Brotkorb der Welt.
CARLETON
Meine Lucy hat Hunger.
JULE LEIBOWITZ
Und er hatte die Dollars nicht, der brave Carleton, seine Familie zu ernähren.
DR. BENN
Füllt den Brotkorb der Welt!
(Er schluckt eine Tablette.)
Und seine Familie hat Hunger.
JULE LEIBOWITZ
Gehts besser?
DR. BENN
Ich habe den Stoff für die Oper.
Kansas, USA. Sommer 1890. Station in der Ebene.
Amanda Faught, eine junge, trotz der staubigen Hitze hochgeschlossene Frau, stapft mit ihrem Köfferchen. Angus Fixter, ein junger Mann.
FIXTER
Miss Faught! Miss Faught!
(Von fern nähert sich die Santa Fé.)
Sie wollen uns verlassen, Miss Faught?
AMANDA FAUGHT
Auf dieser Erde ist uns gegeben keine bleibende Stätte.
FIXTER
Wer spielt das Harmonium, wenn Sie fort sind?
AMANDA FAUGHT
Bald gibt es niemanden mehr, der die Kraft hat, einen Choral zu singen. Ich gehe, weil ich nicht will, daß der arme Prediger sein kümmerliches Brot mit mir teilen muß. Gott sei mit Ihnen, Angus Fixter!
FIXTER
Ich möchte Sie etwas fragen, Amanda. Etwas sehr Wichtiges.
AMANDA FAUGHT
Dann wollen wir Gott um seinen Beistand bitten.
(Fixter nimmt den Hut ab. Kurze Stille.)
AMANDA FAUGHT
Amen. Ihre Frage, Angus Fixter?
FIXTER
Amanda, ich besitze zwei Dampfmühlen. Ich bin jung, und ich – ich mag es, wie Sie singen.
AMANDA
Das ist mein Zug.
FIXTER
Amanda, noch gibt es draußen bei mir keinen Hunger. Ich bitte Sie, Amanda, werden Sie meine Frau.
(Quietschende Bremsen. Der Zug hält. Aus dem Zug, mit seinem Forschungsgepäck, u.a. Ombro-, Hydrou. Hygrometer, steigt:)
Carleton.
RUF
Kansas-City!
AMANDA
Sehr nett von Ihnen, Mister Fixter, wirklich, aber ich habe ein bißchen Geld gespart und mir diese Fahrkarte gekauft.
(Die Lokomotive pfeift.)
AMANDA
Ich muß einsteigen.
FIXTER
Bleiben Sie da!
CARLETON
(untersucht den Boden.) Steppe. Sand.
AMANDA
(mit Blick auf Carleton, zu Fixter.) Dampfmüller, kennen Sie den?
CARLETON
Es muß Dampfmühlen geben in Kansas.
(Die Lokomotive pfeift.)
CARLETON
Dampfmühlen rentieren nur, wenn sie Tag und Nacht in Betrieb sind. Also haben sie zu oft gesät, zu oft geerntet. Und haben wieder gesät und wieder geerntet. Raubbau. Was da drin noch wächst, an der ersten Bazille krepierts.
Wark, der Prediger.
WARK
Amanda! Amanda! Sie brauchen uns nicht zu verlassen, meine Teure, Gott der Herr hat uns erlöst! Wir sind gerettet! Halleluja!
FIXTER
Amanda, ich frage Sie zum letzten Mal: Wollen Sie meine Frau werden?
WARK
Draußen wars, mitten in der Unendlichkeit der Ebene, Gott ließ mich fallen, in die Knie, schrie Gott, ich fiel, da kams.
FIXTER
Kams?
WARK
Die Erleuchtung. Die absolut grandiose Immunisierungstheorie! Ich habe das Mittelchen gefunden, das die armen Stengel vor den Bazillen schützt!
(Er greift sich zwischen die Beine.)
Das!
AMANDA FAUGHT
Oh!
WARK
Auch der Psalmist spricht vom Samen, auch Jeremia, auch Amon, auch Jesaia. Hosen runter und ran an die Stengel!
AMANDA FAUGHT
Der arme Prediger. Er hat im Hunger den Verstand verloren.
WARK
Wir werden die Ähren durch virile Säfte immunisieren.
CARLETON
(ohne jede Ironie.) Wieviel, meinen Sie, schaffen wir pro Stunde? Die Ebene ist groß wie ein Ozean.
WARK
Gelingt unser Experiment, setzen wir achtzig Regimenter ein, Infanterie, pro Halm einen Mann.
AMANDA FAUGHT
Gott möge ihm verzeihen.
CARLETON
Der ist tot.
(Die Bahnhofsglocke läutet.)
CARLETON
Das läßt sich beweisen.
(Die Lokomotive pfeift.)
CARLETON
Wissenschaftlich.
(Die Santa Fé dampft ab.)
CARLETON
Carleton. Vom Agrarministerium zu Washington. Sie sterben nicht an den Bazillen, die Halme.
FIXTER
(reißt einen kranken Halm aus dem Boden.)
Was ist das?
CARLETON
Causa prima ist der Boden. Was in diesem Staubraum noch wächst, ist so schlecht, so mager ernährt, daß es die Bazille nicht abschütteln kann.
FIXTER
Unser Unglück ist die Bazille.
CARLETON
Die war schon immer in der Luft. Verändert hat sich der Boden.
FIXTER
Wodurch?
CARLETON
Durch die Dampfmühlen.
(Fern tutet die Santa Fé. Fixter hat vom Boden einen Cent aufgelesen, gibt ihn Amanda.)
FIXTER