Der letzte Gast - Thomas Hürlimann - E-Book

Der letzte Gast E-Book

Thomas Hürlimann

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lange residierte die Fabrikantenfamilie Frunz, Eigentümerin einer traditionsreichen Schirmfabrik, in einer Villa an einem idyllischen See. Doch der Klimawandel lässt Regen immer seltener werden, und die Fabrik geht pleite. Auch der See ist gekippt, die Fische sind tot. Aber ist das ein Grund, den Sportfischerverein aufzugeben? Gewöhnt man sich nicht an alles? Kann nicht vielleicht der weltberühmte, aber etwas abgetakelte Schauspieler Oskar Werner, der gerade zufällig durch die Provinz tingelt, etwas Phantasie ins Leben bringen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 84

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Hürlimann

Der letzte Gast

Komödie

FISCHER E-Books

Inhalt

[Einleitung]PersonenErster AktZweiter AktDritter AktVierter AktUraufführung am 22. Februar 1990 im Schauspielhaus Zürich

Die letzte, hier vorliegende Fassung des Stücks habe ich zusammen mit Achim Benning, dem Regisseur der Uraufführung, und mit Maik Hamburger, dem Dramaturgen, erstellt. Ihnen und Kathrin Brenk, die die Entstehung des Stücks begleitete, danke ich,

 

Willerzell, im Februar 1990

Thomas Hürlimann

Personen

Oskar Werner

Fredi Frunz

Monika Frunz

Adrienne

Onkel Anselm

Dr. Pütz

Kuno Knill

Dr. Elsi

Milly

Bernie »Strohhut«

Der alte Eisenbahner

Der junge Eisenbahner

Valerie de Stoutz

Püppi Giezendanner

Ein letzter Gast

Ein altes Paar

Ein Eisenbahner

Erster Akt

Die Terrasse einer alten Villa am See.

Abend.

ONKEL ANSELM,

uralt, in einem Sessel.

Vom andern Ufer weht Männergesang herüber, ONKEL ANSELM wacht auf, lauscht. Dann greift er nach einer Glocke, die auf einem Tischchen voller Medizinflaschen steht – er schafft es, läutet. Nichts geschieht.

Noch einmal läutet er, heftig jetzt. Nichts geschieht. Plötzlich fällt ihm die Glocke aus der Hand, sein Kopf kippt auf die Brust, und langsam, glitzernd in der sinkenden Sonne, wächst aus ONKEL ANSELMS Mund ein Speichelfaden.

ADRIENNE,

eine ältere, elegant gekleidete Dame, kommt aus dem Haus.

ADRIENNE

Onkelchen, mon Dieu! Onkelchen!

Sie eilt auf das Haus zu.

Monika!

ONKEL ANSELM

bewegt sich, grinst.

ADRIENNE

Du verfluchtes Wrack!

Sie ruft ins Innere. Neinnein, meine Lieben, alles in Ordnung!

Sie steckt sich eine Zigarette an, raucht.

Ich werde diesen Chemismus nie verstehen. Alles zerfällt zerfällt zerfällt, nur Fingernägel und Bartstoppeln wachsen weiter.

ONKEL ANSELM

muß husten.

ADRIENNE

Ich frage ja nur, wann sie dich das letzte Mal rasiert haben, schließlich bist du mein Schwager, kein Seeräuber. Irgendwie dégoûtant, nicht? Man liegt im Sarg, und die Nägel werden lang und länger. Was wollte ich erzählen?

Sie betrachtet ihre lackierten Fingernägel.

Armes Onkelchen. Willst du ziehen?

Er nickt, sie vergißt es.

Ach so, ja. Es war kurz vor dem Krieg, und Püppi war als einzige noch ledig. Valerie de Stoutz hatte sich ihren Juristen geangelt, ich bin bei euch eingestiegen, und weißt du, was ich glaube? Die Hitze war schuld. Oder die Uniformen, jedenfalls wollten wir noch rasch unter die Haube, überall läuteten die Glocken, eine Hochzeit jagte die nächste, Kuß Küßchen, Tanz Tänzchen, erst Valerie, dann ich, nur Püppi schien sitzenzubleiben, Püppi Steinhoff. Viel hab ich mir weiß Gott nicht gedacht, ich naives Ding. Schirme! Mit Schirmen gewinnt man keine Kriege, dann kamen die Amis, und mit den Amis das Plastik – Plastikpelerinen! Was solls. Die eine hat Glück, die andere weniger.

Im Innern ein Frauenlachen.

ADRIENNE

Würde mich nicht wundern, wenn sie bei uns übernachten wollte.

ONKEL ANSELM

horcht auf.

ADRIENNE

Jaja, ein Weib, Onkelchen, aber dafür sind wir nun zu alt, tempi passati.

ONKEL ANSELM

läutet.

ADRIENNE

Monika hat dich bestimmt schon gefüttert.

ONKEL ANSELM

schüttelt den Kopf.

ADRIENNE

War er nicht Leutnant? Oder Oberleutnant? Jedenfalls blieb Püppi am Ufer, wollte partout nicht ins Wasser. Sie roch das Geld, ich sags dir. Sie roch sofort, daß er Geld hat, und zwar das richtige Geld, Flakgeschütze und dergleichen, einer der ersten seiner Branche. Er faselte irgend etwas über Ribbentrop, dann fingen sie an zu tanzen, er wie eine Lawine, sie selig, um Mitternacht der erste Kuß, anderntags die Mobilmachung, und aus der kleinen dummen Püppi Steinhoff war in allerletzter Sekunde eine Madame Giezendanner geworden. Ich könnte mich ohrfeigen. Ich setze mich in die Schirme, und Püppi landet unmittelbar vor Kriegsausbruch in der Crème de la crème der Schwerindustrie.

ONKEL ANSELM

grinst.

ADRIENNE

DAS waren die schlechten Zeiten, Sie neunmalkluge Frau Doktor! Eine KINDER-Psychologin, und weißt du, was die uns seit geschlagenen zwei Stunden doziert? Die Zeit sei zu schlecht, um Kinder in die Welt zu setzen, »in diese Welt«! Sie vergessen nur das eine, die jungen Weiber: Hätten wir denselben Quark geglaubt, sie wären heute kaum in der Lage, bei Tee und Kuchen schlechte Zeiten zu bejammern. – Ich glaube, wir haben es geschafft, die Psychopute haut ab.

Sie geht auf das Haus zu.

Elsi – müssen Sie wirklich schon gehen?

MONIKA FRUNZ und DR. ELSI

kommen aus dem Haus herausgehüpft.

MONIKA und ELSI,

sich an den Händen haltend, hüpfen auf einem Bein über die Terrasse, lachend, kreischend, und verschwinden in den Garten, ab.

ONKEL ANSELM

läutet.

ADRIENNE

Hast du tatsächlich Hunger? Oder möchtest du singen?

ONKEL ANSELM

brabbelt.

ADRIENNE

Kinder! Kinder! Onkelchen möchte uns mit Eichendorffs Mondnacht überraschen, kommt! kommt! – Aber nicht sabbern, hörst du? Aaaaa –

ONKEL ANSELM

Aaaaa –

ADRIENNE

Wo hast du sie? Hast du sie hier?

Sie nimmt die Gläser vom Tischchen, hält sie gegen die sinkende Sonne.

Hast du sie wieder versteckt? Ohne Zähne singt man nicht.

Am andern Ufer das betrunkene Grölen.

ADRIENNE

Gut gut gut. Ich soll mich vor dieser Psychopute zu Tode schämen! Drüben grölt Frunz und du – ah, da seid Ihr ja!

Zum Publikum, mit offenen Armen.

Meine lieben Gäste! Schön, daß Sie da sind, herzlich willkommen in der Arethusa! Auch mein Schwager Anselm freut sich, Sie zu sehen. Seine Existenz war vollkommen sinnlos, aber ist das nicht schön, wunderwunderschön? Und wer weiß, vielleicht war sein jahrelanges Gebrabbel und Gesabber ein Dialog mit Gott, dir wäre es zuzutrauen, ein Dialog zweier alter Herren.

Sie zeigt auf den Sonnenschirm.

Ja, dieses Modell hat mein Schwager Anselm entworfen. Sie haben ein Leben lang Schirme entworfen, mein Gatte Alfons und Anselm, sein Bruder. Interessieren Sie sich für Schirme? Im Salon haben wir eine Art Museum eingerichtet, alle unsere Schirme, keine Geigen, nein, bei uns hängt der Himmel voller Schirme.

MONIKA FRUNZ und DR. ELSI

kommen aus dem Garten.

DR. ELSI

Hier war die Hölle.

Sie hüpft auf einem Bein.

Hoppela. Jetzt ist die Elsi auf eine Ritze getreten. Was mag es bedeuten? Etwas Schlimmes? Etwas Gutes? Kinderkram, wie deine Maman sagen würde.

ZuADRIENNE. Ich muß Sie leider enttäuschen, Adrienne.

ADRIENNE

Sie wollen wirklich schon gehen?

DR. ELSI

Es gibt Leute, die kommen ein Leben lang nicht davon los – müssen dauernd auf Ritzen treten oder Ritzen meiden oder beides. Das weiß sogar unsere Armee!

ADRIENNE

Die Armee?

DR. ELSI

Ja, unsere Luftwaffe.

MONIKA

Elsi wird bei uns übernachten.

ADRIENNE

Oh, wie schön.

DR. ELSI

Oder ist euch noch niemals aufgefallen, daß wir im internationalen Vergleich verdammt gut abschneiden? Kaum Abstürze, höchstens mal wetterbedingt.

ADRIENNE

Bravobravo.

DR. ELSI

Gell? Am Auswahlverfahren liegts. Id est: die Schizos haben bei uns keine Chance. Will einer Militärpilot werden, tritt er vor ein Ärztegremium. Wir lassen den Kandidaten auf und ab gehen, immer schön auf und ab, einer von uns stellt Fragen, die Antworten sind uns piepegal.

ADRIENNE

Wie aufregend!

DR. ELSI

Wir beobachten nur seine Füße. Versucht der Kandidat, eine Ritze zu meiden? Oder ist er bemüht, sie zu treffen? In beiden Fällen wird er eliminiert!

ADRIENNE

Eliminiert.

DR. ELSI

Klar. Als Militärpilot kommt er nicht in Frage. Unter uns ist das Nichts. Oder wollen wir lieber sagen: der große feurige Plazentakuchen unseres Planeten?

ADRIENNE

Plazenta?

DR. ELSI

Ja, vulkanische Plazenta. Und die Kinder wissen das, die Kinder und die Schizos. Hoppela. Gläsern ist die Decke, auf der wir wandeln, eine dünne Kruste. Und hier, hier, hier – in den Ritzen, in den Rillen wird sichtbar das Nichts!

ADRIENNE

Die Plazenta?

DR. ELSI

Aber nicht weitersagen.

ADRIENNE

Ehrenwort.

DR. ELSI

Es ist ein militärisches Geheimnis.

MONIKA

Quere ich einen Fußgängerstreifen, muß ich mit jedem Schritt den Balken treffen, immer den Balken. Zwanghaft. Trete ich einmal daneben, gibt es bestimmt ein Unglück. Schizo?

DR. ELSI

Nein. Bei dir tippe ich eher auf eine depressive Grundstimmung.

MONIKA

Ich bin ein fröhliches Gemüt, Elsi. Maman kann das bestätigen.

Sie sitzen. Es dämmert. Plötzlich stehtDR. ELSIauf, nähert sichONKEL ANSELM.

DR. ELSI

Warte, gleich hab ich den Namen. A – A –

ONKEL ANSELM

Aaa!

MONIKA

Anselm.

DR. ELSI

Ja-ja-jaaa! Onkel Anselm! – Wie wärs mit einem Sundowner?

ADRIENNE zu MONIKA.

Bleib sitzen, Kind, ich geh schon.

ZuDR. ELSI. Wenn ich mich früher mit Püppi traf, also wir konnten kaum Luft holen, soviel hatten wir uns zu erzählen. Kennen Sie die Giezendanners? Schwerindustrie, einer der ersten der Branche. Mit Püppi hab ich die Schulbank gedrückt, übrigens eine geborene Steinhoff, Export / Import. Das heißt, eigentlich waren wir eine Art Dreiverein, Püppi Steinhoff, Valerie de Stoutz und ich. Ein goldenes Gemüt, die gute Püppi, geistig allerdings – ein Leichtgewicht. Grad die Richtige für die Schwerindustrie.

ADRIENNE

ins Haus, ab.

DR. ELSI

blickt auf den See hinaus, schnuppert. Ich habs mir schlimmer vorgestellt.

MONIKA

zitiert.DAS SCHÖNE IST DES SCHRECKLICHEN ANFANG.

DR. ESLI

Adolf Muschg?

ONKEL ANSELM

Rilke.

MONIKA

Das hat Rilke gesagt, ja.

DR. ELSI

Mich hat das sehr bedrückt, weißt du. In meiner Erinnerung war die Gegend so schön, so groß – das Land der Kindheit.

Plötzlich lacht sie auf.

Nein, wie dumm von mir! A – A – A! Ja, alle fangen sie mit A an: Adrienne heißt die Maman, er heißt Anselm – eigentlich hätte es klappen müssen, mit dir und Alfred.

MONIKA

Er nennt sich Fredi.

DR. ELSI

Trotzdem.

MONIKA

Wie?

DR. ELSI

So eine A-Orgie schreit doch förmlich nach einem kleinen Adalbert oder einer Anasthasia. Liegt es an ihm?

MONIKA

Er fühlt sich nicht wohl in letzter Zeit. Er müßte dringend zum Arzt, aber –

DR. ELSI

Heiner und ich hätten einfach nicht die Geduld, beim besten Willen nicht. Der Beruf frißt uns auf, total, und als Kinderpsychologen wissen wir natürlich, was wir der eigenen Nachzucht schuldig wären. Wie ich schon sagte, Monika: Wir lieben Kinder zu sehr, um sie in die Welt zu setzen, in diese Welt.

ADRIENNE

ist gekommen, mit einem bunten Schirm.

DR. ELSI

Sagt bitte niemandem, Doktor Elsi hätte das behauptet. Ich kenne die Medien. Gna-den-los. Lesen keine Zeile, die Brüder, aber stellen dich prompt in die bewußte Ecke. Gut, zugegeben, ich bin Kinderpsychologin, jedenfalls holen sie mich als solche in ihre Talk-Shows, und natürlich brechen sie dann zusammen, wenn ich Klartext rede. Nicht zu glauben, Monika, was du mit einem Begriff wie »Zoosex« auslösen kannst, nicht zu glau-ben!

ADRIENNE

Zoosex?

DR. ELSI