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In »Abendspaziergang mit dem Kater« erzählt Thomas Hürlimann ebenso unterhaltsam wie philosophisch hintergründig von seiner Herkunft und den Wegen zum eigenen Schreiben und Denken. Er zeigt sich als kritischer Verteidiger der Schweiz und begeisterter Anhänger ihres größten Dichters Gottfried Keller, als leidenschaftlicher Polemiker und empfindsamer Beobachter. Höchst vielfältig sind diese Texte aus vier Jahrzehnten: Sie reichen vom phantasievollen literarischen Kabinettstück bis zum aufsehenerregenden Bericht seiner Krankenhauserfahrungen. Aber selbst wenn Thomas Hürlimann über Krankheit und Tod nachdenkt, tut er es mit Eleganz, Leichtigkeit und tröstender Heiterkeit. Denn durch seine Texte spaziert ein zugelaufener Kater, und ein »Abendspaziergang mit dem Kater« endet immer mit dem neuen Morgen … »Wichtig ist, dass man aus jenem Bereich schreibt, aus dem man auch träumt.« Thomas Hürlimann
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Seitenzahl: 290
Thomas Hürlimann
Abendspaziergang mit dem Kater
FISCHER E-Books
Für Klara Oskamp
Er kam eine Stunde vor der Dämmerung, strich um meine Beine, miaute und maunzte, und blieb ich sitzen, um einen angefangenen Satz zu beenden, schnellte er lautlos aufs Pult, langte mit der Vorderpfote nach dem Bleistift oder fläzte sich flach aufs Papier, die Botschaft war klar, so oder so: Hör auf zu schreiben, es ist Zeit für den Abendspaziergang.
Der Kater war uns in der Parterrewohnung einer Zürcher Satellitenstadt zugelaufen. Das hatte den Mietvertrag verletzt. Keine Haustiere. Fristlose Kündigung. Wir zogen in die Innerschweiz, in ein Chalet über einem voralpinen Stausee, und da das Revier mit seinen Füchsen Dachsen Raubvögeln für den Stadtkater neu war, nahm er die Gewohnheit an, mich auf meinen Erkundungsgängen zu begleiten. In den ersten Wochen stapfte ich voraus, er taperte hinterher, aber als es zu herbsten begann, kehrte sich das Verhältnis um, der Kater übernahm die Führung, ich hatte ihm – mit einigem Abstand – zu folgen. Von der Route, die wir nun Abend für Abend gingen, duldete er keine Abweichung. Stets zur gleichen Zeit, wenn sich die Sonne dem Horizont näherte, brachen wir auf, und immer berührte er dieselben Punkte: einen Baumstrunk, den Eingang eines Fuchsbaus, eine verlorene Schuhsohle, lauter Dinge, die ich ohne sein geduldiges Schauen übersehen hätte. Er veränderte meine Wahrnehmung, der Gang wurde zum Ritual, in der Wiederholung erfuhr ich eine andere Wirklichkeit. Die Schuhsohle zeigte über Nacht nicht mehr nach Norden, sondern nach Süden, wie eine Kompassnadel. Auf dem Baumstrunk häuften sich die welken Blätter. Beim nächsten Gang waren sie weggeweht, Nebel befeuchtete die Jahresringe und gab dem Holz eine melancholische Zeichnung. Dann wurde es Winter, der Kater und ich blieben im Haus, er schlief, ich las, und immer wieder kam es vor, dass wir gemeinsam hinausstarrten ins irre Sinken der Flocken, er auf meinem Tisch hockend, ich an der Schreibmaschine, aus der stumm das weiße Blatt hing.
Ich nutzte die stillen Wochen, um mich über das Tier, das mein Schauen und mein Leben verändert hatte, kundig zu machen. Pater Gebhard, der Bibliothekar des nahen Klosters, erklärte mir, dass die Katze sowohl aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament verbannt ist, sie kommt in der Bibel nicht vor. Dem Islam hingegen gilt sie als heilig, denn die fünf Streifen, die sie auf dem Rücken trägt, gehen zurück auf die Hand des Propheten. Er soll sie gestreichelt haben – wen wundert’s, die Katze ist so sauber, dass sie ihre Nachgeburt verschlingt, mehrmals am Tag unternimmt sie eine Waschung, wie die Gläubigen vor dem Betreten der Moschee, und lautlos lauscht sie der Predigt. Ein Förster, der hie und da hereinsah, um sich am Kirschwasser aufzuwärmen, wies mich darauf hin, dass eine Katze das Vergehen der Zeit negiere – ihre Vorfahren und Nachkommen interessieren sie nicht, sie überlässt sie dem Vergessen. »Geschichte«, sagte der Förster, ein Grinsen im frostroten Gesicht, »das ist etwas für Bäume und Menschen.«
Noch lagen im Wald letzte Schneeflecken, noch war es kalt, und für den Abendspaziergang zog ich Mantel und Stiefel an. Wieder schlug der Kater den gleichen Weg ein, wieder beschnupperten wir die bekannten Punkte: den Strunk, den Ameisenhügel, die Schuhsohle und weiter oben, wo der Hang steil wurde, den Fuß eines steilrechten Felsens. Unsere Fährte folgte uns durch den Wald, meine Stapfen, die Abdrücke seiner Pfoten und hie und da ein Strich seines Schweifs. Ging er heute schneller als üblich? Tupfte er mehr Striche als gestern in den Schnee? Gezielt strebte der Kater auf den Felsen zu, und dort hielt er inne, wie angewurzelt, vollkommen reglos. Ich wartete etwas weiter unten. Die Stämme wurden schwarz, das Licht dazwischen flüssig, gleich würde es einnachten. Der Kater rührte sich nicht. Starrte zum Stein. Was faszinierte, was bannte ihn? Schließlich kraxelte ich auf allen vieren zu ihm hoch, kauerte mich an seine Seite, konzentrierte den Blick wie er auf den Spalt am Fuß des Felsens. Aber da war nichts … nichts als eine winzige, hellgrün im Laubteppich versteckte allererste Knospe. Der Frühling. Der Frühling! Der Kater, der aus der Stadt kam und für den dieser Wald neu und fremd war, wusste, was Platon und Nietzsche gewusst hatten, er wusste um die ewige Wiederkehr des Gleichen. Und hier, unterm Stein, wo tagsüber ein Strahl der Sonne hinreichte, offenbarte es sich: keine Geschichte, ein ungeheuerliches Geschehen. Ein Wunder. Es kommt wieder. Du kommst wieder. Wir sind ewig.
Beim ersten Mal war ich gut, sehr gut sogar, doch wurde ich für meine Leistung nicht belohnt, sondern bestraft.
Damals war ich vierzehn Jahre alt und Klosterschüler im ehrwürdigen Stift zu Einsiedeln. Wir hatten einen wundervollen Deutschlehrer, Pater Erlebald. Er las uns seine Lieblingsgedichte vor und Szenen aus dem König David von Reinhard Sorge. Beim Eintritt ins Kloster hatte Pater Erlebald seine Stimme verloren, und noch heute höre ich die schönsten Verse der Menschen, die Gottfried Benn’schen, von seiner fast tonlosen Stimme hervorgekrächzt.
An einem sonnigen Frühlingsmorgen lag Pater Erlebald, wie in letzter Zeit öfter, fieberkrank in seiner Zelle, und Pater Walafried, der Subpräfekt, erhielt vom Gütigen – so wurde der oberste Präfekt genannt – den Auftrag, unsere Klasse zu einem Stundenaufsatz ins Freie zu führen, auf einen Hügel hinter dem Kloster. Dort sollten wir, wie der Ersatzlehrer an Ort und Stelle verkündete, eine Baumgruppe beschreiben. Glücklich, der Steinwelt des Klosters entronnen zu sein, legte ich los. Durch die Blätter blitzte die Sonne, Dunst lag überm Land, und es fiel mir leicht, die sieben Linden als Naturkathedrale zu beschreiben, aus Luft und Licht gebaut, von uralten Säulen getragen. Nach einer Stunde sammelte Ersatzlehrer Walafried unsere Hefte ein und hieß uns Zöglinge, die wir schwarze Kutten trugen, ins Kloster zurückmarschieren. Damit hätte sein Auftrag geendet, Pater Walafried jedoch, der seit Jahren davon träumte, in den Schuldienst eintreten zu dürfen, wollte die Bewertung der Aufsätze nicht dem kranken Erlebald überlassen, sondern selber vornehmen. Während des abendlichen Studiums bestellte er mich in seine Zelle, zeigte auf mein Heft und fragte: »Wo hast du das abgeschrieben?«
»Ich habe nicht abgeschrieben, Herr Walafried«, antwortete ich leise.
Er blieb dabei, bezichtigte mich der Lüge und wiederholte seine Frage. Vorsichtig wies ich den Pater darauf hin, er habe uns das Thema erst auf dem Hügel eröffnet, weshalb es mir gar nicht möglich gewesen wäre, mitten in der Natur ein Buch zu erwischen, um mich daraus zu bedienen. Walafried, seiner Meinung sicher, grinste meinen Einwand beiseite: »Gesteh, Lügner!«
Ich weigerte mich, ein falsches Geständnis abzulegen. Da befahl er mir, ihm die Innenflächen meiner Hände zu zeigen, und während er laut und lauter fragte, wer der Dichter sei, dem ich die herrlichen Sätze gestohlen habe, hieb er mit einem vierkantigen Lineal auf mich ein. Meine Handballen schwollen an, die Haut drohte zu platzen, er schrie, ich winselte, er schlug, ich heulte, doch heulte ich die Wahrheit: »Ich habe nicht abgeschrieben, Herr Walafried, ich habe nicht abgeschrieben.«
So wurde ich mit einem Lineal zum Dichter geschlagen, und wenn ich in späteren Jahren verrissen wurde, dachte ich wehmütig: Wenn wir wirklich gut sind, wird es uns heimgezahlt.
Mit sechzehn schrieb ich mein erstes Stück, stieg aus der Kutte, schlang mir einen Schal um den Hals, kletterte über die Klostermauer, fuhr per Autostopp nach Zürich, betrat die Direktion des Schauspielhauses und erklärte einer verdutzten Sekretärin, hier sei die Dichtung, auf die das Haus seit Jahren warte. Ich bat sie, mir so bald als möglich mitzuteilen, wann die Uraufführung stattfinde, und es kommt mir heute wie ein Wunder vor, dass ich nach einigen Wochen von Dietbert Reich, dem Dramaturgen, zum Gespräch geladen wurde.
Meine Komödie handelte von Adligen, die während der Französischen Revolution ins Innere der Erde geflohen sind. Dort zeugen sie sich fort, und als einer (ich!) nach langer Zeit an die Oberfläche zurückkehrt, stellt sich heraus, dass er nur noch an der Decke gehen kann. Dummerweise verliebt er sich in eine gewisse Gisela, die Frau des Einsiedler Fotografen, und da sie mit ihren schönen Beinen fest auf der Erde steht, bleibt die Liebe des jungen, kopfüber von der Decke hängenden Grafen ebenso unsterblich wie unerfüllbar. Dramaturg Reich erklärte mir, das Theater sei kein Zirkus, und meine Chance, gespielt zu werden, werde sich beträchtlich erhöhen, wenn ich künftig auf artistische Vorgaben verzichte. Ich fühlte mich verkannt, und wäre Gisela nicht gewesen, die ich vor meinem Freitod ein einziges Mal küssen wollte, hätte ich mich an einem Lindenast meiner Naturkathedrale aufgehängt, natürlich mit den Füßen nach unten. Aber Gisela zog es vor, ihre Ehe und mein Leben zu retten – sie verweigerte mir den Kuss. So schrieb ich, statt den Strick zu nehmen, einen Liebesroman, und aus Gründen, die auf der Hand lagen, der geschlagenen, stand im Mittelpunkt des in Hexameter gegossenen Werks ein gewisser Frunz, voller Pickel, die Nase krumm, vorstehend die Zähne, aber mit dem Talent versehen, sich bei einbrechender Dämmerung in einen Adler zu verwandeln. Frunz wagt es nicht, in einem Fotogeschäft sein Passbild abzuholen, als Adler jedoch landet er nachts auf dem Dach, unter dem die schöne Gisela mit ihrem Fotografen das Bett teilt, stößt wilde Brunstschreie aus, ra raak, ri riik, und bestimmt ist es besser, wenn ich den Rest verschweige (der arme Vogel konnte alles außer vögeln).
Wieder wurde meine Dichtung verkannt, trotzdem schrieb ich weiter, ich musste es tun, ob ich wollte oder nicht, nulla dies sine linea, kein Tag ohne Zeile, nur in den Wörtern konnte ich atmen, nur auf einer Seite, die bis zum Rand gefüllt war, ohne jeden Freiraum, wie heutzutage die Gemälde der Sprayer auf Betonwänden, war ich vorhanden. Erfolglos vorhanden. Was ich verschickte, sei’s an Theater, an Verlage, an Zeitungen, ging verloren oder kam mit vorgefertigten Absagen retour. Seit ich dreizehn war, führte ich die Existenz eines Dichters, aber ich musste dreißig werden, bis es mir gelang, auf der Bühne und in einem Verlag, erst noch einem neugegründeten, zu landen.
Der mir liebste Mensch war mein Bruder. Er hatte Knochenkrebs und kämpfte vier Jahre gegen den Tod. Sein Sterben verwandelte mich. Ihm zeigte sich alles im Abend- und Abschiedslicht, in den Tönen der Dämmerung, und fast ohne es zu merken, begann ich seine Sicht zu übernehmen. Ich lernte, dass das Schöne, wie Rilke sagt, der Anfang des Schrecklichen ist und das Schreckliche der Anfang des Schönen. Am Bett des Sterbenden schrieb ich erneut ein Theaterstück, und mit wachsender Erregung nahm ich wahr, wie ich zum ersten Mal etwas Eigenes erschuf. Mit neuer Hoffnung sandte ich das Stück, Großvater und Halbbruder, an einige Verlage sowie an die Jury des Stückemarkts beim Berliner Theatertreffen – und hatte zum ersten Mal Glück. Eines Abends, es war kurz vor zehn, erhielt ich das schönste Telefonat meines Lebens. Sigrid Wiegenstein meldete sich, die Vorsitzende der Jury, und teilte mir mit, mein Stück sei angenommen. Es wurde von den besten Schauspielern Westberlins gelesen, unter anderen von Fritz Lichtenhahn und Otto Sander, und plötzlich war ich in der komfortablen Lage, Dramaturgen und Verlagslektoren, die mich mit Angeboten köderten, stehenzulassen. Über Nacht hatte sich mein Lebenswunsch erfüllt, ich hätte jubeln müssen, doch als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ich einen üblen Kater. Subpräfekt Walafried, dachte ich, hat recht behalten. Wie war ich zum Autor geworden? Indem ich etwas Eigenes geschaffen hatte. Aber es war sein Eigenes. Das Eigene meines Bruders. Nicht ich, er war der Autor. Die Dämmertöne gehörten ihm. Er, nicht ich, hatte das Stück erdacht. Es kam an. Im »Berliner Tagesspiegel«, der wichtigsten Zeitung der Stadt, konnte ich lesen, dass ein neuer Name aufgetaucht sei, ein Name, den man sich merken müsse. Schön. Sehr schön. Dumm war nur, dass es ein Toter war, erst noch mein Bruder, der dieses Bravourstück hingelegt hatte. Der unverdiente Erfolg quälte mich, und er quälte mich so gewaltig, dass ich im Moment des Durchbruchs den Entschluss fasste, mit dem Schreiben aufzuhören.
Da klingelte es. Im Flur des Berliner Hinterhauses, wo ich damals wohnte, stand Egon Ammann, der Leiter der Suhrkamp-Dépendance in Zürich. Die kleine Nihal, eine Türkin, die mit ihrer Familie eine Treppe höher wohnte, hatte ihn zu mir geführt, und zu meinem Erstaunen sprach der Herr aus Zürich mit Nihal fließend Türkisch.
Obwohl mir kein Mensch abnimmt, was sich bei dieser Begegnung ereignet hat, sei sie kurz berichtet. Wir lehnten uns gegenseitig ab. Der Herr aus Zürich gab mir mein Stück zurück (vor einigen Monaten hatte ich es auch an ihn gesandt). »Vergessen Sie das Theater«, meinte er, »schreiben Sie Prosa, dann werden wir Sie herausbringen.«
Ich schlug sein Angebot aus. Wir schüttelten uns die Hände und sagten: »Adieu.«
So stand am Anfang unserer Beziehung deren Ende – oder war es umgekehrt? War dieses Ende jener Anfang, den wir suchten?
Die Szene im Treppenhaus der Kreuzberger Mietskaserne wirkte bei beiden nach. Ich musste immer wieder an den Schweizer Basarhändler denken, der, auf seinen Fersen hockend, mit Nihal gescherzt hatte, und ihm war es zum ersten Mal widerfahren, dass einer nein sagt, wenn ihm Suhrkamp die Visitenkarte unter die Nase hält.
Meine damalige Freundin hieß Ute und jobbte als Serviererin im »Litfin«, einer Westberliner Gastwirtschaft, deren Eingang direkt an der Mauer lag. Schäferhunde, die im Todesstreifen Hasen jagten, ließen von drüben ihr Gehechel hören, und der Scheinwerfer eines Wachturms gab den Novembernächten eine gespenstische Helle. Als Ammann wiederkam, nun mit Marie-Luise Flammersfeld, seiner Partnerin, führte ich die beiden hierher. Ute brachte uns die Biere, und schon nach den ersten Schlucken deuteten die Besucher aus Zürich an, dass sie einen verwegenen Plan hegten: die Gründung eines eigenen Verlags.
Die letzten Gäste hatten sich davongemacht. Von drüben jaulten die Hunde, und strich der Scheinwerfer über die Fenster, versetzte er uns ins Niemandsland. Ich erzählte von meinem Bruder, dem wahren Dichter, aber die beiden Verlagsgründer hielten mich keineswegs für einen Betrüger, sondern meinten: »Darüber musst du schreiben.«
»Das schaffe ich nie«, wandte ich ein.
»Darum geht’s«, sagten die beiden.
Ute, müde vom stundenlangen Servieren, saß nun bei uns am Tisch. Sie war der Engel, der die Verlagsgründung begleitet hat, und zugleich seine erste Gönnerin – die von ihr gestiftete Flasche Wodka tranken wir gemeinsam aus.
Als über der schwarzen Mauer ein aprikosenfahler Himmel erschien, schlossen wir auf einem feuchten Bierdeckel einen Vertrag, und bald danach wurde mein Erstling, Die Tessinerin, das erste Buch des neugegründeten Ammann Verlags. Mit der Titelgeschichte konnte ich mich vom Gefühl, ich hätte abgeschrieben, für immer befreien. Es geschieht auf wenigen Zeilen. Mitten im Text steht mit seinen eigenen Worten, mit seinem Namen und seinen Daten, wie ein Grabstein mein Bruder. Indem ich ihn zitierte, war ich zum Autor geworden.
Steine sind durch und durch Gegenwart, geschichtet seit je und für immer. Weder haben sie, wie die Pflanzen, einen Trieb, der sie werden lässt, noch kennen sie, wie wir, die Sehnsucht, zu sein und zu vergehen. Irgendwann sind sie entstanden, irgendwann werden sie verwittern, mit uns und unseren Maßen jedoch haben ihre Perfekt- und Futurformen nichts gemein. Steine ruhen in sich selbst, und zwar so endgültig, dass alles, was sie dem Gesetz des Zerfalls unterstellt, von außen kommt – niemals, wie bei Pflanzen und Lebewesen, aus eigenen Adern oder Zellen. Unsere Geschichte, die Action meint, nicht Ablagerung, strömt und strudelt an den Steinen vorbei. Steine sind kein Gegenstand unseres Denkens, für unsere Sinne kein Rätsel: Steine sind Steine.
Es gibt einen Stein – und es gibt ihn in allen Kulturen, in jeder Weltgegend –, der gerade dem widerspricht. Dieser Stein hat ein Gesicht, er hat Geschichte.
Wie kommt er dazu? Durch die besondere Form oder eine auffällige Lage. Oder durch seine Fremdheit. Er ist mit dem Grund nicht verwachsen. Er war den Menschen vor die Füße gerollt. So entstand am Findling – dies sein Name – eine erste große Frage. Welche Ober- oder Unterwelt hatte ihn ausgestoßen?
Zwei Antworten waren denkbar. Entweder hatte sich der Findling aus eigener Kraft bewegt. Dann war Gott ein Stein. Oder Gott hatte ihn, den unbeweglichen Brocken, ins Rollen gebracht. Dann war im Stein, ausgerechnet in dieser toten Materie, die Macht Gottes bezeugt. Gefährlich erschien den Menschen beides. Der Findling war zum Stein des Anstoßes geworden, zum »Probierstein«, wie Kant sagt, an dem sich »die Schädel blutig wetzten«.
Auch die Naturwissenschaften fanden im Findling ein Rätsel vor. Da lag, beispielsweise im Jura-Kalkstein, ein Granit. Kein Zweifel, dieser Stein hatte eine Fahrt hinter sich, er war fremd unter seinesgleichen. Folglich haben ihn die Geologen als verirrt qualifiziert, als erratischen Block. Die Frage, die sich mit dieser Irrfahrt verband, wog schwer. Was für eine Luft-, Wasser- oder Feuermacht hatte den Gneis in den Sandstein, den Schiefer unter den Schotter gebracht?
Als ich mit C. durch die Sahara fuhr, hatten wir im Meer des Schweigens eine lebensgefährliche Panne. Tagsüber zerflossen die Horizonte zu gewaltigen Wasser- oder Lichtmauern, und nachts, wenn die Sterne wie Fäuste aus der Finsternis herabstießen, auf unsere Hirne zielend, glaubten wir, genau im Mittelpunkt der Erde zu stehen, im Zenit einer gewölbten Scheibe. Es war das Schrecklichste, was mir je widerfuhr: In dieser Wüste gab es nur mich, nur C. und den defekten Renault R4. Durst bedrohte uns und die Furcht, wir könnten von einem Tanklaster – sie hatten Öl geladen und durchzogen in schnurgerader Fahrt die Sahara – überrollt werden. Immer wieder war nah und fern ihr Dröhnen zu hören. U-Booten gleich kamen sie aus der Tiefe heraufgeschossen, wurden zu Jets, die flügellos vorüberdonnerten, um dann in einer Stille, die noch grausamer war, noch heiliger als zuvor, zu verschwinden. Zwar wirbelten sie kilometerlange Sandschleppen auf, aber nie hinterließ einer dieser Laster eine Spur, der Sand, dem Auge kaum sichtbar, trieb und floss dahin, alles löschend, alles vernichtend. Wüste. Nacht. Nichts. Und unser Auto; und wir; und dieses ewige Rieseln, unbarmherzig wie die Zeit. Am dritten Tag erkannten wir im Sonnenuntergang eine Erhebung. Es gelang uns, den Motor anzuwerfen und ohne Kupplung loszufahren. Die Erhebung, habe ich später gehört, ging auf einen Meteorstein zurück, der aus dem All herabgestürzt war. Die Sandflut hatte ihn nicht zerstört, aber tausendfach überdeckt, so dass im Lauf der Zeiten ein weithin wirkender Buckel entstanden war. An diesem Punkt orientierten sich die Karawanen und Wüstenfahrer. In seinem Umkreis stießen wir auf Tuaregs, und noch in der Nacht hielt am Fuß des Hügels ein Tanklaster an, der uns mit Ersatzteilen versorgen konnte. Der Stein hatte uns gerettet.
Die Geschichte der Steine, vermute ich, hat unter ihnen begonnen. Die Wälder waren wild, die Tiere gefährlich, es tobten Feuersbrünste, es fluteten die Wasser und Nebel, nirgendwo gab es eine sichere Statt. Wohin mit den Toten? Unter den Steinen wurden sie bestattet. Hier waren sie vor Geiern und Blitzen, vor Fluten und Schändern geschützt. Dann schliffen die Überlebenden die Steinlöcher zu Schalen aus, füllten diese mit Tierblut, Fett und anderen Opfergaben, und im Rauch, der hell oder dunkel, steil oder schräg aus den Schalen quoll, versuchte der Priester zu erkennen, ob sein Volk dem höchsten Wesen gefiel oder nicht. So hat der Stein, unter dem die Toten lagen, den Menschen nach oben verwiesen, auf Gott.
Natürlich galten auch andere Steine als heilig. Die früh erkannte Tatsache jedoch, dass der Findling fremd auf seinem Grund lag, brachte die Menschen dazu, gerade ihn für etwas Besonderes, ja Göttliches zu halten. Zum einen, wie eben dargestellt, diente er als Orientierung zwischen Hades und Himmel, zum anderen wurden die Opferflammen zu Signal- und Leuchtfeuern. Auch steckten die Steine bestimmte Grenzen ab, heilige Orte, verbotene Bezirke, Ländereien und Siedlungen. Da der Verlauf solcher Grenzen in die Findlinge eingeritzt wurde, ebenso die Wege, entstanden die ersten Weiser und Karten. Dann begann man, im Geäder den Lauf der Sterne oder des Schicksals zu lesen, damit war der Stein zum Würfel geworden – er entschied über Leben und Tod. Und er war, zumindest in unserer Gegend, die erste Apotheke. In den Opferschalen kochten die Menschen Kräuter aus, sie zerstießen Körner, mischten Salben. Wer genas, schrieb die Wirkung dem Stein zu.
Dieser Überblick ist nicht vollständig. Aber er zeigt, dass der Stein im frühen Denken und Fühlen der Menschen einen festen Platz einnahm. Er hat die Gesellschaft geordnet und gerichtet, und zwar im geistigen Bereich (Grab und Gott), im sozialen (Priester, Arzt und Volk), und nicht minder im geographischen (als Signal-, Weg- und Grenzstein).
Das Alte Testament war steingläubig. Moses, übrigens ein Findling, hatte dem Volk die Zehn Gebote auf Steintafeln gezeigt. Aber dann kam Christus, und er kam im Zeichen des Holzes, von Anfang an. Joseph war Zimmermann; das Kind lag in der Krippe; Jesus starb am Kreuz. So begann ein Krieg, der nach wie vor andauert: Kreuz gegen Opfertisch, Holz gegen Stein. Dieser Krieg sprengte zahllose Findlinge in Stücke. Oder sie wurden, wie der nächste Abschnitt zeigt, von der Kirche verschluckt.
Die vier Evangelien berichten es im Triumph: Als sie am »frühen Morgen kamen, fanden sie den Stein von der Gruft weggewälzt«. Christus war auferstanden, das Grab leer, das Kreuz, so schien es, hatte den ersten und entscheidenden Sieg über den Stein errungen. Irrtum. Diese Sätze leiten die erste Niederlage ein, die die junge Religion erleiden sollte. Der weggewälzte Stein, das leere Grab – nichts als Gerede! Dem Tod und seinen Riten kann keiner den Stachel ziehen, nicht Gott, nicht Sisyphos.
Ja, beide haben sie das Gleiche versucht. Mit seiner Schlauheit, so die Sage, überlistete Sisyphos sogar den Tod. Die Strafe für seine Hybris ist furchtbar. Seither muss er einen Stein, der immer wieder hinunterrollt, den Hadeshang hochwälzen. Christus erging es ähnlich. Sein am Sabbatmorgen weggewälzter Grabstein rollt immer wieder an den Ausgangspunkt zurück. Unsere Toten, als hätte die Auferstehung nicht stattgefunden, wohnen nach wie vor unter dem Schutz der Steine.
Jesus Sisyphos gab und gibt nicht auf. Immer wieder stemmt er sich gegen den Stein, versucht er, dem Kreuz den Boden zu bereiten. Ein Teilsieg ist der Sarg. Früher wurden die Leichen in Binden gewickelt, nun begraben wir die Toten in einem hölzernen Kleid. Aber dieses Holz hat in der Erde zu verschwinden, und hölzerne Kreuze sind auf den meisten Friedhöfen nur eine beschränkte Zeit, bis das Eisenkreuz geschmiedet oder der Grabstein gemeißelt ist, erlaubt. So stoßen auf den Friedhöfen, ja auf jedem Grab die beiden Welten aufeinander. Inmitten der marmornen Totenstädte erblühen wildschöne Oasen. Im Schatten der Grabsteine liegt ein kleiner, oft liebevoll gehegter Garten. Hier steht stumm die Steinwelt, dort liegt der Pflanzgrund für das Holz.
Eben kehre ich von einem Spaziergang zurück. Dabei habe ich zum ersten Mal bemerkt, dass die Wegkreuze unserer Gegend auf ein Fundament gestellt sind, auf einen steinernen Sockel. Die Botschaft ist klar. Das Holz, soll dem Wanderer suggeriert werden, hat den Stein besiegt. Das Gleiche behaupten die Gipfelkreuze. Das Holz hat unsere Horizonte erobert. Wirklich? Ist gerade hier, in der Steinwelt der Alpen, das Kreuz der große Sieger?
Die Kirchenväter, etwa Hieronymus, und die frühen Konzile, speziell jene zu Arles, Toledo und Rouen, haben die »Steinanbeter« und »die Feueranmacher auf Steinen« heftig bekämpft. Aber die alten Kulte ließen sich nicht ausrotten, nicht mit dem Schwert, nicht mit dem Bann. Da beschloss der Klerus, den Stein in die Kirche hereinzuholen. Der Opfertisch wurde zum Altar; die Tag und Nacht leuchtende Signalflamme hieß nun Ewiges Licht; die Opferfeuer wurden zu Kerzen stilisiert, und was als Flusstaufe begonnen hatte, nahm man alsbald in den Stein zurück, in die altbewährte Opferschale – das ist das Taufbecken.
Es war ein gewaltiges Ringen, und selbstverständlich sind seine Spuren und Trümmer nicht auf das Innere von Kirchen beschränkt. Gerade bei uns, in den Alpentälern, begegnet man den beiden Kontrahenten auf Schritt und Tritt. Wo ein Punkt strategisch ist, eine Passage schwierig – das kann eine Klus sein, eine Brücke, ein Pass –, begegnen sich Teufelssteine und Kapellen, Bildstöcke und Felsenmalerei, und zahllose Sagen erzählen, wie der Kampf abging.
Ihr Muster ist stets dasselbe. Der arme, auf verlorenem Posto kämpfende Teufel will das Vordringen des Holz-Kreuzes in seine Steinwelt verhindern. Er greift, um die Holzbrücken und Stege zu zertrümmern, nach einem gewaltigen Brocken, schon will er werfen, aber siehe da, ein frommes Kind schlägt das Kreuzzeichen, ein tiefer gelegenes Kirchlein bimmelt, oder Gott selbst, indem er ein rauschendes Gewitter schickt (eine Art Großtaufe), spült dem Teufel den Stein aus der Kralle.
Alte Geschichten? Gerade an den Alpenpässen wird sichtbar, dass die große Schlacht noch immer im Gang ist. Auf der einen Seite steht die tiefe Sorge um die Bannwälder, auf der andern die Ingenieurskunst, die Betonbänder über die Schluchten spannt. Die Lager sind unversöhnlich. Es darf uns nicht wundern: Alle sind sie Glaubenskrieger, und jede Partei, freilich ohne es zu ahnen, steht in einer Tradition, die Jahrtausende übergreift. Die Waldleute kämpfen im Zeichen des Kreuzes, die Betonbauer vertreten die Steinwelt. So ist, vermutlich zum letzten Mal und in seine Ursprünge zurückführend, der alte Krieg noch einmal aufgeflammt. Das Kreuz will den vierspurigen Kulttischen den Sinn nehmen. Das Holz möchte stärker sein als der Stein.
»Noch starrt das Land von fremden Zentnermassen«, sagt Mephisto, »Wer gibt Erklärung solcher Zaubermacht?«
Die Steinforscher standen vor einem gewaltigen Problem. Die erratischen Blöcke waren so schwer, dass es leichter fiel, sich den Teufel als Transporteur vorzustellen, als die Naturkräfte zu entdecken, die die Gneis- und Granitbrocken quer durch den Alpenraum getragen hatten. Ein Beispiel mag zeigen, wie verzweifelt die Steinforscher gesucht haben.
1767 propagierte ein Moritz Anton Capeller, damals ein berühmter Geologe, die »Alpentrümmer«. Wo ein einzelner Fels auf der Wiese liege, so Capeller, sei früher ein ganzer Berg gewesen. Er habe sich aufgelöst. Nur ein Stein, der Gebirgskern, sei zurückgeblieben. Capellers Schriften sind ein schöner Aufstieg in den Wahnsinn. Zum Schluss glaubte er, das Dach der Welt erstiegen zu haben. Capeller stand mit gebreiteten Armen auf einem fassgroßen Findling, und das rundum weidende Braunvieh glotzte ihn an.
Wenige Jahrzehnte später, 1815, verbrachte Jean de Charpentier, ein gebürtiger Sachse, Direktor der Salinen zu Bex und Professor der Geologie an der Universität Lausanne, in der Hütte eines Gemsjägers im Vallée de Bagne eine kalte Nacht. Wie er später berichtet hat, sagte ihm der Jäger, ein einfacher Mann, die Alpengletscher hätten vor Jahr und Tag bis ins Tal hinuntergereicht, bis Martigny und darüber hinaus, denn riesige Blöcke würden dort unten liegen, zu schwer für jede Wasserkraft, nur der Gletscher, so der Jäger, habe sie tragen können.
War der Gletscher die Antwort auf die Frage des Mephisto? Charpentier wurde zum Alpenwanderer. Er suchte Argumente und Beweise für eine neue Genesis. Die Welt, so seine Vermutung, war ursprünglich von Eismeeren bedeckt gewesen.
Eines Tages, es war im Sommer 1834, wanderte Charpentier über den Brünig. Als er sich über einen Granitblock beugte, kam ein Holzer daher, die Hände in die Hosentaschen gestopft, im Mundwinkel eine Pfeife. Solche Steine, bemerkte der Mann, gebe es zuhauf hier oben. Sie kämen von weit, vermutlich von der Grimsel. Charpentier sah auf. »Wissen Sie«, fragte der Steinforscher den Holzer, »wie der Granit gefahren ist?«
»Mit dem Gletscher«, sagte der Holzer.
1841 erschien Charpentiers Essai sur les glaciers et sur le terrain erratique du bassin du Rhône. Das Werk gilt als klassisch. Es weist nach, dass im sogenannten Diluvium, Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung, weite Teile der Welt, insbesondere im Alpenraum, von Gletschern bedeckt gewesen waren. Damit stand das Transportmittel fest: Schmelzende Gletscherzungen hatten die erratischen Blöcke verteilt.
Eine Anmerkung. Obwohl Charpentier den Naturwissenschaften verpflichtet ist und seine Argumente auf Tabellen und Zahlen baut, unterlässt er es nicht, die Begegnung mit Gemsjäger und Holzer zu schildern. Der Steinforscher gibt zu, die Gletschertheorie von einem Gemsjäger erhalten zu haben. Dessen Kostüm kommt uns bekannt vor. Wer will mit Wams und Jägerhut von seinem Tierfuß ablenken? Der Teufel. Und nicht zufällig, meine ich, ist es ein Holzer, der dem Steinforscher die Beweiskette schließen hilft. So verweist uns gerade jener Mann, der das Rätsel der Steine löst, noch einmal in den Mythos, in den großen Krieg Holz gegen Stein.
Mein Name (Frunz) entbehrt jeglicher Bedeutung. Bin Secretarius, id est Schreibknecht, also abgerichtet zum fehlerlosen Erfassen von Diktaten, und wenn ich aus eigenem Antrieb zur Feder greife, so geschieht das allein deshalb, weil es mir beschieden war, im Herbst 1797 den reisenden Dichter Herrn von Goethe durch unser Land zu begleiten, von Schaffhausen bis auf die Höhe des Schwyzer Hackens. Dort oben, dies sei schon jetzt verraten, trug sich am Abend von St. Michael, dem 29. September, eine unerhörte Begebenheit zu, und es ist wohl angebracht, Goethes Nachwelt wissen zu lassen, was ich, der Schreiber Frunz, an jenem Herbstabend auf dem Hacken erleben durfte: Herr von Goethe überstieg sonnenhaft den Horizont menschlicher Erfahrungen. Aber schweifen wir nicht voraus, beginnen wir in Schaffhausen.
Das hochwohllöbliche Consortium der Herren Meyer, Horner und Escher hatte mich dem Dichter an die Landesgrenze entgegengesandt. Im Namen des Consortiums, so lautete mein Auftrag, sollte ich dem großen Mann meine Dienste anbieten, sei es als Secretarius, sei es als Reisemarschall, und Herr von Goethe, nachdem er einen Blick in mein Empfehlungspapier geworfen, nahm das Angebot stumm nickend an – ich war engagiert und heftete mich fortan als Schatten an seine Seite.
Im Gasthof »Krone« zu Schaffhausen bezogen wir das erste gemeinsame Quartier. An der Table d’hôte saßen in der Mehrzahl französische Emigranten: Comtessen, Pfaffen, condéische Offiziere, und der Dichter, wie mir bald einmal auffiel, unterschied sich von dieser Gesellschaft weder im Aussehen noch im Gehabe, noch gar in seiner Sprache. »Bemerkung eines gewissen stieren Blicks der Schweizer, besonders der Zürcher«, sollte ich für seine Akten notieren (am 17. September, abends).
Den andern Tag fuhren wir früh um sechseinhalb zum Rheinfall hinaus, wo wir die Erscheinung der stürzenden Wassermassen vom Kalkfelsen aus betrachteten. »Grüne Wasserfarbe«, rief Herr von Goethe in mein rechtes Ohr, und es fiel mir gewiss nicht leicht, mitten im Tosen und vom anwehenden Wasserdunst bedrängt, ein sauberes Diktat zu schaffen! »Schnelle Wellen. Flocken. Gischt im Sturz. Gischt unten im Kessel.« Sodann: »Wenn die strömenden Quellen grün aussehen, so erscheint der nächste Gischt leise purpurn gefärbt. Unten strömen die Wellen schäumend ab, schlagen hüben und drüben ans Ufer, die Bewegung verklingt weiter hinab, und das Wasser zeigt im Fortfließen seine grüne Farbe wieder.«
Nachdem wir aus dem inzwischen durchsonnten Dunstschleier auf die hölzernen Vorbauten gelangt waren, ließ sich Herr von Goethe ein Tuch reichen, trocknete seine Schläfen ab und meinte, mit dem Finger auf mein feuchtes Büchlein weisend: »In der menschlichen Natur liegt ein heftiges Verlangen, zu allem, was wir sehen, Worte zu finden.«
Damit war es ausgesprochen! Goethe war ein Seher, ein Schauer. Deshalb störte ihn der stiere Blick des Schweizers, insonderheit jener des Zürchers, und anders als unsereiner, der den Rheinfall nur in seiner Gesamtwirkung erfassen kann, war es dem Dichter gegeben, von jeder Welle, ja sogar von deren Farbspiel, auf das Allergenaueste affiziert zu werden.
Am 19. September reisten wir in der Kutsche von Schaffhausen nach Stäfa, wo Herr von Goethe bis zum Morgen des 28. die Gastfreundschaft des Consortiums in Anspruch nahm. Die Herren diskutierten die französischen Ereignisse und verbrachten manch gute Stunde mit dem Betrachten von Meyers Kupferstichen. Des Morgens wurden mir diverse Aufsätze diktiert, eine Elegie, ein Idyll sowie ein mehrseitiger, von Freundschaft durchströmter Brief an Schiller, und nicht ohne Stolz darf ich bekennen, dass sich der große Mann mit meiner Arbeit zufrieden zeigte. Sein: »Hat Er das? Ist Er so weit?« musste er nur noch selten zwischen die Sätze flechten, und war es mir vergönnt, ein verlangtes Aktenfaszikel in beflissener Eile aus der mitgeführten Sammlung herauszupicken, glaubte ich erkennen zu können, dass sein Dichterhaupt nur noch um Haaresbreite von einem anerkennenden Nicken entfernt war. Am Vorabend unserer Weiterreise fragte er beiläufig: »Frunz, hat Er gutes Schuhwerk?«
Nicht wagend, meine ehrerbietige Krummhaltung zu lösen, streckte ich den Fuß etwas vor, Herr von Goethe jedoch, welcher wie stets am Fenster stand und hinausträumte in den abenddunstigen Herbst über dem Zürichsee, fuhr mit dem Diktieren fort, ohne meine Ausrüstung ein weiteres Mal anzusprechen. Schließlich sagte er: »Ruh Er sich aus, Frunz. Trink Er nicht zu viel. Mit dem Sonnenaufgang brechen wir auf.«
Hauchte mein: »Empfehle mich zu Gnaden!«, und wischte hinaus. Den andern Tag begleitete das Consortium seinen Gast zum Ufer. Ich hatte das gesamte Reisegepäck zu buckeln, und schon dieser kurze Weg zum Schiff, das uns mit gesetzten Segeln erwartete, ließ mich erahnen, wie beschwerlich der Spaziergang ins Gebirge ausfallen würde. Die Herren Meyer, Horner und Escher winkten mit ihren Tüchern, bis sie im grünen Ufergebüsch kaum mehr auszumachen waren. Da befahl mich der Dichter, welcher seit dem Ablegen aufrecht im Bug stand, nach vorn. »Glanz der Wolken über dem Ende des Sees«, ließ er festhalten.
In dreiviertel Stunden fuhren wir hinüber.
Im Hafen von Richterswyl drängten sich viele Pilger, vor allem aus Schwaben, aber der Meister interessierte sich mehr für die Wegplatten, die, wie er nach kurzem Studium befand, »bald porphyr-, bald brekzienartig erscheinen« würden. Um zweieinhalb kamen wir in Hütten an, freilich nicht gemeinsam, denn die Bagage drückte schon bald derart heftig auf meine Lungen, dass ich im leichtfüßigen Voransteigen des Dichters durchaus einen Vorteil erkennen musste – das Keuchen seines wankenden Trägers wäre ihm mit Sicherheit lästig geworden.