Catwoman – Diebin von Gotham City - Sarah J. Maas - E-Book

Catwoman – Diebin von Gotham City E-Book

Sarah J. Maas

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Beschreibung

Partygirl bei Tag – Superdiebin bei Nacht Selina Kyle war die jüngste und gefürchtetste Straßendiebin von Gotham City – bis sie vor zwei Jahren verhaftet wurde. Nun kehrt sie unerkannt als mysteriöse Millionärstochter zurück. Während sie tagsüber als Partygirl Holly den Männern – allen voran ihrem verteufelt attraktiven Nachbarn Luke Fox – den Kopf verdreht, plant sie des Nachts den größten Coup aller Zeiten. Doch dann droht ihr Gefahr von unerwarteter Seite: Ein maskierter Unbekannter ist fest entschlossen, Selinas illegalen Aktivitäten den Garaus zu machen, und nimmt die Verfolgung auf. Ein faszinierendes Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Was Selina nicht weiß: Ihr Widersacher ist kein anderer als Luke Fox.   Kennen Sie bereits die weiteren Serien von Sarah J. Maas bei dtv? »Das Reich der sieben Höfe« »Throne of Glass« »Crescent City«

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Sarah J. Maas

Catwoman – Diebin von Gotham City

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Link

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für alle Frauen, die die Hölle auf Erden entfesseln

– und einen Mordsspaß dabei haben.

Vorher

Kapitel 1

 

 

Das johlende Publikum in der improvisierten Arena brachte ihr Blut nicht zum Kochen.

Es raubte ihr nicht die Fassung, ärgerte sie nicht und veranlasste sie auch nicht, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen. Nein, Selina Kyle ließ nur die Schultern kreisen – einmal, zweimal.

Und wartete.

Das wilde Geschrei, das durch den schmutzigen Korridor bis zur Kabine hallte, war kaum mehr als ein fernes Donnergrollen. Ein kleines Unwetter wie das, das während ihres Fußmarsches von ihrer Wohnung hierher über das East End gefegt war. Und sie völlig durchnässt hatte, bevor sie in den geheimen U-Bahn-Eingang abtauchen konnte. Der führte in das unterirdische Glücksspiellabyrinth von Carmine Falcone, dem letzten in der endlosen Abfolge von Gotham Citys Mafia-Bossen.

Und wie jedes beliebige Gewitter würde auch dieser Kampf zu überstehen sein.

Selinas regennasses, langes, dunkles Haar war noch nicht getrocknet, und sie vergewisserte sich, dass es tatsächlich in seinem strammen Knoten hielt. Einmal – bei ihrem zweiten Straßenkampf – hatte sie den Fehler gemacht, sich einen Pferdeschwanz zu binden. Ihre Gegnerin hatte sie am Zopf gepackt, und die wenigen Sekunden, in denen Selinas Hals entblößt gewesen war, hatten sich wie die längsten Sekunden ihres Lebens angefühlt.

Aber sie war – mit knapper Not – als Siegerin aus dem Kampf hervorgegangen. Und sie hatte dazugelernt. Hatte bei jedem Kampf seither dazugelernt, sei es oben auf der Straße oder in der unter Gotham City in den Felsgrund gehauenen Arena.

Es spielte keine Rolle, wer heute Abend ihr Gegner war. Die Herausforderer waren gewöhnlich Variationen des ewig Gleichen: verzweifelte Männer, die Falcone mehr schuldeten, als sie zurückzahlen konnten. Narren, die bereit waren, für die Chance, ihre Schulden zu begleichen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, indem sie es im Ring mit einer seiner Leopardinnen aufnahmen.

Der Lohn: sich nie mehr über die Schulter nach einem wartenden Schatten umschauen zu müssen. Der Preis fürs Verlieren: fertiggemacht zu werden – und die Schulden blieben. Gewöhnlich mit dem Versprechen auf einen Fahrschein zum Grund des Sprang Rivers, ohne Rückfahrkarte. Die Chancen zu siegen: gering bis nicht vorhanden.

Ganz gleich, gegen welchen Trottel sie heute Nacht antreten würde, Selina betete, dass Falcone ihr früher als beim letzten Mal zunicken würde. Dieser Kampf … Falcone hatte sie gezwungen, den besonders brutalen Fight weiterlaufen zu lassen. Das Publikum war zu erregt gewesen, und bereit, Geld für den billigen Alkohol auszugeben und für alles andere, das in dem unterirdischen Labyrinth feilgeboten wurde. Sie war mit mehr Blutergüssen als gewöhnlich nach Hause gekommen, und der Mann, den sie bewusstlos geprügelt hatte …

Nicht ihr Problem, sagte sie sich immer wieder. Selbst wenn sie im Schlaf wie im Wachen die blutverschmierten Gesichter ihrer Gegner sah. Was Falcone nach dem Kampf mit ihnen machte, war nicht ihr Problem. Sie ließ ihre Opfer weiteratmen. Wenigstens das sprach für sie.

Und zumindest war sie nicht dumm genug, um offen Widerstand zu leisten wie einige der anderen Leopardinnen. Diejenigen, die zu stolz oder zu dumm oder zu jung waren, um zu kapieren, wie dieses Spiel gespielt wurde. Nein, ihre kleinen Rebellionen gegen Carmine Falcone waren subtiler. Er wollte tote Männer sehen – sie ließ sie bewusstlos liegen, machte ihre Sache aber so gut, dass sich nie jemand aus dem Publikum beschwerte.

Ein schmaler Grat – vor allem, da das Leben ihrer Schwester auf dem Spiel stand. Wenn sie zu viel Widerstand leistete, würde Falcone vielleicht Fragen stellen und wissen wollen, wer ihr am meisten bedeutete. Wo er sie am härtesten treffen konnte. Sie würde niemals zulassen, dass es so weit kam. Würde niemals Maggies Sicherheit aufs Spiel setzen – selbst wenn diese Kämpfe alle für sie waren. Jeder einzelne davon.

Es waren drei Jahre vergangen, seit Selina zu den Leopardinnen gekommen war, und fast zweieinhalb, seit sie sich überzeugend genug gegen die anderen Mädchengangs behauptet hatte, dass Mika, ihre Alpha, sie Falcone vorgestellt hatte. Selina hatte es nicht gewagt, sich diesem Treffen zu verweigern.

Die Rangordnung in den Mädchengangs war simpel: Die Alpha jeder Gang herrschte und beschützte, bestrafte und belohnte. Die Befehle der Alphas waren Gesetz. Und die Vollstrecker dieser Befehle waren ihre Nummer zwei und Nummer drei. Darunter wurde die Hackordnung undurchsichtiger. Kämpfe boten eine Möglichkeit, in der Hierarchie aufzusteigen – oder zu fallen, je nachdem, wie schlecht ein Wettkampf verlief. Selbst eine Alpha konnte man herausfordern, wenn man dumm oder mutig genug war.

Aber der Gedanke, in der Hierarchie aufzusteigen, war Selina überhaupt nicht in den Sinn gekommen, als Mika Falcone mitgebracht hatte, damit er zusah, wie sie es mit der Nummer zwei des Wolfsrudels aufnahm. Das Mädchen hatte anschließend blutend auf dem harten Boden der Gasse gelegen.

Vor diesem Kampf hatte Selina nur vier tätowierte Leopardenflecken auf ihrem blassen linken Arm getragen, jeder eine Trophäe für einen gewonnenen Kampf.

Selina zog ihr weißes Tanktop zurecht. Inzwischen, mit siebzehn Jahren, bedeckten siebenundzwanzig dieser Flecken beide Arme.

Unbesiegt.

Das war es, was der Zeremonienmeister des Wettkampfs jetzt in der Halle erklärte. Selina konnte gerade eben die ins Mikro geschnurrten Worte ausmachen: der unbesiegte Champion, die wildeste der Leopardinnen …

Ihre Hand wanderte zu dem einzigen Ding, das sie mit in die Arena nehmen durfte: zu der Bullenpeitsche.

Manche Leopardinnen entschieden sich für ein auffälliges Make-up oder bestimmte Kleider als ihr Markenzeichen im Ring. Für so etwas konnte Selina kein Geld erübrigen – nicht, wenn eine Tube Lipgloss so viel kostete wie eine kleine Mahlzeit. Aber Mika hatte sich nicht besonders beeindruckt gezeigt, als Selina zu ihrem ersten offiziellen Kampf in ihrem alten Gymnastikanzug und Leggins erschienen war.

Du siehst aus, als gingest du zum Jazzercise, hatte ihre Alpha gesagt. Geben wir dir zumindest ein paar Krallen.

Im Ring waren alle möglichen kleinen Waffen erlaubt, außer Messer und Pistolen. Aber an jenem Abend war davon gerade nichts zur Hand gewesen. Nur eine Bullenpeitsche hatte auf einem Haufen von Requisiten gelegen aus der Zeit, als die Arena noch von einem alternativen Zirkus benutzt worden war.

Du hast zehn Minuten Zeit, um zu lernen, wie man die Peitsche benutzt, hatte Mika Selina gewarnt, bevor sie sie sich selbst überlassen hatte.

Sie war kaum dahintergekommen, wie man das Ding knallen lassen konnte, als man sie auch schon in den Kampfring schubste. In diesem ersten Kampf hatte die Bullenpeitsche sie mehr behindert als ihr geholfen, aber das Publikum war voll auf das Ding abgefahren. Und irgendwie gefiel es ihr ebenfalls ein bisschen, wie das Knallen die Luft zerriss.

Also hatte sie gelernt, die Peitsche zu gebrauchen. Bis sie zu einer Verlängerung ihres Arms wurde und ihr einen Vorteil verschaffte, den ihr schmaler Körperbau ihr nicht bot. Die Dramatik, die sie im Ring ermöglichte, schadete auch nicht.

Ein dumpfer Schlag an die Metalltür war ihr Zeichen zum Aufbruch.

Selina überprüfte die Bullenpeitsche an ihrer Hüfte, ihre schwarze Elastan-Hose und die grünen Sneakers, die zu ihren Augen passten – auch wenn niemand das je kommentiert hatte. Sie krümmte die mit Tape umwickelten Finger. Alles gut.

Oder so gut es sein konnte.

Ihre Muskulatur war locker, ihr ganzer Körper geschmeidig dank ihrer alten Turn-Aufwärmübungen, die sie zur Vorbereitung auf diese Kämpfe umfunktioniert hatte. Ihren Körper wirklich kampfbereit zu machen, war schon der halbe Sieg. Die andere Hälfte brachte das Kämpfen selbst, die Peitsche und die schiere Akrobatik, die sie nicht nur der Show wegen einsetzte, sondern auch, um ihre schwereren Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die rostige Tür quietschte, als Selina sie öffnete. Dahinter im Korridor kümmerte Mika sich gerade um das neue Mädchen. Im flackernden Licht der Neonröhren fehlte der goldenen Haut der Alpha der gewohnte Glanz.

Mika warf Selina über ihre schmale Schulter einen prüfenden Blick zu, und ihr schwarzer Zopf schwang bei der Bewegung hin und her. Das weiße Mädchen, das vor ihr schniefte, wischte sich behutsam das aus ihrer geschwollenen Nase strömende Blut ab. Das eine Auge des Kätzchens war bereits zugeschwollen und rot und im anderen schwammen Tränen.

Kein Wunder, dass das Publikum aufgeputscht war. Wenn eine Leopardin so schlimme Prügel bezogen hatte, musste der Kampf die Hölle gewesen sein. So brutal, dass Mika jetzt dem Mädchen eine Hand unter den bleichen Arm legte, damit es nicht schwankte.

Vom Ende des dunklen Korridors, der in die Arena führte, winkte einer von Falcones Türstehern sie heran. Selina schloss die Tür hinter sich. Sie hatte keine Wertgegenstände zurückgelassen. Sie besaß ohnehin nichts, das sich zu stehlen lohnte.

»Sei vorsichtig«, sagte Mika, als Selina an ihr vorbeiging. Die Stimme der jungen Asiatin war leise und sanft. »Er hat heute Nacht eine schlimmere Truppe als sonst beisammen.« Das Kätzchen zog zischend die Luft durch die Zähne und riss den Kopf weg, als Mika ihm mit einem Desinfektionstuch die aufgeplatzte Lippe abtupfte. Mika knurrte eine Warnung, und das Kätzchen verstummte klugerweise und zitterte nur ein wenig, während die Alpha die Wunde versorgte. Ohne sich umzusehen, fügte Mika hinzu: »Den Besten hat er für dich aufgehoben. Tut mir leid.«

»Das macht er doch immer«, sagte Selina kühl, auch wenn es in ihrem Magen brodelte. »Ich komme schon klar.«

Sie hatte auch gar keine andere Wahl. Wenn sie verlor, hatte Maggie niemanden mehr, der sich um sie kümmerte. Und wenn sie sich weigerte zu kämpfen? Auch keine Option.

In den drei Jahren, in denen Selina Mika nun schon kannte, hatte die Alpha nie vorgeschlagen, ihr Arrangement mit Carmine Falcone zu beenden. Denn Falcones Rückendeckung bedeutete für die Leopardinnen, dass die anderen East-End-Gangs es sich zweimal überlegten, in ihr Territorium einzudringen. Auch wenn es andererseits bedeutete, diese Kämpfe auszufechten und Leopardinnen zur Unterhaltung des Publikums zu opfern.

Falcone machte daraus ein wöchentliches Spektakel – einen wahren römischen Zirkus. Um dessentwillen liebte und fürchtete man ihn in der Unterwelt von Gotham City gleichermaßen. Es war für Falcones Stellung sicherlich auch nicht nachteilig, dass ein großer Teil des unverbesserlichen Abschaums der Stadt von gewissen Gutmenschen, die in ihren Umhängen durch die Stadt eilten, hinter Schloss und Riegel gebracht worden war.

Mika schob das Kätzchen zur Kabine und ließ das Kinn hochzucken – ein Befehl an Selina, sich auf den Weg zu machen.

Aber Selina hielt inne, um zuerst noch den Korridor abzusuchen und sich die Ausgänge anzusehen. Selbst hier unten, im Herzen von Falcones Territorium, lud man den Tod praktisch ein, wenn man nicht ständig für seinen Schutz sorgte. Vor allem als eine Alpha mit so vielen Feinden, wie Mika sie hatte.

Drei Gestalten kamen durch eine Tür am anderen Ende des Korridors hereingeschlüpft, und Selinas Schultern entspannten sich ein wenig beim Anblick der jungen Latina, die dort auftauchte. Ani, Mikas Nummer zwei, mit zwei weiteren Leopardinnen niederen Rangs an ihrer Seite.

Gut. Sie würden aufpassen, während ihre Alpha sich um ihre Leute kümmerte.

Der Jubel des Publikums ließ den Betonboden vibrieren, die losen Keramikkacheln an den Wänden klappern und ging Selina bis auf die Knochen, als sie auf die verbeulte Metalltür zur Arena zuging. Der Türsteher bedeutete ihr, dass sie sich verdammt noch mal beeilen solle, aber sie hielt unbeeindruckt ihr Tempo bei. Sie pirschte sich an.

Die Leopardinnen, diese Kämpfe … das war ihr Job. Gut bezahlt. Ihre Mutter war verschwunden, ihre Schwester krank, und kein legaler Job warf so schnelles oder so viel Geld ab.

Die Leopardinnen hatten vor drei Jahren keine Fragen gestellt. Sie hatten nicht wissen wollen, ob Selina im Innenhof des Häuserblocks diesen Streit mit dem Razor-Mädchen absichtlich angezettelt hatte – und mit einem weiteren Mädchen und noch einem, bis Mika gekommen war, um den Heißsporn in Haus C zu beschnuppern.

Mika hatte ihr nur gesagt, dass so ein Scheiß sie im East End ziemlich schnell das Leben kosten würde und dass die Leopardinnen eine Kämpferin wie sie gebrauchen konnten. Die Alpha hatte nicht gefragt, wer ihr beigebracht hatte zu kämpfen. Oder wie man einsteckte.

Der Türsteher öffnete die Tür und das Tosen der Menge füllte explosionsartig den Korridor – wie von einem Rudel tollwütiger Wölfe.

Selina Kyle atmete lange aus, reckte das Kinn vor und trat hinein in den Lärm und das Licht und den Zorn.

Das Blutvergießen konnte beginnen.

 

Ihre Hände waren so geschwollen, dass sie kaum die Schlüssel ins Schloss bekam.

Das Klappern ihres Schlüsselbundes hallte durch den Hausflur des Wohnhauses wie eine gottverdammte Essensglocke.

Es kostete sie ihr letztes bisschen an Konzentration, die Hand ruhig genug zu halten, um den Schlüssel endlich in das oberste Schloss zu stecken. Den drei weiteren darunter schenkte Selina zunächst keine Beachtung. Jedes davon war eine Herausforderung wie der nächste Gipfel einer Bergkette.

Zu lange. Falcone hatte den Kampf zu sehr in die Länge gezogen.

Was ihren Gegner betraf, hatte Mika nicht gelogen. Der Mann war selbst ein Kämpfer. Nicht gut, aber riesig. Doppelt so schwer wie sie. Und erfüllt von dem verzweifelten Wunsch, seine Schulden zurückzuzahlen. Seine Schläge waren schmerzhaft gewesen. Gelinde gesagt.

Aber sie hatte gesiegt. Nicht mit roher Gewalt, sondern weil sie es schlauer angestellt hatte. Als ihre Verletzungen zahlreicher wurden, es ihm gelang, ihr die Bullenpeitsche aus der Hand zu reißen, und sie durch die Blutung auf einem Auge vorübergehend nichts mehr sehen konnte … hatte sie simple Physik gegen ihn eingesetzt. Ihr Lehrer wäre stolz auf sie.

Falls sie morgen zum Unterricht auftauchte. Oder nächste Woche.

Das oberste Schloss schnappte auf.

Gegen größere, schwerere Gegner war reine Körperkraft nicht ihr bester Freund. Denn ihr eigentliches Potenzial lag in ihrer Schnelligkeit, Beweglichkeit, Flexibilität – vor allem dank der zahlreichen Gymnastikkurse. Und in der Bullenpeitsche. Damit konnte sie ihre Gegner überraschen – und die Wucht eines zweihundert Pfund schweren, auf sie zustürmenden Mannes nutzen, um sie gegen ihn zu wenden. Ein paar Bewegungen und Griffe, und sie verwandelte diesen blinden Ansturm in eine Bewegung, die ihn auf den Rücken warf. Oder ihn mit dem Gesicht voraus gegen einen der Pfosten prallen ließ. Vielleicht schlang sich ihm auch die Bullenpeitsche ums Bein und riss es unter ihm weg, während sie ihm den Ellbogen in die Eingeweide rammte.

Immer auf die Weichteile gehen. Das hatte sie gelernt, bevor sie je auch nur einen Fuß in den Ring gesetzt hatte.

Mit etwas Mühe, weil sie auf dem linken Auge immer noch etwas verschwommen sah, musterte Selina den in Graublau gestrichenen Flur in beide Richtungen, ließ den Blick schweifen über die Graffiti und die Pfütze von etwas, das kein Wasser war. Nichts davon stellte eine Gefahr dar.

Die dunklen Abschnitte des Flurs … waren eben der Grund, warum diese Tür vier Schlösser hatte. Warum Maggie sie unter gar keinen Umständen öffnen durfte. Ganz besonders nicht für ihre Mutter. Und wen auch immer ihre Mutter möglicherweise bei sich hatte.

Die Metalltür hatte immer noch eine Delle vom letzten Mal – das war vor sechs Monaten gewesen.

Eine große, runde Delle direkt neben dem Spion von der Faust des schwitzenden Mannes, mit dem ihre zugedröhnte Mutter gekommen war. Selina hatte die Tür nicht geöffnet, aber die beiden waren erst wieder gegangen, als ein Nachbar gedroht hatte, die Cops zu rufen.

In diesem Haus wohnten nette Menschen. Gute Menschen. Aber ein Anruf bei den Cops hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Cops bedeuteten Fragen. Fragen in Bezug auf ihre Lebenssituation.

Nachdem Selina sich vergewissert hatte, dass sich niemand in den Schatten versteckte, wandte sie sich wieder der Tür zu. In ihrer gegenwärtigen Verfassung … es gelang ihr, das zweite Schloss zu öffnen. Und das dritte.

Selina machte sich gerade daran, das letzte Schloss zu öffnen, als der Aufzug am Ende des Korridors rumpelte. Die zerbeulten Türen öffneten sich und gaben den Blick auf Mrs Sullivan frei, Einkaufstaschen in einer Hand, ihre Schlüssel wie Metallkrallen durch die Finger der anderen geschoben.

Sie sahen sich an, als die uralte, weiße Frau den Flur entlanghumpelte, und Selina nickte ihr zu und betete, dass die Kapuze des Sweatshirts unter ihrer Jacke ihr Gesicht verbarg. Zumindest war die Bullenpeitsche auf ihrem Rücken versteckt. Mrs Sullivan zog die Augenbrauen zusammen, schnalzte mit der Zunge und eilte zu ihrer Wohnung. Die Frau hatte fünf Schlösser.

Selina ließ sich mit dem letzten Schloss Zeit, da ihr bewusst war, dass die Frau jede ihrer Bewegungen verfolgte. Sie überlegte, ob sie Mrs Sullivan sagen sollte, dass sie sich nicht deshalb so viel Zeit ließ, weil sie gerade daran dachte, sie auszurauben. Erwog es und entschied sich angesichts des abwertenden Blicks, mit dem die alte Frau sie betrachtete, dagegen.

Abschaum – das war das Wort, das in Mrs Sullivans Augen tanzte, bevor sie die Tür zu ihrer Wohnung zuschlug und die ganzen Schlösser sich mit einem Klicken schlossen.

Selina war zu angeschlagen, um sich die Mühe zu machen, darüber sauer zu sein. Sie hatte schon Schlimmeres gehört.

Sie entriegelte das letzte Schloss, betrat die Wohnung und zog schnell die Tür hinter sich zu, bevor sie Schloss für Schloss zuschnappen ließ und am Ende die Kette ganz oben vorlegte.

Die Wohnung war dunkel, nur beleuchtet durch den schwachen Schein der Straßenlaternen im Innenhof vor den beiden Fenstern des Wohnzimmers, das gleichzeitig als Küche diente. Sie war sich ziemlich sicher, dass es Menschen in Gotham City gab, deren Badezimmer größer waren als ihre ganze Wohnung, aber zumindest hielt sie sie so sauber wie möglich.

Der Duft von Tomatensoße und die Süße von Brot hingen in der Luft. Ein Blick in den Kühlschrank offenbarte, dass Maggie tatsächlich von dem Essen gegessen hatte, das Selina nach der Schule für sie eingekauft hatte. Und sie hatte eine Menge gegessen.

Gut.

Selina schloss den Kühlschrank, öffnete die Gefriertruhe und fischte einen Beutel Erbsen heraus, der neben einem Stapel Fertiggerichten lag. Sie drückte ihn sich auf ihre pulsierende Wange und zählte diese gefrorenen Mahlzeiten – es waren nur noch drei. Ihr Essen für den Rest der Woche, wenn ihnen die italienischen Sachen ausgingen.

Selina presste sich die gefrorenen Erbsen aufs Gesicht und genoss ihre beißende Kälte. Dann verstaute sie die Peitsche unter dem Spülbecken, streifte ihre Sneakers von den Füßen und tappte über den schmuddeligen grünen Teppich des Wohnbereichs in den Flur mit dem Badezimmer und dem einen Schlafzimmer gegenüber. Das winzige Bad war verlassen und dunkel. Aber zu ihrer Linken fiel ein warmer Lichtschein durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür.

Das Bündel Geldscheine in ihrer Gesäßtasche war trotz allem nicht genug. Nicht bei der Miete, den Lebensmitteln und Maggies Tests und Zuzahlungen.

Mit schwerem Herzen drückte sie die Tür mit einer Schulter auf und streckte den Kopf ins Zimmer. Es war der einzige farbige Ort in der Wohnung, butterblumengelb gestrichen und tapeziert mit Broadway-Postern. Aus der Theaterabteilung einer Schule im East End, die geschlossen worden war.

Diese Poster, an die Selina nur durch glücklichen Zufall gekommen war, wachten nun über das Mädchen im Bett, das zusammengerollt unter einer Comic-Kinderdecke lag. Die Decke war ungefähr zwei Nummern zu klein und zehn Jahre zu abgenutzt. Das Gleiche galt auch für alles andere im Raum – einschließlich des Glühwürmchen-Nachtlichts und Maggies Beharren, es über Nacht brennen zu lassen.

Selina machte ihr keinen Vorwurf. Mit ihren dreizehn Jahren hatte Maggie genug Schlimmes erlebt, um mit Recht tun zu können, was immer sie wollte. Die gequälten, heiseren Atemzüge, die den Raum erfüllten, waren Beweis genug. Selina griff schweigend nach einem von mehreren Inhalatoren neben Maggies Bett und prüfte die Inhaltsanzeige. Es war noch mehr als genug da, falls sie heute Nacht wieder einen Hustenanfall bekam. Selina würde aber ohnehin von ihrem Platz auf dem Sofa im Wohnzimmer hierhereilen, sobald sie den trockenen Husten ihrer Schwester hörte.

Nachdem sie den Stecker des Luftbefeuchters in die Steckdose gesteckt hatte, schlich Selina zurück in den Wohnbereich und ließ sich auf einen rissigen Plastikstuhl an dem kleinen Tisch in der Küche fallen.

Ihr tat alles weh. Alles pochte und brannte und flehte sie an, sich hinzulegen.

Selina sah auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Sie mussten in … fünf Stunden in der Schule sein. Nun, Maggie hatte Schule. Mit ihrem Gesicht in diesem Zustand konnte Selina mit Sicherheit nicht hingehen.

Sie fischte das Geld aus ihrer Tasche und legte es auf den Plastiktisch.

Nachdem sie einen kleinen Karton von der Mitte des Tisches zu sich herangezogen hatte, wühlte Selina mit der Hand, die geringfügig weniger wehtat als die andere, darin herum. Sie würde klug haushalten müssen – die elektronische Lebensmittelkarte der staatlichen Förderung reichte nicht unendlich weit. Sicherlich nicht weit genug, um sich und eine Schwester mit schwerer Mukoviszidose durchzubringen. Selina hatte sich zum Thema ›Essen als Medizin‹ eingelesen, während sie auf Maggie, die einen nachschulischen Theaterkurs besuchte, gewartet hatte. Es gab kein Wundermittel, aber gesundes Essen konnte helfen. Alles war einen Versuch wert. Wenn es ihnen Zeit verschaffte. Wenn es Maggie auch nur die geringste Erleichterung verschaffte.

Mukoviszidose – Selina konnte sich nicht mehr an eine Zeit erinnern, zu der sie dieses Wort nicht gekannt hatte. Was es bedeutete: Es beschrieb eine unheilbare, genetische Krankheit, die in mehreren Organen, vor allem aber in der Lunge, Schleim entstehen ließ. Der Schleim verstopfte und blockierte die Atemwege, sodass sich Bakterien ansiedelten, die bestenfalls zu Infektionen führten. Schlimmstenfalls zu Lungenschäden und -versagen.

Und dann gab es da noch den Schleim, der sich auch in der Bauchspeicheldrüse sammelte und Enzyme blockierte, die halfen, Nahrung aufzuspalten und Nährstoffe zu absorbieren.

Selina hatte es einmal gegoogelt: Lebenserwartung bei schwerer Mukoviszidose.

Anschließend hatte sie den Webbrowser geschlossen und sich dreißig Minuten lang in der Toilette der Bibliothek übergeben.

Selina betrachtete das Geld auf dem Tisch und schluckte. Die gesunden Lebensmittel, die Maggie brauchte, waren nicht billig. Die tiefgefrorenen Mikrowellenmahlzeiten hatten sie für den Notfall. Abfallessen. Die frisch gekochte italienische Mahlzeit, die Maggie an diesem Abend gegessen hatte, war ein seltener Leckerbissen.

Und vielleicht eine Entschuldigung für den Kampf, für den Selina ihre Schwester allein gelassen hatte.

»Dein Gesicht.«

Die heiseren Worte ließen Selina den Kopf hochreißen. »Du sollst doch schlafen.«

Maggies braune Locken waren ziemlich wild, und eine Kissenfalte prangte auf ihrer zu schmalen, blassen Wange. Nur ihre grünen Augen – das einzige äußerliche Merkmal, das sie teilten, obwohl sie zwei verschiedene Väter hatten – waren klar. Wachsam. »Vergiss nicht, dir Eis auf die Hände zu legen. Wenn du das nicht tust, wirst du sie morgen nicht benutzen können.«

Selina schenkte ihrer Schwester ein schwaches Lächeln, bei dem ihr Gesicht nur noch mehr schmerzte, und gehorchte, indem sie die Erbsen von ihrem pochenden Gesicht nahm und sie auf ihre aufgeplatzten, geschwollenen Knöchel drückte. Zumindest war die Schwellung seit dem Ende des Kampfs vor einer Stunde schon etwas zurückgegangen.

Maggie ging langsam durch den Raum, und Selina versuchte, angesichts der gequälten Atmung und des leisen Räusperns ihrer Schwester nicht zusammenzuzucken. Die letzte Lungenentzündung hatte ihren Tribut gefordert und alle Farbe war aus ihren normalerweise so rosigen Wangen verschwunden. »Du solltest ins Krankenhaus gehen«, hauchte Maggie. »Oder mir erlauben, deine Wunden sauber zu machen.«

Selina ignorierte beide Vorschläge und fragte: »Wie fühlst du dich?«

Maggie zog das Bündel Geld zu sich heran, und ihre Augen weiteten sich, während sie die zerknitterten Zwanziger zählte. »Gut.«

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

Ein gespielt genervter Blick. »Ja. Und die von morgen auch.«

»Braves Mädchen.«

Maggie musterte sie, ihre grünen Augen viel zu wachsam, zu scharfsichtig. »Wir müssen morgen nach der Schule zum Arzt.«

»Ja, und?«

Maggie zählte die letzten Geldscheine und legte den Stapel sorgfältig in die kleine Schachtel mit der elektronischen Lebensmittelkarte. »Mom wird nicht da sein.«

Ebenso wenig wie Maggies Vater – wer immer das war. Selina bezweifelte, dass ihre Mutter es wusste. Selinas eigener Vater … sie wusste nur, was ihre Mutter während eines ihrer weitschweifigen Monologe unter Drogeneinfluss gesagt hatte: dass sie ihn über einen Freund auf einer Party kennengelernt habe. Mehr nicht. Nicht einmal einen Namen.

Selina verlagerte die tiefgefrorenen Erbsen von ihrer rechten Hand auf die linke. »Nein, sie wird nicht da sein. Aber ich.«

Maggie kratzte an einem unsichtbaren Fleck auf dem Tisch. »Das Vorsprechen für die Frühjahrsaufführung ist bald.«

»Wirst du vorsprechen?«

Ein kleines Achselzucken. »Ich wollte den Arzt fragen, ob ich kann.«

Ihre Schwester war so verantwortungsbewusst. »Welches Musical ist dieses Jahr an der Reihe?«

»Carousel.«

»Haben wir das schon mal gesehen?«

Ein Kopfschütteln, wippende Locken und ein strahlendes Lächeln.

Selina erwiderte das Lächeln. »Aber ich nehme an, wir werden es uns morgen Abend ansehen?« Freitagabend – Filmabend. Dank eines DVD-Players, den sie und die Leopardinnen von der Ladefläche eines Lkw genommen hatten, und der umfangreichen Filmabteilung der Bibliothek.

Maggie nickte. Broadway-Musicals waren Maggies nicht wirklich geheimer Traum und ihre Obsession von klein auf. Selina hatte keine Ahnung, woher das kam. Sie waren auf jeden Fall nie in der Lage gewesen, sich Eintrittskarten fürs Theater zu kaufen, aber Maggies Schule hatte jede Menge Exkursionen zu Aufführungen in Gotham City unternommen. Vielleicht hatte sie sie bei einem dieser Ausflüge aufgeschnappt, diese unsterbliche Liebe. Die nicht schwächer wurde, nicht einmal, als die Mukoviszidose ihre Lungen so grausam geschädigt hatte, dass es schwer für sie wurde zu singen, auf einer Bühne zu stehen und zu tanzen.

Vielleicht würde eine Lungentransplantation daran etwas ändern, aber sie stand ganz unten auf einer langen, langen Liste. Obwohl es mit Maggies Gesundheit mit jedem verstreichenden Monat weiter bergab ging, stieg sie in der Liste nicht auf. Und die Medikamente, die die Ärzte als Durchbruch gefeiert hatten, da sie manchen Mukoviszidose-Patienten zusätzliche Jahrzehnte schenkten … bei Maggie hatten sie nicht angeschlagen.

Aber Selina würde ihrer Schwester nichts von alledem sagen. Sie würde ihr niemals das Gefühl geben, ihr Spielraum sei begrenzt. Dass Maggie überhaupt bereit war vorzusprechen, schnürte Selina das Herz qualvoll zusammen.

»Du solltest ins Bett gehen«, sagte Selina zu ihrer Schwester und legte die tiefgefrorenen Erbsen beiseite.

»Du auch«, gab Maggie stur zurück.

Selina stieß ein leises, kehliges Lachen aus, bei dem ihr schmerzender Körper vor Qual protestierte. »Wir gehen zusammen ins Bett.« Sie zuckte zusammen, als sie aufstand, und legte die Erbsen zurück in die Tiefkühltruhe.

Sie hatte sich gerade wieder umgedreht, als sich schwache Arme vorsichtig um ihre Taille schlossen. Als wüsste Maggie, dass jetzt Blutergüsse auf ihren Rippen prangten. »Ich hab dich lieb, Selina«, sagte sie leise.

Selina küsste Maggie auf die unbändigen Locken und rieb ihrer Schwester den Rücken, auch wenn ihre Finger vor Schmerz aufheulten.

Doch er war es wert – dieser Schmerz, während sie ihre Schwester umarmte und der Kühlschrank gleichmäßig summte.

Er war es wert.

 

»Ich verstehe nicht, warum unsere Zuzahlung beim letzten Mal so viel niedriger war.«

Es kostete sie Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten und ihre Hände daran zu hindern, sich am Pult an der Krankenhauskasse zu Fäusten zu ballen.

Die ältere Frau in dem rosafarbenen, geblümten Kittel schaute kaum von ihrem Computer auf. »Ich kann Ihnen nur sagen, was der Computer mir sagt.« Sie zeigte mit einem langen, violett lackierten Fingernagel auf irgendetwas auf dem Bildschirm. »Und da steht, dass Sie heute fünfhundert zahlen müssen.«

Selina biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, und sah über die Schulter zu Maggie, die auf einem der Plastikstühle vor der weißen Wand wartete. Sie las ein Buch – aber ihre Augen flogen nicht über die Seite.

Selina sprach mit gesenkter Stimme, obwohl sie wusste, dass Maggie sich dann eben vorbeugen würde, um zu lauschen. »Letzten Monat waren es hundert.«

Der violette Fingernagel tippte auf den Bildschirm. »Dr. Tasker hat heute ein paar Tests gemacht. Die deckt Ihre Versicherung nicht ab.«

»Das hat mir niemand gesagt.« Selbst wenn jemand etwas gesagt hätte, Maggie brauchte diese Tests. Doch die Ergebnisse, die sie erhalten hatten … Selina schob den Gedanken beiseite, zusammen mit dem, was der Arzt erst vor ein paar Augenblicken gesagt hatte.

Die Frau schaute endlich lange genug von ihrem Computer auf, um Selina anzusehen. Die Schwellung in ihrem Gesicht war zurückgegangen, die blauen Flecke hatte sie geschickt mit Make-up verdeckt und unter der kunstvollen Anordnung ihres Vorhangs von dunklem Haar versteckt. Die blauen Augen der Frau verengten sich. »Sind Sie die Mutter oder der Vormund?«

Selina sagte nur: »Wir können diese Rechnung nicht zahlen.«

»Dann ist das etwas, das Sie mit Ihrer Versicherung klären müssen.«

Ja, aber Maggie würde weitere Tests wie die heutigen benötigen. Die nächsten standen in zwei Wochen an. Die dritten in einem Monat. Selina rechnete und versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. »Kann denn das Krankenhaus da nichts machen?«

Die Frau tippte drauflos, dass die Tastatur klapperte. »Das ist eine Frage für Ihre Versicherung.«

»Unsere Versicherung wird sagen, es sei eine Frage für Sie.«

Das Klappern auf der Tastatur hörte auf. »Wo ist Ihre Mutter?« Die Frau blickte an Selina vorbei, als würde sie ihre Mutter ein paar Schritte hinter ihr finden.

Selina fühlte sich halb versucht, der Frau zu sagen, dass sie doch einen Spaziergang durch eine Gasse im East End machen solle, da das der einzige Ort war, an dem ihre Mutter sein würde, tot oder lebendig. Stattdessen griff sie nach der Versicherungskarte, die auf der Theke liegen geblieben war, und erklärte tonlos: »Sie ist bei der Arbeit.«

Die Frau schien nicht überzeugt. Aber sie sagte: »Wir werden Ihnen die Rechnung nach Hause schicken.«

Selina machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern drehte sich um und griff nach dem schweren Rucksack ihrer Schwester. Sie warf ihn sich über die Schulter und bedeutete Maggie, ihr zu den Aufzügen zu folgen.

»Wir haben keine fünfhundert Dollar«, murmelte Maggie, während Selina fester als notwendig auf den Aufzugknopf einhämmerte.

Nein, zwischen den Lebensmitteln, der Miete und den heutigen Tests würde das Geld vom Kampf nicht weit reichen.

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, erwiderte Selina, während sie zusah, wie die Etagennummern eine nach der anderen aufleuchteten.

Maggie schlang sich die Arme um den Körper. Nicht gut – die Nachrichten waren keine guten gewesen.

Einmal mehr eröffnete sich Selina eine bedrückende Tunnelsicht. Die fünfhundert Dollar und die dummen Tests und dieser Arzt mit dem ausdruckslosen Gesicht, der erklärte: Es gibt keine Heilung für Mukoviszidose, aber lasst uns noch ein oder zwei andere Sachen versuchen.

Sie hätte beinahe gefragt: Bevor was passiert?

Während Maggie sich weiter an sich selbst festhielt und ihre plumpen, abgerundeten Finger – ihre Form ein weiteres Leck mich der Krankheit – fest genug in ihre dünnen Arme bohrte, dass Selina zusammenzuckte.

Selina löste eine Hand ihrer Schwester von ihrem Arm und flocht ihre Finger zwischen Maggies.

Während des ganzen Fußwegs nach Hause ließ keine von ihnen die Hand ihrer Schwester los.

 

Die Nachbarn gingen sich ernsthaft gegenseitig an die Gurgel.

Keine fünf Minuten nachdem Selina den Film eingelegt hatte, waren die Schreie und das Kreischen durch die Wand hinter ihnen gedrungen. Zusammengerollt auf der durchgesessenen, fleckigen Couch, die Selina gleichzeitig als Bett diente, hatte ihre Schwester sich an einem Ende eingemummelt und die Füße auf Selinas Schoß gelegt. Selina lauschte mit einem Ohr dem betrunkenen Streit, der sich nebenan abspielte, und versuchte gleichzeitig, sich auf das Musical im uralten Fernseher vor ihnen zu konzentrieren.

Carousel. Die Musik war schön, selbst wenn alle zu voreingenommen waren und zu viel lächelten und der Bursche ein total kontrollsüchtiger Loser und Depp war. Maggies Kopf nickte trotzdem im Takt mit.

Der Geruch von billigem Mac and Cheese hing in der Luft. Selina hatte angeboten, mit Maggie richtig essen zu gehen, aber Maggie hatte nur nach Hause gehen wollen – müde, hatte sie gesagt. Seit dem Krankenhaus war die ernste Miene bei ihr nicht wieder verschwunden. Und es war so frisch draußen, dass Selina nicht versucht hatte, sie zu überreden.

Nicht dass sie das Geld gehabt hätten. Aber nach der nicht besonders rosigen Prognose des Arztes, welchen Unterschied machten da schon dreißig Mäuse?

Selina betrachtete ihr Klapphandy auf dem Couchtisch, auf den sie die Füße gelegt hatte. Mika und die anderen Leopardinnen wussten, dass sie sie freitags nicht anrufen durften. Wussten, dass heute der einzige Abend war, an dem Selina nicht auftauchen würde, ganz gleich für welchen Job oder unter welchen Drohungen.

Aber wenn Mika in diesem Moment angerufen und gesagt hätte, dass Falcone einen weiteren Kampf veranstalten und richtiges Geld dafür zahlen würde, hätte sie angenommen. Sie würde auch drei Kämpfe hintereinander annehmen.

Aber – nein. Sie musste es klug anstellen. Wenn sie schwer verletzt wurde, würden die Sozialarbeiter vom Krankenhaus kommen und bei ihnen herumschnüffeln. Fragen, wo ihre Mutter war, und wahrscheinlich die Tattoos auf Selinas Armen entdecken. Tattoos, die sie das ganze Jahr über unter langen Ärmeln versteckte. Selbst in Maggies Gegenwart achtete sie darauf, dass sie sich im Badezimmer umzog und beim Händewaschen nie die Ärmel zu hoch krempelte.

Aber im Ring … präsentierte sie diese Tattoos ihren Gegnern. Sieh dir an, wie viele ich schon erledigt habe, knurrten sie jeden an, der sie sah. Du bist der Nächste.

Hinter ihnen schlug etwas gegen die Wand und ließ die beiden gerahmten Fotos zittern. Das größere war eine Aufnahme von ihr und Maggie vor zwei Jahren – der Rahmen geklaut und das Foto ein billiger Ausdruck aus dem Drucker der Schulbibliothek. Sie hatten an einem herrlichen Herbsttag im Park auf einer Bank gesessen, die Bäume um sie herum leuchtend wie Edelsteine, und Maggie hatte eine vorbeigehende Geschäftsfrau gebeten, sie mit ihrem Handy zu fotografieren. Die Qualität des Bildes war nicht umwerfend, aber das Strahlen auf Maggies Gesicht ließ sich trotzdem nicht übersehen.

Das zweite war ein Foto von Selina vor fünf Jahren, mitten in der Luft, bei einem perfekten Salto rückwärts auf dem Schwebebalken. Einer der vielen Gymnastikwettbewerbe, an denen sie teilgenommen – und gewonnen – hatte. Ihre Trainerin am Y hatte versucht, sie zu überreden, nach diesen ersten drei Jahren weiterzumachen, und behauptet, sie sei außerordentlich talentiert. Aber Maggies Krankheit verschlimmerte sich, ihre Mom war gerade abgehauen, und die Zeit und das Geld, die notwendig gewesen wären, um zu trainieren und bei Wettbewerben anzutreten … keine Option. Also hatte Selina aufgehört, in den Kurs zu gehen, hatte aufgehört, die Anrufe der Trainerin entgegenzunehmen. Auch wenn sie in ihren Kämpfen immer noch alles einsetzte, was sie dort gelernt hatte.

Und das Publikum liebte es. Vielleicht noch mehr als die Bullenpeitsche. Ihr Favorit: ein Flickflack kombiniert mit einem Salto – direkt auf die Schultern ihres Gegners. Wo die Schwerkraft und ein Zusammenpressen ihrer Beine um den Hals genügten, um einen Mann in die Knie zu zwingen.

Eine Abfolge von Flüchen schallte durch die Wohnung, und Maggie beugte sich vor, um die Fernbedienung vom Tisch zu nehmen und die Lautstärke höher zu stellen. »Das ist der große Hit«, erklärte sie ihrer Schwester, den Blick auf den Bildschirm geheftet. »Der berühmteste Song des Musicals.«

Der kontrollsüchtige Depp war tatsächlich in einen scheinbar endlosen Monolog verfallen.

»Er hat gerade herausgefunden, dass seine Frau schwanger ist, und flippt total aus.«

»Ich sehe es ja«, sagte Selina und zog die Augenbrauen hoch.

Maggie lächelte kopfschüttelnd. »Du hast den Nachbarn zugehört.«

Erwischt. Selina sah ihre Schwester entschuldigend an und konzentrierte sich wieder auf das Musical.

Nachdenken, grübeln und schwafeln über den Sohn, den er haben würde, absoluter Macho-Schwachsinn. »Sie führen das wirklich an deiner Schule auf?«

Maggie wedelte mit der Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Der Song veränderte sich, der Blödmann sinnierte jetzt darüber, wie es wäre, eine Tochter zu haben, noch mehr Macho-Schwachsinn und frauenfeindlicher Müll.

Selina richtete ihre Aufmerksamkeit auf Maggie, während die Musik sich veränderte und anschwoll. Die schönen grünen Augen ihrer Schwester waren groß und glänzten. »Jetzt kommt’s«, flüsterte sie.

Die Musik explodierte, und die Lippen ihrer Schwester bewegten sich, formten jedes einzelne Wort mit.

Formten die Worte nur mit den Lippen, weil ihre versagenden Lungen nicht genug Luft hatten, um sie zu singen, nachdem die letzte Infektion ihr jede Chance genommen hatte, wieder einen Ton zu halten.

Maggie sang lautlos mit, ohne ein einziges Wort auszulassen.

Selina schaute auf den Bildschirm. Auf das tosende Meer und den Mann, der jeden Ton herausschmetterte, jeden Traum, sein Kind zu behüten, zu kleiden und ihm etwas zu essen auf den Tisch zu stellen. Auf jede ihm mögliche Weise Geld zu erlangen, sei es durch Diebstahl oder ehrliche Arbeit. Die einzige andere Möglichkeit für ihn sei, bei dem Versuch sterben.

Und für einen Moment schien es, als blieben selbst die Nachbarn still, um es zu hören. Das ganze Haus. Das ganze East End.

Als Selina wieder ihre Schwester ansah, starrte Maggie sie mit geschlossenem Mund an. Mit Augen, in denen Tränen glänzten.

Es stand Begreifen ins Gesicht ihrer Schwester geschrieben und der Blick ihrer feuchten Augen ruhte auf den Blutergüssen in Selinas eigenem Gesicht …

Selina zwang sich, noch eine Minute sitzen zu bleiben. Zwei. Fünf. Zehn.

Maggie wandte sich wieder dem Film zu. Die Nachbarn fingen wieder an zu schreien und zu fluchen.

Dann stand Selina unauffällig auf und legte Maggies in eine Decke gehüllten Füße sanft auf dem Sofa ab, bevor sie ins Badezimmer tappte. Sie fragte sich, ob ihre Schwester sah, dass sie ihr Telefon mitnahm.

Selina schloss die Badezimmertür und drehte den Wasserhahn voll auf.

Es gelang ihr, zumindest den Deckel der Toilette zu schließen, bevor sie sich daraufsinken ließ, das Gesicht in beiden Händen, und heftig die Luft zwischen den Fingern einsog. Der Raum stürzte auf sie zu, sie bekam nicht schnell genug Luft, konnte nicht tief genug atmen …

Ihre Hand wanderte zu ihrem Brustkorb, als könne sie ihre Lungen irgendwie dazu zwingen, sich zu öffnen – ihre Lungen und Maggies zerstörte und versagende Lungen. Es gibt unzählige andere verzweifelte Patienten, die auf eine Lungentransplantation warten, hatte der Arzt heute Nachmittag gesagt. Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass das eine Option ist.

Es sei denn, man war reich genug, um sich einen besseren Platz auf der Liste zu erkaufen. Oder eine Lunge auf dem Schwarzmarkt.

Selina sog keuchend die Luft ein, und ihre Hände zitterten so heftig, dass sie sie auf die Knie sinken ließ und diese fest umklammerte. Sie kämpften für bestenfalls zwanzig Lebensjahre. Schlimmstenfalls …

Das Tempo, mit dem die Krankheit fortschreitet, und die Tatsache, dass die Medikamente bei Maggie nicht anschlagen, sind Grund zur Sorge, hatte der Arzt weitergesprochen, das Wort mehr an seine Schar von Assistenzärzten gerichtet als an sie.

Maggie hatte ihn nicht gefragt, ob sie bei dem Musical mitmachen könne. Ihre Schwester hatte es gewusst. Sie hatte gewusst, dass diese Sache, die sie glücklich und lebendig machte, die ihr einen wenn auch noch so kleinen Hoffnungsschimmer gab, ihr nicht offenstand. Es spielte keine Rolle, wie viele Kämpfe Selina für sie ausfocht. Wie viele Läden sie mit den Leopardinnen plünderte. Das Blut und die Prellungen und die angebrochenen Rippen konnten ihrer Schwester keine neue Lunge kaufen oder eine Heilung von dieser Krankheit oder eine Chance, auf der Schulbühne zu stehen und sich die Seele aus dem Leib zu singen.

Ein Schluchzen drohte bei jedem Atemzug aus ihr hervorzubrechen.

Selina schlug wieder die Hände vors Gesicht, als könne sie sie verbergen – die Tränen, die wie eine Flutwelle in ihr aufstiegen, eine Welle, die sie zurück- und zurück- und zurückdrängte.

Mit zitternden Händen nahm sie das Telefon vom schmalen Waschbeckenrand, und ihre Finger bebten so heftig, dass sie kaum die SMS an Mika tippen konnte: Ich brauche noch einen Kampf. Schnell.

Mika antwortete nur ein paar Minuten später: Wenn du Geld brauchst, kann ich dir helfen.

Verführerisch, aber das barg zu viele Komplikationen. Sie wäre nicht in der Lage, ihre Schulden bei Mika zu begleichen. Und obwohl sie ihrer Alpha vertraute, war das hier das East End. Alle brauchten Geld, und Mika würde vielleicht keine Skrupel haben, wenn sie es zurückforderte.

Kämpfe sind in Ordnung. Dann fügte sie nach einem Augenblick hinzu: Aber trotzdem danke.

Mikas Antwort kam sofort: Irgendetwas, worum ich mir Sorgen machen sollte?

Nicht weil sie Anteil nahm, sondern weil sie es wissen musste, wenn es die Leopardinnen in Gefahr brachte.

Bloß persönlicher Scheiß.

Sie war sich nicht sicher, ob die Leopardinnen von der Krankheit ihrer Schwester wussten. Sie hatte es ihnen nie erzählt, und Mika war nicht der Typ, der Fragen stellte.

Mika schrieb zurück: Bist du nach gestern Abend schon wieder so weit wiederhergestellt, um zu kämpfen?

Nein. Ja.

Selina stieß den Atem aus und ihre Tränen versiegten. Sie drehte den Wasserhahn zu und lauschte. Das Musical lief weiter – genau wie der Streit der Nachbarn.

Natürlich konnte sie das Geld auch stehlen. Das hatte sie in der Vergangenheit mit den Leopardinnen durchaus getan. Hatte sogar die Herausforderung genossen, die einige Einbrüche boten: Wie kam man ins Haus, wie schlich man sich am Wachschutz oder an der Alarmanlage vorbei, wie vermied man es, Spuren zu hinterlassen. Aber alleine … das hatte sie noch nicht gemacht. Sie würde nicht riskieren, im Gefängnis zu landen, solange die Kämpfe eine relativ sichere Option waren.

Mika schrieb nur: Ich frage Falcone.

Selina klappte ihr Handy zu und drückte auf die Toilettenspülung. Glücklicherweise hatten ihre Hände aufgehört zu zittern, als sie wieder ins Wohnzimmer kam, wo ihre Schwester noch immer in Decken gehüllt auf dem Sofa lag.

Maggie griff nach der Fernbedienung und schaltete den Film auf Pause. Dann betrachtete sie Selina mit Augen, denen nichts entging, nicht einmal das Handy, das Selina immer noch umklammerte. Leise fragte sie: »Kannst du nicht einfach um das Geld bitten?«

Selina wollte keine Vermutungen darüber anstellen, wie Maggie dahintergekommen war, und schob ihr Telefon zurück in ihre Gesäßtasche. »Nein.«

Falcone schickte sie und die Leopardinnen oft zu Leuten, die in seiner Schuld standen. Entweder um sie an das geschuldete Geld zu erinnern, oder um sie zu bestrafen, wenn die finale Warnung ignoriert worden war. Es war hässlich und schmutzig, und nur über ihre Leiche würde sie bei ihm Schulden machen.

»Aber …«

»Nein.«

Maggie öffnete erneut den Mund und grünes Feuer flackerte in ihren Augen, doch da pochte lautes Klopfen an der Tür.

Sie erstarrten. Nicht gut. Nicht um diese Zeit.

Ein weiteres Hämmern. »Polizei!«

Kapitel 2

 

 

Scheiße.

Selina hatte jeden möglichen Fluchtweg aus dieser Wohnung katalogisiert. Sie zog das Fenster am anderen Ende des Raums in Erwägung. Konnte ihre Schwester schnell genug die Feuerleiter hinunterlaufen, um zu entkommen?

Wenn nötig, würde sie Maggie tragen. Selina zuckte zusammen, als sie aufsprang und der immer noch vorhandene Schmerz sie durchfuhr.

Maggie warf die Decke von den Beinen, als es erneut an der Tür wummerte. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie.

Wenn es hierbei um die Leopardinnen ging …

»Wir suchen Maria Kyle«, sagte der Officer.

Selina stieß den Atem aus und Maggie tat das Gleiche. Gott sei Dank. Mit so etwas hatten sie es schon früher zu tun gehabt. Mehrfach.

Versteck dich, flüsterte Maggie. Die Cops würden sicherlich Fragen stellen, wenn sie ihre Blutergüsse sahen. Selina schüttelte den Kopf. Aber Maggie stand auf und deutete in stummem Befehl zum Schlafzimmer.

Wieder wurde an die Tür gehämmert.

Selina humpelte zum Spion und überzeugte sich davon, dass es tatsächlich zwei untersetzte GCPD-Officer waren, die dort standen, einer dunkelhaarig und der andere fast kahl und mit Schnurrbart. Erst dann verschwand sie in Richtung des Wandkleiderschranks im Schlafzimmer.

Er war in der Vergangenheit ein verlässliches Versteck gewesen, weil er tief genug nach hinten ging, um sie zu verstecken. Oder Maggie dort unterzubringen. Selina schob sich gerade durch die dicht an dicht hängenden Kleider, als Maggie unter dem Klicken der Schlösser die Wohnungstür öffnete.

Selina spitzte die Ohren und hörte ihre Schwester leise – der Inbegriff schläfriger Verwirrung – sagen: »Meine Mom ist heute Abend nicht nach Hause gekommen.«

Einer der Cops fragte: »Dürfen wir reinkommen?«

»Ich darf keine Fremden hereinlassen«, antwortete ihre Schwester. »Nicht einmal Cops.«

Eine Pause. Dann erklang eine Frauenstimme: »Und wie sieht es mit Sozialarbeitern aus, Maggie?«

Selina blieb das Herz stehen.

Da war keine Frau draußen gewesen, als sie nachgeschaut hatte. Erst recht niemand vom Jugendamt …

Maggie stammelte: »Warum? M-meine Mutter ist nicht da.«

»Das wissen wir«, erwiderte die Frau ruhig, aber keineswegs sanft. »Sie ist auf der Wache.«

Durch die klappernden Kleiderbügel kämpfte Selina sich aus dem Schrank, und der Schmerz raste durch ihren Körper, als sie über ordentlich gefaltete Kleiderstapel stieg, der Raum jetzt ein Minenfeld, das sie daran hinderte, in den Flur zu gelangen.

Sie stolperte ins Wohnzimmer, wo Maggie vor der offenen Tür stand, zusammen mit den beiden riesigen Cops und einer kleinen, blonden Frau in einem schlecht sitzenden Kostüm. Alle sahen sie an, und die Augen der Cops verengten sich, als sie die Blutergüsse bemerkten. Die Frau verzog missbilligend das Gesicht.

»Gut. Ich bin froh, dass du auch hier bist« war alles, was die Sozialarbeiterin sagte.

Maggie wich zu Selina zurück. Die Polizisten und die Sozialarbeiterin drängten in die Wohnung und schlossen die Tür hinter sich. Selina konnte sich denken, dass die Nachbarn wahrscheinlich versuchten, an der Wand zu lauschen, als die Sozialarbeiterin weitersprach. »Wir haben heute Abend eure Mom aufgegriffen. Sie ist in keiner guten Verfassung.« Ein Blick durch die Wohnung. »Aber das wisst ihr sicher.«

»Ja«, bestätigte Selina ruhig.

»Du bist auch in keiner guten Verfassung«, fügte die Frau hinzu.

»Mir geht es gut. Ich bin nur gestern die Treppe hinuntergefallen.«

»Muss ein ziemlicher Sturz gewesen sein«, warf einer der Cops ein und verschränkte die dicken Arme vor der Brust. Eine Pistole, ein Gummiknüppel und ein Taser hingen an seinem schweren Gürtel.

Selina sagte: »Wir können die Kaution nicht bezahlen.«

Die Sozialarbeiterin hatte den Nerv, leise zu lachen. »Deswegen sind wir nicht hier.« Ein Blick wanderte zwischen ihr und Maggie hin und her. »Wir sind hier, um euch beide mitzunehmen.«

»Maggie ist unschuldig«, sagte Selina und schob ihre Schwester hinter sich.

»Und was ist mit dir?«, fragte der zweite Cop und zog die Augenbrauen in seinem fleischigen Gesicht hoch.

Selina ignorierte ihn und erwiderte den Blick der Sozialarbeiterin. In der Schachtel, die unter der Küchenspüle befestigt war, hatten sie einen Riesen versteckt. Wenn sie bestochen werden wollten …

»Keine von euch beiden ist in Schwierigkeiten, Selina Kyle«, erklärte die Sozialarbeiterin, die Verkörperung einer bürokratischen, gesetzestreuen Arbeitsbiene. »Aber da ihr beide noch minderjährig seid und allein hier wohnt« – ein Blick durch die Wohnung sagte, dass die Frau sich vollauf darüber im Klaren war, dass sie schon seit Jahren auf sich gestellt waren –, »müssen wir eine bessere Unterbringung für euch beide finden. Im Moment warten zwei sehr schöne Plätze in Pflegefamilien auf euch.«

Familien. Getrennte Familien.

Der Raum, die Geräusche, ihr Körper … das alles nahm sie plötzlich wie aus der Ferne wahr.

»Das hier ist unser Zuhause«, murmelte Maggie leise. »Es geht uns gut hier.«

»Der Staat sieht das anders«, warf einer der Cops ein, dessen sandfarbener Schnurrbart sich vor dem Hintergrund seiner teigigen Haut gelb abhob. »Zwei kleine Mädchen, die allein in diesem Gebäude leben?« Der Mann ging zur Küche und fing an, Schränke zu öffnen.

Selinas Herz hämmerte bei jedem Knarren und Ächzen des Holzes. Und ihre Hände zitterten, als er sich bückte, den Schrank unter der Spüle öffnete und hineinspähte. Klebeband riss, und er grinste, als er sich aufrichtete, die Schachtel mit dem Geld in der Hand.

Er öffnete sie und lächelte, als er das Geld darin sah. Nahm das Bündel Scheine heraus und fächerte sie auf. Sein Partner stieß einen leisen, anerkennenden Pfiff aus. »Hast du ein wenig nebenbei gearbeitet?«, fragte er Selina.

So wie er sie musterte, wusste sie, an welche Art von Arbeit er dabei dachte. »Nein« war alles, was sie antwortete.

Er hatte genau gewusst, wo diese Schachtel versteckt war. Möglicherweise hatte er eigentlich Drogen erwartet. Sie hätte ein besseres Versteck suchen sollen, einen klügeren Platz für das Geld …

Die Sozialarbeiterin sagte: »Du bist aktenkundig.«

»Das war vor drei Jahren.« Selinas Stimme klang überraschend ruhig.

»Du hast bereits zwei Eintragungen«, fuhr die Sozialarbeiterin fort. »Kein Richter wird euch hierbleiben lassen.« Sie zeigte auf Selinas und Maggies Schlafzimmer. »Geht und packt eure Taschen. Nehmt genug Sachen für ein oder zwei Wochen mit.«

Maggie schüttelte den Kopf. »Ich gehe hier nicht weg.«

Der schnurrbärtige Cop lächelte Selina an und steckte sich das Geld in die Tasche. Ihr Magen rutschte ihr in die Kniekehlen und ihr Puls hämmerte durch jeden geschundenen Zentimeter ihres Körpers.

Zwei korrupte Cops befanden sich in ihrer Wohnung. Und eine mitleidlose Sozialarbeiterin. Nicht gut. Nicht sicher.

»Maggie«, murmelte sie an ihre Schwester gewandt, »geh deine Sachen packen.«

Ihre Schwester weigerte sich, sich zu bewegen.

Selina drehte sich zu der Frau um, die jetzt ihre schlanken Arme vor der Brust verschränkte. »Meine Schwester hat ein ernstes gesundheitliches Problem. Eine Wohngruppe in irgendeinem verdreckten Haus ist nicht das, was sie braucht.«

»Alle Heime in unserem System werden ständig auf Sauberkeit und Sicherheit überprüft. Jedes Heim, in das sie kommt, wird ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.«

Bullshit. Sie hatte von Mädchen bei den Leopardinnen gehört, dass viele dieser Heime bestenfalls Kakerlaken-Paläste waren.

»Und was Maggies spezielle Bedürfnisse angeht«, fuhr die Frau fort, die langsam die Geduld verlor und deren Worte jetzt abgehackt klangen, »so scheint es mir auch nicht besonders sicher zu sein, dass sie bei einer Schwester wohnt, die ein Vorstrafenregister hat.«

Maggie blaffte: »Sie wissen gar nichts.«

Selina warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu. »Geh und pack deine Sachen.«

Maggie schüttelte den Kopf und ihre braunen Locken hüpften auf und ab. »Ich gehe nicht.«

»Es ist fast ein Uhr morgens«, versuchte die Sozialarbeiterin sie zu überreden. »Lass uns dich an einem sicheren Ort unterbringen.«

»Ich bin hier sicher«, entgegnete Maggie mit brechender Stimme.

Als sie das hörte, als sie hörte, wie Maggies Stimme vor Angst brach, begann Selinas Blut zu kochen.

Bleib ruhig. Konzentrier dich. Selina versuchte es noch einmal. »Wenn es so spät ist, warum schlafen wir dann nicht hier? Sie können uns doch auch morgen früh abholen.«

»Und dann feststellen, dass ihr die Stadt verlassen habt?«, fragte der dunkelhaarige Cop, der ihr Geld nicht eingesteckt hatte. »Keine Chance. Holt eure Sachen. Sofort.«

Keine Optionen. Keine Wahl. Keine Möglichkeit, eine Lösung für dieses Problem zu finden.

Selina legte eine Hand auf Maggies zu dünnen Arm. Medikamente. Maggie musste all ihre Medikamente mitnehmen …

Die Berührung schien in ihrer Schwester irgendetwas zerreißen zu lassen.

Maggie rannte los.

Nicht in ihr Schlafzimmer, sondern zur Wohnungstür.

Für einen Moment schien die Welt sich langsamer zu drehen.

Selina sah nur, wie ihre Schwester, so zart und klein und mit hinter ihr herflatterndem Haar an den Cops vorbeirannte. Sie sah nur noch den am nächsten stehenden Cop, den schnurrbärtigen mit ihrem Geld in der Tasche, auf Maggie zuspringen und mit seiner riesigen Pranke nach ihrem zarten Arm greifen.

Und als diese Hand sich um Maggies Arm schloss, als Selina hörte, wie sie rasselnd einatmete, vor Schmerz wegen der Festigkeit dieses Griffs, und wie dieser Laut die Wohnung erfüllte, die ganze Welt …

Selina explodierte.

Der dunkelhaarige Cop ging als Erster zu Boden. Ein Kinnhaken, der seinen Kopf nach oben brachte, dann ein Ellbogen gegen die Nase, um ihn hinschlagen zu lassen. Er war bewusstlos, bevor er auf dem Teppich aufschlug.

Die Sozialarbeiterin kreischte, aber Selina hatte sich bereits auf den schnurrbärtigen Cop gestürzt, der jetzt zu ihr herumfuhr, seine fleischige Hand immer noch um Maggies Arm geschlossen.

Selina rammte direkt in ihn hinein. Er ließ Maggie sofort los und versuchte, Selina mit beiden Händen wegzustoßen, sodass sie gemeinsam so heftig gegen die Wand krachten, dass der Putz Risse bekam.

»Du kleines …« Seine gezischten Worte brachen ab, als Selina sich aus seinem Griff wand, seinen nach ihr packenden Händen auswich und ihn mit der Faust im Gesicht erwischte.

Ihr Körper sang vor Qual, Wunden platzten auf, Blutergüsse brannten.

»Lauf«, brachte sie an Maggie gewandt heraus.

Aber ihre Schwester blieb wie erstarrt stehen. Die Augen weit aufgerissen, während Entsetzen alle Farbe aus ihrem Gesicht vertrieb.

Schmale, weiße Händen legten sich erneut um Maggies Arm. Die Sozialarbeiterin. »Sie geht nirgendwohin.«

Und diese Hände, diese Hände und das hassenswerte Gesicht …

Selina versetzte der Frau einen heftigen Stoß.

Heftig genug, dass die Sozialarbeiterin gegen den Tisch flog und Stühle umkippten.

Maggie schrie, und Selina wirbelte herum, die Fäuste erhoben, die Knie gebeugt.

Zu langsam. Der schnurrbärtige Cop hatte sich erhoben. Sie hatte keine Zeit mehr, ihm auszuweichen, bevor schmerzende Blitze durch sie hindurchschossen. Bevor er sie höhnisch aus seinem blutigen Gesicht angrinste und ihr seinen Taser an den Hals drückte.

Höllenqualen übermannten sie … dann schien die Welt zu kippen.

Dann nichts mehr.

 

Das Summen der Neonröhren weckte sie.

Ihre Zunge lag trocken und schwer in ihrem Mund, ihr Kopf ein hämmerndes Durcheinander, ihr Körper …

Sie saß auf einem Stuhl. Ihre Hände an den Metalltisch vor ihr gekettet.

Ein Raum auf dem Polizeirevier.

Leise stöhnend sah Selina sich um. Der Raum war winzig. Kein Einwegspiegel. Keine Lautsprecher oder Kameras oder sonst irgendetwas.

Sie zog an den Handschellen, die am Tisch festgemacht waren, um herauszufinden, ob sie abgeschlossen waren.

Waren sie.

Maggie …

Die Metalltür öffnete sich zischend und Selina wappnete sich.

Es war nicht die blonde Sozialarbeiterin in ihrem billigen Kostüm. Oder der Cop, der sie ein wenig zu lange angesehen hatte.

Eine hochgewachsene, schlanke Frau mit pechschwarzem Haar und Haut wie goldener Honig trat ein.

Selina hatte genug von den Geschäftsleuten gesehen, mit denen Falcone sich gern umgab, um zu wissen, dass der weiße Hosenanzug von bester Qualität war. Und durch ihre Arbeit mit Mika wusste sie, dass der schlichte, elegante Goldschmuck an ihrem Hals und an ihren Ohren echt und teuer war. Die manikürten Nägel, die seidige Welle der modisch geschnittenen Haare, der rot geschminkte Mund – das alles waren Zeichen, die Geld schrien.

Das hier war keine Sozialarbeiterin.

Ihre dunkelroten Fingernägel klopften auf eine dicke Akte in ihren Händen, als sie sich dem Tisch und dem leeren Stuhl davor näherte. Selinas Strafakte.

Nicht gut.

»Wo ist Maggie?« Die Worte kamen leise und heiser heraus. Wasser – sie brauchte etwas Wasser. Und Aspirin.

»Mein Name ist Talia.«

»Wo. Ist. Maggie?«

Wegen der Taser-Behandlung, von der immer noch Schmerzen in ihren Hals und ihre Wirbelsäule abstrahlten, kostete es sie ein wenig Anstrengung, den Kopf aufrecht zu halten.

»Dein Name ist Selina Kyle und du bist siebzehn Jahre alt. Drei Wochen von deinem achtzehnten Geburtstag entfernt.« Ein Zungenschnalzen, als die Frau sich auf den Metallstuhl auf der anderen Seite des Tisches schob, die dickleibige Akte öffnete und anfing, darin zu blättern. Der Tisch war zu lang, als dass Selina hätte sehen können, was die Frau da las. »Für einen so jungen Menschen hast du ja schon Beeindruckendes geleistet.« Blätter, blätter, raschel. »Illegales Glücksspiel, tätlicher Angriff, Raub.«

Scham und Stolz rangen in ihr miteinander. Scham wegen der Tatsache, dass, wenn Maggie das jemals hörte, die ungeschönte Wahrheit ihrer Verbrechen … Selina wusste, dass sie den Blick nicht ertragen könnte, den sie auf dem Gesicht ihrer Schwester sehen würde. Stolz auf die Tatsache, dass sie das alles getan hatte, dass sie, so gut es ihr möglich war, überlebt und ihrer Schwester gegeben hatte, was sie konnte.

Aber es gelang Selina, ihre Stimme kühl zu halten, gelangweilt, als sie antwortete: »Wegen der letzten beiden bin ich nie angeklagt worden.«

»Nein, aber die Anzeigen stehen hier drin«, konterte Talia und klopfte mit einem roten Fingernagel auf das Papier. »Wessen man dich binnen weniger Tage anklagen wird, ist gefährliche Körperverletzung zweier Polizeibeamter und einer Staatsangestellten.«

Selina starrte die Frau unter heruntergezogenen Augenbrauen an. Es gab keinen Weg aus diesem Raum – diesem Polizeirevier. Und selbst wenn sie es schaffte, müsste sie immer noch Maggie suchen. Und wo Maggie war, würden die Cops sofort nach ihr suchen.

Talia lächelte leicht und offenbarte zu weiße Zähne. »Hast du diese Blutergüsse von der Polizei?«

Selina antwortete nicht.

Talia blätterte erneut in der Akte. Sie schien nach irgendetwas zu suchen. »Oder hast du diese Blutergüsse und aufgeplatzten Knöchel von den Kämpfen, die du für Carmine Falcone ausfichtst?«

Schweigen. Leopardinnen redeten nicht. Selina hatte bei den ersten beiden Besuchen hier nicht geredet. Sie würde es auch jetzt nicht tun.

»Weißt du, was es in Gotham City bedeutet, drei Wochen vor seinem achtzehnten Geburtstag zu stehen?« Talia beugte sich vor und stützte die Arme auf den Metalltisch. In ihren Worten schwang ein schwacher Akzent mit, fast wie ein Schnurren.

»Ich darf Lotto spielen?«

Wieder dieser Anflug eines Lächelns. »Es bedeutet, dass du dich glücklich schätzen kannst, wenn der Richter dich als Jugendliche verurteilt. Es ist deine dritte Strafanzeige. Was auch geschieht, du kannst mit Gitterstäben rechnen. Die Frage ist, ob es das Kindergefängnis sein wird oder der Klub der großen Mädchen.«

»Wo. Ist. Maggie?«

Die Frage war ein Brüllen in ihrem Blut – eine schreiende, um sich schlagende Forderung.

Talia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schob eine von einer Büroklammer zusammengehaltene Akte zu Selina hinüber. »Deine Schwester befindet sich in einer Wohngruppe. In der Bowery im East End.«

Oh Gott. Wenn ihre eigene Wohnung Müll war, dann war die Bowery die ganze Müllkippe. Die Gangs in diesem Gebiet … nicht einmal Falcone legte sich mit denen an.

Selina drückte ihre gefesselten Hände auf die Akte, die Talia ihr hingeschoben hatte, obenauf das Foto von einem schmuddeligen, beengten Zimmer. Maggies neuem Zimmer. Sie drehte das Foto aufs Gesicht, die Finger gekrümmt.

»Gott allein weiß, wer diese Wohngruppe betreibt«, überlegte Talia laut, während sie durch Selinas restliche Akte blätterte.

»Versuchen Sie, mich sauer zu machen, damit man meinem Vorstrafenregister noch tätlichen Angriff auf ein erstklassiges Arschloch hinzufügen kann?«

Die Frage war heraus, leise und knurrend, bevor Selina darüber nachdenken konnte.

Talia lachte hell und klingend. »Denkst du, das könntest du? Mit Handschellen?«

Zur Antwort ertönte ein leises Klicken.

Selina drehte ihr freies Handgelenk und ließ die aufgebogene Büroklammer auf den Metalltisch fallen. Ein Taschenspielertrick – das Foto von Maggies Wohngruppe umzudrehen, zur Ablenkung, während sie sich die Büroklammer genommen und dann mit deren Hilfe vorsichtig stochernd die Handschellen geöffnet hatte. Sie hatte sich vor einigen Jahren welche zum Üben gekauft, um zu lernen, wie der Schließmechanismus funktionierte. Für genau so eine Situation.

Talia lächelte strahlend und stieß ein zufriedenes Summen aus. »Kluges Mädchen.« Sie deutete ruckartig mit dem Kopf auf Selinas freie Hand. »Ich schlage vor, du machst sie wieder dran. Du weißt, wie angespannt die Polizei in solchen Dingen sein kann.«

Das tat sie. Und sie wusste auch, dass sie, selbst wenn sie die andere Handschelle aufbekam und das Gesicht dieser Frau zu Brei prügelte, trotzdem nicht aus diesem Raum oder dem Polizeirevier herauskam.

Selina ließ die Handschelle um ihr Handgelenk wieder zuspringen, ließ sie aber locker genug, dass sie sich zur Not erneut befreien konnte.

Talia beobachtete jede Bewegung, den Kopf schräg gelegt, während ihr das dunkle Haar ins Gesicht fiel. »Ich bin hier, um dir einen Handel anzubieten, Selina Kyle.«

Selina wartete.

Talia schloss ihre Akte. »Ich betreibe eine Berufsvorbereitungsschule für junge Frauen wie dich. Die körperlich talentiert sind, ja.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Handschellen und die Blutergüsse auf Selinas Gesicht. »Aber vor allem klug.« Sie legte eine Hand auf die Akte. »Ich habe deine ganzen Zeugnisse mit den Zensuren. Deine Prüfungsergebnisse. Wissen deine kleinen Kätzchen-Freundinnen, dass du zu den Besten deiner Klasse gehörst und dass du alle landesweiten Prüfungen mit den besten Ergebnissen abgeschlossen hast?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Sie hatte dafür gesorgt, dass die Leopardinnen niemals davon erfuhren. Weitere Talente, als gut im Ring zu sein und mit der Peitsche umgehen zu können, hatte sie sich nie anmerken lassen. Selina beugte sich ein wenig vor. »Mit Einser-Prüfungen gewinnt man keine Kämpfe.«

Erneutes Lachen, diesmal tief und sexy. »Weißt du, wenn deine ständigen Fehlzeiten es dir nicht unmöglich gemacht hätten, dieses Jahr deinen Abschluss zu machen, hättest du dir dein Stipendium vielleicht sogar aussuchen können.«

College war keine Option. Nicht solange sie sich um Maggie kümmern musste.

»Aber diese Schule, die ich leite«, sagte Talia und zeichnete mit einem Fingernagel die Oberfläche der Akte nach. Einem Fingernagel wie eine lange, rote Kralle. »Es wäre ein Neuanfang. Und würde besser zu dir passen als der Jugendknast. Oder das Gefängnis.«

Mit jeder verstreichenden Minute, die sie hier drinnen verbrachte, atmete Maggie in der widerwärtigen Wohngruppe weiter Schmutz und Dreck ein.

»Bevor du fragst: Der Haken daran ist, dass meine Schule sich in den Dolomiten in Italien befindet. Und deine Schwester kann nicht mitkommen.«

Selina blinzelte und verarbeitete, was die Frau gesagt hatte. Eine Schule in Italien. Ohne Maggie.

»Wenn du mich begleitest«, fuhr Talia fort, »kann ich dafür sorgen, dass diese Akte« – sie klopfte mit der Hand auf das Papier – »verschwindet. Für immer.«

Selina musterte die Akte und dann Talias schönes Gesicht. Solche Angebote kamen nicht ohne gewichtige Bedingungen.

»Meine Akte ist mir scheißegal«, antwortete Selina. »Ich will, dass Maggie aus diesem Haus rauskommt.«

Talia blinzelte, das einzige Zeichen von Überraschung.

»Ich will, dass meine Schwester in einer Pflegefamilie untergebracht wird. Bei guten Menschen, die bereit sind, sie zu adoptieren. Irgendwo in einem angenehmen Vorort. Keine Gangs, keine Gewalt, keine Drogen.«

Schweigen.

Selina fügte leise hinzu: »Und ich will, dass Sie dafür sorgen, dass meine Mutter Maggie nie wieder in die Finger bekommt.«