Chacruna 05 - Michael Hug - E-Book

Chacruna 05 E-Book

Michael Hug

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Beschreibung

Das Bewusstsein ist das stimmige Ergebnis einer Myriade von Gedanken. Es fällt aufgrund gerade jetzt herrschender Bedingungen Entscheidungen von glasklarer und knallharter Effizienz. Es bezieht weder die Zukunft noch die Vergangenheit mit ein. Und vor allem berücksichtigt es keine Emotionen - weder Angst noch Sympathie. Das ist die Aufgabe des Unbewusstseins. Der Autor führt den Protagonisten Harri «Gipfel» Held auf eine Bergtour und lässt ihn dabei erst abstürzen, dann halb erfrieren. Der Held erlebt dabei traumatische Erfahrungen, Illusionen und Flashes. Michael Hugs Roman ist auch eine amüsante Jeremiade. Kritisch, sarkastisch und zuweilen zynisch klagt der Autor gegen Auswüchse der Gesellschaft, zerlegt minuziös zeitgenössische Charaktere und pfeift auf Schönredner und Maulaffen.

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1. Auflage November 2022

Copyright 2007 - 2022

verlag grippedbäg & Michael Hug

Degersheim, Schweiz

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, photomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisem Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

Die Schweizerische Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation.

ISBN: 978-3-033-09401-7

verlag grippedbäg

Korrektorat: Olivia M. Hug

Cover & Fotos: Michael Hug

Chacruna 05

IMAGINARIUM

Ein Alpstein Psycho Drama

Michael Hug

2022

Klappentext

Das Bewusstsein ist das stimmige Ergebnis einer Myriade von Gedanken. Es fällt aufgrund gerade jetzt herrschender Bedingungen Entscheidungen von glasklarer und knallharter Effizienz. Es bezieht weder die Zukunft noch die Vergangenheit mit ein. Und vor allem berücksichtigt es keine Emotionen - weder Angst noch Sympathie. Das ist die Aufgabe des Unbewusstseins.

Michael Hugs Roman ist eine amüsante Jeremiade auf das Leben. Kritisch, sarkastisch und zuweilen zynisch klagt der Autor gegen Auswüchse der Gesellschaft, zerlegt minuziös zeitgenössische Charaktere und pfeift auf Schönredner und Maulaffen.

Prolog

Gipfel Held geht durch ein Leben, von dem er glaubt, dass es seines ist. So wie wir alle, ist er er überzeugt, dass er bewusst lebt. Mitten in diesem Leben erfährt er durch äussere Umstände Bewusstseinsstörungen, Flashes, Einbildungen, Koma- und Nahtoderfahrungen. Diese Grenzerlebnisse zeigen ihm auf, dass sein Leben nur ein Traum ist. Ein Traum, den er unbewusst träumt, eine von seinem unfreien Unbewusstsein vorgespielte Illusion. Gipfel, der unerschütterliche Realist, wacht zwar aus diesen ungewollten Phasen der Einbildung auf, erkennt aber nicht, dass ihn seine Unfreiheit an das von ihm geplante und damit erträumte Leben bindet. Also lebt er weiter wie bisher.

Dieser Traum ist die Einbildung des Individuums, Schöpfer und Schöpferin eines bis in alle Ecken geplanten, sogenannten freien Lebens zu sein. Der wahre Traum aber ist die Illusion, zu leben, so wie Edgar Allen Poe (1809 - 1849) einst fragte:

Ist alles, was wir sehen oder scheinen,

nicht nur ein Traum innerhalb eines Traumes?

Weder das unbewusst geträumte noch das scheinbar bewusst gelebte Leben sind das Leben selbst. Und nichts kann uns Träumende aus diesem Traum befreien, auch die Hoffnung an das Wahrwerden der Träume nicht, solange wir uns einbilden, frei zu sein und dabei die selbst gebauten Mauern um uns herum nicht sehen. Nur vielleicht werden wir aus unserem Traum aufwachen, aber damit ist noch nichts geändert.

Denn wirklich frei zu sein ist auch nicht gerade einfach.

Wenn wir wüssten wie frei wir sein könnten,wir würden vächlopfe (erschrecken).

Noldi Alder

Eines Tages wird man zugeben müssen, dass das,was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.

Salvador Dali

Alpaufzug

Im Leben

Eine Alphütte. Eine Sitzbank davor. Gipfel setzte sich, atmete schwer. Er war jetzt gut eineinhalb Stunden gegangen. Ohne Pause, nur der Zwischenfall gerade eben stoppte ihn für fünf Minuten. Er schwitzte. Der Schweiss drang unterhalb der verfetteten Brustmuskeln durch sein T-Shirt und zeichnete ein nasses «T» in den Stoff.

ahsoo, darum heisst das ding t-shirt…operdelli...

Er war wie immer viel zu schnell gegangen, ein Gehtempo, bei dem er gehörig ins Schnaufen kam, ein stures Schrittintervall, stetig, raumgreifend, dynamisch, trotzig, unbewusst. Kräftezehrend für die, die Gipfel ab und zu begleiteten. Kräftezehrend auch für ihn, aber er nahm es erst wahr, wenn ihm der Atem ausging und der Herzschlag ins Gehirn hämmerte. Dann spürte er, wie die linke Hüfte schmerzte, was oft vorkam, wenn das Wetter umschlug, er sich aber nicht erklären konnte, war doch sein linkes wie auch sein rechtes Gelenk aus Titan. Resultat einer fortgeschrittenen Hüftkopfnekrose. Beidseits. Vor zwei Jahren hatte man ihm die rechte Hüftgelenk ersetzt, vierzehn Monate früher das linke. Zwei perfekte Operationen, sagte er sich immer wieder. Es blieben nicht die geringsten Probleme, da hatte er schon einiges gehört. Nur wenn das Wetter umschlug, von Föhn auf Westwind, dann wurde es in der linken Hüfte heftig. Rechts nie.

wie kann dieses titan schmerzen…und warum nur das linke…opferdelli...

Gipfel wählte dieses Tempo nicht absichtlich, er achtete überhaupt nicht auf sein Tempo, er ging einfach. Es ging mit ihm. Sein Bewegungsapparat spulte einer Maschine gleich vollautomatisch gesteuert von einem Backgroundprogramm im Kopf ungezählte Schritte ab, und gleich daneben, im Bewusstsein, lief die Gedankenwälz- und -knetmaschine als ein zweites Programm, vom ersten entkoppelt, völlig unbeeinflusst und ungehindert. Es dachte in ihm. Wie ein Film ohne Pause. Wie zwei Filme. Einer projizierte schwitzend, mitunter keuchend, die Realität auf die Weltleinwand, der andere imaginierte zügellos, aber nicht ungeordnet, Gedankenbilder auf die Innenseite von Gipfels Hirn.

opferdelli, war echt heftig jetzt grad...

Der Mann liess sich also gehen und seinem Denken freien Lauf. Er dachte das, was es grad zu denken gab. Alltägliches. Ärgerliches. Erfreuliches. Es dachte über seine Arbeit nach und über die Menschen, die ihm dabei begegneten. Über die, die ihn beeindruckten. Die aus Überzeugung, aus Lust oder aus undefinierbarem inneren Antrieb eine Idee verfolgten und ihre kleine, winzige aber für sie so bedeutende Welt selbst formten. Die jeden Tag, ja vielleicht nur fast jeden Tag, aber doch oft und unablässig dieser Idee nachlebten. Schrittchen für Schrittchen, Schritt für Schritt. Mit Zähigkeit, Unbeirrbarkeit und immer wieder von irgendwoher geschöpfter Energie diese eine Idee und das, was damit zusammenhing, zu verwirklichen trachteten. Diese Menschen faszinierten Gipfel. Einfache, fröhliche, offene Menschen, die einen Weg suchten, etwas ganz Bestimmtes zu schaffen, und dabei sich selbst verwirklichten, ohne es zu wissen.

Er dachte auch an die Resignierten, Gebeugten und Verzagten, die gehorchten wie Automaten und nicht weiter als bis zum Rand ihres mit fadem Zörigeschnetzeltem gefüllten Tellers sehen wollten. Die Zugekitteten, die schon lange abgeschlossen hatten, es aber nicht wahrhaben wollten und vielleicht gar nie richtig erwacht waren, um es wahrhaben zu können. Die grauen Mäuse, Duckmäuser, Lästermäuler, denen einfach nichts richtig gemacht werden konnte. Die im kleinen Kreise maulten, aber im grossen niemals wagten, zwei ganze Sätze hintereinander ohne Stottern auszusprechen.

Und dann die dritte Sorte, die in Gipfels Welt eindeutig in der Überzahl war, die vielen Dummköpfe, Besessenen und Zugenagelten, die das Brett vor ihrem Kopf um keinen Preis hergeben wollten, weil es das Letzte war, das sie noch als ihr Eigentum betrachteten. Die, ginge es nach ihnen, am liebsten jedes einzelne ihrer Arbeitsjahre in Stein gemeisselt und hochgehalten, jeden nichtsnützigen, hinterhältigen und schmarotzenden Ausländer in seinem eigenen Land lebendig und ewig angekettet und jedes richtige, hellhäutige Schweizer Schulkind schon in der ersten Kindergartenklasse jeden Morgen die Nationalhymne singen sähen. Trittst im Morgenrot daher.

Er dachte an diese Eingefahrenen und Einfältigen, diese wahrhaftig Doofen und Drögen, die wirklich noch glaubten, die Welt funktioniere nach ganz einfachen Regeln. Ihren Regeln. Die ihnen ankonditionierten Regeln, die sie antizipierten, ohne darüber nachzudenken, ob sie Sinn machten. Als ob jedes Morgenrot rot wäre und jeder siebenbuchstabige Imperativ sechs Konsonanten hat, davon vier «t». Trittst. Aber das checkt der Goof im Kindergarten ja eh nicht, knurrte Gipfel, nur die Polen können das. Gdansk. Wrzeszcz. Oder Wałbrzych.

Wenn Gipfel sich über Menschen ärgerte, gingen seine Beine noch schneller, und die Folge war eine Frage der Zeit, dass er sich eher ausruhen musste. Er wusste, so zu denken war extrem gastritisfördernd, mit diesem Magen, der ohnehin immer irgendwie unpässlich war, und den zu überfordern er sich niemals scheute, im Gegenteil, er hatte längst eingesehen, dass er nur sich selbst schadete, wenn er solche Gedanken wälzte und dass ihn diese Idioten eigentlich gar nichts angingen, ihm gestohlen bleiben konnten, aber er tat es trotzdem. In solchen Momenten, und das passierte ihm vor allem auf seinen Wanderungen, oder manchmal, aber nicht oft, vor dem Einschlafen, dann versuchte er, einfach nur tief durchzuatmen und seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Solch strube Gedanken, er wusste es haargenau, konnten extrem klebrig sein, er brachte sie schwer wieder los, sie reproduzierten sich wie von selbst, plötzlich waren sie da, im Hirn, kaum mehr abzuschütteln, aber beim Wandern immerhin noch etwas einfacher als beim Einschlafen, denn im Bett, da war nichts, womit er sich ablenken konnte, Masturbieren half nur temporär. Manchmal gab es dann nichts anderes als aufzustehen und den Fernseher einzuschalten. Einfach nur den Fernseher laufen zu lassen, diese hohlen Programme, durchzuzappen durch die Stationen, von der 175igsten bis zur ersten und zurück, und noch einmal, wenn nötig, ohne sich auf irgendwas festzulegen, da war ja auch meist nichts, um sich festzulegen, bei dem Programmschrott heutzutage.

vielleicht werde ich ja vor lauter denken eines tages noch wahnsinnig…mann, wenn ich wahnsinnig würde…opferdelli...

An diesem Tag, einem Dienstag, arbeitete Gipfel nicht. Wie gewohnt dienstags. Dienstag war sein Kompensationstag, sein Wochenende. Er ging wandern. Altmodisch wandern, nicht walken oder joggen oder durch die Gegend hetzen, nein, wandern. Nur wenn gutes Wetter war, klar, im Regen wandert es sich nicht wirklich gut und das Bier schmeckt dann auch nicht. Wandern war sommersüber angesagt, so ab März, vielleicht April, je nachdem wie das Wetter mitspielte, Gipfels geliebtes und gepflegtes Dienstagsritual. Da gab es keine Recherchen, keine Interviews, keine Termine, keine Redaktionssitzungen. «Heute Ruhetag» schreiben Wirte auf eine Tafel und hängen sie an ihre Haustüre. Bei Gipfel gab es diese Tafel nicht, aber es war Fakt, es war eine ungeschriebene Tafel, weil alle Kollegen wussten, dass Gipfels Wirtesonntag auch unangeschrieben unantastbar ist. Sakrosankt.

Alle anderen erfuhren es von seiner Com-Box. Am Dienstag lockte die Freiheit. Dienstag war ein heiliger Tag. Gipfels Tag der Nicht-Kommunikation. Nichts wurde dann entschieden, in nichts wurde er dann gedrängt und nichts hatten sie dann von ihm zu wollen. Nichts nahm er entgegen und nichts lieferte er ab. Es gab nichts zu entscheiden und nichts aufzuschieben, denn nichts, einfach nichts, was nach Arbeit roch, oder stank, hatte an diesem siebten Tag seiner Woche in seinem Leben etwas zu suchen. Jegliches halbwegs sinnorientierte Denken im Dienste jemand anderes war tabu. Da war selbst das Entscheiden beim Durchlesen der Speisekarte schon zu viel verlangt. Auf seinen Wanderungen bestellte Gipfel deshalb stets einen Wurst-Käsesalat, weil der in jeder, aber auch jeder hinterletzten Bergwirtschaft zum Standardangebot gehörte, da brauchte er sich gar nicht erst über einer Speisekarte seinen Kopf zerbrechen. Schön wär es eigentlich, dachte er, wenn das gleich auf seiner Stirn stehen würde, denn bräuchte er nicht einmal zu reden. Denn auch das Reden war ihm eine Qual, an normalen Tagen, an seinem freien Tag erst recht. Warum konnte man das Reden nicht einfach sein lassen, ärgerte er sich manchmal.

warum kann man das denken nicht einfach abstellen opferdelli…

Gipfel sass auf der Bank vor der Alphütte und dachte ohne denken zu wollen. Eine Schande eigentlich, so unachtsam durch die Natur zu gehen, fuhr es ihm durch den Kopf. Einen Weg zum ersten Mal begehen und nicht sehen, was da ist, ja das ist eine wirkliche Schande. Nur einmal hatte er aufgesehen und in der Ferne sein selbstgesetztes Ziel ausgemacht – die Hütte auf der Hoch-Petersalp. Er sah das längliche Gebäude und vermutete, dass da ein Stall und eine Alphütte zusammengebaut sind. Er kannte die Gegend nicht, denn er war hier noch nie durchgegangen, kannte also auch die Hütte nicht. Wie heimelig muss es darin sein, eng, gemütlich, frischer Geruch von brennendem Fichtenholz und kochendem Käse. Er stellte sich einen blitzblank gepflegten Raum vor, Küche und Stube auf engem Platz, Werkstatt, Garderobe und Jassecke zugleich. Der Abort im Schweinestall. Es gäbe einen Tisch, zwei lehnenlose Bänke, einen Schrank, ein Regal, darauf Gegenstände zum Kochen und Geräte für den Stall. In der Ecke ein Käsekessel aus Kupfer mit einer Feuerstelle darunter, das Dach darüber vom Rauch geschwärzt. Neben der Türe stünde eine Leiter, die in eine enge und dunkle Schlafkammer über dem Stall führte. Über dem Tisch hinge eine alte, verbeulte Petrollampe und im Regal stünde wohl auch eine halbvolle Flasche Schnaps. Oder zwei. Eine voll, eine halb.

Es ist bestimmt oft einsam da für den Bauern, der auf der Alp seine selbstgewählte Klausur verbringt. Macht er das wirklich gerne oder nimmt er es auf sich, weil es zu seiner Arbeit gehört? Oder weil er zu geizig ist, einen Knecht raufzuschicken? Traut er keinem Knecht? Gibt es noch Knechte? Söhne? Gefällt es ihm da oben, wo er alles selbst organisieren muss, selbst in die Hände nehmen muss, ja für alles selbst verantwortlich ist ausser fürs Wetter, besser als dort unten mitten im zivilisierten, organisierten, total verplanten, lauten, unübersichtlichen Leben?

oder will er weg sein von seiner bösen frau...weicht er ihr aus...weicht er sich selbst aus...ist er opferdelli ein menschenfeind…

Trotz allem, meistens dachte Gipfel auf seinen Wanderungen positiv, progressiv. Dann fluteten Wünsche, Pläne, Träume, ja kapitale Visionen, Lebensvisionen, durch seinen Kopf. Ein Wust von Gedanken, ein Gewebe, sich selbst weiter flechtend, ein zäher Strang ohne Ende, ein irres Netz ohne Zentrum, ein vollbeladener Denkkonvoi ohne Richtung. Auch bei Gelegenheiten, bei denen es nicht viel zu denken gab, wo wenig Eindrücke seine Gedanken inspirierten, dachte es in Gipfels Hirn von selbst weiter. Manchmal dachte es sich genau dann noch viel besser, hemmungsloser, grenzenloser, wenn nichts den sich selbst vervielfältigenden Fortgang der Gedanken störte. Etwa beim Autofahren. Beim Einschlafen. Beim Mitverfolgen eines Konzerts oder Theaters, das ihn nicht interessierte, aber das sich ansehen er von Berufs wegen musste. Oder eben beim Gehen durch die Hügel seiner Umgebung. Dann verselbständigte sich seine Fantasie. Meist war es eine Kleinigkeit, die seine Gedanken zum Fliessen brachte. Ein Detail. Eine Inspiration von aussen oder eine Erinnerung von innen. Die darauffolgende Fortsetzung eines Augenblicks begann Trillionen von Zellen in Gipfels Hirn zu beschäftigen. Lawinenartig. Giesskannenmässig. Eins gab das Andere. Nichts bremste. Fast nichts. Ein rechtes Quantum Alkohol konnte es. Ein Liebesakt auch. Jedenfalls bis zwei Minuten nach dem Höhepunkt, wenn er nicht innert 119 Sekunden eingeschlafen war. Was zum Glück meistens der Fall war. Bei den sehr dünn gesäten Liebesnächten, funktionellen Beischlafakten, die sich in seinem Leben in den letzten Jahren mehr oder weniger trieb- oder zufallsgesteuert oder eben nicht noch ergaben, musste der Alkohol als Ersatzliebe herhalten.

ein misanthrop…oder ein drückeberger…ein seicherl…opferdelli…

Und wieder erwischte sich Gipfel beim stieren Denken statt aufmerksamen Gehen. Was für eine prächtige Gegend - er nahm keine Notiz von ihr. Es war, als ob ihn einfach alles zum Abschweifen brachte, an nichts, was ihm gerade auffiel an seinem Weg, blieb er hängen. Wenn er sich dann so erwischte, tadelte er sich selbst, aber sogleich redete er sich auch wieder heraus. Die Natur ist sowieso ja da und wirke auf ihn ein, und zwar nur zum Guten, auch wenn er nicht grad an sie denke. Feinstofflich geschähe das und ohne Dazutun, man könne sich nicht dagegen wehren, sagen die Esoteriker. Es sei ja alles verbunden miteinander, alles beeinflusse alles, da komme man nicht raus, alles sei eins. Er hatte keine Ahnung, was die Esoteriker meinten, und er wollte es auch nicht wissen, er hielt ganz einfach nichts von solchem Hirngespinst. Wichtig ist, dass die selber daran glauben. Gipfel grinste innerlich.

solange die selbst dran glauben ist es gut für uns...spinner...

Als Ausrede sind solche Argumente aber immer nützlich. Eines Tages, es würde gar nicht mal mehr lange dauern, ein paar lumpige Jahre noch, wenn es für ihn nur noch Dienstage geben würde, würde er sich das Thema vornehmen, ganz sicher. Oder vielleicht doch nicht so sicher? Denn vielleicht stünden dann auch andere Themen an, nichts zu denken zum Beispiel, nichts auseinandernehmen, nichts analysieren. Ja da müssten noch viele Dienstage kommen, bis er sich ausgerechnet mit Esoterik, Feinstofflichkeit und so weiter befassen würde. Schicksal undso, Gott undso. Spiritualität, Seele, Bewusstsein, Unbewusstsein undso. In seinem Berufsleben gab es viele Themen, die an ihn gerieten und mit denen er sich notgedrungen befassen musste, aber die dann wieder weiterzogen, schon am nächsten Tag. Ja manchmal gab es ganz interessante Sachen dabei. Doch es war eben zu viel dabei, was ihn nicht im geringsten interessierte, da blieb ihm keine Energie, sich auch noch um Dinge zu kümmern, über die er gerne mehr gewusst hätte. Und wenn, das Thema Übersinnliches stand bei ihm nicht an erster Stelle. Obwohl, wenn er ehrlich war, da irgendwas dran war, irgendetwas Geheimnisvolles, Mysteriöses. Ja irgendwie zuckte es schon in seinen Fingern, dieses Thema.

Aber eben, in seinem aktuellen Leben musste an sechs Tagen in der Woche das Resultat wichtig sein, nicht das Nachdenken darüber. Ein volles Blatt ist das Ziel, der Weg egal, der Inhalt auch. Sein persönliches Ziel ist die Entspannung am siebten Tag, und die nahm er sich. In Momenten wie diesem auf dieser Alp glaubte Gipfel einen Moment lang auch an die Verbundenheit von allem. Die Natur und das Alleinsein schenkten ihm Entspannung aufgrund der Verbundenheit von allem mit allem. So einfach. Göttlich einfach. Am siebten Tag schuf Gott ihn, Gipfel.

opferdelli...

Vor der Hütte

Eine seltsame Wetterstimmung hatte Gipfel bei der Alphütte empfangen. Er nahm es jetzt wahr, weil sein Hirn nach eineinhalb Stunden Gehen und Gedankenwälzen leer und entspannt war. Seltsame Sache, fuhr es ihm durch den Kopf. Er drehte sich einen Joint, zündete ihn an und sog sich einen tiefen Zug direkt in die Lunge. Seine Welt war in Ordnung. Er liess seinen Blick durch das vor ihm liegende Panorama wischen und drückte den Rauch wieder aus sich heraus. Vor ihm lag der sanft eingedrückte Talkessel der Kleinen Schwägalp. Liebliche Hügel, von zwei, drei schroffen Felsen durchpflügt. Verkleistert zufällig mit dunkelgrünen Waldfetzen, dazwischen hellgrüne Wiesen. Eine chinesische Wokpfanne mit hellem Lauch und dunkelgrünem Broccoli, die Alpstrassen darin wie verirrte Nudeln. Am südöstlichen Horizont reckten die noch schneebedeckten Toggenburger Spitzen ihre Köpfe keck ins Bild, dahinter die Glarner und Innerschweizer Gipfel. Vor Gipfel stand der mächtige Säntis, alles dominierend, den Wok, die Spitzen, die Glarner. Unverrückbar und gleichgültig seine graugrün verrunzelte, jahrmillionenalte Nordwand im Schatten.

Weit hinten im Westen war der Himmel dunkelblau gefärbt. Sehr dunkelblau, dachte Gipfel, etwas sehr dunkelblau.

da braut sich etwas zusammen…egal, weit weg noch…kommt vermutlich eh nicht hierher…hoffentlich opferdelli...

Vor der Hütte war es komplett windstill und die Sonne brannte für einen 1. Mai schon ziemlich gnadenlos auf Gipfel herunter. Über dem Bodensee im Norden lag eine Dunstdecke. Im Nordwesten muss irgendwo Winterthur liegen, näher heran das Städtchen Weyerwyl, das untere Ende des Toggenburg bildend. Dort unten wütet gerade die Tiara-Seuche, rafft Tausende dahin, angeblich, aber hier oben ist die Luft rein, dachte sich Gipfel, hier ist diese mordende Seuche weit weg. Der Säntis zeichnete sich messerscharf ins Blickfeld, sein Gipfel aber war in Schleierwolken gehüllt, so dass die auch auf diese Distanz gut erkennbaren Seile der Schwebebahn ins weisse Nichts führten. Das sind keine richtigen Wolken, dachte Gipfel, das ist etwas zuckerwattig Unnatürliches, halbtransparent Verhangenes. Seltsam. Der nun schon etwas zugedröhnte einsame Wanderer schlug die gestreckten Beine übereinander, lehnte sich zurück und schaute der Szenerie vor ihm zu. Der Dunst-Dampf-Zuckerwatteschleier über dem mächtigen Berg wuchs merkwürdig schnell und nahm schliesslich auch der Sonne ihre Kraft. Wer greift da ein, dachte Gipfel, wer spielt hier Wetter. Das erschien ihm alles etwas unheimlich, so gar nicht natürlich, aber der unheimliches ahnende Gedanke ging an ihm vorbei wie eine feuchte Nebelschwade und er nahm nicht mehr wirklich wahr, ob sein vom THC vernebeltes Hirn ihm eine Szene machte oder sie wirklich war.

was geht hier ab...wer ist hier am werk...ja wer steuert dies hier alles eigentlich...opferdelli...

Gipfel rauchte den Joint mit tiefen Zügen in die Lunge zu Ende und liess sich dann in sich sinken.

Ein leichter, aber bissig kühler Wind kam urplötzlich aus dem Tal herauf. Gipfel begann zu frösteln. Er war verschwitzt und hatte nichts zum Überziehen. Als er an diesem Morgen um acht Uhr losfuhr, ging der Föhn und es war schon wohl temperiert. Es sah nach einem sehr schönen, warmen Tag aus, deshalb verliess er seine Wohnung nur mit dem Allernötigsten am Körper. Bis Mittag sei er wieder zurück, dachte er, da bräuchte er nicht allzuviel unnötigen Ballast. Vernunftpächter nehmen Rucksäcke voll unnötigem Zeug mit. Als ginge es in den Bergen ums Überleben.

Drei Stunden später aber bereute er es, an diesem Tag überhaupt aus dem Haus gegangen zu sein.

opferdelli, soll das der lohn sein für meine anstrengungen, dass jetzt das wetter noch kehrt...ich hätte den wetterbericht gestern doch anschauen sollen, wie lange habe ich schon keine wetterberichte mehr angeschaut, wieso sollte ich, wieso sollte ich grad heute, so ein schöner morgen, so klar, da war doch alles schon klar, da kann doch nichts passieren, delli ich glaube ich habe schon seit jahren keinen wetterbericht mehr angeschaut, es müssen jahrzehnte sein, warum interessiert mich das wetter nicht, es ist doch ist immer das erste, von dem sie reden, wenn sie sich nichts zu sagen haben, die leute, dabei kommts eh wies kommt, oder bleibts wies ist oder kehrts, oder kehrts oder bleibts, opferdelli, spielt doch überhaupt keine rolle, man muss ja nur raussehen, dann sieht man, wies ist, oder wies kommt, wenn einen das interessiert, wenn man etwas vorhat, wo das wichtig ist...opferdelli...

aber delli, heute hats mich reingelegt, das wetter, skehrt doch grad im ungünstigsten moment, was nützts mich jetzt, vom wetter zu denken, wenns kehrt, und ich hab nichts zum anziehen, hoffentlich kommt kein regen, was nützts dann, da kann mans doch gleich bleiben lassen, sollen sies doch bleiben lassen, diese langweiler, diese waschweiber, lebensmittelkrämer, sprechen vom wetter wenn sie nicht einfach schweigen können, sie können das schweigen nicht ertragen, was miechen die auf einer alp wie hier, was wollten sie jetzt vom wetter reden, jetzt wos kehrt, man sieht ja das es kehrt, wieso soll man denn noch davon reden, delli, man siehts ja, und man kann sich ja was anziehen, wenn man was hat, und wenn nicht, zieht man halt nichts an, und friert, was solls, man kann ja runtergehen, an die wärme, oder ein feuer machen, oder wasweissich, etwas zu tun ist wichtig, nicht zu lamentieren, etwas tun...opferdelli...

oder einfach schweigen, s'maul halten, und abwarten, den laden dicht halten, die fresse, die schnauze, einfach ruhig sein, schweigen, wie diese alp, wie die natur, der wald, die berge, hier wird nur geschwiegen, ausschliesslich geschwiegen, hier ist ruhe, über den gipfeln, hier herrscht die ruhe, auch wenns wetter kehrt, die nehmens mit der ruhe, hier muss man sich der ruhe unterwerfen, die natur ist viel gewaltiger als wir, und ruhig macht sie was sie will, also schweigen wir bis wir hören, wie sie mit uns spricht, zuhören und schweigen, aber jetzt, opferdelli, ich verstehe nicht, was sie mir sagen will, vielleicht spielt sie mit mir, sie veräppelt mich, oder sie meint gar nicht mich, sie meint alle anderen, diese deppen, die planlos auf die berge rennen in horden und nie schweigen, die planlos wieder runterrennen mit gehstöcken und wasserflaschenhalter aussen am rucksack und handyhalter am hosengurt und behämmerten rogerfederercaps, und nichts gesehen haben, ausser die seilbahnkabine von innen und die beiz...von innen...

und der serviertochter erzählt haben, dass es unten nebel hatte, als ob die das nicht schon wüsste, hat sie ja auch augen im kopf und sieht hinunter, oder kommt von unten, wohnt sicher nicht auf dem berg, und lacht sich einen ab, innerlich, über die da unten, die deppen im nebel, die dann zuhause behaupten, sie hätten einen guten draht zu den einheimischen gehabt und kennen den wirt beim vornamen, nur weil sie mit ihm einen halben getrunken haben und ihn auch noch bezahlt haben oder der serviertochter ein tschumpeli offeriert haben, oder mit einem bauern, der gerade per zufall vor seinem hüttchen sein lindauerli angezündet hat, über das wetter spekuliert haben, banausen, diese deppen, haben keine ahnung, rucksäcke voller unnützem zeug, literweise tee, schachteln voller pflästerli, jede menge sandwichs, vegan, gekochte eier, gekochte eier, wer schleppt schon gekochte eier in die berge, gehts eigentlich noch, eier, warum ausgerechnet gekochte eier, das ganze jahr essen sie keine gekochten eier zuhause, grauenhaft…opferdelli...

und traubenzuckerpillen und äpfel, und manchmal aprikosen aus ägypten, die sind aber immer vollkommen matsch, wenn sie herausgenommen wurden, es sei denn, sie sind in einem tupperware, ja genau, sie schleppen tupperware in die berge, all den mist, und alufolie, und aromat, in plastikboxen, wozu, wozu, sogar pelerinen haben sie dabei, diese spinner, und wenns weit und breit nicht nach regen aussieht, und sonnenbrillen und sonnencreme, jawohl sonnencreme, und pelerinen und überlebensdecken aus alufolie, immer dabei, einmal im jahr brauchen sie sie, wenns hochkommt, oder nie, die aluminiumfoliendecken, aber dabei sind sie immer und manche habe die geschenkten vom coop, vom letzten openair, man kann sie eh nur einmal brauchen, dann sind sie hin, irgendwo eingerissen, und dann lassen sie sie liegen in den bergen, wenigstens in einem kübel, soviel anstand haben sie, und manche haben sogar schirme, kleine knirpse, und ich, ich depp hab nichts und seh jetzt grad uralt aus, weil keine beiz in der nähe ist und kein kafilutz und keine serviertochter und kein knirps, dellidellidelli...

opferdellisiech...

Das Wetter schien tatsächlich umzuschlagen. Der Wind wurde noch frischer, der ganze Himmel überzog sich mit diesen seltsamen Wolken, die keine sind, sondern weissgraue Schleier. Die Luft wurde merkbar feuchter. Gipfel drückte das gelb gewordene Kartonröhrchen des abgerauchten Joints mit dem Schuhabsatz in den Boden und sah sich um. Er dachte an heissen Kaffee. Er war vor eineinhalb Stunden von der Schwägalp losgegangen, ohne einen Kaffee zu trinken, was gar nicht üblich war für Gipfel, der kaum eine Gelegenheit auslässt, eine Tasse Kaffee zu trinken. Fünf Tassen pro Tag immer, oft mehr, und immer Wasser dazu, fünf Gläser, die er niemals leertrank und sich auf seinem Arbeitstisch sammelten. Der Kaffee hielt ihn bei der Arbeit am Leben, er reagierte schnell auf das Koffein, er spürte wie seine Hände zitterten, er spürte seine innere Unruhe, das Gefühl, als ob etwas sein Inneres aus ihm herausziehen wollte, so wie man seinen Fuss aus einem Schuh zieht, oben herausziehen, den Körper aus seiner Haut, als wollte dieses Innere, die Innereien, ausfliegen, sich befreien, sich lösen wollen von ihm.

Er spürte sich nicht mehr, es wurde ihm anders, er wurde fahrig, stotterte beim Sprechen, fand die Worte nicht oder konnte sie nicht in einem Zug aussprechen, hatte Mühe, Sätze so zu formulieren, wie er sie wollte, zu sagen, was er eigentlich sagen wollte, als hätte das Innere, das aus ihm herauswollte, bereits die Fähigkeit zu Sprechen aus ihm abgezogen, als wäre er schon gar nicht mehr da, nur der Körper noch, und der konnte nicht sprechen, nur unkontrolliert sich bewegen, zusammensacken gar, zu einem leblosen, nutzlosen Bündel am Boden werden. Und dann kam in ihm die Angst auf, dass jemand falsche Mutmassungen anstellen könnte und ihn als Gestörten betrachten würde oder als Durchgeknallten oder als Alkoholiker oder paranoid oder alles zusammen.

Doch sein Konzentrationsvermögen stieg durch den Kaffee um Grössenordnungen, und seine Auffassungsgabe, auf die er seit je stolz war und die auch ohne Kaffee schon phänomenal war und die ihm schon seit je immer wieder bestätigt wurde, wuchs exponentiell. Er wusste eigentlich nie so genau, ob sein ausgesprochen gut funktionierendes Erinnerungsvermögen gut war oder schlecht für seine Gegenüber, weil es sie manchmal blossstellte und weil er dadurch auch sehr nachträglich war. Er trank Kaffee, so oft es ging, eine kleine Sucht eben, aber weil er die unangenehmen Wirkungen kannte, war er sich oft und je nach Laune nicht zu schade, auch mal einen koffeinfreien Kaffee einzunehmen, einen decaf, wie man so sagte in der Hipsterszene. Doch nach fünf Uhr, und da hielt er sich eisenhart daran, gönnte er sich keinen Kaffee mehr, ausnahmsweise einen Espresso, wenn es nicht anders ging, aber sonst war ja ab fünf Uhr eher die Zeit für Bier, ganz einfach aus dem Grund, weil die Wirkung des Koffeins in ihm sehr lange anhielt und er dann Mühe mit dem Einschlafen hatte.

Bei sich zuhause trank er niemals Kaffee. Eine Mokka, ein ganz einfaches Teil, mit dem man eigentlich keine Fehler machen konnte, hat er schon vor Jahren entsorgt, es war ihm zu blöd, das Ding regelmässig zu reinigen, ausserdem verbrannte er sich daran ständig die Finger. Auch die Tassen, das Besteck, alles musste irgendwann gereinigt werden, das war ihm, dem durch die Umstände gezwungenen Haushaltssolisten, einfach zuviel. Wozu sollte er selber Kaffee machen, wenn es Leute gibt, die das als Dienstleistung anbieten, und es dabei noch viel besser machen, zwar nicht alle, aber doch ein paar wenige. Ausserdem trieb es ihn morgens immer aus der Wohnung. Es war ihm unerklärlich, obwohl er nicht reden mochte, mit niemandem, er musste raus, wie von einer unbestimmbaren Kraft getrieben, raus aus dem Haus, das ihm wohlige Höhle und unwirtliches Gefängnis war, rein in sein Stammbistro am Bahnhof und den ersten Kaputscho runtergespült. Der Wirt, Küsche, sah ihn immer schon durch die verglaste Türe heranfahren, und so lief der Kaffee bereits aus der Maschine, wenn Gipfel erst seinen Hund an die Stütze des Velounterstands pissen liess und dann durch die Türe hereinkam.

Küsches Kiosk

Der stets penetrant gutgelaunte Küsche, der so hiess, weil man im Militärdienst den Bataillonskoch «Küsche» nannte, weil das Militär stets für Funktionen und/oder Abteilungen die seltsamsten Abkürzungen hatte, z. B. «besoBef» für «besonderen Befehl», was in der Regel nichts Gutes verhiess, wobei, was ist schon gut am Militär, ausser der Ausgang nach einem mit unnützen Tätigkeiten und/oder Herumstehen verbrachten Tag. «KüChe» war so eine Abkürzung, für «Küchenchef», oder «BöFei», für, was wohl, «böser Feind», wobei, welcher Feind ist nicht böse, ein Pleonasmus also, was man allerdings nicht in Frage stellen durfte, weil die meisten «AdA», «Angehörige der Armee», ohnehin keinen blassen Schimmer hatten, was ein Pleonasmus ist, die Korporäle nicht und die Kadis schon gar nicht. Kadi heisst, na was heisst «Kadi» eigentlich, auch so eine Abkürzung, aber diesmal hatte Harri nicht aufgepasst, er wusste nicht, was Kadi bedeutete, eigentlich brauchte es den Begriff ja eigentlich gar nicht, man konnte ja auch «der Grünenfelder» sagen oder «der Huwyler», der im Übrigen zwei Meter hoch war und der erste Torhüter des FCSG war, denn er wurde grad wenige Tage vor dem Abverdienen seines Hauptmannsgrades aus dem Verein geschmissen, warum, wusste niemand so genau ausser der Sportchef. In der Folge war es natürlich angezeigt, den Befehlen des Kadi Huwyler Folge zu leisten, auch wenn sie selten nachvollziehbar waren, ein Umstand, um den man sich keine Gedanken machen musste, da im Militärdienst nichts nachvollziehbar ist, aber die nicht nachvollziehbaren Befehle waren in diesem speziellen Fall auch darin begründet, dass Goali-Kadi Huwyler eigentlich immer schlechte Laune hatte.

Küsche also war gelernter Koch, aber militärdienstuntauglich von Anfang an, also mit 18 Jahren schon, wahrscheinlich war er schon damals zu doof, selbst für das Militär, dachte sich Gipfel. Der doofe Küsche vom Bistro am Bahnhof also war im Übrigen der Einzige, mit dem Gipfel am Morgen sprach. Doch eigentlich wurde nicht viel gesprochen, nur was grad eben nötig war, diese oder jene Neuigkeit in Erfahrung gebracht, gerade in letzter Zeit, wo diese Seuche wütete und die Regierungen nicht wussten wie umgehen damit und die Leute noch weniger. Küsche trug dabei stets eine Schutzmaske, so wie es vorgeschrieben war, aber oft hatte er sie, wenn grad keine anderen Leute da waren, bis zum Hals heruntergezogen.

Küsche sagte nämlich: «Ich bekomme das Zeugs sicher nie, ich bin zäh, wenn ich das nicht wäre, wäre ich schon längst unter dem Boden, bei dem Klientel, das da täglich hereinkommt.»

Recht hatte er, Küsche stand hinter seinem Tresen voll in der Zugluft, vorne eine Türe, hinten eine Türe, von oben blies den Gästen das Heizgerät trockenwarme Luft um die Ohren, unter den Füssen kühlte der eiskalte Boden. Nicht gerade gesundheitsförderlich, das wusste Küsche, er trug deshalb diese altmodischen und lauten, aber sehr zweckdienlichen, dickbodigen Zoccoli, die in Holland «Klompen» heissen und auch so aussehen, in Italien ein Synonym für «Hufe» sind und ebenso auch so aussehen. Dazu kamen oft Kunden an seinen Tresen, über deren Gesundheit man schon seine Zweifel haben konnte, man brauchte sich nur ihre Zähne, ihren Gang, ihre Tränensäcke oder das was sie konsumierten, anschauen. Wenn jemand diesen Job jahrelang überlebt, dann macht ihm auch diese Seuche nichts aus, sagte Küsche grinsend, und er hatte wohl recht.

«Ich trage das Ding nur, weil ich es tragen muss. Weil ich keine Busse bezahlen will, die sind ja horrend hoch, habe ich gehört.»

Und diese Tschugger hätten ja nichts anderes zu tun, als im Tag zweimal an seinem Bistro vorbeizufahren, um zu schauen, ob auch alle die Maske, dieses depperte Dings, trugen, erwiderte Gipfel.

Gipfel konnte sich tatsächlich nicht erinnern, dass Küsche mal krank gewesen wäre. Wenn, dann hatte er Kopfweh, aber das sicher nicht von einer Grippe oder sonst einer Krankheit. Doch Gipfel hatte schon mal mitbekommen, wie zwei Polizisten der Kapo in den Laden stürmten, sich umschauten, ob jemand sich unkorrekt verhielt, keine Maske trug oder zuviele Leute im Bistro waren. Nur, man wusste ja eigentlich nie so richtig, was gerade Vorschrift war, so oft änderten die Regeln. Mal durften nur drei Leute im Raum sein, ausser dem Wirt, mal fünf, die anderen musste draussen warten. Wenn also zwei drin waren, die Kaffee tranken, konnte immer nur eine Person rein, die Zigaretten kaufen wollte. Ganz am Anfang der Verbote durfte überhaupt niemand drin seinen Kaffee trinken, sondern musste sofort nach dem Bezahlen wieder raus, den Kaffee bekam man in einem Pappbecher, Zucker und Rahm bereits verrührt. Gipfel hasste es, den Kaffee nicht selbst umrühren zu können. Ebenso hasste er es, wenn Küsche oder seine Girls, wobei, nicht wirklich Girls, sondern pensionierte Migroskassiererinnen, den Zuckerwürfel – Küsche und seine Girls wussten, dass Gipfel nur einen Zuckerwürfel wollte - mit den Fingern in seinen Kaffee schmissen, und dann noch umrühren, als ob man zu blöd wäre, selbst zu rühren, oder zu unwach oder ungeschickt oder ein Kind mit zwei linken Händen.

Und man durfte auch nicht draussen vor der Türe stehen bleiben, man musste das Grundstück verlassen, eigentlich, so die Vorschrift, es war wohl so gedacht, dass man den Kaffee nach Hause mitnahm oder mit in den Zug oder ihn im eigenen Auto runter- oder auf seinen Hosen verschüttete. Auch neuerdings mussten alle wieder raus mit ihrem Kaffee oder Bier oder Tschumpeli Roten in der Hand, nachdem die Polizei Küsche einmal mehr an die geltenden Massnahmen erinnert hatte. Küsche verscheuchte sie auch, wenn sie draussen vor der Türe stehen blieben, oder die Polizei verscheuchte sie und manchmal reichte es, wenn sie einfach nur ostentativ genug vorbeifuhr.

Doch Leute, die ihren Kaffee mit auf den Zug nahmen, kamen nur am Morgen, und das taten sie schon vor der Seuche. Die meisten, die zu Küsche kamen, um etwas zu trinken, oder auch mal mehr als nur etwas, und einen Moment zu verweilen, kamen über den Tag oder zur Znünipause und dann pflegten sie eine halbe Stunde zu bleiben oder auch nur zehn Minuten. Diejenigen, die zur Arbeit mussten, hatten gar nicht im Sinn, den Kaffee nach Hause zu tragen, um ihn dann dort halb kalt zu trinken. Seit dem Beginn der Seuche standen sie auf der Strasse herum, auf den Parkplätzen rund um das Bistro, und das auch, wenn es zuweilen regnete oder saukalt war, die Seuche begann, bzw. diese von höchster Stelle verordneten aber nichtsdestoweniger sonderbaren Regeln traten ja im Winter in Kraft. Dabei musste noch eine weitere Regel eingehalten werden, nämlich drauf achten, dass nicht mehr als drei, sechs oder zehn, auch diese Vorschrift änderte ständig, zusammenstanden. Die Polizei hatte tatsächlich nichts Wichtigeres zu tun, als im ganzen Land Leute zu büssen, die zu nahe beieinanderstanden.

Ausserdem durfte Küsche während der Seuchenzeit zwar alles verkaufen, was es in seinem Kiosk-Bistro gab, auch Zeitungen, aber er durfte keine Zeitung für die Gäste auflegen, für die, die nicht nur wegen des Kaffees oder dem Tratsch kamen, sondern mehr oder weniger ernsthaft das «Quatsch/Blatt» oder «20 Minuten Müll» lesen, bzw. die Bilder darin, anschauen wollten. Noch schräger wurden die Regeln, als Küsche kein offenes Bier mehr ausschenken durfte, weil das Gläser erforderte, und Gläser sind offenbar nicht steril. Bier kann man nicht in Pappbecher ausschenken, also tranken die Leute aus Aludosen oder Glasflaschen und die lagen dann am Abend und am nächsten Morgen rund um das Bistro auf der Strasse, zertreten oder in Scherben zerdeppert. Oder der Müll lag in der Wiese hinter dem Bistro, der Robidog in der Nähe war vollgestopft mit Kaffeepappbechern und Roterbullealudosen und die Kacksäcke lagen daneben.

Aber niemand sah sich zuständig, den Müll zusammenzuräumen, Küsche schon gar nicht:

«Wenn die Leute drinnen trinken dürften, gäbe es keine Sauerei draussen. Ausserdem würde alles Geschirr gewaschen, also wieder gebraucht, die Pappbecher landen im besten Fall in der Kehrichtverbrennung, aber meistens eben auf der Strasse oder auf dem Boden im Zug. Richtige Scheissregeln, nichts ist da durchdacht.»

Sicher werde er den Müll auf der Strasse nicht zusammenräumen, sagte er zum Chef des Strassenunterhalts, der sich telefonisch beschwerte und Küsche verpflichten wollte, um sein Bistro herum Ordnung zu halten, bzw. die Leute dazu anzuhalten, ihren Müll dorthin zurückzubringen, wo sie ihn herhatten, nämlich ins Bistro.

«Ich gehe davon aus, dass die Leute keine Kinder mehr sind und wissen, wie man Müll entsorgt», sagte Küsche zum Chef Strassenunterhalt, «und ausserdem räume ich keinen Müll zusammen, der nicht auf meinem Grundstück liegt.»

Der Chef Strassenunterhalt meinte darauf, dass man ihn, Küsche, fortan unter Beobachtung stellen und ihn bestimmt sehr hart büssen werde, wenn man ihm nachweisen kann, dass er für die Sauerei verantwortlich ist.

«Ihr müsst die Leute büssen, nicht mich, die Leute lassen schliesslich das Zeugs liegen!»

Die Drohung bekam Küsche dann auch noch schriftlich, er aber schmiss den Brief handkehrum in den Mülleimer.

«Das geht mich verflucht nochmal nichts an», brummte er, und Gipfel bekam es mit, «wenn die Jungen auf dem Parkplatz oben im Dorf ihre Sauerei liegen lassen, sagt niemand etwas.»

Dabei habe dort neulich jemand einen Fernseher abgestellt, einfach jugoslawisch entsorgt, niemand habe etwas gesagt und er sei vier Tage dort gestanden, bis ihn jemand mitgenommen hat:

«Und am nächsten Tag hat der Hauswart der Zentrumsüberbauung ihn in der Einfahrt zur Tiefgarage wiedergefunden, total zertrümmert natürlich!»

Gipfel grinste anfänglich über die seltsamen Regeln. Doch als auch er in der Kälte stehen sollte, verging ihm das Lachen und er kam eine Weile nicht mehr morgens ins Bistro. Auch trug er die Maske eher selten und zum Spätfrühstück in Küsches Bistro sicher nie.

«Man muss dagegenhalten gegen den Irrsinn», sagte er, «sonst werden wir alle noch zu Knechten».

Das sei nur der Anfang des Polizeistaats, und die Polizei hätte es leicht, sich durchzusetzen, weil alle schön gehorchen, vor allem am frühen Morgen, wo man noch nicht gegenwehrfähig ist und halt macht, was einem befohlen wird. Doch die Leute, die allermeisten, gehorchten den ganzen Tag und die ganze Zeit, so wie das eben ist in diesem Land, man gehorcht, wenn der Chef etwas sagt oder der Kadi.

Gipfel: «Wer ist der Chef? Wer hatte das Volk so gut im Griff, dass es widerspruchslos gehorcht?»

«Die Pharmaindustrie», sagte Küsche, «die hat das alles angeleiert. Die erfinden schon seit Jahren Krankheiten, für die sie dann sofort auch das passende Medikament haben, sauteuer natürlich.»

Man habe das schon bei diesem Aufmerksamkeitssyndrom gesehen, knurrte Küsche weiter, da habe man einfach etwas zur Krankheit erklärt, weil man soeben ein Medikament dagegen erfunden hatte, zufällig:

«Klar, das ADHS ist sowas, das alles erklärt, jedes Problem in der Schule und der Pubertät, alles was schiefläuft ist die Schublade ADHS, und jetzt gibt es Ritalin dagegen. Weisst du, wie die Lehrer aufgeatmet haben, als es dieses Ritalin gab, und wieviele Schulleiter die Eltern vorluden um ihnen allerwärmstens Ritalin für ihren Goof nahelegten? Das war, als die Lehrer und Schulleiter plötzlich Besuch von Pharmavertretern bekamen, mich nähme Wunder, wieviel Schmiere da unter dem Tisch durchging!»

Küsche echauffierte sich: «Und jetzt ist es der Burnout. Seit der von den Amerikanern erfunden wurde, hat plötzlich jeder einen. Jeder ders nicht mehr rafft, hat jetzt ein Burnout. Der Schulhausabwart hat jetzt auch eins, jetzt stell dir mal vor, der Abwart hat ein Burnout. Der mit dem strengsten Beruf überhaupt imfall.»

Da Gipfel morgens eher Mühe hatte mit dem Wachwerden, wurden die Dialoge mit Küsche, der jeden Morgen um fünf Uhr aufstand, um um sechs seinen Kiosk zu öffnen, zu Einweggesprächen, bei denen er, Gipfel, viel über die aktuellen Geschehnisse im Dorf erfuhr, was ihm dann und wann zu einer Hintergrundrecherche oder einem Primeur verhalf, kleine Siege im Berufsalltag, aber Küsche, beziehungsweise das Dorf, sozusagen nichts über ihn, was Gipfel nicht bedauerte.

---ENDE DER LESEPROBE---