Tre Vulcani - Michael Hug - E-Book

Tre Vulcani E-Book

Michael Hug

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Beschreibung

Michael Hug schreibt vom Reisen. Dabei reist er nicht mit dem Strom. Genauso schreibt er keine Reiseberichte für den Mainstream. Und doch sind seine Reportagen pure Unterhaltung. Genauso sind sie aber auch spannend und informativ. Im Sinne des «Gonzo-Journalismus» schrieb der Autor mit «Sakartwelo» bereits sein fünftes Buch in vier Jahren. Er weiss um die Subjektivität seiner Eindrücke - und drückt sie ganz bewusst auch subjektiv aus. In seinem amüsanten, anregenden und leicht verständlichen Stil schreibt Michael Hug in «Tre Vulcani» über Wanderungen über glutheisse Lava, das ausgelöschte Dorf Pompeij und den unbezwungenen grössten aller drei, den Aetna. Michael Hug beschreibt in diesem Buch auf seine gewohnt witzige, amüsante und süffige Weise weitere Reisen, die er, neugierig und stets auf der Suche nach Ungewöhnlichem, unternommen hat. Der Autor lässt die Lesenden dieses Buchs tief in die Abenteuer einsinken – so als wären sie «live» dabei. Das Schlusskapitel bildet eine kurzweilige Reise nach Casablanca.

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Michael Hug schreibt vom Reisen. Dabei reist er nicht mit dem Strom. Genauso schreibt er keine Reiseberichte für den Mainstream. Und doch sind seine Reportagen pure Unterhaltung. Genauso sind sie aber auch spannend und informativ. Im Sinne des «Gonzo-Journalismus» schrieb der Autor mit «Sakartwelo» bereits sein fünftes Buch in vier Jahren. Er weiss um die Subjektivität seiner Eindrücke - und drückt sie ganz bewusst auch subjektiv aus.

In seinem amüsanten, anregenden und leicht verständlichen Stil schreibt Michael Hug in «Tre Vulcani» über Wanderungen über glutheisse Lava, das ausgelöschte Dorf Pompeij und den unbezwungenen grössten aller drei, den Aetna. Michael Hug beschreibt in diesem Buch auf seine gewohnt witzige, amüsante und süffige Weise weitere Reisen, die er, neugierig und stets auf der Suche nach Ungewöhnlichem, unternommen hat. Der Autor lässt die Lesenden dieses Buchs tief in die Abenteuer einsinken – so als wären sie «live» dabei. Das Schlusskapitel bildet eine kurzweilige Reise nach Casablanca.

Tre Vulcani

Inhalt

Barcelona 2008 7

Neustart 11

Das Ba‘game 19

Jahresübergang 27

Freunde 39

Berlin 45

Corbara 57

Die Schlossidylle 67

Käserollen 91

Prag 105

Tage im Juli 131

Scheherazade 141

Schwitzhütte 153

Perpignan 165

Tre Vulcani 189

Demain 23

Barcelona 2008

the hardest part of travellingis stepping out from your door

Die Formel stand, das heisst, vielleicht steht sie da immer noch, auf einer Tafel in einer ziemlich versifften Spelunke in der gotischen Altstadt von Barcelona. Die Knille hiess oder heisst immer noch «Travel Bar», und ich habe sie nicht wegen ihres Namens gesucht oder aufgesucht, sondern sie stand oder steht immer noch recht zufällig an einer Ecke an der Carrer de la Boqueria, an der ich am ersten Abend meines damaligen Aufenthalts auf dem Weg von einer Tapasbar in mein Hotel vorbeiging. Aus Gründen, die ich damals nicht eruieren konnte, hiess oder heisst das Hotel immer noch «Hotel California», es war oder ist immer noch ein «gay friendly»-Hotel, was mich nicht weiter störte damals, oder in irgendeiner Weise während meines Aufenthalts beeinflusste, es war ganz einfach der Preis und die Lage, die mich es zu buchen überzeugten. Nun denn, diese «Travel Bar» ist im Grossen und Ganzen eine Bar wie jede andere Bar auch, mit dem Unterschied nur, dass in dieser Bar ziemlich heftig geraucht wurde. Das zu einem Zeitpunkt, an dem in Spanien das Rauchen in öffentlichen Räumen fast überall schon längst verboten war, ausser an Orten, wo eine Ausnahmebewilligung bestand. Zu einem Zeitpunkt, im Übrigen, an dem man in meiner Heimat von einem Verbot noch weit entfernt war und sich in heftigen Debatten darüber erging, ob das Rauchen an sich oder allenfalls nur in Gaststätten die Grundrechte der Bürger beeinträchtigt oder nicht.

Nun denn, der Umstand, dass in der «Travel Bar» ohne Einschränkungen geraucht wurde, war nicht der alleinige Grund, dass die Location in meiner Wahrnehmung einen zwiespältigen Eindruck hinterliess. Vielleicht sollte ich es hier in meinen damals für die Zeitschrift «zeigerzine» verwendeten Worten ausdrücken:

knoblauchmayonnaisekalamari

die travelbar hat auch ein paar sitzplätze und es ist am nachmittag schon dunkel drin. aus einem bildschirm quält sich axel rose im schottenrock mit «live & let die». ich blicke auf riesige schiefertafeln an den wänden wo das hier angebotene zu trinkende oder verspeisende notiert ist. aber ich kann das geschriebene nicht lesen, zu weit weg, zu dunkel. ich frage nach einer karte und bekomme wortlos etwas plastifiziertes klebriges in die hand gedrückt. auch die tische möchte man eigentlich lieber nicht berühren. ich rümpfe meine Nase und entrümpfe sie wieder, bestelle patates braves mit knoblauchmayonnaise und calamares mit normaler mayonnaise. in einer ecke hinter der theke macht einer in lebensmitteln rum, vielleicht der koch. er ist jung, mag bart und trägt einen ungepflegten. ein cap hält die ebenfalls etwas ungepflegten strähnen auf dem kopf einigermassen zusammen. nein, eine weisse schürze trägt er nicht. er trägt überhaupt keine schürze. sein t-shirt und die jeans hat er vermutlich schon seit dem ersten adventsonntag am leibe. der vom nachbartisch steht auf und nuschelt in seinen hosensäcken. er bückt sich und macht an einem laptop rum so dass ich trotz dämmerung freie aussicht auf sein unterhosenlabel habe. dann zündet er sich eine zigarette an und rennt in der bar herum. offensichtlich ist ihm der strom ausgegangen und er sucht eine steckdose. ich versuche an den knoblauchmayonnaisekalamari in meinem teller irgendetwas überzeugendes zu finden. auch der, von dem ich vermute, dass er der koch ist, raucht jetzt eine zigarette. Doch deswegen bewegt er sich nicht von seinem arbeitsplatz, wo er vorher die knoblauchmayonaisse aus einem sack in meine kalamari gequetscht hat, weg.

Es gibt einen Umstand, der mich in diese «Reise-Bar», in der vermutlich kein Einziger und keine Einzige auf Reisen war (nomen est nicht immer omen, in der «Mykonos Bar» nicht weit von meinem Wohnort, sind ja auch nicht alle Gäste aus Griechenland, ausser der Wirt, aber der stammt aus einem Kaff bei Athen, was ja auch nicht gerade bei oder auf Mykonos angesiedelt ist) ausser mir, und nicht einmal ich reiste gerade, sondern hielt mich eine Woche in der Stadt auf, gelockt hat, der schon von aussen zu hören war: Rockmusik. Für Rockmusik gehe ich sogar in eine Raucherspelunke. Auf Reisen darf man nicht immer wählerisch sein, sonst sieht man nichts und erlebt nichts und bekommt nichts und kann auch nichts geben. Das ist es, was auf dem Schild steht: Der erste Schritt ist der Schritt aus sich selbst. Aus den eigenen Ansichten, Mustern, Normen, Ansprüchen. Der Schritt aus der sich selbst auferlegten Beschränktheit – aus den Mauern, die wir um uns errichten.

Aus der eigenen Türe treten halt.

Neustart

2012. Eigentlich bin ich ja vor einem Jahr schon neu gestartet. Nur war mir das damals noch nicht so richtig bewusst. Ich habe einfach das getan, wonach mir war, habe gewohnt, wo sie mich gerade aufnahmen, habe gelassen, wonach mir nicht war. Ein Landstreicherleben war das dennoch nicht. Ich liess mich nicht vom Schicksal anschieben, verschieben oder drängen. Nicht äussere Abhängigkeiten oder Umstände haben mich geschoben, sondern mein Drang nach einem selbstbestimmten Leben ohne Rücksicht auf Gepflogenheiten. Erst heute wird mir das bewusst. Jetzt, da ich erneut Wurzeln zu schlagen versuche. Wieder beziehe ich eine Wohnung und es scheint mir, als lasse ich mich nieder und bleibe hier für eine Weile. Diese Weile wird ein wenig länger dauern als die Weilen vorher, meine ich. Und was jetzt auch anders ist, ist, dass ich mir bewusst bin, dass ein neuer Abschnitt beginnt. Aber vielleicht kommt ja in einem Jahr schon wieder alles anders. Die Zukunft zu planen, heisst Gott zum Lachen zu bringen. Nicht nur aus diesem Grund plane ich keine Zukunft. Sie tritt ja eh ein, und ob sie mir dann passt oder nicht, hängt nicht von einer Planung, aber auch nicht vom Schicksal ab. Ein bisschen tun dafür, dass die Zukunft einigermassen passabel eintritt, kann man, also ich, schon, wenn auch gewisse Dinge nicht wirklich beeinflussbar oder vorhersehbar sind. Oder doch? Da hat mir doch mal jemand von Karma erzählt. Alles was mich trifft, ob gut oder schlecht, ist letztlich Karma. Dass meine neue Zukunft zurzeit grad leicht deprimös beginnt, ist wohl Karma und muss ich akzeptieren. Goldapfl hat mich verlassen und zum Abschluss meiner Zeit mit Emil habe ich mir an seiner Deichsel ein blutunterlaufenes Schienbein und einen geschundenen Rücken angeeignet. Alles Karma. Und es wird Winter. Das ist nicht Karma, sondern hat mit der Stellung der Erdkugel zur Sonne zu tun. Es kann jetzt also nur noch besser werden, das Karma.

Ich wohne jetzt in einem Schloss. Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben. Das Haus, meine neues zuhaus‘, hat zwar viele, aber nicht sehr viele Räume und ausserdem schwirren auch nicht Heerscharen von Bediensteten herum. Aber es kommt mir wie ein Schloss vor, weil es gross ist und grosszügig und wenn es meins wäre, würde ich es umgehend als Schloss bezeichnen. Natürlich müsste ich dann mindestens eine Putzfrau haben, denn man kann nicht davon prahlen, dass man in einem Schloss wohnt, aber keine Diener hat. Nun, das Schloss, gute hundert Jahre alt, in dem ich jetzt residiere, im obersten Stock, mit 95 Quadratmetern Wohnfläche, Balkon und freie Sicht auf einen Stausee, ist nur für mich ein Schloss und für alle anderen ein Mehrfamilienhaus. Für Hiesige ist es auch ein ehemaliges Wohnheim (in der Tat haben darin früher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Textilfirma gewohnt, später Asylsuchende), wovon man heute aber nichts mehr sieht, weder innen noch aussen. Eine Burg jedoch ist es nicht, obwohl es Felsenburg heisst und hoch über der Thur thront.

Ich bin zufrieden und schmiede Pläne. Reisepläne. Ausserdem hoffe ich, hier in aller Ruhe nach der nicht so ganz ruhigen, dafür lebendigen Zeit mit Emil (Emil ist ein Zirkuswohnwagen, siehe Band 1 «Mediterranea»), meinen jetzt doch schon vor ziemlich langen Zeiten begonnenen Roman fertig schreiben zu können. Doch kaum bin ich, also wir, eingezogen, kommen zu meinen liebeskummerbedingten Depressionen auch noch währschafte Sorgen mit meiner einzigen mir treu gebliebenen Lebensbegleiterin.

Die eine verlässt mich, die andere hat Angst verlassen zu werden. Goldapfl ist gegangen und Scheherazades Anhänglichkeit wird von Tag zu Tag penetranter. Steht mitten in der Nacht neben meinem Bett, zittert am ganzen Körper und hechelt. Schaut mich mit grossen Augen hilflos an und erwartet, dass ich mich um sie kümmere. Eine Stunde lang oder länger. Sie hat Angst. Jede Nacht spielt sich das jetzt so ab, und es reicht nicht, dass sie mir mit ihrem Gehechel auf die Nerven geht, nein sie will auch noch in mein Bett, möglichst nah zu mir, am besten gleich zum Kopf. So geht das nicht, sage ich ihr, aber sie versteht kein Wort (was sie sonst ja auch nicht tut, ausser ein paar prägnante Befehle). Sie scheint in keiner Weise mehr empfänglich, weder für gutes Zureden noch für harsche Befehle.

Ich schreite zur Leine und binde sie ans Sofabein im Wohnzimmer. Das akzeptiert sie auch nicht, winselt und japst schon nach kurzer Zeit. Ihr Weiber, was wollt ihr von mir, warum quält ihr mich, raubt mir den Schlaf? Womit hab’ ich das verdient, lamentiere ich innerlich und stopfe mir äusserlich Quetschpfropfen in die Gehörgänge. In meinem eigenen Schlafzimmer muss ich nun tun, was ich sonst bei Anwesenheit von Punk-Musik tun muss. Das ist Hardcore-Qual auf die subtile Weise, ich fluche innerlich und löse damit das Problem nur teilweise. Scheherazade zieht ihre Show voll durch. Ich erkenne, dass ich auf ihr Verhalten keinen Einfluss nehmen kann und recherchiere.

Wiki meint:

Angststörungen können im höheren Alter des Hundes auftreten. Im gleichen Masse wie die geistige Flexibilität und die Sinnesleistungen des Hundes abnehmen, werden sie durch emotionale Reaktionen ersetzt. Wenn ein Hund die Umweltreize in seinem Weltbild nicht mehr richtig einordnen kann, wird er unsicher und bekommt Angst.

Umweltreize? Welchen Umweltreizen ist Scheherazade nachts um zwei Uhr ausgesetzt? Träumt sie mit offenen Augen? Halluzinationen? Paranoia? Ich muss mich wohl langsam daran gewöhnen, dass mein treues Hundli, das mich jetzt elf Jahre lang in Ruhe gelassen hat mit irgendwelchen Gebresten, dement wird. Ich melde mich, also den Hund, beim Tierarzt an.

Es gibt noch Hoffnung, sagt der Doktor, obwohl, gegen das Problem an sich könne man eigentlich nichts tun, sagt er, man kann nur die Symptome mildern. Solche Reaktionen kommen bei alten Hunden vor, meint er, man könne Psychopharmaka verabreichen, etwas was man bei Menschen ja auch tun würde, sofern gutes Zureden nichts mehr hilft. Nun, gutes Zureden hilft bei meinem Hundli schon eine Weile nicht mehr, auch die Intensivierung meiner Empathiebezeugungen bringt nichts, Schebeli zittert mitunter auch tagsüber schon. Zum Chemiehammer will ich aber nicht greifen. Homöopathie kann auch helfen, meint der Mann im grünen Kittel. Ich folge seinem Rat und, was bleibt mir anderes übrig, kaufe zwei Dosen dieser sauteuren Lupulustabletten. Ab nun bekommt Scheherazade täglich zwei zerbröselte Pillen ins Futter. Es dauert drei Wochen bis sich eine Reaktion einstellt. Die Pillen wirken. Wunderbar, Problem gelöst, Schebeli bekommt einen neuen Schlafplatz unter meinem Bett und akzeptiert diesen auch gleich ohne Umschweife.

Weihnachten lese ich in einer Bar Selbstgedichtetes. Es handelt von Blutegeln und der Frage, wovon sie sich ernähren, wenn kein Blut zum Saugen da ist. Ich meine, die Frage ist doch angebracht: Da leben diese Egel im seichten Wasser und warten darauf, dass ein Menschenbein, an das sie sich hängen können, daher schwimmt. Oder ein Reh-, Fuchs-, Pferde- oder wessen Bein auch immer. Es muss ein Glückstreffer sein für so einen Egel, wenn er das erhält, wofür er geboren wurde. Nur, was ist, wenn kein so ein Bein daher schwimmt? Geht er dann ein oder kann er sich anderweitig ernähren?

Das Rätsel löst sich in dieser Lesung nicht auf. Auch die Zuhörenden in der proppenvollen Bar wissen keine Antwort darauf, das war auch nicht zu erwarten. Doch sie lachen immerhin, das habe ich erwartet, und sie applaudieren vehement, das habe ich weniger erwartet, tut aber trotzdem gut. Doch was mir nicht guttut, ist der Anlass an sich, er findet nämlich am Ort statt, in dem mein ehemaliger Goldapfl die Chefin ist. Der Goldapfl, der mich vor 24 Tagen verlassen hat. Das ist komplett hirnverbrannt, möget ihr, Lesende, nun sagen, so etwas macht man nicht. Ich mache das, weil ich ein Versprechen abgegeben habe, und dieses Versprechen, bzw. die Zusage zu diesem Leseabend, habe ich vor mehr als 24 Tagen gegeben. Zusagen hält man ein, das ist ganz klar. Und ausserdem hat der Auftritt mit den hungernden Egeln ja nichts mit der unglücklich verlaufenen Beziehung zu tun.

Versprechen einzuhalten ist nicht immer ein Vergnügen im sich selbsteingebrockten Leben. Das Dasein an diesem Ort wird für mich zu einem hochemotionellen Seiltanz mit exponentiellem Trancefaktor. Es toben schier die Zuschauenden, bzw. Zuhörenden vor Begeisterung, aber mir ist schier grottenschlecht vor Stress. Ich verlasse also diesen selbst gewählten Ort der Grausamkeit und fahre in die Heilige Nacht nach Hause in mein Schloss. Die Fahrt zurück in die voralpinen Hügel des Toggenburgs dauert eine ziemliche Weile und das schafft Zeit zum Nachdenken. Was für verrückte Dinge man machen kann an Weihnachten. Ich erinnere mich an einen Trip vor ein paar Jahren. Da bin ich am Vortag des Heiligen Abends in einen Flieger nach London gestiegen. Das Ziel war Schottland, genauer: Die Orkneys. Davon soll hier zeitgerafft die Rede sein.

Die Orkneys sind eine Inselgruppe im hohen Norden Schottlands. Um innert nützlicher Frist, in meinem Fall innert eines Tages, auf die Orkneys zu gelangen, muss man generalstabsmässig planen. Der Plan sieht vor, mit dem Flieger nach London zu fliegen und dann in einen Zug zu steigen, der nach Glasgow fährt. In Glasgow habe ich eine Stunde, um in den Zug nach Aberdeen zu wechseln. Dabei begegne ich zum ersten Mal in meinem Leben einem Mann im Kilt. Doch ich habe keine Gelegenheit, dem Mann Beachtung zu schenken, denn es wird mir schockartig klar, dass ich bei der Planung übersehen habe, dass das Umsteigen nicht im selben Bahnhof stattfindet. Ich wechsle also den Bahnhof und zwar per Bus. Es ist ein Zufall, dass ich im Ankunftsbahnhof, dessen Name ich vergessen habe, durch den richtigen Ausgang hinausrenne, um den Shuttlebus zu besteigen.

Andernfalls, wird mir später klar, hätte ich diesen Bus verpasst und damit auch den Zug nach Aberdeen - der weitere Verlauf meiner Reise wäre zum Scheitern bestimmt gewesen. Das heisst, sie wäre gescheitert, da der Plan vorsieht, in Aberdeen die Fähre zu besteigen. Die letzte Fähre vor Weihnachten. Der Plan sieht eben auch vor, einen bestimmten Event auf den Orkneys zu besuchen, und dieser Event findet am Weihnachtstag statt. Nun, es wird ziemlich knapp, aber es klappt (im Übrigen sah der Fahrplan der «First ScotRail» dies so vor, darum musste es ja klappen). Im Zug nach Aberdeen esse ich erhitzte Sandwiches (und wieder frage ich mich, welcher Tiefflieger wohl zum ersten Mal auf die Idee kam, Sandwiches zu erhitzen) und plaudere mit einer Dame mit Kind, die beide noch nie einen Schweizer getroffen haben. Es ist mittlerweile Nachmittag und mir fällt auf, dass es in Schottland ziemlich viele Golfplätze gibt, auf denen trotz des Nieselwetters gespielt wird.

Angekommen in Aberdeen muss ich mich wiederum sputen, denn es bleibt wiederum nicht viel Zeit, um zum Hafen hinunterzugelangen und die Fähre nach Kirkwall zu erreichen. Dazu muss ich erst einmal herausfinden, wo der Hafen ist, und dann, ob es sich lohnen würde, ein Taxi dahin zu benützen. Ich kaufe kurz und schnell eine Stadtkarte (es gab zu jener Zeit noch keine Smartphones) und sehe, dass es nicht sehr weit ist. Ich gehe also zu Fuss, muss aber feststellen, dass es an einer bestimmten, strategisch aber nicht unbedeutenden Stelle einen Zaun gibt, der auf der Stadtkarte nicht als solcher erwähnt ist. Ich gehe also weiter als gedacht zu Fuss und denke, dass ich mir eben doch ein Taxi hätte nehmen sollen. Doch auch diese Übung gelingt. Ich bin auf der Fähre «Hrossey» und habe eine sechsstündige Überfahrt vor mir. Kaum legt die Fähre ab, schellt das Handy. Meine liebe Gotte wünscht mir schöne Weihnachten. Meine liebe Gotte wohnt bei Wien und kippt schier aus den Socken, als ich ihr mitteile, dass ich vor der Küste Schottlands herumschippere. Die restlichen fünfeinhalb Stunden sind ruhig. Im Bordrestaurant gibt es gebratenen Haddock und Kartoffeln. Und Bier. Auch eine Bordbar gibt es, aber die schliesst um 22 Uhr. Dabei ist die Ankunft des Schiffs gegen 24 Uhr. Es gibt also zwei Stunden nichts zu trinken, was an sich keine Tragödie ist, aber doch irgendwie seltsam in Schottland.

Die «Hrossey» legt pünktlich in Kirkwall an. Kirkwall ist der Hauptort der 18 kleineren und grösseren orkadischen Inseln. Die meisten «Orkadiens», rund 8‘000 von rund 20‘000, leben hier. Ich sehe vom Schiff aus, dass es, trotz Dunkelheit und dörflicher Verhältnisse, zu weit ist, um zu Fuss ins Hotel zu gehen. Ausserdem habe ich keine Ahnung wo dieses Guesthouse steht, also nehme ich mir ein Taxi. Der Taxidriver spricht leider kein Englisch (jedenfalls nicht ein Englisch, das ich als solches bezeichnen würde), sondern ein grauenhaftes Kauderwelsch, das sich Orkadianisch nennt und von der früheren (und heute nur noch spärlich auf den Shetlands, Färöern o.ä. gesprochen wird) nordischen Sprache abgeleitet ist. Der Mann also versteht wahrscheinlich gut die Hälfte von dem, was ich sage, und ich rund zehn Prozent von dem, was er sagt. Das wäre insofern kein Problem, als er wenigstens meine Zielangabe richtig mitbekommen hätte. Er setzt mich nämlich vor dem falschen Guesthouse ab und entschwindet in der Dunkelheit. Ich bemerke den Irrtum, als ich im Flur des falschen Guesthouses stehe und die Gastgeberin mir bescheidet, dass ihr Haus geschlossen ist, da um diese Jahreszeit eh kein Tourist nach Kirkwall käme.

Und um diese Tageszeit schon gar nicht, denke ich, denn es ist Mitternacht. Die Gute ruft mir auf meine Bitte ein Taxi, das mich dann ins richtige Guesthouse bringt, wo mich John Webster, der Besitzer, schon ungeduldig erwartet. Ich entschuldige mich wegen der Verzögerung, er gibt mir ein belgisches Bier und checkt mich ein. Er spricht ausserdem perfekt Englisch.

Das Ba‘game

Bei uns in Europa ist Heiligabend. Die Orkneys gehören auch zu Europa, doch hier ist Grossbritannien, darum ist heute hier nicht ein heiliger, sondern ein normaler Abend. Tief in sich drin sind die Orcadians ein Volk vieler Völker, in ihren Adern fliesst das Blut vieler Vorfahren, der Pikten, Kelten und Wikinger. Sie alle dürften sich um die Geburt des Heilands einen Deut geschert haben, vielleicht, weil sie einen gemeinsamen Feind hatten, die Römer nämlich, aber vielmehr darum, weil sie ihre eigenen Götter und deren Söhne anbeteten. Doch das gemischte Blut der Orkadierinnen und Orkadier hat sich längst auch mit dem der Schotten und Engländer vermischt. Ein Beispiel dafür ist die Familie Webster. Vater John ist Engländer, ehemaliger Chemiker bei einer Ölfirma, deren es hier wegen der angezapften Ölquellen rund um die Orkneys einige gibt, seine Frau eine Lehrerin aus Edinburgh, und der Bub, weil hier zur Welt gekommen, ein Orkadier. Alle drei sind logischerweise Briten und alle drei sprechen - nebst Amts-Englisch - auch ihren eigenen Dialekt.

Ich bin im «Karrawa Guest House» der einzige Gast und, so kommt es mir vor, in ganz Kirkwall der einzige Tourist. Es gibt nicht viele Gründe, an Weihnachten die Orkneys zu besuchen: Selten gibts hier Schnee, oft aber Wind und Regen, es gibt keine Berge zu besteigen, keine Wälder zu durchstreifen und keine Strände zu geniessen. An den beiden Weihnachtstagen, die auch hier Feiertage sind, steht die Welt auf den Inseln sogar fast ganz still. Sämtliche Restaurants und Pubs sind geschlossen, alle Läden ebenfalls und die neolithischen Hot Spots sind ohne Betreuung. Der kleine Flughafen macht Minimalbetrieb, ebenso der öffentliche Verkehr, es gibt keine Autos zu mieten und die Fähren auf das schottische Festland verkehren nicht. Nur Taxis bieten ihre Dienste an, aber sie warten nicht an ihren Taxiständen, sondern man muss sie telefonisch organisieren. Ausserdem, die Tage im Winter am 59. Breitengrad sind kurz, richtig hell ist es nur zwischen 9 und 15 Uhr. Also was will ich da?

Die Orkneys bieten in mancher Hinsicht gewisse Reize. Es gibt viel intakte Natur, ein recht intaktes Sozialgefüge. Die Arbeitslosenrate auf den Orkneys ist weit unter dem Durchschnitt Schottlands, die Kriminalitätsrate ebenfalls. «Ein Auto stehlen – wo sollte man es hier verstecken?» sagt die Polizei. Ebenso wenig lohnt es sich, jemanden zu überfallen, man wäre schnell gefasst. Seit auf Flotta, einer der Inseln des Archipels, 10 Prozent des britischen Nordseeöls gefördert und aufbereitet wird, hat hier fast jeder Arbeit, der sich nicht davor drückt. Die Löhne sind gut und das Bier entsprechend teuer, dafür hat längst nicht jeder ein Auto, weil man es gar nicht richtig ausfahren kann.

Nun ist Weihnachten. Statt Frühstück gibt es Bescherung. Die Familie Webster plus diverse Verwandte ist im Wohnzimmer anwesend und entpackt Geschenke. Es gibt Tee, Kaffee und Kuchen, bzw. Torten. Dann gebackenen Truthahn und französischen Wein. Ich fühle mich nicht mehr als Gast, sondern als Familienmitglied. Man spricht über mich und dann über das Ba‘game. Das Ba‘game ist der Jahreshöhepunkt auf den Orkneys und der Grund meiner Reise hierher. Nach dem etwas frühen Mittagessen steigt die Betriebsamkeit im Haus. Der Bub macht nämlich auch mit, der Vater nicht, weil er kein echter Einheimischer ist, die Mutter darf nicht mitmachen, weil das Ba‘game nicht für Frauen ist. Ich besorge mir an John Websters chaotisch organisiertem Reception Desk einen Stadtplan und beschliesse nach dessen Durchsicht, zu Fuss ins Stadtzentrum zu gehen.

Vor der St.Magnus Cathedral an der Broad Street warten Hunderte, ja Tausende Menschen. Ich stelle mich dazu und warte ebenso, nämlich auf den Ein-Uhr-Schlag der Glocke im Turm der Kathedrale. Die Menschen stehen so, dass auf der Broad Street ein kreisrunder Platz freibleibt. Auf diesem Platz stehen an die 200 junge und nicht mehr so junge Männer, breit und kampfbereit, mit grimmigen Gesichtern, Junggesellen, Väter, Handwerker, Fischer, Ölarbeiter, die meisten mit kräftiger Statur nahe an der Zweimetergrenze. Dann, exakt um Ein Uhr, der erlösende Glockenschlag, gefolgt von einem Aufschrei. Ein Ball, geworfen von einer prominenten Persönlichkeit, fliegt in die Männermenge. 400 Hände greifen nach ihm, versuchen nach ihm zu greifen, er hüpft noch einige Male über den Köpfen der Männer und taucht dann unter zwischen den Körpern, die nun so eng aneinander stehen, dass keine Hand mehr dazwischen passt. «Wo ist das Ba», fragen sich die hinteren im Pulk, und die in der Mitte wissen auch nicht viel mehr. Vermutlich hält ihn einer krampfhaft fest und presst ihn an seinen Körper, auf dass ihn ihm keiner entreissen kann. Doch was nützt es, wenn der Ball in festen Händen ist, er kommt so nicht vom Fleck, und das Ziel des Spiels ist es doch, das eine oder andere Tor zu erreichen.

Im Pulk der Männerleiber wird gedrückt, gestossen, gezwickt, geboxt und geflucht. Das Knäuel bewegt sich auf eine Hausfassade zu, derweil unter ihm schnaufende Männer hervorpurzeln. Der Pulk verharrt an der Mauer minutenlang fast ohne Regung. Die Zuschauenden toben. «Co’on doonies!» schreien die einen, «Go on uppies!» die anderen. Dabei hält das aufgeregte Publikum stets einen sich selbst ergebenden Sicherheitsabstand zum Männerpulk ein, manchmal ist der Abstand grösser manchmal kleiner, manchmal mischen sich Männer aus dem Publikum ein am Pulk, stossen mit und schieben, werden selbst zurückgestossen von einem aus dem Pulk, oder werden in die Oberschenkel gezwickt, oder fallen auf die Nase, weil sich zu viele Beine ineinander verwirren. Derweil schieben und stossen die Männer am und im Pulk kräftig gegen die Mitte und man mag sich nicht vorstellen, wie es denen geht in ebendieser Mitte. Durch die sich ergebenden Kräfteverhältnisse bewegt sich der Pulk auf Männerbeinen in die eine oder andere Richtung, was die Männer aussen am Pulk wiederum dazu veranlasst, entsprechend dagegen zu stossen. Daraufhin bewegt sich der Pulk wiederum auf die andere Seite, oder auf eine unvorhergesehene Seite, wobei das Ziel für beide Mannschaften gleichsam entschwindet, und der Pulk bewegt sich in eine Gasse, die nicht direkt zum Ziel führt.

Zweimal im Jahr findet das Ba‘game statt, je am Weihnachtstag und am Neujahrstag. Vormittags um zehn gibt es ein «Boys Ba‘», am Nachmittag um eins steigt dann der grosse Event für die Männer ab 17 Jahren. Mindestens seit 350 Jahren ist das schon so, vielleicht schon länger. Manche Historiker meinen, dass das Ba‘game mit den Überfällen der Wikinger gegen Ende des 8. Jahrhunderts auf die Orkneys kam. Vielleicht wurde es auch erst erfunden, als die Wikinger schon da waren. Es war zu jener Zeit nämlich üblich, mit dem Kopf des erlegten Feinds Fussball zu spielen. Nicht um damit Tore zu erzielen, sondern um dem Feind Überlegenheit zu demonstrieren (sofern er dabei zusah), aber vielleicht auch um dem eigenen Ego zu schmeicheln. Raue Sitten waren üblich unter den Wikingern, aber auch unter den Pikten, den Ureinwohnern Schottlands, die ein selbstbewusstes und kriegerisches Volk waren.

Es ranken sich einige abgedrehte Legenden um die Herkunft des Ba‘game, die stets eines gemeinsam haben: Es sind stets abgeschlagene Köpfe im Spiel. Kann gut sein, dass sich aus dem Köpferollen das Rugby-Spiel oder gar der englische Fussball entwickelt hat. Beides sind Ballspiele mit einem ganzen Satz von Regeln. Diesbezüglich ist das Ba‘game bei der Einfachheit geblieben. Es gibt nämlich keine einzige Regel. «The rule is: no rules» sagen die Orcadians. Damit ist auch die Grösse der Mannschaften nicht bestimmt. Es ist recht interessant, zu beobachten, wie sich ein Spiel entwickelt, das trotz Fehlens jeglicher Regeln funktioniert, wie sich Zahl der Mitglieder beider Mannschaften immer irgendwie ausgleicht, es keinen Schiedsrichter braucht und es trotzdem keine Toten gibt.

Im weitesten Sinne ist das Ba‘game mit Rugby zu vergleichen. Es gibt zwei Mannschaften, beide beginnen in der Mitte des Spielfelds und versuchen, den Ball in das gegnerische Tor zu bringen. Das Tor der Einen ist das Hafenbecken, das der Anderen eine Hauswand am Mackieson‘s Corner an der Kreuzung Main Street/New Scapa Road am gegenüberliegenden Stadtrand. Die Tore liegen 700 Meter auseinander. Dazwischen ist das Zentrum der Stadt Kirkwall. Das Spiel beginnt immer bei der Kathedrale, weil die an der Trennlinie zwischen Ober- und Unterstadt steht. Diese Trennlinie, die Broad Street, macht auch gleich klar, wer zu welcher Mannschaft gehört. Wird ein Mann in der Oberstadt geboren, ist er auf Lebzeiten ein «Uppie», einer von der Unterstadt ist ein «Doonie». Die Grenze zwischen den Stadtteilen ist eine historische Steuergrenze. «Uppies» zahlten einst an den Bischof von Kirkwall, «Doonies» an den Grafen von Orkney. Heute ist diese Grenze, ausser eben beim Ba‘game, nicht mehr relevant.

Doch für die Zugehörigkeit zu einer der beiden Fraktionen, die am Jahresende um das Ba‘ streiten, ist sie nach wie vor bestimmend. Sogar derart wichtig, dass eine Familie unbedingt darauf achtet, wo sie wohnt, wenn ein Sohn zu Welt kommt. Gehört ein Mann keiner der beiden Fraktionen an, zum Beispiel weil er später zugezogen ist (wie viele der Ölarbeiter aus England), ist er weder noch und darf nicht teilnehmen. Möchte er das trotzdem, muss er beim Zuzug darauf achten, wie er auf die Insel kommt. Der Fährhafen ist «Doonie»-Gebiet, der Flughafen gehört den «Uppies». Da die meisten Kinder im ausserhalb der Stadt gelegenen Spital von Kirkwall zur Welt kommen, müssen «Doonies» einen Bogen um die Stadt machen, wenn sie ihren Neugeborenen nach Hause bringen. Ansonsten betritt er die Stadt von der falschen Seite und ist ein «Uppie».

Bereits eine Stunde lang stemmen sich die 200 Männer schon gegeneinander. Bewegt haben sie sich dabei höchstens 50 Meter. Eine Dampfsäule aus Schweiss steigt auf über ihnen. Ab und zu kämpft sich einer aus dem Pulk und bekommt von seiner Frau Mineralwasser. In den engen Gassen der Stadt fällt es dann für uns Zuschauende schwer, den Fortgang der Balgerei mitzukriegen. Den Ball hat seit Beginn des Spiels ohnehin niemand mehr gesehen. Bedenklich drückt sich der Pulk gegen die mit Planken geschützten Fenster der Altstadthäuser. Bewegt sich der Pulk unvermutet auf eine Seite, gibt es ein kleines Chaos, Zuschauende weichen zurück, stossen die hinter ihnen Stehenden, mitunter geraten dann Unbeteiligte zu nahe an den Pulk der schwitzenden Männer und geraten unter deren Füsse. Sicherheitskräfte oder Ähnliches gibt es nicht. Ein paar Sanitäter stehen stets in der Nähe der Kämpfenden, aber ihnen geht es mehr darum, diejenigen herauszunehmen, bzw. herauszureissen, die keine Luft mehr bekommen. Die Zuschauenden müssen selbst für ihre Gesundheit schauen. Im Übrigen ist gar nicht immer zu unterscheiden, wer denn noch Zuschauer ist, denn der Eine und Andere drückt wacker mit, zieht sich aber schnell wieder zurück, wenn er selbst von hinten gedrückt wird. In den Pulk hinein zu geraten ist dann doch Manchem des Guten zu viel.

Doch plötzlich bewegt sich der Pulk unvermutet zur Seite, einige Männer stürzen, ein paar lösen sich aus der Mitte und nützen die Bresche, um sich davon zu machen. Einer hat den Ball, rennt in die Zuschauenden, wird dummerweise durch solche, die nichts mitbekommen haben, aufgehalten, dadurch holen ihn die Gegner wieder ein und es bildet sich von neuem ein Pulk. Immerhin ist man durch diese Aktion dem Ziel der «Uppies» um 50 Meter nähergekommen. Es ist ziemlich klar, dass es bei dieser Dränglerei blaue Flecken gibt, dass Kleider zerrissen werden, und dass mancher blau anläuft weil er keine Luft bekommt. Doch wirklich Verletzte gibt es nicht. Auch gibt es keine Schlägereien, weil das im Pulk drin gar nicht möglich ist. Trotz Fehlens jeglicher Regeln bleibt das Spiel fair, aber hart.

Es ist dunkel geworden, die Strassenlampen werden eingeschaltet. Für die letzten 100 Meter bis zum Goal der «Uppies» braucht der Pulk der harten Männer eine Stunde. Noch immer sind etwa 2000 Zuschauer da. Der Pulk hat die Zielmauer erreicht, doch das Spiel ist noch nicht fertig. Der Ball muss die Mauer berühren. Da wir Zuschauende, die wir gebannt im Halbrund um die Männer stehen, den Ball nicht sehen, warten wir ab was geschieht. Eine Reihe von Hobby- und Profifotografen haben sich aufgestellt, wartend mit aufgesetzten Blitzgeräten. Es dauert weitere zwanzig Minuten. «Heute sind wegen des Wetters viele Zuschauer da», sagt einer neben mir. Das Spiel werde gehauen oder gestochen bei jedem Wetter gespielt, erzählt er weiter. Das Wetter ist also gut heute, schliesse ich daraus, nur was an Nebel und Nieselregen gut ist, erschliesst sich mir nicht.

Dann, Schreie, offenbar hat der Ball die Wand berührt. Doch ausser, dass ein paar Männer sich aus dem Pulk schälen, scheint nicht viel zu geschehen, meine ich. Aber ich bin der Einzige, der nicht mitgekriegt hat, wer gewonnen hat, jedenfalls gibt es eine ganze Anzahl Leute, die strahlen und schreien, derweil sich andere schweigend davonmachen. «Die diskutieren nun, wer den Ball bekommt», sagt der Mann von vorhin. «Das Ba‘ bekommt derjenige als Trophäe, der am meisten für das Spiel getan hat!» Das scheint mir eine gute Lösung. Statt eines Pokals für die ganze Mannschaft, bekommt jedes Jahr ein anderer den Ball. Nach weiteren zehn Minuten ist klar, wer das ist: Ein Mann wird aus der Mitte hochgestemmt, er hält triumphierend das Ba‘ über dem Kopf. Die halbe Menge jubelt im Freudentaumel, die andere Hälfte ist abgezottelt, Kameras blitzen, Zuschauende freuen sich oder nicht, der Mann wird auf Schultern zurück ins Stadtzentrum getragen. Es ist Stewart Sclater, Pöstler und Uppie, lese ich am nächsten Tag in den Orkney News. Ich schaue auf die Uhr: Dreieinviertel Stunden hat das «Chrismas Ba‘» gedauert.

Ich gehe zu Fuss ins Guesthouse zurück. Beim aufgewärmten Turkey erzählt mir John, dass die Sieger (und wohl auch die Verlierer) nun alle nach Hause gegangen sind. Sie müssen nämlich erst mal ihren Familienpflichten nachkommen, Weihnachten feiern und Geschenke öffnen, wo noch nicht geschehen. Später werden sie dann zum Haus des Siegers ziehen und die ganze Nacht feiern. Weil das Haus für gewöhnlich nicht gross genug ist für so viele feiernde Menschen (auch Frauen sind dann zugelassen), stehen und trinken die meisten im Freien. Anzumerken bleibt, dass das «New Years Ba‘» sieben Tage später von den Doonies gewonnen wird. Was ich aber nicht mehr erlebe, denn ich reise noch vor Silvester nach Mitteleuropa zurück und schreibe eine Reportage mit dem Titel: «The rule is: no rules».

Jahresübergang

Mein aktueller Jahresübergang verläuft wenig spektakulär. Ich wälze mich in Ärger, Selbstmitleid und Depressionsschüben. Meine Astrologin erklärt mir, dass alles seine Richtigkeit hat und empfiehlt mir, die Sache positiv zu sehen: «Du hast sehr viel erfahren dabei!» Aha, sage ich. Die Erfahrung, die ich gemacht hätte, sei sehr wertvoll, jedoch mit dem Intellekt nicht zu begreifen. Ich begreife in der Tat nichts, lege meinen Intellekt beiseite und beschliesse, demnächst die stählerne Kugel der Frustration in mir zu sprengen. Irgendwie.

Ich gehe mit Asteroid ins Kino. Im Film geht es um Hellsichtigkeit und die Probleme, die Leute haben, die es sind. Der Held, Matt Damon, kann einem leidtun. Da sagt er den Leuten die Wahrheit und bereitet ihnen dadurch nur Kummer. Trotzdem rennen sie immer wieder zu ihm und wollen wissen, was sie nicht wissen. Das ist ziemlich paradox, denke ich und Matt wohl auch, denn er macht mit sich ab, das Hellsehen aufzugeben. Einmal lässt er sich noch überzeugen, einem Jungen die Wahrheit zu sagen, und dieses letzte Mal hat er sogar das Glück, dass seine Botschaft gut ankommt. Matt ist doppelt glücklich, nämlich dass er dem Buben geholfen hat einerseits und andererseits weil er auch noch – es naht das Happy End – eine Dame fürs Leben findet, die ausserdem ein ähnliches Schicksal teilt. Somit werden sich die Beiden verstehen, sich austauschen können und der Welt noch viel Gutes geben.

Nach dem Kino lade ich Asteroid, meine Begleiterin, zur Pizza ein. Eine schlechte Idee, die Pizza ist zum Vergessen. Der Salat davor ebenso, weil er in der Sauce ersäuft wurde. Der Wein, der nach den Worten des Kellners - «Den Montepulciano verkaufen wir sehr gut!» - eigentlich ein guter sein sollte (wobei in seiner Aussage auch die Tatsache steckt, dass gewisse Menschen keine Ahnung von gutem Wein haben), ist harnwarm, weil er statt im Keller schon Jahre auf einem Regal über der Theke gestanden hat. Dass er sich gut verkauft, ist eine satte Lüge, denn es ist Staub auf der Flasche. Ein schöner Film, ein Essen zum Vergessen, dazu die Geschichten des Alltags, die mir Asteroid erzählt, die haarsträubend sind. Letzthin habe sie in einem Chatroom einen Kerl kennengelernt, der von sich behaupte, dass er Schauspieler sei. Nichtsdestotrotz habe er ihr schon mit den ersten ausgetauschten Chats unsittliche Anträge gemacht. Der Mann schien mit einem übersteigerten Selbstvertrauen gesegnet, denn er hätte sich nicht einmal ein Pseudonym zugelegt, sondern unter seinem richtigen Namen geplaudert.

Ob ich den Kerl kenne, fragt sie mich. Natürlich kenne ich den, erwidere ich. Der Mann sei in der Tat ein Schauspieler, vermutlich aber mit zweifelhaften Qualitäten oder ebensolchem Charakter oder beidem, denn er sei beim Stadttheater rausgeflogen, sage ich, «aber dir wird er vermutlich erzählt haben, dass er sich selbständig gemacht hat». Ein Schwätzer mit beschränktem Talent, sage ich noch, ausserdem sei er meines Wissens verheiratet. Sie sagt: «Ja das gibt er auch zu. Aber trotzdem macht er mich an, er hat mir sogar Fotos geschickt, von sich, aber nicht nur vom Gesicht, auch von unten rum!» Ich sage: «Hä? ist der Kerl pervers?» «Ja», meint sie, «der hat doch glatt das Gefühl, dass wir Frauen auf jeden Schwanz abfahren, so ein Sauhund.» «Den wirst du nicht mehr so schnell los», sage ich, «je mehr du mit ihm diskutierst desto mehr verbeisst er sich in dich und eines Tages steht er vor deiner Tür.» «Ja das fürchte ich auch», meint Asteroid. Dann erwähne ich, dass ich diesem feinen Herrn bestimmt wieder mal über den Weg laufen würde und ob ich ihn auf seine Schwanzbilder ansprechen soll, frage ich. Natürlich meine ich das nicht wirklich ernst, denn allein schon bei der Vorstellung graut mir davor.

In den nächsten Tagen, wies der Zufall will, beim Durchblättern der Zeitung, grinst mir dieser Schwanzzeiger auf einem Bild entgegen. Ich denke: Du Sauhund. Gibst dich als eloquenter Kabarettist und Intellektueller und nach der Show hockst du an deinem Computer und hältst dein Handy vor deinem schrumpligen Schniddelwutz und verschickst das Bild an alleinstehende Frauen. Scheisse, denke ich weiter, diese Abgründe. Wie viele dieser perversen Machos laufen wohl auf dieser Welt herum? Ich kann diesem Matt Damon gut nachfühlen mit seinem Wissen, das, wenn er es weitergibt, immer Unheil anrichtet. Was soll ich tun mit solchem Wissen? Müsste denn nicht bekannt gemacht werden, dass dieser umjubelte Kleinbühnendarsteller im realen Leben eine Sau ist? Soll ichs seiner Frau erzählen, oder soll ichs dem «Blick» verticken? Würde es etwas ändern?

Ich beschliesse, meinem Romanhelden Gipfel die Gabe der Hellsichtigkeit zu geben und werde ihn wahnsinnig werden lassen.

Es ist Freitagabend. Ich mach’ mich auf zur Arbeit und wie ich so aus unserer Zufahrt auf die Hauptstrasse steuere, ist diese in jene Richtung, in die ich nicht muss, komplett gesperrt. Ich mache mir keine weiteren Gedanken. Wie ich vier Stunden später gegen Mitternacht nach Hause komme, ist die Strasse immer noch gesperrt. Ich höre lauten Lärm aus ebendieser Richtung, mache mir ausser dem kurzen, dass wohl wieder so ein Hornochse voll durchgestartet ist, wie das öfters vorkommt an dieser Stelle, wo der Innerortsbereich zu Ende ist und mancher Durchgeknallter voll aufs Gas drückt nachdem er sich über drei Kilometer bei 50km/h beherrschen musste, wiederum keine weiteren Gedanken. Aus meiner Wohnung im dritten Stock blicke ich zur gesperrten Strasse rüber und sehe Scheinwerferlicht. Da muss es wohl ärger gekübelt haben, denke ich, mache mir aber wiederum keine weiteren Gedanken. Licht und Lärm bleiben noch fast eine Stunde. Am nächsten Morgen erfahre ich, dass es einen Frontalzusammenstoss gegeben habe auf der Umfahrungsstrasse. Es habe auch einen Toten gegeben, so das Gerücht, das sich am Montag in der Zeitung dann als wahr herausstellt. Jetzt mache ich mir Gedanken. Schon am letzten Wohnort hat es einen Unfall mit tödlichem Ausgang gegeben, kurz nachdem ich zugezogen bin. Auch damals war der Unfallort keine 500 Meter von meiner Wohnung entfernt.

Einen Monat später knallt es im selben Abschnitt noch einmal. Diesmal mit Schwerverletztem. Seltsam. Das Glück jedenfalls ziehe ich nicht an. Andere schon. Der Bub zum Beispiel. Der Bub meiner Schlummermutter I., (Lesende/r, lies‘ den Vorläufer dieses Buches, genannt «Mediterranea»; du wirst darin mehr über die Frau, die ich «Schlummmami» genannt habe, und ihren Buben, erfahren). Kauft sich der Bub von Mamis Geld an einer Tombola ein Los und gewinnt. Der Bub hat derart viel Glück, dass er immer etwas gewinnt an diesen Vereinsabendunterhaltungstombolas. Durchschnittlich geschätzt hat der Bub vier Treffer auf zehn gekaufte Lose. Wie gesagt, damals, vor einem Jahr etwa, ein paar Tage vor Weihnachten, bringt der Bub von einer Tombola eine ganze Kiste voll mit mehr oder weniger nützlichen Dingen nach Hause. Ein T-Shirt (mit Werbeaufdruck), ein Set Jasskarten (mit Werbeaufdruck), ein Cap (mit Werbeaufdruck), ein Miniaturvibrationsgerät zur Bauchspeckreduktion (ohne Batterie) und einen billigen Tagesrucksack (ohne Werbeaufdruck). Und dann hat der dreiste Bub bei seiner Mutter, meiner Schlummermutter, nochmals um Geld gebettelt und nochmals Lose gekauft und nochmals gewonnen. Eine Kaffeemaschine mit Nespresso-Kapsel-System der Marke Siemens. Sauteuer, wie man weiss, obwohl ich nicht weiss, wie teuer sie wirklich war, der Preis war nicht mehr drauf. Weil der Bub ja noch ein Bub war, konnte er mit der Kaffeemaschine nichts anfangen. Also habe ich sie ihm abgekauft, und zwar für die Hälfte des von mir geschätzten Preises (was ich dem Buben und seiner Mutter, die im Übrigen keine Ahnung von gutem Kaffee und/oder dessen maschineller Erzeugung hat, sondern Kaffee von einem supersauteuren Gerät, das ihr ihr cleverer Küchenlieferant zum überteuerten Bruttopreis verkauft hat, erzeugen lässt, nicht sagte).

Dieses Ding hat sich mittlerweile als das sinnvollste Küchengerät, das ich je besessen habe, erwiesen. Es kann Kaffee machen, logisch, Milch erhitzen und sogar Tassen vorwärmen. Es ist nicht zwar gerade schön, ästhetisch unansprechend sozusagen, sieht ein bisschen aus wie ein Minielefant mit gestutztem Rüssel. Doch einem geschenkten Elefant, ich meine Gaul, schaut man nicht ins Maul. Wobei, geschenkt war es nicht, ich habe dem Bub immerhin 200 Franken abgedrückt, aber weil das wie erwähnt vermutlich nicht mal die Hälfte des Neupreises war, und es war ja neu, war es wie ein Geschenk für mich. Und ausserdem war ja grad Weihnachten, so habe ich mir das Maschinchen sozusagen selbst unter den nicht vorhandenen Tannenbaum gestellt.

Der Grund, warum ich das hier erwähne, ist, dass dieses Elefäntli zurzeit Geburtstag hat. Es ist nämlich gerade ein Jahr bei mir. Ich erinnere mich, wie der Bub gefragt hat: «Was ist das überhaupt?» «Eine Kaffeemaschine», sagte ich. Darauf der Bub: «Aber wir haben doch schon eine Kaffeemaschine». Ich dachte: «Deren Kaffee ich im Fall nicht mag», und sagte: «So eine wollte ich schon lange für mein Büro.» Die mache nämlich ganz probablen Espresso, sagte ich, verschwieg jedoch die sonstigen Vorzüge des Kapselsystems, da ich vermeiden wollte, dass dem jungen Verkäufer, jedoch vor allem dessen Mutter, mein Interesse vielleicht als zu intensiv erscheinen, und er, ich meine vor allem seine Mutter, dann den Preis treiben könnte, worauf Schlummmami einwarf, dass das Kapselsystem ein ökologischer Unsinn sei. Man könne sie recyclieren, die Kapseln, entgegnete ich, die Rücknahmestellen hätten sich im vorletzten Sommer, als die Altmetallpreise ziemlich hoch waren, richtiggehend um die verbrauchten Alu-Käpseli gerissen. Und ausserdem sei die Maschine nun mal da und die Alternative sei einzig, sie unbenutzt wegzustellen, einzulagern irgendwo in den Tiefen des Kellers oder Dachstocks, oder gar weg zu schmeissen, was aber ein ebensolcher Unsinn sei, da die graue Energie, die im Elefäntli steckt, bereits verbraucht, bzw. erzeugt sei.

Schlummmami hat sich damals jede weitere Argumentation verbissen und ich tat ebenso. Mit Schlummmami über Ökologie und Zweckmässigkeit zu sprechen, war und ist es wohl heute noch, aussichtslos, da sie in diesen Dingen überhaupt keinen Pragmatismus kennt. Ausserdem haben wir beiden dem Buben nicht die Freude über den Gewinn verderben wollen. Doch so richtig Freude hatte der Bub gar nicht. Vielmehr war abgrundtiefe Gleichgültigkeit in seinem Gesicht zu lesen. Der Bub bekommt sowieso alles was er will und wenn er in der Tombola gewinnt, geht es ihm vielmehr um die Aufmerksamkeit, die er damit bei Erwachsenen erzeugt und weniger um den materiellen Wert des Gewinns. Trotzdem, die Ausgangslage war ja ohnehin ziemlich klar: Was sollte ein Elfjähriger mit einer Espressomaschine, die noch dazu aussieht wie ein verkrüppelter Elefant und nicht einmal einen Bildschirm zum Gamen hat?

---ENDE DER LESEPROBE---