Chain of Iron - Cassandra Clare - E-Book
SONDERANGEBOT

Chain of Iron E-Book

Cassandra Clare

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Schattenjägerin Cordelia Carstairs hat scheinbar alles, was sie je wünschte: Verlobt mit ihrer großen Liebe James Herondale baut sie sich im Edwardianischen London ein neues Leben auf – und mit dem legendären Schwert Cortana beeindruckt sie Freund und Feind. Doch das Glück ist nur Fassade: Ihre Ehe wird eine Lüge sein, denn James' Liebe gilt der mysteriösen Grace. Und ein grausamer Mörder begibt sich auf einen scheinbar willkürlichen Rachefeldzug unter Londons Schattenjägern. Cordelia und ihre Gefährten versuchen verzweifelt, ihn aufzuhalten – und verstricken sich dabei nur immer tiefer in ihren eigenen Geheimnisse und Lügen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1080

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Schattenjägerin Cordelia Carstairs hat sich im edwardianischen London erfolgreich ein neues Leben aufgebaut. Nun soll ihr Glück durch die Heirat mit ihrer großen Liebe James Herondale gekrönt werden. Doch das alles ist nur Fassade, denn die Ehe wurde arrangiert, um Cordelias Ruf zu retten. Und selbst wenn das junge Paar die gemeinsam verbrachte Zeit zunehmend zu genießen weiß – James’ wahre Liebe gilt der mysteriösen Grace Blackthorn, die ihn seit Jahren in ihren Bann geschlagen hat.

Als sich ein grausamer Mörder auf einen scheinbar willkürlichen Rachefeldzug unter Londons Schattenjägern begibt, bleibt Cordelia nur noch wenig Zeit, ihrem verlorenen Glück hinterherzutrauern. Zusammen mit ihren Gefährten versucht sie verzweifelt, ihn aufzuhalten. Doch scheint jeder und jede von ihnen dabei seine eigene geheime Agenda zu verfolgen: Während Lucie um jeden Preis Jesse den Fängen des Todes entreißen will, hat Cordelia sich durch einen gefährlichen Schwur in den Dienst einer mysteriösen Macht gestellt. James wiederum wird immer tiefer in das dunkle Netz seines dämonischen Großvaters gezogen. Und muss sich schließlich fragen, ob er sich jemals wieder daraus zu befreien vermag …

Weitere Informationen zu Cassandra Clare sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Cassandra Clare

CHAIN OF IRON

Die Letzten Stunden

BUCH ZWEI

ROMAN

Deutsch von Franca Fritz und Heinrich Koop

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Chain of Iron« bei Margaret McElderry Books, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Cassandra Clare, LLC

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,nach einer Idee von Nick Sciacca © 2021 Simon & Schuster, Inc.

Umschlagfoto und -illustration: © Cliff Nielsen

mb · Herstellung: Han

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20546-1V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Rick Riordan – danke, dass ich den noblen Namen di Angelo verwenden durfte

TEIL EINS

Kleine Spielchen

Sie werden bald von mir und meinen lustigen kleinen Spielchen hören. Nach dem letzten Mal hatte ich mir etwas von dem richtigen roten Zeug in einer Ingwerbierflasche aufgehoben, um damit zu schreiben. Doch es wurde dick wie Leim, und ich kann es nicht mehr benutzen. Aber rote Tinte tut’s hoffentlich auch.

Jack the Ripper

LONDON: East End

Es fühlte sich seltsam und ungewohnt an, wieder über einen menschlichen Körper zu verfügen. Den Wind in den Haaren und die kalten, beinahe stechenden Schneepartikel im Gesicht zu spüren, während er über das Kopfsteinpflaster schritt. Die Arme schwingen zu lassen und die Länge seiner Schritte neu zu messen.

Es war kurz nach Sonnenaufgang, und die Straßen schienen größtenteils menschenleer. Von Zeit zu Zeit erblickte er einen Straßenhändler, der seinen Karren über die verschneite Straße schob, oder eine Aufwartefrau, die in Schürze und Schal einem harten Arbeitstag entgegeneilte.

Als er einem Schneehaufen ausweichen wollte, stolperte er und runzelte die Stirn. Sein Körper war so schwach. Er musste sich dringend stärken. Ohne Stärkung konnte er nicht weitermachen.

Direkt vor ihm bog ein dunkler Schatten in eine Gasse abseits der Hauptstraße: ein alter Mann im Arbeiteroverall, die Mütze tief in die Stirn gezogen. Schwerfällig ließ sich der Alte auf einer Kiste nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Dann griff er in seine abgewetzte Jacke, holte eine Flasche Gin hervor und schraubte sie auf.

Lautlos folgte er dem alten Mann in die Gasse. Die Hauswände ragten zu beiden Seiten hoch auf und sperrten das schwache Sonnenlicht aus. Der Alte sah ihn mit trüben Augen an. »Was willst du?«

Das Adamant-Messer blitzte im dämmrigen Licht auf, bohrte sich wieder und wieder in die Brust des Mannes. Blut spritzte empor – ein feiner Sprühnebel aus roten Partikeln, die den schmutzigen Schnee scharlachrot färbten.

Der Mörder hockte sich auf die Fersen und atmete tief ein. Die vom Tod des Mannes freigesetzte Energie – das einzig Nützliche, was Normalsterbliche zu bieten hatten – strömte durch das Messer in seinen Körper. Er erhob sich und lächelte zum milchig weißen Himmel hinauf. Schon jetzt fühlte er sich besser. Stärker.

Bald würde er stark genug sein, um es mit seinen wirklichen Feinden aufzunehmen. Und während er sich umwandte, um die Gasse hinter sich zu lassen, flüsterte er leise ihre Namen.

James Herondale.

Cordelia Carstairs.

1

Das lichte Netz

Still sitzt sie dort, jung auf der alten Erde,

Diskret sich selbst betrachtend,

Und lockt die Männer in ihr lichtes, selbst gewob’nes Netz,

Bis Herz und Geist und Körper darin gefangen sind.

Die Rose und der Mohn sind ihre Blumen;

denn wo, oh Lilith, lässt er sich nur finden –

er, den sanfter Duft und sanft gehauchte Küsse

und sanfter Schlaf nicht in diesen Bann zieh’n können?

Dante Gabriel Rossetti, »Des Körpers Schönheit«

Rauchiger Winternebel hatte sich auf London niedergelassen. Seine blassen Ranken erstreckten sich über die Straßen und wanden sich um die Gebäude wie glanzloses Lametta. Und er tauchte die verdorrten Bäume in ein fahles Grau, als Lucie Herondale mit ihrer Kutsche die lange, verwahrloste Auffahrt zu Chiswick House hinauffuhr, dessen Dach sich aus dem Nebel erhob wie ein Berggipfel im Himalaja aus den Wolken.

Rasch gab sie ihrem Pferd, Balios, einen Kuss auf die Nase, legte ihm eine Decke über den Rücken und ließ es am Fuße der Eingangstreppe zurück. Dann machte sie sich auf den Weg durch die Überreste der terrassenartigen Gartenanlage, vorbei an den verfallenen Statuen von Vergil und Sophokles, die jetzt von langen Weinranken überwuchert waren, während ihre abgebrochenen Gliedmaßen im Unkraut verteilt lagen. Andere Statuen wurden teilweise von überhängenden Bäumen und verwilderten Hecken verdeckt – als wäre ihr dichtes Blattwerk dabei, sie zu verschlingen.

Nachdem Lucie über eine umgestürzte Rosenlaube geklettert war, erreichte sie endlich den alten Ziegelschuppen im Garten. Das Dach war schon seit Langem verschwunden, und einen Moment lang kam es Lucie so vor, als wäre sie zufällig auf eine verlassene Schäferhütte in der Heide gestoßen. Sogar eine dünne graue Rauchsäule stieg aus dem Inneren auf. Wenn dies eine Szene aus Die schöne Cordelia wäre, würde jetzt ein verwirrter, aber äußerst gut aussehender Herzog über die Heide taumeln. Doch nichts war jemals so wie in Büchern.

Rund um den Schuppen konnte sie die kleinen Erdhügel ausmachen, unter denen Grace und sie im Lauf der letzten vier Monate die Ergebnisse ihrer erfolglosen Experimente begraben hatten – die bedauernswerten Überreste vom Himmel gestürzter Vögel oder Kadaver von Ratten und Mäusen, die Katzen zum Opfer gefallen waren. Grace und sie hatten vergebens versucht, die Tiere wieder zum Leben zu erwecken.

Bisher hatte nichts funktioniert. Und dabei war Grace nicht einmal das ganze Ausmaß der Bemühungen bekannt. Sie wusste noch immer nichts von Lucies Fähigkeit, die Toten zu kommandieren. Sie wusste nicht, dass Lucie versucht hatte, den kleinen Körpern zu befehlen, wieder zum Leben zu erwachen. Dass sie versucht hatte, in sie hineinzugreifen, um etwas zu fassen zu bekommen, das sie in die Welt der Lebenden zurückziehen konnte. Doch nichts hatte funktioniert. Welchen Teil auch immer Lucie möglicherweise hätte befehligen können, er hatte sich mit dem Tod der Tiere verflüchtigt.

Grace gegenüber hatte sie nichts von alldem erwähnt.

Lucie zuckte gelassen die Achseln und ging auf die massive Holztür zu – gelegentlich fragte sie sich, wozu eine Tür an einem Gebäude ohne Dach wohl gut war. Leise klopfte sie in einer geheimen Abfolge an: eins zwei, eins zwei.

Gleich darauf hörte sie, wie jemand durch den Raum ging und den Riegel zurückschob. Die Tür schwang auf, und Grace Blackthorn erschien in der Türöffnung, das Gesicht starr und ernst. Sogar in diesem nebligen Wetter schimmerte ihr Haar, das ihr locker über die Schultern fiel, silbrig hell.

»Du bist gekommen«, sagte sie, eher überrascht als erfreut.

»Das habe ich doch gesagt.« Lucie drängte sich an Grace vorbei. Im Inneren des Schuppens gab es nur einen einzigen Raum, dessen Boden aus fest gestampfter Erde bestand, die jetzt teilweise gefroren war.

Unter dem Schwert der Familie Blackthorn, das an grob geschmiedeten Eisenhaken hing, war ein Tisch gegen die Wand gerückt worden. Auf dem Tisch hatte jemand ein provisorisches Labor eingerichtet, mit mehreren Reihen von Destillierkolben und Glasflaschen, Dutzenden von Reagenzgläsern, Mörser und Stößel. Eine Vielzahl von Päckchen und Dosen nahm den Rest der Tischplatte ein; einige waren geöffnet, andere leer und auf einem Stapel gesammelt.

Neben dem Tisch brannte ein Feuer, direkt auf der nackten Erde – der Ursprung des Rauchs, der aus dem fehlenden Dach aufstieg. Das Feuer war unnatürlich still und entsprang nicht aus Holzscheiten, sondern aus einem Steinhaufen. Die grünlichen Flammen züngelten gierig in die Höhe, als wollten sie den eisernen Kessel verschlingen, der an einem Haken über dem Feuer hing. Ein schwarzes Gebräu köchelte im Kessel, das erdig und chemisch zugleich roch.

Langsam näherte sich Lucie einem zweiten, größeren Tisch. Darauf ruhte ein Sarg, durch dessen gläsernen Deckel sie Jesse erkennen konnte. Er sah genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung: weißes Hemd, schwarzes Haar, das sich weich um seinen Nacken schmiegte. Seine Augenlider erinnerten an blasse Halbmonde.

Lucie hatte ihre Kräfte nicht nur an Vögeln, Fledermäusen und Nagetieren ausprobiert, sondern auch versucht, Jesse zu befehlen, wieder zum Leben zu erwachen. Allerdings hatte sie sich auf die kurzen Zeiträume beschränken müssen, in denen Grace fort war, um etwas zu holen, und sie mit Jesses Körper allein gelassen hatte. Doch mit Jesse war es Lucie noch schlechter ergangen als mit den Tieren. Zwar war er nicht leer wie die Tiere, denn sie konnte etwas in ihm wahrnehmen: eine Art Lebenskraft, eine Seele. Aber worum es sich dabei auch handeln mochte, es war im Raum zwischen Leben und Tod verankert, und Lucie konnte es nicht bewegen. Allein bei dem Versuch wurde ihr übel und schwach zumute, als würde sie gerade einen schweren Fehler begehen.

»Ich war mir nicht sicher, ob du noch kommen würdest«, sagte Grace gereizt. »Ich warte schon seit einer Ewigkeit. Hast du die Stechapfelblüten bekommen?«

Lucie griff in ihre Tasche und zog ein winziges Päckchen hervor. »Ich hatte Mühe, mich aus dem Haus zu schleichen. Und ich kann auch nicht lange bleiben. Ich treffe mich heute Abend mit Cordelia.«

Grace nahm das Päckchen und riss es auf. »Weil morgen die Hochzeit ist? Aber was hat das mit dir zu tun?«

Lucie warf Grace einen scharfen Blick zu, doch das andere Mädchen schien es wirklich nicht zu verstehen. So wie Grace oft nicht zu verstehen schien, warum Menschen bestimmte Dinge taten, wenn die Antwort lautete: Weil sich Freunde so verhalten oder Weil man das eben für jemanden tut, den man mag.

»Ich bin Cordelias Suggenes«, erklärte sie. »Ich führe sie zum Traualtar. Aber ich stehe ihr auch vor der Zeremonie zur Seite. Heute Abend gehe ich mit ihr aus, um …«

Zisch! Grace hatte den Inhalt des Päckchens in den Kessel geleert. Eine Stichflamme schoss in die Höhe, gefolgt von einer Rauchwolke, und der Geruch von Essig breitete sich im Schuppen aus. »Du musst es mir nicht erzählen. Ich bin mir sicher, dass Cordelia mich nicht leiden kann.«

»Ich werde nicht mit dir über Cordelia sprechen«, sagte Lucie und musste ein wenig husten.

»Nun ja, ich würde mich auch nicht mögen, wenn ich sie wäre«, fuhr Grace fort. »Aber wir müssen uns nicht unterhalten. Ich habe dich schließlich nicht hergebeten, um mit mir zu plaudern.«

Sie blickten beide in den Kessel. Nebel und Rauch prallten in dem engen Raum aufeinander und umgaben Grace mit einem diffusen Heiligenschein. Lucie rieb ihre behandschuhten Hände aneinander. Ihr Herz schlug schneller, als Grace ansetzte: »Hic mortui vivunt. Igni ferroque, ex silentio, ex animo. Ex silentio, ex animo! Resurget!«

Während Grace die Worte psalmodierte, brodelte das Gebräu immer stärker, die Flammen begannen zu zischen und züngelten immer höher, bis sie den Kessel erreicht hatten. Ein kleiner Teil der Mixtur lief an der Seite des Kessels herab und spritzte auf den Boden. Lucie sprang instinktiv zurück, als grüne Gewächse aus dem Boden schossen und rasch Stängel, Blätter und Knospen hervorbrachten, bis sie ihr fast zu den Knien reichten.

»Es funktioniert!«, keuchte sie atemlos. »Es funktioniert wirklich!«

Für einen kurzen Moment blitzte Freude in Grace’ sonst so ausdruckslosem Gesicht auf. Sie ging auf den Sarg zu, auf Jesse …

Doch so schnell die Gewächse hervorgesprossen waren, so schnell verdorrten die Blüten wieder und fielen herab. Es schien, als würde man zusehen, wie die Zeit schneller verrann. Hilflos beobachtete Lucie, wie die Blätter abfielen, die Stängel vertrockneten und raschelnd unter ihrem eigenen Gewicht umknickten.

Grace stand wie versteinert da und starrte auf die toten Blumen auf der Erde. Ihr Blick wanderte zum Sarg – doch Jesse hatte sich nicht bewegt.

Natürlich hatte er sich nicht bewegt.

Grace’ Schultern wirkten steif vor Enttäuschung.

»Ich werde Christopher das nächste Mal um frischere Exemplare bitten«, sagte Lucie. »Oder stärkere Reagenzien. Ich bin mir sicher, dass wir irgendetwas nicht richtig machen.«

Grace trat an den Sarg ihres Bruders und drückte die Handfläche auf das Glas. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie etwas flüstern – was genau, konnte Lucie allerdings nicht sagen.

»Das Problem ist nicht die Qualität der Zutaten«, sagte Grace mit kalter, leiser Stimme. »Das Problem ist, dass wir uns zu sehr auf die Wissenschaft verlassen. Aktivatoren, Reagenzien – die Wissenschaft ist erschreckend begrenzt, wenn es um das geht, was wir zu erreichen versuchen.«

»Woher willst du das wissen?«

Grace sah sie eisig an. »Ich weiß, dass du mich für dumm hältst, weil ich nie einen Tutor hatte«, sagte sie. »Trotzdem ist es mir während meiner Zeit in Idris gelungen, einige Bücher zu lesen. Genau genommen fast den Großteil der Bibliothek.«

Lucie musste zugeben, dass Grace zumindest teilweise recht hatte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Grace sich für Bücher interessierte – oder für irgendetwas anderes, als Männer zu quälen und Jesse von den Toten zu erwecken. »Was schlägst du also vor, wenn wir uns nicht auf die Wissenschaft verlassen können?«

»Das Naheliegende: Magie.« Grace sprach mit Lucie, als würde sie ein Kind belehren. »Nicht der Hokuspokus, den wir hier betreiben – Zauberformeln aus einem Buch, bei dem meine Mutter sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, es vor mir zu verstecken.« Sie spie die Worte förmlich aus, voller Verachtung. »Wir müssen Kraft aus der einzigen Quelle schöpfen, in der sie zu finden ist.«

Lucie schluckte. »Du meinst Nekromantie. Kraft aus dem Tod ziehen und damit Magie bei den Toten bewirken.«

»Manche würden diese Art von Magie als böse bezeichnen. Ich dagegen nenne sie notwendig.«

»Tja, ich würde sie böse nennen«, entgegnete Lucie, außerstande, ihr Missfallen zu verbergen. Grace schien ohne sie zu einem Entschluss gekommen zu sein – was definitiv nicht dem Geist ihrer Partnerschaft entsprach. »Und ich will nichts Böses tun.«

Grace schüttelte verächtlich den Kopf, als würde Lucie viel Wirbel um nichts machen. »Wir müssen uns an einen Totenbeschwörer wenden.«

Lucie verschränkte die Arme. »An einen Totenbeschwörer? Auf keinen Fall! Der Rat würde es verbieten – selbst wenn wir einen auftreiben könnten.«

»Und dafür gibt es gute Gründe«, erwiderte Grace scharf und raffte ihre Röcke. Offenbar wollte sie aus dem Schuppen marschieren. »Unser Vorhaben ist nicht unbedingt gut, das ist wahr. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie die meisten Leute den Begriff›gut‹ verstehen. Aber das wusstest du bereits, Lucie. Du kannst also aufhören, so zu tun, als wärst du eine Heilige, im Gegensatz zu mir.«

»Nein, Grace.« Lucie postierte sich vor der Tür und versperrte Grace den Weg. »Ich will das nicht – und ich glaube auch nicht, dass Jesse es wollen würde. Könnten wir nicht mit einem Hexenmeister sprechen? Mit jemandem, dem der Rat vertraut?«

»Der Rat mag ihm vertrauen, aber ich nicht.« Grace’ Augen blitzten. »Ich hatte mich entschlossen, mit dir zusammenzuarbeiten, weil Jesse dich zu mögen schien. Aber du hast meinen Bruder nur für kurze Zeit gekannt … und nicht so viele Jahre wie ich. Also bist du wohl kaum eine Expertin. Ich bin seine Schwester, und ich werde ihn zurückholen – ganz gleich, was ich dafür tun muss, und ganz gleich, auf welche Weise. Verstehst du, Lucie?« Grace holte tief Luft. »Es ist an der Zeit, dass du dich entscheidest. Was ist dir wichtiger? Deine heiligen Gefühle oder das Leben meines Bruders?«

Cordelia Carstairs zuckte zusammen, als ihr Risa den Schildpattkamm noch tiefer ins Haar schob, um der schweren Fülle dunkelroter Locken Halt zu geben. Die Zofe hatte Cordelia davon überzeugt, sich die Haare zu einer aufwendigen Frisur hochstecken zu lassen, die sich ihr zufolge großer Beliebtheit erfreute.

»Du musst dir für heute Abend nicht so viel Mühe machen«, hatte Cordelia protestiert. »Wir unternehmen nur eine Rodelpartie. Meine Haare werden durcheinandergeraten, ganz gleich, wie viele Nadeln und Kämme du hineinsteckst.«

Risa und ihr missbilligender Blick hatten sich jedoch durchgesetzt. Cordelia vermutete, dass Risa der Meinung war, ihr Schützling sollte sich nach Kräften bemühen, für ihren Verlobten hübsch auszusehen. Immerhin heiratete Cordelia James Herondale, der nach allen gesellschaftlichen Maßstäben – von Schattenjägern wie Irdischen – eine gute Partie war: attraktiv, wohlhabend, einflussreich und liebenswürdig.

Es war sinnlos, Risa zu versichern, dass ihr Aussehen keine Rolle spielte. Dass es James nicht interessierte, ob sie in einem Ballkleid auftauchte – oder sogar splitternackt. Aber sie gewann nichts damit, wenn sie versuchte, das Risa zu erklären: Genau genommen war es viel zu riskant, es überhaupt irgendjemandem zu erklären.

»Dokhtare zibaye man, tou ayeneh khodet ra negah kon«, sagte Risa und hielt Cordelia einen silbernen Handspiegel entgegen. Sieh in den Spiegel, meine schöne Tochter.

»Die Frisur ist wirklich wunderschön, Risa«, musste Cordelia zugeben. Die Perlmuttkämme hatten in ihrem rubinroten Haar einen umwerfenden Effekt. »Aber wie wirst du das morgen jemals übertreffen können?«

Risa zwinkerte ihr zu. Wenigstens eine, die sich auf den nächsten Tag freute, überlegte Cordelia. Jedes Mal, wenn sie an ihre Hochzeit dachte, wollte sie am liebsten aus dem Fenster springen.

Morgen würde sie zum letzten Mal in diesem Zimmer sitzen, während ihre Mutter und Risa Seidenblumen in ihr langes, dichtes Haar flochten. Morgen würde sie als Braut nicht nur äußerst elegant wirken müssen, sondern auch mindestens so glücklich und strahlend. Und wenn sie sehr viel Glück hatte, würden sich die meisten Hochzeitsgäste von ihrer Garderobe ablenken lassen. Man durfte schließlich die Hoffnung nicht aufgeben.

Risa versetzte ihr einen Klaps auf die Schulter, und Cordelia erhob sich gehorsam. Sie holte ein letztes Mal tief Luft, bevor Risa die Schnüre ihres Korsetts festzog, sodass ihre Brüste sich hoben und ihre Wirbelsäule gestreckt wurde. Die Natur des Korsetts, dachte Cordelia missmutig, bestand darin, eine Frau minütlich daran zu erinnern, dass ihre Körperform nicht dem unerreichbaren Ideal der Gesellschaft entsprach.

»Das reicht!«, protestierte sie, als ihr die Fischbeinstäbe in die Haut schnitten. »Ich wollte auf der Feier eigentlich auch etwas essen.«

Risa verdrehte die Augen. Dann hielt sie ein grünes Samtkleid hoch, und Cordelia stieg hinein. Risa zog die langen, eng anliegenden Ärmel bis zum Handgelenk und strich den duftigen weißen Spitzenbesatz an den Ärmelaufschlägen und am Ausschnitt zurecht. Anschließend machte sie sich daran, jeden der winzigen Knöpfe zu schließen, die sich über den ganzen Rücken erstreckten. Das Kleid war figurbetont geschnitten, und ohne das Korsett hätte Cordelia niemals hineingepasst. Der Herondale-Ring, das sichtbare Zeichen ihrer Verlobung, schimmerte an ihrer linken Hand, als sie den Arm hob, damit Risa Cortana auf ihrem Rücken arrangieren konnte.

»Ich sollte mich beeilen und nach unten gehen«, sagte Cordelia, als Risa ihr eine kleine Handtasche aus Seide und einen Muff reichte, in dem sie ihre Hände wärmen konnte. »James verspätet sich sehr selten.«

Risa nickte lediglich energisch – was bei ihr einer herzlichen Umarmung entsprach.

Es stimmte, dachte Cordelia, als sie mit raschelnden Röcken die Treppe hinunterging. James verspätete sich tatsächlich nur sehr selten. Es gehörte zu den Pflichten eines Verlobten, eine Dame zu Festen und Abenddiners zu begleiten, ihr Limonade und Fächer zu holen und ihr ganz allgemein jeden Wunsch von den Augen abzulesen. James hatte seine Rolle bisher perfekt gespielt. Die ganze Saison über hatte er sie treu zu allen möglichen, zutiefst langweiligen Veranstaltungen der Brigade begleitet. Abgesehen von diesen Anlässen hatte sie ihn jedoch kaum zu Gesicht bekommen. Manchmal schloss er sich ihr und seinen übrigen Freunden bei Freizeitunternehmungen an, die wirklich Spaß machten – Nachmittage in der Devil Tavern oder Teetrinken bei Anna. Doch selbst dann wirkte er abgelenkt und zerstreut. Es hatte sich kaum eine Gelegenheit ergeben, um über ihre gemeinsame Zukunft zu sprechen. Allerdings war Cordelia sich gar nicht sicher, was sie eigentlich sagen würde, wenn es dazu kommen sollte.

»Layla?«

Cordelia hatte den Eingangsbereich des Hauses erreicht, dessen Fliesen ein kompliziertes Muster aus Schwertern und Sternen bildeten. Zuerst sah sie niemanden. Doch im nächsten Moment bemerkte sie ihre Mutter Sona, die am Fenster stand und mit ihrer schmalen Hand einen der Vorhänge zurückgezogen hatte. Die andere Hand ruhte auf ihrem runden Bauch.

»Du bist es tatsächlich«, staunte Sona. Cordelia hatte das Gefühl, dass die Schatten unter den Augen ihrer Mutter noch dunkler wirkten. »Was hattest du gesagt, wohin du gehst?«

»Zur Rodelpartie der Pouncebys auf dem Parliament Hill«, antwortete Cordelia. »Sie sind wirklich schrecklich. Aber Alastair geht auch hin, und ich dachte, ich könnte mich damit wenigstens vom morgigen Tag ablenken.«

Ein Lächeln umspielte Sonas Mundwinkel. »Es ist vollkommen normal, vor seiner Hochzeit nervös zu sein, Layla joon. Ich habe in der Nacht vor der Hochzeit mit deinem Vater kein Auge zugetan. Fast wäre ich auf einem Milchwagen nach Konstantinopel geflüchtet.«

Cordelia holte scharf Luft, und das Lächeln ihrer Mutter verblasste. Oje, dachte Cordelia. Eine Woche war vergangen, seit man ihren Vater, Elias Carstairs, aus dem Basilias entlassen hatte, dem Schattenjägerkrankenhaus in Idris. Dort hatte er mehrere Monate verbracht, viel länger als erwartet, um von seinem Alkoholproblem geheilt zu werden – ein Umstand, der den drei anderen Mitgliedern der Familie Carstairs bekannt war, jedoch mit keinem Wort erwähnt wurde.

Sie hatten ihn vor fünf Tagen zurückerwartet. Aber bis auf einen knappen Brief aus Frankreich hatten sie nichts von ihm gehört. Kein Versprechen, dass er am Tag von Cordelias Hochzeit in London eintreffen würde. Das Ganze war eine unglückselige Situation, die durch die Tatsache, dass weder Cordelias Mutter noch ihr Bruder Alastair darüber reden wollten, noch unglückseliger wurde.

Cordelia holte tief Luft. »Mâmân. Ich weiß, du hoffst noch immer, dass Vater rechtzeitig zur Hochzeit zurückkommen wird.«

»Ich hoffe es nicht, ich weiß es«, entgegnete Sona. »Ganz gleich, was ihn aufgehalten hat: Die Hochzeit seiner einzigen Tochter wird er nicht verpassen.«

Cordelia hätte vor Verwunderung fast den Kopf geschüttelt. Wie konnte ihre Mutter nur so ein unerschütterliches Vertrauen haben? Aufgrund seiner »Krankheit« hatte ihr Vater viele Geburtstage verpasst und sogar Cordelias erste Rune. Eine Krankheit, wegen der man ihn schließlich verhaftet und ins Basilias geschickt hatte. Eigentlich sollte er jetzt geheilt sein, doch dass er bisher nicht aufgetaucht war, gab nicht gerade Anlass zur Hoffnung.

Plötzlich dröhnten Stiefelabsätze auf der Treppe, und Alastair erschien mit wehenden dunklen Haaren in der Eingangshalle. Trotz seiner finsteren Miene sah er in seinem neuen Wintermantel aus Tweed ausgesprochen gut aus.

»Alastair«, sagte Sona. »Gehst du auch zu dieser Rodelpartie?«

»Man hat mich nicht eingeladen.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Cordelia. »Alastair, ich wollte nur deshalb dort hin, weil du auch gehst!«

»Ich habe beschlossen, dass meine Einladung unglücklicherweise auf dem Postweg verloren gegangen ist«, erklärte Alastair abschätzig. »Ich kann mich gut allein beschäftigen, Mutter. Es gibt Leute, die haben Dinge zu erledigen. Sie können nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit herumtoben.«

»Also ehrlich, ihr beiden«, schimpfte Sona kopfschüttelnd, was Cordelia als höchst ungerecht empfand. Sie hatte nur Alastairs Unwahrheiten berichtigt.

Sona stützte ihre Hände ins Kreuz und seufzte. »Ich sollte mit Risa über morgen sprechen. Es gibt noch so viel zu tun.«

»Du solltest dich ausruhen«, rief Alastair, während seine Mutter schon durch den Flur in Richtung Küche ging. In dem Moment, als sie außer Sicht war, wirbelte er mit grimmiger Miene zu Cordelia herum. »Hat sie auf Vater gewartet?«, fragte er im Flüsterton. »Noch immer? Warum muss sie sich so quälen?«

Cordelia zuckte hilflos die Achseln. »Sie liebt ihn nun mal.«

Alastair schnaubte. »Chi! Khoda margam bedeh«, sagte er, was Cordelia sehr rüpelhaft von ihm fand.

»Liebe ist nicht immer vernünftig«, erwiderte sie, woraufhin Alastair rasch den Blick abwandte. Er hatte Charles seit mehreren Monaten nicht erwähnt. Zwar hatte er Briefe in Charles’ sorgfältiger Handschrift erhalten, doch Cordelia hatte mehr als einen von ihnen ungeöffnet im Papierkorb gefunden. Jetzt fügte sie hinzu: »Trotzdem wünschte ich, er würde zumindest eine Nachricht schicken, dass es ihm gut geht … um Mutters willen.«

»Er wird zurückkommen, wenn ihm danach ist – im denkbar ungünstigsten Moment, wie ich ihn kenne.«

Cordelia fuhr mit einem Finger über die weiche Lammwolle ihres Muffs. »Willst du nicht, dass er zurückkommt, Alastair?«

Alastairs Blick gab nichts preis. Er hatte viele Jahre versucht, Cordelia vor der Wahrheit zu schützen, und sich Entschuldigungen für die »Krankheitsschübe« und die häufigen Abwesenheiten ihres Vaters ausgedacht. Vor einigen Monaten hatte Cordelia von der seelischen Belastung erfahren, die Alastairs Anstrengungen mit sich gebracht hatten – von den unsichtbaren Narben, die er so sorgfältig zu verbergen versuchte.

Alastair schien gerade etwas erwidern zu wollen, als vor dem Fenster, gedämpft durch den noch immer fallenden Schnee, das Klappern von Pferdehufen erklang. Neben dem Laternenpfahl vor dem Haus kam der dunkle Umriss einer Kutsche zum Stehen. Alastair zog den Vorhang ein wenig zur Seite und runzelte die Stirn.

»Das ist die Kutsche der Fairchilds«, stellte er fest. »James hat also keine Lust, dich abzuholen, und schickt stattdessen seinen Parabatai?«

»Das ist nicht fair«, sagte Cordelia scharf. »Und das weißt du auch.«

Alastair zögerte. »Vermutlich. Herondale hat sich einigermaßen pflichtbewusst gezeigt.«

Cordelia beobachtete, wie Matthew Fairchild leichtfüßig aus der Kutsche sprang. Sie konnte einen Anflug von Furcht nicht unterdrücken – was wäre, wenn James in Panik geraten war und Matthew geschickt hätte, um am Abend vor der Hochzeit das Arrangement platzen zu lassen?

Mach dich nicht lächerlich, befahl sie sich nachdrücklich. Matthew pfiff, als er den Gehweg zum Haus heraufkam. Der Boden war schneebedeckt, und hier und da zeichneten sich die Abdrücke von Stiefelsohlen ab. Auf den Schultern von Matthews Mantel mit dem Pelzkragen hatten sich bereits Schneeflocken niedergelassen, in seinem blonden Haar glitzerten Kristalle, und sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen war vor Kälte gerötet. Er sah aus wie ein von Caravaggio gemalter Engel, mit Schnee bestäubt. Aber Matthew würde doch bestimmt nicht pfeifen, wenn er schlechte Nachrichten zu überbringen hatte?

Cordelia öffnete die Tür und sah sich Matthew gegenüber, der Schnee von seinen Schnürstiefeln stampfte. »Hallo, meine Liebe«, begrüßte er sie. »Ich bin hier, um dich zu einem großen Hügel mitzunehmen, den wir auf einer klapprigen, unlenkbaren Holzkonstruktion hinuntersausen werden.«

Cordelia lächelte. »Das klingt wunderbar. Was machen wir danach?«

»Unerklärlicherweise werden wir den Hügel wieder hinaufstapfen, um das Ganze zu wiederholen. Es handelt sich um eine Form der Besessenheit, vom Schnee hervorgerufen, heißt es«, erwiderte Matthew.

»Wo ist James?«, unterbrach Alastair ihn. »Du weißt schon, der von euch beiden, der eigentlich hier sein sollte.«

Matthew betrachtete Alastair angewidert, und Cordelia wurde wieder einmal das Herz schwer. So lief es jetzt immer ab, wenn Alastair einem der Tollkühnen Gesellen begegnete. Vor ein paar Monaten waren alle plötzlich noch viel wütender auf Alastair geworden als bisher. Cordelia hatte keine Ahnung warum, brachte es aber auch nicht übers Herz, nach dem Grund zu fragen. »James wurde wegen einer wichtigen Angelegenheit abberufen.«

»Was für eine Angelegenheit?«, fragte Alastair.

»Nichts, das dich was anginge«, entgegnete Matthew gelassen.

Alastairs schwarze Augen funkelten. »Du tust gut daran, meine Schwester nicht in Schwierigkeiten zu bringen, Fairchild«, sagte er. »Ich weiß, mit wem du verkehrst.«

»Alastair, hör jetzt auf«, sagte Cordelia. »Also, lässt du die Party der Pouncebys wirklich sausen, oder wolltest du damit nur Mutter ärgern? Und falls ja, möchtest du Matthew und mich in der Kutsche begleiten?«

Alastairs Blick wanderte schnell zu Matthew. »Warum trägst du nicht einmal einen Hut?«

»Wie könnte ich dieses Haar verhüllen?« Mit übertriebener Geste zeigte Matthew auf seine goldenen Locken. »Würdest du die Sonne verdunkeln wollen?«

Alastairs Miene machte deutlich, dass er seine Augen gar nicht oft genug verdrehen konnte. »Ich werde jetzt zu einem Spaziergang aufbrechen.«

Und damit stapfte er ohne ein weiteres Wort in die verschneite Nacht hinaus. Die Wirkung seines Abgangs wurde durch den Schnee gedämpft, der das Geräusch seiner Schritte schluckte.

Cordelia seufzte und folgte Matthew zur Kutsche. Mit den weißen, von schimmerndem Eis bedeckten Häusern und dem milden Lichtschein der verschneiten, in Nebel gehüllten Straßenlaternen glich South Kensington einer Märchenlandschaft. »Ich habe das Gefühl, mich unaufhörlich für Alastair entschuldigen zu müssen. Letzte Woche hat er den Milchmann zum Weinen gebracht.«

Matthew reichte ihr die Hand und half ihr in die Kutsche. »Du musst dich bei mir nicht für Alastair entschuldigen. Für mich ist er ein Stein, an dem ich meinen Verstand wetzen kann.«

Geschmeidig schwang er sich auf den Platz neben ihr und schloss die schwere Tür. Weiche Polster und Samtvorhänge an den Fenstern machten das mit Seide ausgekleidete Innere der Kutsche gemütlich. Cordelia lehnte sich auf der Sitzbank zurück, wobei der Ärmel von Matthews Wintermantel beruhigend ihren Arm streifte.

»Ich habe das Gefühl, als hätte ich dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, Matthew«, sagte sie, froh, das Thema wechseln zu können. »Deine Mutter soll aus Idris zurück sein, richtig? Und Charles aus Paris?« Als Konsulin war Matthews Mutter Charlotte oft außerhalb Londons unterwegs. Ihr Sohn Charles, Matthews Bruder, hatte eine untergeordnete Stelle am Pariser Institut inne, wo er das Handwerkszeug eines angehenden Politikers lernte – wie jeder wusste, hoffte Charles darauf, eines Tages der nächste Konsul zu werden.

Matthew fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und löste dabei mehrere Eiskristalle. »Du kennst ja meine Mutter – kaum war sie aus der Kutsche gestiegen, musste sie auch schon wieder los, um irgendetwas zu erledigen. Und natürlich ist Charles sofort nach Hause gekommen, um sie zu sehen. Um das Pariser Institut an seine enge Verbindung zur Konsulin zu erinnern und daran, wie sehr sie auf seinen Rat angewiesen ist. Und vor Vater und Martin Wentworth hat er hochtrabende Reden geschwungen. Bei meinem Aufbruch hatte er gerade ihr Schachspiel unterbrochen, um sie in eine Diskussion über die Schattenweltlerpolitik in Frankreich zu verwickeln. Wentworth wirkte fast schon verzweifelt – wahrscheinlich hat er darauf gehofft, dass Christopher noch eine Explosion im Labor verursachen und ihm dadurch die Möglichkeit zur Flucht verschaffen würde.«

»Noch eine Explosion?«

Matthew grinste. »Beim letzten Experiment hat Kit Thomas fast die Augenbrauen abgefackelt. Angeblich steht er kurz vor einem Durchbruch mit seinen Bemühungen, Schießpulver auch in Gegenwart von Runen zu entzünden. Allerdings hat Thomas jetzt keine Augenbrauen mehr, die er der Wissenschaft zur Verfügung stellen könnte.«

Cordelia überlegte, was sie Geistreiches über Thomas’ Augenbrauen sagen könnte, doch ihr fiel nichts ein.

»Also gut«, sagte sie und schlang die Arme um den Körper. »Ich gebe auf. Wo ist James? Hat er Angst bekommen und ist nach Frankreich durchgebrannt? Ist die Hochzeit abgesagt?«

Matthew zog eine silberne Taschenflasche aus seinem Mantel und nahm einen Schluck daraus, bevor er antwortete. Wollte er Zeit gewinnen? Er wirkte ein wenig besorgt, dachte Cordelia – obwohl Sorgen und Matthew nur selten gemeinsam in Erscheinung traten. »Das ist leider meine Schuld«, gab er zu. »Na ja, meine und die der übrigen Tollkühnen Gesellen. In letzter Minute haben wir eingesehen, dass wir James nicht einfach in den Hafen der Ehe einlaufen lassen können, ohne vorher eine Party für ihn zu schmeißen. Und meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass du nichts von diesen skandalösen Vorgängen erfährst.«

Eine Woge der Erleichterung erfasste Cordelia. James ließ sie nicht im Stich. Natürlich nicht. Das würde er niemals tun. Schließlich war er James.

Sie straffte die Schultern. »Allerdings hast du mir gerade verraten, dass es sich um skandalöse Vorgänge handelt. Bedeutet das nicht, dass du mit deiner Mission gescheitert bist?«

»Ganz und gar nicht!« Matthew nahm noch einen Schluck aus der Taschenflasche und verstaute sie danach wieder in seinem Mantel. »Ich habe dir lediglich erzählt, dass James den Abend vor seiner Hochzeit mit seinen Freunden verbringt. Soweit du weißt, werden sie Tee trinken und sich eingehend mit der Geschichte der Feenwesen in Bayern befassen. Ich soll nur sicherstellen, dass du nicht eines Besseren belehrt wirst.«

Cordelia musste lächeln. »Und wie willst du das anstellen?«

»Natürlich dadurch, dass ich dich zu deinen eigenen skandalösen Vorgängen begleite. Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass wir zur Feier der Pouncebys gehen?«

Cordelia zog den Vorhang am Kutschenfenster zurück und warf einen Blick hinaus. Anstelle der von Bäumen gesäumten, mit Schnee bedeckten Straßen von Kensington waren sie am äußeren Rand des West End angekommen. Dichter Nebel hing in den engen Straßen, und es wimmelte nur so vor Leuten, die sich in zahlreichen Sprachen unterhielten und sich die Hände über Feuern in Ölfässern wärmten.

»Soho?«, fragte sie neugierig. »Was … zum Hell Ruelle?«

Matthew zog eine Augenbraue hoch. »Wohin sonst?« Der Hell Ruelle war ein Nachtklub und Salon für Schattenweltler, der nur an wenigen Abenden in der Woche in einem äußerlich unscheinbaren Gebäude in der Berwick Street stattfand. Cordelia hatte sich schon zweimal dorthin gewagt. Zwar vor Monaten, doch ihre Besuche waren erinnerungswürdig gewesen.

Sie ließ den Vorhang sinken, wandte sich wieder Matthew zu, der sie genau beobachtete, und gab vor, ein Gähnen zu unterdrücken. »Wirklich? Wieder in den Ruelle? Ich war schon so oft dort, dass es sich genauso gut um einen Bridge-Club für Damen handeln könnte. Du kennst doch bestimmt ein skandalöseres Etablissement?«

Matthew grinste. »Willst du etwa, dass ich dich zur Schenke zum Rasierten Werwolf bringe?«

Cordelia schlug ihn mit ihrem Muff. »So ein Lokal gibt es gar nicht. Ich weigere mich, das zu glauben.«

»Du kannst mir gern glauben, wenn ich dir sage, dass es nur wenige Orte gibt, die skandalöser sind als der Hell Ruelle – und darunter ist keiner, an den ich dich bringen und darauf hoffen könnte, dass James es mir je verzeiht«, erwiderte Matthew. »Die Braut des eigenen Parabatai zu korrumpieren, gilt nicht als schicklich.«

Darüber konnte Cordelia nun nicht mehr lachen. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde. »Ach, Matthew, du weißt doch, dass es keine richtige Hochzeit ist«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle, was ich tue – James wird es nicht interessieren.«

Matthew schien zu zögern. Cordelia hatte die Maskerade beendet, und das hatte ihn eindeutig getroffen. Allerdings verschlug es Matthew nie lange die Sprache.

»Es interessiert ihn durchaus«, sagte er, während die Kutsche in die Berwick Street einbog. »Vielleicht nicht auf die Art und Weise, wie alle annehmen. Außerdem glaube ich nicht, dass es sonderlich anstrengend wird, mit James verheiratet zu sein. Und es ist ja auch nur für ein Jahr, oder?«

Cordelia schloss die Augen. Das war die Vereinbarung, die sie und James getroffen hatten: ein Jahr Ehe, um ihrer beider Ruf zu retten. Danach würde Cordelia die Scheidung einreichen. Sie würden in gutem Einvernehmen auseinandergehen und Freunde bleiben.

»Ja«, antwortete sie. »Nur ein Jahr.«

Die Kutsche kam direkt unter einer Straßenlaterne zum Stehen, deren gelber Schein Matthews Gesicht beleuchtete. Cordelia spürte einen kleinen Stich im Herzen. Matthew wusste nur so viel von der Wahrheit wie alle anderen, James inbegriffen, doch irgendetwas blitzte in seinen Augen. Etwas, das sie einen Moment lang befürchten ließ, dass er über das letzte Puzzleteil Bescheid wusste – jenes Teil, das sie vor allen verborgen gehalten hatte. Sie könnte es nicht ertragen, bemitleidet zu werden. Sie könnte es nicht ertragen, wenn irgendjemand wüsste, wie verzweifelt sie James liebte und sich wünschte, dass die Ehe nicht nur eine Fassade wäre.

Matthew stieß die Tür der Kutsche auf und gab den Blick auf den Gehweg der Berwick Street frei, der unter dem geschmolzenen Schnee glänzte. Rasch sprang er aus der Kutsche, und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Kutscher streckte er Cordelia die Hand entgegen und half ihr ebenfalls hinunter.

Der Weg zum Hell Ruelle führte durch eine enge Gasse namens Tyler’s Court. Matthew hakte Cordelias Arm unter, und dann stiefelten sie gemeinsam los.

»Dabei fällt mir ein«, sagte Matthew, »dass wir vielleicht die Wahrheit kennen, der Rest der Brigade dagegen nicht. Erinnere dich nur daran, wie sie dir bei deiner Ankunft in London zugesetzt haben! Und jetzt heiratest du einen der begehrtesten Junggesellen des ganzen Landes, zumindest nach Ansicht dieses eingebildeten Haufens. Schau dir bloß Rosamund Wentworth an. Sie ist losgezogen und hat sich mit Thoby Baybrook verlobt – nur um zu beweisen, dass du nicht die Einzige bist, die heiratet.«

»Wirklich?« Cordelia fand die Vorstellung höchst amüsant. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie etwas mit Rosamunds überraschender Verlobung zu tun haben könnte. »Aber ich nehme doch an, dass es sich um eine Liebesheirat handelt.«

»Der Zeitpunkt der Bekanntgabe wirft jedenfalls Fragen auf – mehr will ich nicht dazu sagen.« Matthew winkte verächtlich ab. »Mir geht es darum, dass du dich genauso gut darüber freuen kannst, von ganz London beneidet zu werden. Jede, die dich am Anfang abfällig behandelt hat, jede, die wegen deines Vaters auf dich herabgesehen oder Gerüchte verbreitet hat, wird vor Neid platzen und sich wünschen, an deiner Stelle zu sein. Genieße es!«

Cordelia lachte leise. »Du findest wirklich immer die dekadenteste Lösung für ein Problem.«

»Ich glaube, dass die Dekadenz eine wertvolle Perspektive bietet, die immer in Betracht gezogen werden sollte.« Sie hatten den Eingang des Hell Ruelle erreicht und traten durch eine unscheinbare Tür in einen schmalen Flur mit schweren Wandteppichen. Allem Anschein nach war der Korridor bereits für Weihnachten dekoriert, obwohl bis zum Fest noch mehrere Wochen vergehen würden. Man hatte die Wandteppiche mit grünen Ästen geschmückt und diese wiederum mit weißen Rosen und roten Mohnblumen bestückt.

Durch ein Labyrinth kleiner Salons bahnten Cordelia und Matthew sich einen Weg in den achteckigen Hauptraum des Hell Ruelle. Auch dieser wirkte jetzt anders. In regelmäßigen Abständen ragten schimmernde Bäume auf, deren kahle Äste und Stämme weiß gestrichen und mit dunkelgrünen Kränzen und herabhängenden roten Glaskugeln dekoriert waren. Ein schillerndes Wandgemälde zeigte eine Waldszene: ein Gletscher, von einem Hain schneebedeckter Kiefern gesäumt. Eulen, die aus den Schatten zwischen den Bäumen hervorspähten. Eine schwarzhaarige Frau mit dem Körper einer Schlange, die sich um einen vom Blitz getroffenen Baum wand – die Schuppen ihres Körpers waren mit glänzender Goldfarbe wiedergegeben.

Im vorderen Bereich des Hauptraums schien Malcolm Fade, der Oberste Hexenmeister von London mit den violetten Augen, eine Gruppe von Feenwesen in einem komplizierten Tanz anzuführen.

Der Boden war mit etwas bedeckt, das Ähnlichkeit mit Schnee besaß, sich aber bei näherer Betrachtung als fein geschnittenes weißes Papier herausstellte, das von tanzenden Schattenweltlern in Wolken aufgewirbelt wurde. Natürlich tanzten nicht alle: Viele Gäste des Salons drängten sich an kleinen runden Tischen, die Hände um Kupferbecher mit Glühwein geschlossen. Ganz in der Nähe saßen ein Werwolf und ein Feenwesen zusammen und diskutierten über die irische Selbstverwaltung. Cordelia hatte schon immer über die Mischung aus Schattenweltlern gestaunt, die man im Hell Ruelle antraf. Feindschaften, die draußen in der Welt bestanden – wie beispielsweise zwischen Vampiren und Werwölfen oder den verschiedenen Feenhöfen –, schienen im Interesse der Kunst und Poesie zeitweilig aufgehoben zu sein. Sie konnte gut verstehen, warum es Matthew hier so gefiel.

»Sieh mal einer an, meine Lieblingsschattenjägerin!«, sagte eine vertraute, schleppende Stimme. Cordelia drehte sich um und erkannte Claude Kellington, einen jungen Werwolf-Musiker, der für das Unterhaltungsprogramm des Salons verantwortlich war. An seinem Tisch saß eine Fee mit langen blaugrünen Haaren, die Cordelia neugierig anstarrte. »Ich sehe, du hast Fairchild mitgebracht«, fügte Kellington hinzu. »Kannst du ihn bitte davon überzeugen, etwas unterhaltsamer zu sein? Er tanzt nie.«

»Claude, ich spiele eine entscheidende Rolle in deinem Programm«, entgegnete Matthew. »Ich bin das unersetzliche Element: das begeisterte Publikum!«

»Nun gut, dann bring mir mehr Künstler wie sie«, sagte Kellington und deutete auf Cordelia. »Falls du noch welche kennst.«

Unwillkürlich erinnerte sich Cordelia an die Darbietung, die Kellington so beeindruckt hatte: Sie hatte damals auf dem Podium des Salons getanzt, und zwar auf so skandalöse Weise, dass sogar sie selbst darüber schockiert gewesen war. Jetzt bemühte sie sich jedoch, nicht zu erröten, sondern wie die weltgewandte Sorte von Frau zu erscheinen, die jederzeit bereit war, wie Salome zu tanzen.

Sie deutete mit dem Kinn in Richtung der geschmückten Äste. »Wird hier im Hell Ruelle Weihnachten gefeiert?«

»Nicht direkt.«

Cordelia drehte sich um und sah Hypatia Vex, die Gastgeberin des Salons. Obwohl die Räume Malcolm Fade gehörten, wurden die Gäste von Hypatia eingeladen. Und ohne ihre ausdrückliche Zustimmung würde niemand es je weiter als bis zur Tür schaffen.

Hypatia trug ein schimmerndes rotes Kleid und hatte eine in Gold getauchte Pfingstrose in die Fülle ihrer dunklen Haare gesteckt. »Wir feiern hier nicht Weihnachten. Natürlich können die Gäste in ihren eigenen vier Wänden tun und lassen, was sie wollen. Aber im Hell Ruelle erweisen wir im Dezember vielmehr der Schutzpatronin des Salons mit dem Festum Lamia unsere Ehrerbietung.«

»Der Schutzpatronin? Du meinst … dir?«, fragte Cordelia.

In Hypatias unverwechselbaren Augen mit den sternförmigen Pupillen zeichnete sich ein Anflug von Belustigung ab. »Der kosmischen Schutzpatronin. Unsere Urahnin – von manchen›Mutter aller Hexenmeister‹ genannt, von anderen›Mutter aller Dämonen‹.«

»Ah!«, sagte Matthew. »Lilith! Jetzt, da du es erwähnt hast, fällt mir auch auf, dass die Dekoration mehr Eulen aufweist als üblich.«

»Die Eule ist eines ihrer Symbole«, bestätigte Hypatia und fuhr mit der Hand über Kellingtons Stuhllehne. »Während der ersten Tage der Erde hatte Gott eine Frau für Adam erschaffen. Ihr Name war Lilith. Aber da sie nicht bereit war, sich Adams Wünschen unterzuordnen, wurde sie aus dem Garten Eden verstoßen. Sie verbündete sich mit dem Dämon Samael und bekam mit ihm viele Dämonenkinder, aus denen die ersten Hexenmeister hervorgingen. Das hat den Himmel so verärgert, dass er drei Racheengel – Sanvi, Sansanvi und Semangelaf – entsandte, um Lilith zu bestrafen. Die Engel nahmen ihr die Fruchtbarkeit und verbannten sie in das Reich Edom, eine von Nachtkreaturen und Kreischeulen bevölkerte Einöde, wo sie noch immer lebt. Aber manchmal reicht sie Hexenwesen, die ihrer Sache treu dienen, eine helfende Hand.«

Natürlich kannte Cordelia den Großteil der Geschichte – wobei die drei Engel in den Legenden der Schattenjäger als Helden und Beschützer galten. Acht Tage nach der Geburt eines Schattenjägerkindes wurde ein Ritual vollzogen: Die Brüder der Stille und die Eisernen Schwestern psalmodierten die Namen Sanvi, Sansanvi und Semangelaf und versahen das Kind dadurch mit einem Schutzzauber. Auf diese Weise wurde die Seele des Kindes verschlossen und wie eine Tür für jede Art von dämonischer Besitznahme oder Beeinflussung versperrt, hatte Sona Cordelia einmal erklärt.

Doch vermutlich war es besser, das jetzt nicht zu erwähnen, dachte sie.

»Matthew hat mir zwar einen Skandal versprochen«, sagte sie stattdessen, »aber ich nehme an, dass der Rat es nicht gern sieht, wenn Schattenjäger an Geburtstagsfeiern für namhafte Dämonen teilnehmen.«

»Es ist nicht ihr Geburtstag, sondern nur ein Festtag«, wandte Hypatia ein. »Wir glauben, dass sie zu dieser Zeit den Garten Eden verlassen hat.«

»Die roten Kugeln an den Bäumen … das sind Äpfel«, erkannte Cordelia plötzlich. »Verbotene Früchte!«

»Uns im Hell Ruelle bereitet der Genuss verbotener Dinge großes Vergnügen«, erklärte Hypatia lächelnd. »Wir glauben, sie sind umso köstlicher, weil mit einem Tabu belegt.«

Matthew zuckte die Achseln. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dem Rat etwas ausmachen würde. Wir müssen Lilith ja nicht feiern oder etwas in der Art. Eigentlich handelt es sich doch nur um Dekor.«

Hypatia wirkte amüsiert. »Natürlich. Nichts anderes. Apropos …«

Sie warf Kellingtons Feenbegleitung einen bedeutungsvollen Blick zu, die sich sofort erhob und Hypatia ihren Platz anbot. Hypatia setzte sich ohne Umschweife und breitete ihre Röcke um sich herum aus. Die Fee tauchte wieder in der Menge unter, während Hypatia fortfuhr: »Seit deinem letzten Besuch hier fehlt meine Pyxis, Cordelia Carstairs. Und soweit ich mich erinnere, war Matthew damals ebenfalls dabei. Deshalb frage ich mich, ob ich sie dir vielleicht irrtümlicherweise geschenkt habe?«

O nein! Cordelia dachte an die Pyxis, die sie vor Monaten gestohlen hatten und die während eines Kampfes mit einem Mandikhor-Dämon explodiert war. Sie schaute zu Matthew, doch der zuckte die Achseln und stibitzte einen Becher Glühwein vom Tablett eines vorbeigehenden Feenkellners. Cordelia räusperte sich. »Ich glaube, das ist tatsächlich der Fall. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir damals viel Glück für die Zukunft gewünscht.«

»Das Geschenk war nicht nur sehr zuvorkommend, es hat sich auch als außerordentlich nützlich erwiesen, um die Stadt London vor der Zerstörung zu bewahren«, fügte Matthew hinzu.

»Genau«, pflichtete Cordelia ihm bei. »Es hat eine maßgebliche Rolle gespielt – ein unverzichtbares Hilfsmittel, um eine verheerende Katastrophe zu verhindern.«

»Matthew Fairchild, du übst einen schlechten Einfluss auf unsere Cordelia hier aus. Sie hat inzwischen ein besorgniserregendes Ausmaß an Impertinenz entwickelt.« Hypatia wandte sich Cordelia zu, mit einem unergründlichen Ausdruck in ihren Sternenaugen.

»Ich muss sagen, es überrascht mich ein bisschen, dich heute hier anzutreffen. Ich hätte gedacht, dass eine Schattenjägerbraut den Abend vor ihrer Hochzeit damit verbringen würde, ihre Waffen zu schärfen oder lebensgroße Trainingspuppen zu enthaupten.«

Allmählich fragte Cordelia sich, warum Matthew sie in den Salon gebracht hatte. Niemand sollte den Abend vor seiner Hochzeit damit zubringen, sich von überheblichen Hexen verspotten zu lassen – wie interessant die Räumlichkeiten auch dekoriert sein mochten. »Ich bin keine gewöhnliche Schattenjägerbraut«, erwiderte sie kurz angebunden.

Hypatia lächelte nur. »Wenn du meinst«, sagte sie. »Ich glaube, hier sind ein paar Gäste, die dich erwarten.«

Cordelia warf einen Blick durch den Raum und entdeckte zu ihrer Überraschung zwei bekannte Gestalten an einem Tisch: Anna Lightwood, wie immer wunderschön, in einem eng anliegenden Gehrock und blauen Gamaschen. Und Lucie Herondale, die in ihrem elfenbeinfarbenen Kleid mit blauer Perlenstickerei hübsch und adrett wirkte. Sie winkte Cordelia energisch zu.

»Hast du sie eingeladen?«, wandte Cordelia sich an Matthew, der erneut seine Taschenflasche hervorgeholt hatte und sie gerade an die Lippen setzte. Als er feststellte, dass die Flasche leer war, verzog er das Gesicht und verstaute sie wieder in der Tasche. Seine Augen glitzerten.

»Ja«, bestätigte er. »Ich kann nicht bleiben, weil ich mich auf den Weg zu James’ Party machen muss. Aber vorher wollte ich sicherstellen, dass du dich in guter Gesellschaft befindest. Die beiden wurden angewiesen, die ganze Nacht mit dir zu durchtanzen und -trinken. Viel Vergnügen!«

»Danke.« Cordelia beugte sich vor, um Matthew auf die Wange zu küssen – er roch nach Nelken und Brandy. Doch im letzten Moment drehte er ihr sein Gesicht zu, sodass ihre Lippen seinen Mund streiften. Cordelia wich hastig zurück und sah, dass sie von Kellington und Hypatia mit scharfen Augen beobachtet wurde.

»Bevor du gehst, Fairchild: Ich hab gesehen, dass dein Flachmann leer ist«, sagte Kellington. »Komm mit zur Bar, dann werde ich ihn dir auffüllen lassen … Was immer du willst.«

Er betrachtete Matthew mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck, der Cordelia an Kellingtons Miene nach ihrem Tanz erinnerte: eine Art hungriger Blick.

»Ich war noch nie in der Lage, das Angebot›was immer du willst‹ auszuschlagen«, antwortete Matthew und ließ sich von Kellington in Richtung Bar führen. Cordelia überlegte, ob sie ihm etwas nachrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Anna bedeutete ihr ohnehin, endlich zu ihr und Lucie an den Tisch zu kommen.

Cordelia verabschiedete sich von Hypatia und war auf halbem Weg durch den Raum, als ihr Blick auf etwas im Schatten fiel: zwei männliche Gestalten, die dicht beieinanderstanden. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass es sich um Matthew und Kellington handelte. Matthew lehnte an der Wand, und Kellington – der Größere der beiden – beugte sich über ihn.

Kellington hob die Hand und legte sie um Matthews Nacken; seine Finger gruben sich in Matthews weiches Haar.

Cordelia konnte gerade noch erkennen, wie Matthew den Kopf schüttelte, bevor weitere Leute auf die Tanzfläche strömten und ihr die Sicht versperrten. Als der Pulk vorbeigezogen war, sah sie, dass Matthew verschwunden war und Kellington mit finsterer Miene zur anderen Seite des Raums zurückkehrte, wo Hypatia saß. Cordelia fragte sich, was an dem Anblick sie so schockiert hatte. Schließlich wusste sie, dass Matthew sowohl Männer als auch Frauen liebte. Darüber hinaus war er unverheiratet und konnte seine eigenen Entscheidungen treffen. Trotzdem bereitete ihr Kellingtons Ausstrahlung Unbehagen. Sie hoffte, dass Matthew vorsichtig sein würde …

Plötzlich legte ihr jemand eine Hand auf den Arm.

Cordelia wirbelte herum und sah sich einer Frau gegenüber: die Fee, die zuvor mit Kellington zusammengesessen hatte. Sie trug ein smaragdgrünes Samtkleid, und um ihren Hals funkelte eine Kette aus blauen Steinen.

»Verzeih die Störung«, sagte die Fee atemlos, als ob sie nervös wäre. »Bist du … bist du das Mädchen, das vor ein paar Monaten für uns getanzt hat?«

»Ja«, antwortete Cordelia zögernd.

»Hab ich mir doch gedacht. Ich habe dein Gesicht wiedererkannt«, sagte die Fee und musterte sie eindringlich. »Ich habe deine Fertigkeiten sehr bewundert – und natürlich das Schwert. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um Cortana handelt?« Den letzten Teil des Satzes flüsterte sie, als würde allein die Nennung des Namens Mut erfordern.

»Aber nein«, erwiderte Cordelia. »Es ist nicht echt. Nur eine gut gemachte Nachbildung.«

Die Fee starrte sie einen Moment lang an und brach dann in Gelächter aus. »Oh, das war sehr gut!«, sagte sie. »Ich vergesse manchmal, dass Sterbliche Witze machen … eine Art Lüge, die aber lustig sein soll, stimmt’s? Trotzdem würde jedes wahre Feenwesen die Arbeit von Wayland dem Schmied erkennen.« Bewundernd betrachtete sie das Schwert. »Schließlich ist Wayland, mit Verlaub gesagt, der größte noch lebende Metallbearbeiter der Britischen Inseln.«

Diese Bemerkung ließ Cordelia stutzen. »Lebende?«, wiederholte sie. »Willst du damit sagen, dass Wayland der Schmied noch lebt?«

»Aber natürlich«, erwiderte die Fee und klatschte in die Hände.

Cordelia fragte sich, ob sie ihr gleich offenbaren würde, dass der Kobold mit dem Lampenschirm auf dem Kopf, der ziemlich betrunken in der Ecke saß, in Wahrheit Wayland der Schmied war.

Doch die Fee sagte nur: »Seit vielen Jahrhunderten ist keines seiner Werke in menschliche Hände gelangt. Aber man munkelt, dass er seine Schmiede unter einem Hügelgrab in den Berkshire Downs noch immer betreibt.«

»Tatsächlich«, sagte Cordelia und versuchte gleichzeitig, Annas Blick auf sich zu ziehen, in der Hoffnung, dass diese sie retten würde. »Wie faszinierend.«

»Falls du jemals daran gedacht hast, Cortanas Schöpfer kennenzulernen, könnte ich dich hinbringen. Vorbei am großen weißen Pferd, unter dem Hügel – für nur eine Münze und das Versprechen …«

»Nein«, sagte Cordelia bestimmt. Vielleicht war sie tatsächlich so naiv, wie die Klientel des Hell Ruelle annahm, doch selbst sie wusste, wie man zu reagieren hatte, wenn ein Feenwesen einem einen Handel anbot: Man entfernte sich.

»Viel Vergnügen bei der Feier«, fügte sie hinzu, »aber ich muss jetzt weiter.«

Doch als Cordelia sich abwandte, sagte die Frau mit leiser Stimme: »Du musst keinen Mann heiraten, der dich nicht liebt.«

Cordelia erstarrte. Sie warf einen Blick über die Schulter. Die Fee sah sie an; ihr verträumter Gesichtsausdruck war verschwunden. Stattdessen wirkte sie verkniffen, scharf und wachsam.

»Es gibt auch andere Wege«, sagte die Frau. »Ich könnte helfen.«

Cordelia setzte eine unbeteiligte Miene auf. »Meine Freundinnen warten auf mich«, sagte sie und entfernte sich mit hämmerndem Herzen. Kurz darauf ließ sie sich gegenüber von Anna und Lucie auf einen Stuhl sinken, die sie jubelnd begrüßten. Doch Cordelias Gedanken waren ganz woanders.

Einen Mann, der dich nicht liebt. Woher konnte diese Fee das wissen?

»Daisy!«, sagte Anna. »Pass doch bitte auf! Wir machen schließlich gerade einen Riesenwirbel um dich.« Sie trank aus einem schlanken Glas Champagner. Und als sie mit einem Finger winkte, erschien ein weiteres Glas, das sie Cordelia reichte.

»Hurra!«, rief Lucie entzückt, bevor sie ihren Cidre und ihre Freundinnen wieder ignorierte, um stattdessen wie wild Sätze in ein Notizbuch zu kritzeln oder ziellos in die Ferne zu starren.

»Hat dich die Muse geküsst?«, fragte Cordelia, deren rasender Puls sich allmählich beruhigte. Die Fee hatte nur Unsinn geredet, ermahnte sie sich. Sie musste gehört haben, wie sich Hypatia mit Cordelia über ihre Hochzeit unterhalten hatte, und daraufhin beschlossen haben, die Zweifel auszunutzen, die jede Braut hegte. Wer hatte sich schließlich noch keine Sorgen gemacht, dass der Mann, den man heiraten würde, einen vielleicht nicht liebte? In Cordelias Fall mochte es zutreffen, aber insgeheim befürchtete jedes Mädchen dieses Schicksal. Und Feenwesen verstanden sich darauf, die Ängste der Sterblichen auszunutzen. Das Ganze bedeutete gar nichts – es war nur ein reichlich durchsichtiger Versuch der Fee, von Cordelia das zu bekommen, was sie zuvor gefordert hatte: eine Münze und ein Versprechen.

Lucie winkte Cordelia mit einer tintenbefleckten Hand zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Hier gibt es Unmengen an Material«, sagte sie. »Hast du Malcolm Fade dort drüben gesehen? Ich finde seinen Mantel hinreißend. Ach ja, und ich habe den Beschluss gefasst, dass Lord Kincaid kein schneidiger Marineoffizier sein soll, sondern ein Künstler, dessen Arbeit in London verboten wurde. Er war deshalb gezwungen, nach Paris zu fliehen, wo er die schöne Cordelia zu seiner Muse macht und in den besten Salons willkommen geheißen wird.«

»Was ist mit dem Duke of Blankshire passiert?«, fragte Cordelia. »Ich dachte, die fiktive Cordelia stünde kurz davor, eine Herzogin zu werden.«

»Er ist gestorben«, erklärte Lucie und leckte sich ein wenig Tinte vom Finger. An ihrem Hals schimmerte eine vergoldete Kette. Inzwischen trug sie diese Kette mit dem schlichten goldenen Medaillon schon seit mehreren Monaten. Als Cordelia sie danach gefragt hatte, hatte Lucie gemeint, es handelte sich um ein altes Familienerbstück, das Glück bringen sollte. Cordelia konnte sich noch daran erinnern, wie das Medaillon in jener Nacht, in der James im Highgate Cemetery fast an dem Dämonengift gestorben wäre, golden in der Dunkelheit aufgeblitzt hatte. Dagegen konnte sie sich nicht daran erinnern, Lucie davor schon mit der Halskette gesehen zu haben. Vermutlich hätte sie ihr eine Erklärung abringen können. Doch da auch sie ihrer zukünftigen Parabatai bestimmte Dinge vorenthielt, konnte sie wohl kaum verlangen, alles über Lucies Geheimnisse zu erfahren – insbesondere über eine so unbedeutende Angelegenheit wie dieses Medaillon.

»Das klingt nach einem ziemlich tragischen Roman«, warf Anna ein, während sie die Lichtreflexionen ihres Champagners im Glas bewunderte.

»O nein, keineswegs«, entgegnete Lucie. »Ich wollte nur nicht, dass die fiktive Cordelia an einen einzigen Mann gebunden ist. Ich möchte, dass sie Abenteuer besteht.«

»Nicht ganz die Geisteshaltung, auf die man am Vorabend einer Hochzeit hoffen dürfte, aber ich begrüße die Entscheidung trotzdem«, sagte Anna. »Ich hoffe doch sehr, dass auch du nach deiner Heirat weiterhin Abenteuer erleben wirst, Daisy.« Annas blaue Augen funkelten, als sie ihr Glas hob, um einen Toast auszubringen.

Lucie hob ebenfalls ihr Getränk: »Auf das Ende der Freiheit! Auf den Beginn einer vergnüglichen Gefangenschaft!«

»Unsinn«, sagte Anna. »Die Hochzeit einer Frau ist der Beginn ihrer Befreiung, Lucie.«

»Wie das?«, fragte Cordelia.

»Eine unverheiratete Dame befindet sich in den Augen der Gesellschaft in einem vorübergehenden Zustand und lebt in der Hoffnung, jeden Augenblick zu heiraten«, erklärte Anna. »Dagegen kann eine verheiratete Frau flirten, mit wem es ihr beliebt, ohne dadurch ihren Ruf zu schädigen. Sie kann sich frei bewegen – zum Beispiel kann sie zu meiner Wohnung und wieder nach Hause fahren.«

Lucie riss die Augen auf. »Willst du damit sagen, dass manche deiner Liebschaften verheiratete Frauen waren?«

»Ich sage sogar, in den meisten Fällen«, bestätigte Anna. »Es ist einfach so, dass eine verheiratete Frau größere Freiheiten genießt und eher tun kann, was sie will. Eine unverheiratete junge Frau darf ihr Haus kaum ohne Begleitung verlassen. Dagegen kann eine verheiratete Frau einkaufen, Vorträge besuchen, Freunde treffen … Sie hat Dutzende von Gründen, mit einem schmeichelhaften Hut auf dem Kopf außer Haus zu gehen.«

Cordelia kicherte. Anna und Lucie gelang es einfach immer, sie aufzumuntern. »Und dir gefällt eine Dame mit einem schmeichelhaften Hut.«

Anna hob nachdenklich den Zeigefinger. »Eine Frau, die in der Lage ist, einen Hut auszuwählen, der ihr wirklich steht, verwendet mit großer Wahrscheinlichkeit die gleiche Sorgfalt auf jede Schicht ihres Ensembles.«

»Was für eine tiefgründige Beobachtung«, sagte Lucie. »Stört es dich, wenn ich sie in meinem Roman verwende? Genau so etwas würde Lord Kincaid nämlich sagen.«

»Mach, was du willst, du diebische Elster«, sagte Anna. »Du hast sowieso schon die Hälfte meiner besten Weisheiten gestohlen.« Ihr Blick wanderte durch den Raum. »Habt ihr Matthew mit Kellington gesehen? Ich hoffe, das geht nicht wieder los.«

»Was war denn mit Kellington?«, fragte Lucie.

»Er hat Matthew vor ungefähr einem Jahr sehr unglücklich gemacht«, erklärte Anna. »Matthew neigt dazu, sich das Herz brechen zu lassen. Er scheint hoffnungslose Lieben zu bevorzugen.«

»Ach wirklich?« Lucie kritzelte erneut etwas in ihr Notizbuch. »Oje.«

»Seid gegrüßt, verehrte Damen«, sagte ein großer junger Mann mit totenbleicher Haut und braunen Haaren, der plötzlich wie aus dem Nichts an ihrem Tisch aufgetaucht war. »Welche von euch strahlenden Schönheiten verlangt es danach, als Erste mit mir zu tanzen?«

Lucie sprang auf. »Ich werde mit dir tanzen«, sagte sie. »Du bist doch ein Vampir, oder?«

»Äh … ja?«

»Famos! Lass uns tanzen, und du kannst mir währenddessen alles über den Vampirismus erzählen. Verfolgst du schöne Damen durch die Straßen von London, in der Hoffnung, einen Tropfen ihres vornehmen Bluts zu kosten? Weinst du, weil deine Seele verdammt ist?«

Die dunklen Augen des jungen Mannes huschten besorgt umher. »Eigentlich wollte ich nur Walzer tanzen«, sagte er, doch Lucie hatte bereits seinen Arm ergriffen und zog ihn auf die Tanzfläche. Die Musik schwoll an, während Cordelia und Anna die Gläser klingen ließen und lachten.

»Armer Edwin«, sagte Anna und betrachtete die Tanzenden. »Er hat schwache Nerven – selbst unter günstigsten Umständen. Und jetzt, Cordelia, erzählst du mir bitte in allen Einzelheiten von den Hochzeitsplänen. Aber zuerst besorge ich uns noch etwas Champagner.«

2

Alles, was vorüberrollt

Und wenn ihr einmal auf den Stufen eines Palastes, auf dem grünen Grase eines Grabens, in der traurigen Einsamkeit eures Gemaches erwachet, der Rausch schon licht geworden oder verflogen ist, so fraget den Wind, die Woge, den Stern, den Vogel, die Uhr, alles, was flieht, alles, was seufzt, alles, was vorüberrollt, alles, was singt, alles, was spricht, fraget sie: »Welche Zeit ist es?« und der Wind, die Woge, der Stern, der Vogel, die Uhr werden euch antworten: »Es ist Zeit, sich zu berauschen! Um nicht die gequälten Sklaven der Zeit zu sein, berauschet euch; berauschet euch ohne Ende; mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt.«

Charles Baudelaire, »Berauschet Euch« (»Enivrez-vous«)

»Pass auf, hinter dir!«, rief Christopher erschrocken, und James sprang hastig zur Seite. Zwei betrunkene Werwölfe, in ein wüstes Handgemenge verwickelt, stürzten an ihnen vorbei und landeten krachend auf dem Boden. Thomas hielt sein Glas über den Kopf, um es im Getümmel zu schützen.

James war unsicher gewesen, ob die Devil Tavern der richtige Ort für diese Party war, da er sich ohnehin mehrmals in der Woche dort aufhielt. Aber Matthew hatte darauf bestanden und angedeutet, dass er etwas ganz Besonderes arrangiert hätte.

James warf einen Blick auf das Chaos um ihn herum und seufzte innerlich. »Eigentlich hatte ich mir einen eher beschaulichen Abend vorgestellt.«

Bei ihrer Ankunft war es in der Devil Tavern noch nicht so turbulent zugegangen – es hatte nur die übliche heitere Betriebsamkeit geherrscht. James wäre vollauf damit zufrieden gewesen, sich wie immer nach oben in ihre Privaträume zurückzuziehen und mit seinen ältesten Freunden einfach einen entspannten Abend zu verbringen.

Matthew war jedoch sofort auf einen Stuhl gestiegen und hatte die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste auf sich gezogen, indem er mit seiner Stele gegen den Kronleuchter unter der Decke schlug und rief: »Freunde! Heute feiert mein Parabatai, James Jeremiah Jehoshaphat Herondale, seinen letzten Abend als unverheirateter Mann!«

Der gesamte Pub hatte gejohlt und gejubelt.

James hatte freundlich gewinkt, um seinen Gratulanten zu danken, doch allem Anschein nach war es damit nicht getan. Schattenweltler aller Art kamen herbei, um ihm die Hand zu schütteln, ihm auf die Schulter zu klopfen und alles Gute zu wünschen. Zu seiner Überraschung wurde James klar, dass er fast alle Anwesenden kannte – dass er viele von ihnen bereits als kleiner Junge gekannt hatte und sie ihn hatten aufwachsen sehen.