Chaos Kings - Scott Patterson - E-Book

Chaos Kings E-Book

Scott Patterson

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Beschreibung

Die Welt wird immer extremer: Pandemien, Klimawandel, politische Radikalisierung, religiöser Fundamentalismus – all diese Entwicklungen bedrohen Billionen an Vermögenswerten. Doch es gibt eine Gruppe von Investoren, die in dieser Umgebung erst richtig gedeiht: die Chaos Kings. Einer der berühmtesten Vertreter dieser Gruppe: Hedgefonds-Manager Mark Spitznagel und sein Universa-Fonds. Scott Patterson hatte exklusiven Zugang zu den Universa-Strategen und beschreibt, wie Spitznagel mithilfe von Nassim Nicholas Taleb sein Anlagekonzept entwickelte, wie es funktioniert und welche Gegenentwürfe es gibt. Dieses fesselnde und aufschlussreiche Buch ist ein Muss für jeden, der wissen möchte, wie einige der heutigen Investoren Katastrophen in Profit umwandeln.

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Chaos Kings ∙ Scott Patterson

Scott Patterson

CHAOS KINGS

Wie Wall-Street-Trader im Zeitalter der Krisen Milliarden verdienen

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

CHAOS KINGS: How Wall Street Traders Make Billions In The New Age of Crisis

ISBN 978-1-9821-7993-9

German Translation copyright © 2024 by Börsenmedien AG

(CHAOS KINGS: How Wall Street Traders Make Billions In The New Age of Crisis)

Copyright © 2023 by Scott Patterson

All Rights Reserved.

Published by arrangement with the original publisher, Scribner, an Imprint of Simon & Schuster, LLC

Copyright der Originalausgabe 2023:

© 2023 by Scott Patterson. All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2024:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Rotkel e. K., Berlin

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Coverfoto: Midjourney

Gestaltung, Satz und Herstellung: Timo Boethelt

Lektorat: Elke Sabat

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-947-0

eISBN 978-3-86470-948-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

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FÜR PAPA UND LEO

INHALT

Prolog: Willkommen in der Hölle

Teil 1: Schwäne und Drachen

Kapitel 1: Bum!

Kapitel 2: Ruin-Probleme!

Kapitel 3: Das Schlimmste kommt erst noch

Kapitel 4: Der Sizzler

Kapitel 5: Die Welt, wie Nassim Taleb sie sieht

Kapitel 6: Das Truthahnproblem

Kapitel 7: Drachenjäger

Kapitel 8: Das führt direkt in den Wahnsinn

Kapitel 9: Ein sehr dunkler Tunnel

Teil 2: Das Paradies der schweren Ränder

Kapitel 10: Träume und Albträume

Kapitel 11: Flash Crash

Kapitel 12: Der Störungscluster

Kapitel 13: Volmageddon

Kapitel 14: Das ist die Welt, in der wir leben

Kapitel 15: Lotterielose

Teil 3: Das komplexe Problem

Kapitel 16: Diese Zivilisation ist am Ende

Kapitel 17: Übergang zum Aussterben

Kapitel 18: Ruin währt ewig

Kapitel 19: Es ist höchste Zeit

Kapitel 20: Das Glücksspiel

Kapitel 21: Der Kipppunkt und alles danach

Kapitel 22: Blindflug

Kapitel 23: Das große Risikodilemma

Kapitel 24: An der Schwelle zum Verhängnis

Danksagung

Anmerkungen

PROLOG

Willkommen in der Hölle

Im tiefen New Yorker Winter träumte Bill Ackman von Krankheit. Es war Januar 2020. In China breitete sich ein Virus aus, das sich in erstaunlichem Tempo vermehrte und Menschen infizierte. Die Krankheit breitete sich exponentiell aus – aus einem Erkrankten wurden 2, dann 4, dann 16, dann 256 und schließlich Zehntausende. Die Zahl der Todesopfer war hoch. Zwei oder drei von hundert Erkrankten starben. Er erwachte schweißgebadet aus seinem Albtraum.

Der milliardenschwere Hedgefonds-Manager begann, wie besessen zu verfolgen, was über die Krankheit berichtet wurde. Besonders beunruhigte ihn die Information, dass fünf Millionen Menschen aus Wuhan, dem Ursprungsort des Virus, geflohen waren, bevor die Stadt abgeriegelt worden war. Sie ist nicht eingedämmt. Viele Infizierte wussten nicht, dass sie erkrankt waren. Diese asymptomatischen Träger übertrugen die Krankheit auf fast jeden, dem sie begegneten. Das Virus könnte sich überall ausbreiten. Den meisten Menschen war das nicht bewusst. Sie begriffen nicht, wie schrecklich diese exponentielle Ausbreitung werden konnte. Aber das Gesetz der Wahrscheinlichkeit ließ keinen Zweifel. Es würde schnell gehen. Die halbe Welt könnte sich infizieren. Die meisten Maßnahmen, die die Regierungen ergriffen, reichten nicht annähernd aus, um die Ausbreitung einzudämmen. Ackman sah das Unheil wie eine dunkle Wolke am Horizont aufziehen: eine globale Depression, weltweit Millionen Tote, davon rund eine Million Amerikaner.

Es war eine einfache Rechnung.

Am 30. Januar erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch des tödlichen neuartigen Coronavirus zu einem globalen Gesundheitsnotstand. Trotz der zunehmenden Besorgnis riet die WHO den Ländern nachdrücklich, keine Reisebeschränkungen zu verhängen. „Es ist die Zeit für Wissenschaft, nicht für Gerüchte“, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Ackman konnte es nicht glauben, dass die Menschen weiterhin munter grenzübergreifend reisten. Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Mailänder Modewoche, die im Februar trotz eines schweren Corona-Ausbruchs in Norditalien stattfand. All diese verdammten Fashionistas von überall auf der Welt würden zurück in ihre dicht besiedelten Städte jetten und das Virus überall verbreiten.

Es ist vorbei, dachte Ackman, Gründer und Chef des aktivistischen New Yorker Hedgefonds Pershing Square Capital Management. Das Virus ist nun da draußen in der Welt.

Er begann, intensiv über die milliardenschweren Investitionen seines Unternehmens nachzudenken. Sollte er alles verkaufen? Würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen? Er besaß jede Menge Hilton-Aktien. Niemand würde mehr Hotels brauchen, wenn wir diese Pandemie nicht in den Griff bekämen. Eine weitere große Position waren die Aktien von Chipotle, der mexikanischen Fast-Food-Kette. Noch eine Zeitbombe. Als er sein Portfolio überprüfte, sah er ein Pulverfass voller Risiken. Alles könnte in die Luft fliegen. Im Vergleich zu dem Massensterben, das er kommen sah, erschien es ihm zwar unbedeutend. Aber es war sein Job.

Es fühlte sich falsch an, alles zu verkaufen. Pershing Square investierte langfristig und er glaubte, dass die Unternehmen, die er besaß, grundsätzlich stark waren. Unter normalen Umständen. Aber die Umstände waren nicht mehr normal. Er rief die Führungskräfte einiger der größten Finanzinstitute der Welt an, um herauszufinden, ob sie seine Bedenken teilten. Sie taten es nicht. Er schrieb eine E-Mail an Warren Buffett, den er als Mentor auf dem Gebiet des Value-Investing, des wertorientierten Anlegens, betrachtete, und teilte ihm mit, dass er die für Anfang Mai angesetzte viel beachtete Jahreshauptversammlung von Berkshire Hathaway wegen der bevorstehenden Seuche absagen müsse. Das allwissende Orakel von Omaha reagierte, als wäre Ackman nicht ganz bei Sinnen (Buffett sagte das Treffen dann Mitte März ab).

Anfang Februar saß Ackman in einem Konferenzraum im Büro von Pershing Square in Midtown Manhattan und erläuterte in einem Vieraugengespräch seine Bedenken bezüglich des Virus. Sein Gesprächspartner begann zu husten und Ackman stürzte panisch aus dem Raum. Er bekam Angst. Um sich selbst und davor, dass er seinen betagten Vater mit der Krankheit anstecken könnte. Langsam wurde ihm klar, dass er seine eigenen Mitarbeiter gefährdete, indem er sie weiter vor Ort für Pershing Square arbeiten ließ. Er beschloss, das Büro zu schließen und alle Mitarbeiter von zu Hause aus arbeiten zu lassen. Er befürchtete jedoch, dass es seinen Mitarbeitern Angst machen würde, wenn er als Grund dafür das Virus anführte. Sie waren sich der Bedrohung ja nicht bewusst. Deshalb behauptete er, es handle sich um einen kurzfristig angesetzten Test für den Umgang mit einem Katastrophenfall. Insgeheim befürchtete er jedoch, dass sie mit der Firma erst in einem Jahr, wenn nicht sogar später, wieder in Vollzeit ins Büro zurückkehren würden.

Am Sonntag, dem 23. Februar, begann der ergraute 50-jährige Investor nach einer Möglichkeit zu suchen, seine Firma – und seine Anleger – vor dem zu schützen, was er zunehmend für eine schnell fortschreitende weltweite Katastrophe hielt. Er hatte schon einmal ähnliche Schritte unternommen, als das Chaos regierte. In der globalen Finanzkrise von 2008 konnte Ackman große Gewinne erzielen, indem er gegen Unternehmen wettete, die in Verbindung mit dem einbrechenden US-Immobilienmarkt standen, wie beispielsweise die US-Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac. Er glaubte, dass die Covid-19-Krise das Jahr 2008 geradezu lächerlich erscheinen lassen könnte. Als er auf dem Markt nach einem Ausweg suchte, stellte er fest, dass die Anleihemärkte nicht das gleiche Risiko widerspiegelten, das er sah – nicht im Entferntesten. Die Wirtschaft war so lange so stabil gewesen, dass sich die Anleger nicht vorstellen konnten, dass die Kurve irgendwo anders hingehen könnte als nach oben.

Für Ackman war das eine Chance. Er könnte gegen Anleihebündel wetten, die in Indizes zusammengefasst waren, so wie der Dow Jones Industrial Average ein Bündel von 30 großen Unternehmen ist. Wenn die Anleihe-Indizes nur ein wenig fielen, könnte er alles verlieren. Wenn sie abstürzten, würde er ein Vermögen verdienen. Das wäre eine gigantische Wette auf das Chaos.

Ackman baute schnell eine große Position auf. Er kaufte Versicherungsverträge, die als Kreditausfalltausch oder Credit Default Swaps bekannt sind, im Wert von 42 Milliarden US-Dollar auf US-Anleihen mit Investment Grade, für mehr als 20 Milliarden US-Dollar auf einen Index europäischer Anleihen und er ging eine Position von drei Milliarden US-Dollar auf Ramschanleihen ein. Insgesamt hatte er Versicherungen, die an 71 Milliarden Dollar Unternehmensschulden gebunden waren. Die Wette kostete Ackman lediglich 26 Millionen Dollar. Wie eine Feuerversicherung würde sie sich auszahlen, wenn die Anleihe-Indizes in Flammen aufgingen.

Bald darauf begannen die Anleihemärkte zu beben, da auch andere Anleger langsam erkannten, dass der Albtraum, den Ackman schon im Januar vorausgesehen hatte, wahr wurde. Ganze Branchen – Hotels, Vergnügungsparks, Restaurants, Sporteinrichtungen und -events, Fluggesellschaften, die Unterhaltungsindustrie – könnten in Konkurs gehen, wenn Covid-19 außer Kontrolle geriete. Andere Investoren wollten plötzlich die gleiche Versicherung, die Ackman billig gekauft hatte. Die Preise begannen zu steigen. Wenig später schossen sie regelrecht in die Höhe. Irgendwann stiegen die Kurse so stark an, dass seine Position ein Drittel des von Pershing Square verwalteten Vermögens ausmachte.

Am Nachmittag des 12. März, an einem Donnerstag, überprüfte Ackman im Homeoffice seine Positionen. Sie waren schon seit Tagen am Steigen, aber jetzt gingen sie durch die Decke. Er hatte an diesem Tag 780 Millionen Dollar verdient. Das konnte nicht lange so weitergehen. Er hatte Gerüchte gehört, dass das Weiße Haus und die US-Notenbank darüber nachdachten, in die Märkte einzugreifen, um dem Gemetzel Einhalt zu gebieten.

Zeit zu verkaufen. Nur wenige Wochen nach seiner Wette machte er schnell Kasse. Er veräußerte seine Positionen in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar in den Investment-Grade-Wetten, 4 Milliarden US-Dollar in den europäischen Positionen und 400 Millionen US-Dollar in den Ramschanleihen. Das bedeutete einen Gewinn von 2,6 Milliarden Dollar, mit dem er einen Teil der Verluste von Aktien, die er gehalten hatte, auszugleichen versuchte. Der Aktienmarkt war nach Beginn der Covid-19-Panik um schwindelerregende 30 Prozent eingebrochen.

Dann tat Ackman etwas Verrücktes. Etwas richtig Verrücktes. Er nahm den Ratschlag von Baron Rothschild wörtlich, dann zu kaufen, wenn in den Straßen das Blut fließt, und er kaufte mit seinem Gewinn erneut Aktien. Er kaufte Aktien von Hilton, Berkshire Hathaway, Starbucks, Lowe’s und noch ein paar mehr. Und zwar im März, als die Pandemie gerade so richtig an Fahrt aufnahm.

Das war ein mutiger Schritt. Vielleicht war es sogar dumm. Die meisten Anleger taten in ihrer Panik alles, außer Aktien zu kaufen. Ackman befürchtete, dass alles umsonst gewesen wäre, wenn die USA die Pandemie nicht in den Griff bekämen. Mit wachsendem Entsetzen sah er in den Nachrichten Bilder von Teenagern, die Spring Break in Fort Lauderdale feierten. In der Nacht zum 17. März konnte er nicht schlafen, nachdem er weitere beunruhigende Nachrichten über den Ausbruch in Wuhan gehört hatte. Am nächsten Morgen wandte er sich auf Twitter direkt an Präsident Trump:

@BillAckman

Mr President, uns bleibt nichts anderes übrig,

als das Land für die nächsten 30 Tage

herunterzufahren und die Grenzen zu

schließen. Sagen Sie allen Amerikanern,

dass Sie uns in einen verlängerten Spring

Break zu Hause mit der Familie schicken.

Lassen Sie nur die unbedingt notwendigen

Dienstleistungen weiterlaufen. Die Regierung

zahlt die Löhne, bis wir wieder weitermachen.

Durch die exponentielle Entwicklung kostet

jeder Tag, den wir den Lockdown hinauszögern,

Tausende, bald Hunderttausende und

dann Millionen von Menschenleben und

zerstört die Wirtschaft.

Scott Wapner, ein Moderator des Finanznachrichtensenders CNBC, sah den Tweet und rief Ackman an. „Das klingt ernst“, sagte Wapner und fragte ihn, ob er auf Sendung sprechen würde. Ackman stimmte zu.

„Willkommen in der Hölle“, sagte Ackman zu Wapner – und zu den Zehntausenden von Zuschauern der Sendung, von denen viele an der Wall Street arbeiteten. „Die meisten Menschen sind es nicht gewohnt, täglich über exponentielles Wachstum nachzudenken. Als ich meine Berechnungen durchführte, haben mir die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gesagt, dass sich dieses Ding überallhin ausbreiten wird; 50 Prozent der Weltbevölkerung werden sich infizieren.“

Millionen von Amerikanern hätten das Virus wahrscheinlich bereits, sagte er. „Warum sollte sich diese Sache nicht in alle Ecken der Welt ausbreiten? Warum sollte sich nicht jeder anstecken? Die einzige Möglichkeit, mit dem Virus fertigzuwerden, wäre, die Weltwirtschaft stillzulegen.“

Er wiederholte seine Forderung nach einem nationalen 30-tägigen Lockdown. „Das Amerika, wie wir es kennen, wird untergehen, wenn wir das jetzt nicht machen“, sagte er. Der Kanarienvogel in der Kohlenmine sei New Yorks Chinatown, sagte er Wapner. Dort gingen die Menschen bereits nicht mehr in die Restaurants und viele müssten schließen. Betroffen wären alle, von den Hilfskräften über die Kellner bis hin zu den Unternehmern, denen die Restaurants gehören. Und genau das würde mit der gesamten US-Wirtschaft geschehen, wenn nicht sofort offensive Maßnahmen ergriffen würden.

Der notorisch großspurige, ja überhebliche Hedgefonds-Manager klang verängstigt, richtiggehend entsetzt. Das war er auch. „Ein Tsunami ist im Anmarsch, das ist ganz deutlich zu spüren, die Flut rollt an. Und am Strand spielen und amüsieren sich die Leute, als ob nichts wäre. Das ist das Gefühl, das ich in den letzten zwei Monaten hatte. Meine Arbeitskollegen hielten mich für verrückt. Verrückt!“

Ackmans Tirade beunruhigte die Zuschauer. Er zählte zu den bekanntesten Hedgefonds-Managern in Amerika – ein Meister unter den Größen der Finanzwelt – und hatte seine Karriere auf öffentlichkeitswirksamen Investitionen in bekannte Marken wie Starbucks und Wendy’s aufgebaut. Wenn Ackman sich an einer Aktie beteiligte, sorgte dies für Schlagzeilen. Er war sogar noch bekannter für seine pessimistischen Wetten, wie beispielsweise eine 1-Milliarde-Dollar-Position gegen Herbalife Nutrition, ein Unternehmen für Nahrungsergänzungsmittel, das Ackman als Schneeballsystem bezeichnete. Eine Wette, die ihn gegen Carl Icahn stellte – und die Ackman bekanntermaßen verlor.

Während Ackman sprach, brach der Markt, der im Laufe des Tages bereits stark gefallen war, ein. Der Kurs fiel so schnell, dass der Handel eingestellt wurde. Als der Markt wieder öffnete, lag der Dow Jones mehr als 2.000 Punkte im Minus. Der Guardian bezeichnete Ackmans Auftritt als „fast schon hysterisch“ und „sehr schwarzmalerisch“. Forbes bezeichnete den Auftritt als „überzogen“ und Ackman selbst als „Hedgefonds-Manager, der zum Hobby-Gesundheitsexperten mutiert ist“.

Doch es war nicht Ackmans Diagnose der biologischen Eigenschaften des Coronavirus, die ihn im Januar die Bedrohung durch das Virus erkennen ließ. Vielmehr war er deshalb nervös, weil er verstanden hatte, wie beunruhigend schnell und unkontrolliert sich das Virus ausbreitete. Er verstand die nicht lineare Mathematik, die zugrunde liegt, wenn etwas Kleines immer größer wird, wie eine Kugel Schnee, die einen Hügel hinunterrollt. Dieses Verständnis ist der Schlüssel zum Risikomanagement – nicht nur an der Wall Street, wo es immer wieder zu Pleiten kommt, sondern in der gesamten Wirtschaft einer Welt, die allem Anschein nach immer riskanter wird. Er ahnte die Krise vor den meisten anderen Menschen, sogar vor vielen professionellen Epidemiologen, die vor überzogenen Reaktionen warnten, solange nicht mehr Informationen über das Virus vorlagen, weil er sich auf das zerstörerische Risiko der exponentiellen Ausbreitung gefasst gemacht hatte. Ackman wusste, dass das Virus tödlich war.

Also tat Ackman, was alle guten Chaos-Könige tun. Er geriet früh in Panik. Denn wenn man starr wie ein Reh im Scheinwerferlicht abwartet, was wohl passieren wird, wenn man erst versucht, besser zu verstehen, was da vor sich geht, wenn man mehr Informationen und Daten zu sammeln versucht, während sich die Krise schon entfaltet, dann ist es bereits zu spät. Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Der Drops ist gelutscht. Die Messe ist gelesen.

Kritiker sagten, dass er nur sein eigenes Süppchen kochte und versuchte, den Markt zu drücken, um mit seinem großen Leerverkauf mehr zu verdienen. Aber Ackman hatte schon lange vor dem Interview einen großen Teil abgestoßen und begonnen, jede Menge Aktien zu kaufen – so viel verriet er Wapner. Das heißt, ein Zusammenbruch des Aktienmarktes hätte ihm geschadet. Was ihn antrieb, war zu verhindern, dass der Drops bald gelutscht und die Messe gelesen sein würde. Und er wollte sich und seine Investoren schützen. Obwohl Trump seine Warnung nicht beachtete, stellte sich heraus, dass seine verrückte Wette auf Aktien inmitten des Wahnsinns ziemlich gut funktioniert hatte. Beflügelt von Rekordausgaben der Federal Reserve und Billionenhilfen des Kongresses erholte sich der US-Aktienmarkt nach dem Schockabsturz im März wieder und begab sich auf eine nie da gewesene Rally. Ackmans Investitionen brachten schließlich eine weitere Milliarde Dollar ein, sodass er mit seiner 26-Millionen-Dollar-Wette einen Gesamtgewinn von 3,6 Milliarden Dollar erzielte – ein Geschäft, das Barron’s später als eines der größten aller Zeiten bezeichnete.

Ackman war nicht der Einzige, der das Wesen des explosiven exponentiellen Risikos Anfang 2020 verstand – und dass Milliarden damit verdient werden konnten. Ein anderer Händler, der sich in jenem Winter in die eisigen Wälder Nord-Michigans zurückgezogen hatte, hatte ebenfalls eine gigantische Wette auf einen Crash abgeschlossen. Er war einer der ursprünglichen Könige des Chaos.

TEIL1

Schwäne und Drachen

1

Bum!

Mark Spitznagel starrte verblüfft auf seinen Computerbildschirm. Es war der 16. März 2020 und noch früh am Morgen. Er konnte nicht glauben, wie dysfunktional die Märkte auf der ganzen Welt geworden waren. Die globalen Märkte waren praktisch tot. Nichts wurde gehandelt. Anleger, die verzweifelt versuchten, aus ihren Positionen auszusteigen, um erdrückende Verluste zu vermeiden, konnten dies nicht, da alles, von Aktien über Rohstoffe bis hin zu Anleihen, ins Leere lief. Die Händler konnten nicht einmal US-Staatsanleihen verkaufen – T-Bonds, den Vermögenswert mit der höchsten Liquidität der Welt. Es war, als ob der Wert der amerikanischen Staatsanleihen auf null gesunken wäre.

Als sich die Covid-19-Pandemie Anfang 2020 ausbreitete, gerieten die Finanzmärkte auf der ganzen Welt ins Wanken und brachen schließlich zusammen. Anfang März schienen beispiellose tägliche Kurseinbrüche von mehr als 2.000 Punkten beim Dow Jones gefolgt von rasanten Erholungen um ebenso viele Punkte die Norm geworden zu sein. Der Markt war so volatil wie nie zuvor.

Das war gut für Spitznagel, den Gründer von Universa Investments, einem Hedgefonds mit einer einzigartigen Strategie, die vom Chaos auf den Märkten profitierte. Der Händler arbeitete von zu Hause aus in seinem jahrhundertealten Blockhaus auf der dicht bewaldeten Halbinsel von Northport Point, Michigan. Er war in der Woche zuvor dorthin geflogen, um bei seiner Familie zu sein, als nach und nach das ganze Land in den Lockdown ging. Von seinem Fenster aus konnte er über die Northport Bay am Michigansee hinweg die schneebedeckten Hügel von Idyll Farms sehen, wo er und seine Frau Ziegen züchteten und preisgekrönten Käse herstellten.

Spitznagel hatte sich auf Momente wie diesen vorbereitet, seit er in den 1980er-Jahren als 16-Jähriger staunend auf das Chaos eines Chicagoer Handelsplatzes gestarrt hatte. Der Sohn eines Pfarrers hatte eine vielversprechende Karriere als Konzertmusiker – mit einem Studienplatz an der Juilliard School – aufgegeben, um eine Laufbahn als Rohstoffhändler einzuschlagen. Er hatte sich von den untersten Rängen des Chicago Board of Trade, der dortigen Handelsbörse, bis in leitende Positionen bei den New Yorker Banken hochgearbeitet und 1999 schließlich einen innovativen Hedgefonds namens Empirica Capital mitgegründet. Spitznagel war ein geborener Händler. Als im März 2020 auf den Weltmärkten das Chaos losbrach, blieb er ganz ruhig.

Er kommunizierte via Audio und Video mit seinem kleinen Händlerteam in der Universa-Zentrale im 20. Stock eines am Meer gelegenen Hochhauses in Miamis Coconut Grove und überwachte die fein kalibrierten Handelspositionen des Unternehmens, die speziell darauf ausgerichtet waren, vom Chaos zu profitieren. Er beobachtete die implodierenden Märkte mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination. Universa, wo das Risiko von 4,3 Milliarden Dollar für Kunden in aller Welt verwaltet wurde, hatte sich seit Jahren auf eine solche Katastrophe vorbereitet.

Spitznagel, schlank und hochgewachsen, mit rasiertem Kopf und Geheimratsecken, war der Gründer und Chefarchitekt von Universa, einer Handelsmaschine mit einer Strategie, die Ende der 1990er-Jahre zusammen mit Spitznagels langjährigem Kollegen Nassim Nicholas Taleb bei Empirica entwickelt worden war. Der libanesisch-amerikanische Händler und Mathematiker Taleb wurde später zu einem weltberühmten Autor, der mit Bestsellern wie „Der Schwarze Schwan“ und „Antifragilität“ bekannt wurde. Als Empirica ins Leben gerufen wurde, war er ein unbedeutender Professor für quantitative Finanzwirtschaft an der New York University mit Erfahrung im Handel mit komplexen Finanzinstrumenten, die als Derivate bekannt sind. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die Finanzmärkte und -institute weitaus riskanter geworden waren, als vielen bewusst war. Er hatte am Schwarzen Montag im Oktober 1987, als der Dow an einem einzigen Tag um 22,6 Prozent fiel, ein Vermögen gemacht. Wie Spitznagel hatte er alle Krisen der 90er-Jahre miterlebt – den Konkurs von Orange County (Kalifornien) im Jahr 1994, die durch Währungsabwertungen ausgelöste Asienkrise von 1997 und den Zusammenbruch des riesigen Hedgefonds Long-Term Capital Management im Jahr 1998, nachdem dieser unter anderem völlig unangebrachte Wetten auf russische Schuldtitel abgeschlossen hatte. Taleb hatte begonnen, solche Krisen als Schwarze Schwäne zu bezeichnen – höchst unwahrscheinliche Ereignisse, die niemand vorhersehen konnte (wie einen plötzlichen Börsencrash). Einst dachten die Europäer, alle Schwäne seien weiß … bis sie in Australien schwarze Schwäne entdeckten. Ein Schwarzer Schwan ist also etwas, das völlig aus dem Rahmen fällt, etwas, das sich allen bisher bekannten Kategorien und Annahmen entzieht.

Im Jahr 1999 war das alles nur Theorie. Um diese Theorie zu testen, legten Taleb und Spitznagel Empirica auf, einen Hedgefonds, der darauf ausgelegt war, enorme Gewinne aus Crashs zu erzielen. Sie nannten sich selbst Krisenjäger. Es war der ultimative Bärenmarkt-Fonds, der erste seiner Art. Im Gegensatz zu fast allen anderen Handelsunternehmen, die in Bullenmärkten Geld verdienten, machte Empirica nur dann ein Vermögen, wenn der Bär brummend aus seiner Höhle auftauchte. Jeden Tag kaufte der Fonds Positionen, die bei einem sehr starken Rückgang der Aktien extreme Gewinne abwarfen. Für gewöhnlich waren die Transaktionen mit kleinen Verlusten verbunden – der Markt stürzte nicht ab, die Trades erwiesen sich als wertlos. Aber als der Markt tatsächlich zusammenbrach, wurden die Positionen von Empirica sehr wertvoll.

Taleb und Spitznagel hörten mit Empirica im Jahr 2004 auf. Unter anderem auch deshalb, weil Taleb die tägliche Hedgefonds-Arbeit nicht gefiel und er sich aufs Schreiben konzentrieren wollte, nachdem sein erstes Buch für ein breites Publikum, „Narren des Zufalls“, ziemlich erfolgreich gewesen war (in den 1990er-Jahren hatte er ein Fachbuch mit dem Titel „Dynamic Hedging“ geschrieben). Spitznagel, der nie etwas anderes als Händler hatte werden wollen, legte die Strategie 2007 bei Universa neu auf – und perfektionierte sie. Taleb wurde zwar als leitender wissenschaftlicher Berater bei Universa geführt, war jedoch nie in die täglichen Unternehmensabläufe eingebunden. Stattdessen nutzte die Firma seine weltweite Bekanntheit als Schriftsteller und Denker, um die Aufmerksamkeit wohlhabender Investoren zu gewinnen.

Universa hatte während der globalen Finanzkrise von 2008 ein Vermögen verdient, ebenso in anderen turbulenten Zeiten wie bei dem Flash Crash von 2010, der Herabstufung der US-Schulden im Jahr 2011, einer unerwarteten Marktentwicklung im Jahr 2015, die Universa in weniger als einer Woche eine Milliarde US-Dollar einbrachte, sowie bei anderen starken Volatilitätsanstiegen, wie dem sogenannten Volmageddon von 2018. Universa nannte die Strategie das Black Swan Protection Protocol. Dessen Ziel war es, die Anleger vor Schwarzen Schwänen zu schützen.

Und was sich im März 2020 für die Märkte und die Weltwirtschaft abzuzeichnen schien, war der ultimative Schwarze Schwan – schlimmer als alles, was die Welt seit der Großen Depression in den 1930er-Jahren erlebt hatte. Die Volkswirtschaften kamen zum Stillstand und Arbeiter und Familien verschanzten sich in ihren Häusern. Millionen von Amerikanern waren plötzlich arbeitslos. Mitte März befand sich der Wert von Aktien, Anleihen und Rohstoffen im freien Fall.

Während Spitznagel den Zusammenbruch des Marktes von Northport Point aus verfolgte, waren die Händler von Universa am 16. März die ganze Nacht wach geblieben, um die Positionen des Unternehmens zu verwalten, während die Turbulenzen von Hongkong über Europa bis in die USA schwappten. Gegen 5:00 Uhr am Montagmorgen kamen einige leitende Händler in das Büro der Firma. Im Hintergrund erklangen die beruhigenden Akkorde einer Bach-Kantate. Andere arbeiteten aufgrund der Pandemievorgaben des Unternehmens von zu Hause aus. Das Universa-Team, bestehend aus 16 Programmierern und Händlern – Doktoranden, Computerfreaks, Mathematikern –, war erschöpft. Aber sie hatten wenig Zeit zum Ausruhen. Nachdem er sich durch die chaotische Eröffnung des Tages gearbeitet hatte, stieg Spitznagel in ein Privatflugzeug und hob von einem Grasflugplatz in der Nähe seines Hauses in Michigan ab. Am Nachmittag hatte er seinen Stammplatz an einem Schreibtisch neben einem bodentiefen Fenster eingenommen, mit weitem Blick auf Miami und das smaragdgrüne Wasser der Biscayne Bay.

„Denkt dran, wir sind Piraten! Nicht die Marine“, rief er von Zeit zu Zeit seinen besten Derivatehändlern zu und bezog sich dabei auf einen Satz von Steve Jobs („Es ist besser, Pirat zu sein, als zur Marine zu gehen“).

Covid-19 hatte Schockwellen durch das globale Finanzsystem gejagt. Der Dow Industrial Average stürzte an jenem Montag um 13 Prozent ab und verzeichnete damit den zweitgrößten Einbruch innerhalb eines Tages nach dem Schwarzen Montag von 1987. Die Anleihemärkte erstarrten. Geldmarktfonds verzeichneten die größten Abflüsse seit ihrem Bestehen. Kleinstanleger wurden vernichtet. Wall-Street-Veteranen hatten so etwas noch nie gesehen – nicht einmal während der globalen Finanzkrise. „Die Finanzkrise 2008 war ein Autounfall in Zeitlupe“, sagte Adam Lollos, Leiter der Abteilung für kurzfristige Kredite bei der Citigroup, dem Wall Street Journal. „Das hier war eher ein heftiges ‚Bum‘.“1

In der darauffolgenden Woche, als die dramatische Volatilität den Markt in den Abgrund riss, kam die kleine Gruppe von Universa-Händlern kaum ins Bett. Viele schliefen nur ein paar Stunden am Stück auf der Bürocouch oder in ihren Homeoffices, bevor sie wieder aufstanden, schnell einen Kaffee hinunterkippten und heimlich, still und leise ein Vermögen anhäuften.

Die Investitionen von Spitznagel und seinem Team schossen in die Höhe wie eine Rakete. Ende März verzeichnete der Black Swan Protection Protocol Fund der Universa einen erstaunlichen 3-Monats-Gewinn von mehr als 4.144 Prozent. Aus Spitznagels Einsatz von rund 50 Millionen Dollar war innerhalb kürzester Zeit ein atemberaubender Gewinn von fast drei Milliarden Dollar geworden.

Die Erträge waren so astronomisch, dass einige Experten skeptisch wurden. Einige behaupteten, solche Renditen seien unmöglich. Aaron Brown, der viele Jahre Risikomanager an der Wall Street war – und ein alter Freund von Nassim Taleb –, fragte sich, ob Universa wohl auf einen Crash spekulierte. Ob also Spitznagel, als er das Chaos kommen sah, die Einsätze des Unternehmens erhöhte und sie größer machte, um eine bessere Rendite zu erzielen. Spitznagel sagte, Universa habe nie spekuliert. Das Unternehmen habe seine Kunden immer gleich gut vor Crashs geschützt und nie etwas daran geändert, egal was auf dem Markt passierte.

Brown war sich da nicht so sicher.

„Sie leugnen es, aber es muss eine Art Prognosefaktor geben, den sie nicht offenlegen“, sagte Brown zu mir. „Ohne das geht so etwas nicht. Vielleicht haben sie das Geheimnis des Erfolgs entdeckt, aber das passt alles nicht zusammen. Sie machen es so viel besser als alle anderen.“

Spitznagel würde zumindest dem letzten Punkt zustimmen.

o o o o

Wenngleich Nassim Taleb das Konzept des Schwarzen Schwans populär gemacht hatte, war Universa ganz und gar das Kind von Spitznagel. Nach dem Ende von Empirica wurde Taleb zu einer Art prominentem Denker und philosophischem Pionier, der sein Black-Swan-Konzept weit über den Handel und die Finanzwelt hinaus bekannt machte. Sein Herzenswunsch war es, als Wissenschaftler und Philosoph bekannt zu werden, nicht als Händler (obwohl Talebs Engagement bei Universa ihn sagenhaft reich machte und die Einnahmen aus dem Fonds die beträchtlichen Gewinne aus seinen Bestsellern bei Weitem übertrafen).

Ein Bereich, mit dem er sich beschäftigt hatte, waren Pandemien, ein besonders tödlicher Schwarzer Schwan. Im Jahr 2010 sagte er im Economist voraus, dass die Welt mit „schweren biologischen und elektronischen Pandemien konfrontiert sein wird – ein weiteres Geschenk der Globalisierung“.2 In „Antifragilität“, seinem 2012 erschienenen Nachfolgewerk zu „Der Schwarze Schwan“, schrieb er, dass die Globalisierung das Risiko globaler Krankheitserreger erhöhen würde, „als wäre die ganze Welt ein riesiger Raum mit engen Ausgängen und Menschen, die alle zu denselben Türen rennen“. In einem Paper von 2014 mit dem Titel „The Precautionary Principle“ (Das Vorsorgeprinzip) schrieben er und mehrere Mitautoren, dass „das eng miteinander verbundene globale System darauf hinweist, dass eine einzelne Abweichung letztendlich die Summe ihrer Auswirkungen dominieren wird. Beispiele hierfür sind Pandemien, invasive Arten und Finanzkrisen.“3

Mit anderen Worten: In der heutigen hochmobilen, supervernetzten Welt ist die Gefahr von Extremereignissen wie Pandemien größer denn je. Im Januar 2020 hatte Taleb es kommen sehen und Alarm geschlagen. Seine Warnung wurde fast vollständig ignoriert.

2

Ruin-Probleme!

Nassim Taleb betrachtete eine Grafik auf dem Bildschirm seines Apple MacBook. Es war Januar 2020 und er arbeitete in der Universa-Niederlassung in Miami. Er hatte erfahren, dass das neue Virus, das im chinesischen Wuhan grassierte, eine beunruhigende Eigenschaft hatte. Zu dieser Zeit hatte Covid-19 bereits einige Hundert Menschen getötet. Tausende weitere waren schwer erkrankt. Peking hatte die Region weitläufig abgeriegelt. Es schien alles sehr weit weg zu sein.

Nur wenige hielten ernsthafte Maßnahmen außerhalb Chinas für erforderlich. US-Präsident Donald Trump und der britische Premierminister Boris Johnson taten das Virus als eine weitere saisonale Grippe ab, die mit dem Frühling abklingen würde. Die Aktienmärkte in Amerika, Europa und Asien erreichten Rekordhochs. Es sah nach guten Zeiten aus.

Taleb, dessen einst kohlschwarzer Bart unlängst schneeweiß geworden war, erfuhr, dass einige Epidemiologen den RO-Wert von Covid-19 – „R nought“ oder „R-Null“ genannt – auf 3 oder 4 schätzten, vielleicht sogar höher. Das bedeutete, dass eine Person, die erkrankt war, in der Regel drei oder vier Personen ansteckte – mehr als bei der normalen Grippe.

Eine so hohe Ansteckungsrate war alarmierend. Taleb rechnete die Zahlen mithilfe eines Computerprogramms namens Wolfram Mathematica durch und wurde immer beunruhigter. Wenn die Krankheit außer Kontrolle geriete, könnte das verheerende Folgen haben. Millionen von Menschen könnten sterben. Videos aus Wuhan von Krankenhäusern, die mit dem Ansturm überfordert waren, und Ärzten in Schutzanzügen, in denen man vermutlich auch ins All hätte fliegen können, machten Taleb Angst. Er rief Yaneer Bar-Yam an, einen Freund und Experten für komplexe Systemtheorie – das heißt die breit gefächerte, interdisziplinäre Untersuchung von Wechselwirkungen innerhalb und zwischen Systemen, angefangen bei Zellen bis hin zu Wäldern und dem globalen Klima – und für die besorgniserregende Dynamik von Pandemien in der modernen Welt.

„Wir dürfen nicht ignorieren, was da gerade in Wuhan passiert“, sagte Taleb zu ihm.

Bar-Yam stimmte zu.

Bar-Yam, Gründer eines renommierten Forschungszentrums namens New England Complex Systems Institute (NECSI), hatte sich schon seit Jahren immer mehr Sorgen gemacht, dass eine weltweite Pandemie ausbrechen könnte. Er hatte mit den Vereinten Nationen an der Bekämpfung des Ebolavirus gearbeitet und gesehen, wie das Virus beinahe über die Grenzen Afrikas geschwappt wäre. Im Jahr 2016 hatte er einen Bericht mit dem Titel „Transition to Extinction: Pandemics in a Connected World“ (zu Deutsch etwa: „Übergang zur Auslöschung: Pandemien in einer vernetzten Welt“) verfasst. Hochgradig tödliche Krankheitserreger neigen dazu, sich zunächst schnell zu verbreiten und dann wieder weniger zu werden, weil sie nach und nach ihre Wirte töten. Aus diesem Grund ist es weniger wahrscheinlich, dass sich die aggressivsten Krankheiten in einer breiten Bevölkerung ausbreiten. Das sei aber nicht mehr der Fall, warnte Bar-Yam. Aufgrund der weitverbreiteten Fernverkehrsverbindungen „gibt es einen entscheidenden Punkt, an dem Krankheitserreger so aggressiv werden, dass die gesamte Wirtspopulation ausgelöscht wird. … Diesen Zustand nennen wir den Übergang zur Auslöschung. Mit dem zunehmenden globalen Verkehr nähert sich die menschliche Zivilisation möglicherweise einer solchen kritischen Schwelle.“

Taleb fragte sich, ob die Trump-Regierung sich wohl Gedanken machte, wie diese drohende Krise zu bewältigen sei. Um das herauszufinden, rief er einen Bekannten an, der im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses saß. „Bekommt ihr mit, was in Wuhan los ist?“, fragte Taleb ihn. „Nehmt ihr das ernst?“

„Wir bekommen es mit“, antwortete das Mitglied des Sicherheitsrats. In Bezug auf die zweite Frage war er sich aber nicht sicher. Trump schien Covid-19 überhaupt nicht ernst zu nehmen, genau wie seine wichtigsten Berater. Er fragte Taleb, ob er ein Memo an das Weiße Haus schreiben könne, in dem er seine Bedenken äußerte.

Taleb rief Bar-Yam an. „Wir sollten etwas schreiben“, sagte er. Es war der 24. Januar.

Taleb hatte sich, wie Bar-Yam auch, jahrelang mit der erschütternden Mathematik von Pandemien beschäftigt. Jahrzehnte zuvor hatte er herausgefunden, dass Finanzmärkte sich in mancherlei Hinsicht ähnlich wie Pandemien verhalten. Plötzliche Abstürze waren extreme, oft unvorhersehbare Ereignisse – wie Seuchen und Pandemien. Er wusste, dass sich hochansteckende Viren exponentiell ausbreiten und zu einem Massensterben führen können. In „Der Schwarze Schwan“ schrieb er: „Je mehr wir auf diesem Planeten herumreisen, desto heftiger werden die Epidemien sein … Ich sehe die Gefahr, dass sich ein sehr außergewöhnliches, aggressives Virus auf dem ganzen Planeten ausbreitet.“

Wie Bill Ackman von Pershing Square wusste auch Taleb, dass die meisten Menschen die beängstigende Tragweite der exponentiellen Ausbreitung nicht begriffen. Der IBM-Manager John E. Kelly beschrieb Thomas Friedman, einem Kolumnisten der New York Times, treffend unser allzu menschliches Verhältnis zur Exponentialfunktion – ein Gespräch, das Friedman in seinem Buch von 2016 „Thank You for Being Late“ wiedergibt. „Wir leben als Menschen in einer linearen Welt, in der Entfernung, Zeit und Geschwindigkeit linear sind“, so Kelly gegenüber Friedman. Aber die Technologie entwickelt sich „exponentiell. Das einzige Exponentielle, das wir jemals erleben, ist, wenn etwas beschleunigt, zum Beispiel ein Auto, oder wenn etwas bei einer Vollbremsung sehr plötzlich an Geschwindigkeit verliert. Und wenn das passiert, fühlt man sich sehr unsicher und unbehaglich. … Viele Menschen fühlen sich gerade so, als wären sie permanent in diesem Zustand der Beschleunigung.“

Neue, sich ständig weiterentwickelnde Technologien beherrschen das moderne Leben. Mark Zuckerberg gründete Facebook im Jahr 2004. Das iPhone gab es bis 2007 nicht. Tesla produzierte seinen ersten vollelektrischen Roadster im Jahr 2008. Die MRNA-Impfstoffe, die gegen Covid-19 schützen, sind ein Wunderwerk der modernen Technik, das nur wenige verstehen. Wir leben zunehmend in einer exponentiellen Welt – aber unser Gehirn ist auf das Lineare ausgerichtet.

Die Auseinandersetzung mit dem Exponentiellen war Talebs tägliches Brot – der mathematische Grundpfeiler seiner Weltanschauung gemäß dem „Schwarzen Schwan“. Pandemien sind natürlich nichts Neues. Sie sind so alt wie die Zivilisation. Aber neue Viren können die Eigenschaften eines Schwarzen Schwans haben – unbekannte Unbekannte. Wenn sie zum ersten Mal über die Welt hereinbrechen, weiß niemand, was sie im menschlichen Körper anrichten, wie man ihn heilen kann, wie ansteckend sie sind, ob Menschen das tödliche Virus verbreiten können, ohne zu wissen, dass sie infiziert sind, oder wie diejenigen, die die Länder führen, auf den Ausbruch reagieren werden. Taleb befürchtete, dass dieses neue Coronavirus mehrere solcher unbekannten Eigenschaften haben könnte.

Taleb, Bar-Yam und Joe Norman, ein weiterer NECSI-Forscher, verfassten rasch ein Memo, in dem sie die existenziellen Risiken des Virus darstellten und beschrieben, welche Schritte nötig waren, um sie zu entschärfen. Dann schickte Taleb es an das Weiße Haus. Ein paar Tage später, am 26. Januar, zu einem Zeitpunkt, als die meisten Amerikaner noch kaum etwas von der bevorstehenden Pandemie wussten, veröffentlichten sie es.

„Systemic Risk of Pandemic via Novel Pathogens – Coronavirus: A Note“1 (zu Deutsch etwa: „Systemisches Pandemierisiko durch neuartige Krankheitserreger – Coronavirus: ein Memorandum“) war eine Seite lang und wie eine schrillende Alarmglocke, die zu schnellem, umfassendem Handeln aufforderte, um die Krankheit in ihrem Verlauf zu stoppen. Social Distancing. Quarantäne. Grenzschließungen. Das Virus verbreitete sich wahrscheinlich viel schneller, als den meisten bewusst war, hieß es in dem Memo.

„Offensichtlich haben wir es mit einem extremen Prozess und einer Verteilung mit schweren Rändern zu tun, was aufgrund einer erhöhten Vernetzung die nicht lineare Ausbreitung verstärkt“, so das Memo. „Solche Prozesse mit schweren Rändern weisen besondere Eigenschaften auf, wodurch herkömmliche Risikomanagementansätze unzureichend sind.“

Die „schweren Ränder“ beziehen sich auf die äußeren Ränder einer Glockenkurve, die die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses misst, zum Beispiel das durchschnittliche tägliche Auf und Ab des Aktienmarktes in den letzten 50 Jahren oder die Tagestemperatur in New York über ein Jahrhundert hinweg. Eine Standardverteilungskurve sieht aus wie eine Glocke, wobei die meisten Stichproben in der Mitte liegen – Gewinne oder Verluste zwischen etwa 0,1 und 5 Prozent – und andere, weniger wahrscheinliche Ereignisse an den Enden der Kurve erfasst werden. Von einem „schweren“ Rand spricht man, wenn viel mehr – oder viel größere – Randfälle auftreten, als man bei einer Normalverteilung erwarten würde, zum Beispiel beim Schwarzen Montag 1987.

Pandemien sind extrem randlastig.

Das liegt daran, dass eine Pandemie nicht linear ist. In der Statistik ist etwas nicht linear, wenn die Ausgabe nicht im Verhältnis zur Eingabe steht. Im Gegensatz zu einem linearen Phänomen – 1, 2, 3, 4, 5, 6 – kann die nicht lineare Ausgabe exponentiell sein – 1, 2, 4, 16, 256, 65.536 und so weiter. Mit anderen Worten: Nicht lineare Ereignisse werden tendenziell sehr schnell sehr groß. Eine infizierte Person, die möglicherweise asymptomatisch ist, überträgt das Virus auf 2 Personen, diese 2 übertragen es auf 4, 4 auf 16, 16 auf 256 … und so weiter, bis Millionen infiziert sind. Das ist genau die Dynamik, die Bill Ackman im Januar 2020 in Panik versetzte. Nun, da die moderne Welt hochvernetzt ist, das Flugzeug ein viel genutztes Fortbewegungs- und Transportmittel ist und es überall auf der Welt Megacitys gibt, könnte die Verbreitung des Virus – die Reproduktionszahl (RO) – sogar noch unverhältnismäßiger und exponentieller ausfallen.

„Wir sind weltweit so vernetzt wie nie zuvor und China ist eine der am stärksten global vernetzten Gesellschaften“, heißt es in dem Memo „Systemic Risk“. „Grundsätzlich hängen virale Ansteckungsgeschehen von der Interaktion der Akteure im physischen Raum ab.“

Die Lösung: die Kette unterbrechen. Panic now – panic early (zu Deutsch: Bekommen Sie jetzt Panik, bekommen Sie früh Panik). Dieser Ausdruck, den Taleb und seine Mitautoren während der Covid-19-Krise verwendeten, wurde zum Markenzeichen des Chaos-König-Handbuchs.

Scheitern war keine Option. Die Gefahr für die Menschheit war, was in der Statistik und in anspruchsvollen Bereichen des Glücksspiels als Ruin-Problem bekannt ist. Das bedeutet die Vernichtung der menschlichen Art. Stellen Sie sich einen Spieler vor, der 1.000 Euro hat und jedes Mal verdoppelt, wenn er eine Wette verliert. Verliert er fünf Euro, setzt er zehn ein. Verliert er zehn Euro, setzt er 20 ein. Eine solche Strategie, auch als Martingale bekannt, führt unweigerlich dazu, dass sich der Spieler ruiniert – eine todsichere Methode, um pleitezugehen (es sei denn, der Spieler hat unendliches Vermögen).

Da Pandemien nicht linear verlaufen, können sie eine ähnliche Bedrohung für die Menschheit darstellen, je nachdem, wie tödlich und ansteckend das Virus ist und wie schnell es sich verbreitet. Im Januar 2020 wusste das niemand.

„Das sind Ruin-Probleme“, so das „Systemic Risk“-Memo, „bei denen die Randverteilung im Laufe der Zeit gewissermaßen zur Auslöschung führt. Während die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass die Menschheit ein einzelnes solches Ereignis überlebt, geht sie im Laufe der Zeit gegen null, dass dies auch dann der Fall sein wird, wenn sie ihnen wieder und wieder ausgesetzt ist. Während Einzelpersonen mit einer begrenzten Lebenserwartung wiederholt Risiken eingehen können, dürfen Ruin-Probleme niemals auf systemischer und kollektiver Ebene zugelassen werden.“

Historische Pandemien – die Beulenpest, das Virus von 1918 und so weiter – ereigneten sich in einer anderen Welt, einer Welt ohne den umfassenden internationalen Flugverkehr, ohne United Airlines und Lufthansa, ohne eine Vielzahl an Ballungszentren mit zig Millionen Einwohnern. In der heutigen übermäßig vernetzten globalen Gesellschaft ist das extreme Risiko des Ruin-Problems bedrohlicher denn je.

Wenn die Menschheit Lehren aus der Coronapandemie zieht, ist noch nicht alle Hoffnung verloren, glauben Taleb und seine Mitautoren. Bei künftigen Ausbrüchen muss es eine angemessene Reaktion auf die Bedrohung geben. Die Welt muss so handeln, als stünde alles auf dem Spiel. Das bedeutet, das „Vorsorgeprinzip“ anzuwenden, das, wie es in dem Memo heißt, „die Bedingungen festlegt, unter denen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das Risiko einer Katastrophe zu verringern. Herkömmliche Kosten-Nutzen-Analysen dürfen nicht angewendet werden.“

„Ausbrüche sind unvermeidlich“, so das Memo, „aber angemessene Vorkehrungen als Reaktion können das systemische Risiko für die ganze Welt reduzieren.“

Von Gesundheitsexperten und Politikern war Anfang 2020 nur wenig zu hören, da sich viele von ihnen größere Sorgen um die Auswirkungen eines aggressiven Vorgehens auf die Wirtschaft machten als über das mögliche Massensterben, das der Ausbruch der Krankheit verursachen könnte. „Es sagt nichts Gutes über den Zustand der Medizin, über das Gesundheitswesen und die Führung westlicher Gesellschaften im Allgemeinen aus, dass es Taleb ist, der unermüdlich und weitgehend allein darauf hinweist, wie wichtig das Vorsorgeprinzip ist“, stellte Susan Webber, die unter dem Pseudonym Yves Smith schreibt, damals auf ihrer beliebten Finanzwebsite Naked Capitalism fest.

Es ist unklar, ob das Weiße Haus auf Talebs Warnung reagiert hat. Er glaubte, dass sie bei der Entscheidung darüber, ob die US-Grenze nach China geschlossen wird, eine Rolle gespielt haben könnte. Die Schließung erfolgte zumindest wenige Tage, nachdem er sie an seinen Freund im Nationalen Sicherheitsrat geschickt hatte. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis Trump verlautbarte, dass das Virus „wie ein Wunder“ wieder verschwinden würde. Auch andere im Weißen Haus sprachen sich für einen völlig anderen Ansatz aus, als in dem Memo empfohlen wurde. Sie betrachteten die Krankheit aufgrund von Eigenschaften wie ihrem Ansteckungsgrad und ihrer Letalität als kaum beurteilbar. Deshalb sei es am besten, zunächst mehr Daten zu sammeln, um das Risiko besser einschätzen zu können, bevor man drastische Maßnahmen ergreife, die die Wirtschaft – und Trumps Hoffnungen auf eine Wiederwahl – beeinträchtigen könnten. Wir wissen einfach noch nicht genug, argumentierten sie. Wir brauchen mehr Informationen. Das Heilmittel darf keine schlimmeren Auswirkungen haben als die Krankheit. Es waren diese Leute, denen der Präsident der Vereinigten Staaten Gehör schenkte. Auch andere Länder, darunter Großbritannien, warteten erst einmal ab.

Taleb würde später sagen, dass eine abwartende Haltung verkehrt ist, wenn es um Schwarze Schwäne geht, um globale systemische Risiken – und um Pandemien. „Wer über eine Sache nichts weiß, sollte sich umso sicherer sein, was zu tun ist“, sagte er zu mir. „Wer die Fähigkeiten eines Piloten anzweifelt, sollte nicht in das Flugzeug steigen.“

o o o o

Als die Nachricht von Universas 4.000-Prozent-Überraschungsgewinn durchsickerte, waren die Mitbewerber an der Wall Street erstaunt, neidisch – und konnten es nicht glauben, genau wie Aaron Brown. Durchschnittliche aktienorientierte Hedgefonds hatten nach Angaben von Goldman Sachs bis Mitte März 14 Prozent verloren. Auch andere Strategien zur Risikominderung hatten gelitten. Aktien und Anleihen fielen gleichzeitig – normalerweise bewegen sie sich in entgegengesetzte Richtungen, was bei Abstürzen einen gewissen Anlegerschutz bedeutet – und zerstörten die klassische „60/40“-Mischung aus Aktien und Anleihen, auf die viele Amerikaner als Altersvorsorge setzen.

Vielleicht hatte Universa einfach nur Glück. Vielleicht hatte Spitznagel, der wie Bill Ackman angesichts von Covid-19 in Panik geraten war, eine große Wette darauf abgeschlossen, dass der Markt zusammenbrechen würde.

Nein, nicht ganz. Universa war immer so aufgestellt, dass bei einem Crash explosive Gewinne erzielt werden konnten. Denn der Markt könnte jederzeit und ohne Vorwarnung zusammenbrechen. Niemand konnte vorhersagen, wann es zum Crash kommen würde. Und das bedeutete, dass sich die Hedgefonds-Anleger keine Sorgen um den Crash machen mussten. Sie konnten nachts ruhig schlafen. In einem Brief an die Universa-Investoren schrieb Spitznagel nach dem Crash: „Im Hinblick auf die Zukunft gibt es durchaus gute Gründe zu erwarten, dass der Schutz vor großen Kursrückgängen mithilfe von Universa die überlegene Risikominderungsstrategie bleibt, die Ihnen unnötige Kosten und Risiken erspart, die mit den meisten Finanzingenieur- und Modern-Finance-Lösungen einhergehen. Gleichzeitig bietet sie Ihnen eine herausragende Crash-Effizienz für Ihren finanziellen Einsatz, sollte der Absturz anhalten.“

Universas Geldsegen im Jahr 2020 hatte sich über Jahrzehnte angebahnt. In den späten 2000er-Jahren verwaltete Universa Positionen, um Milliarden von Dollar gegen übermäßige Verluste zu schützen, was Spitznagel wirklich sehr reich machte. (Einen Teil seines Gewinns verwendete er 2009, um von Jennifer Lopez für 7,5 Millionen Dollar eine Villa in Bel Air zu kaufen.) Der Erfolg von Universa rief viele Nachahmer auf den Plan, sowohl bei Hedgefonds als auch bei großen Vermögensverwaltern wie dem kalifornischen Unternehmen Pimco. Die Wall Street entwickelte sogar börsengehandelte Fonds unter der Marke Black Swan (Schwarzer Schwan), beispielsweise den Amplify BlackSwan Growth & Treasury ETF.

Die schlagzeilenträchtige Performance im Jahr 2020 festigte den Platz dieser Strategie an der Wall Street. „Früher wurden die Märkte von Bullen beherrscht, die glaubten, die Aktien würden steigen, und von Bären, die glaubten, sie würden fallen“, schrieb das Wall Street Journal im Juni 2020. „Heute ist ein anderes Tier auf dem Vormarsch. … Diese Investoren konzentrieren sich auf die Volatilität, also auf die Kursschwankungen im Laufe der Zeit. In den vergangenen Jahren hat sich die Volatilität von einer Spezialität der Derivatehändler zu einem eigenständigen Handelsinstrument entwickelt.“

Spitznagel und Taleb fühlten sich durch die Nachahmer nicht geschmeichelt. Sie waren der Meinung, dass die meisten Nachahmer nicht wussten, was sie taten, und ihre Strategie in Verruf brachten.

Der Handelsstrategie von Spitznagel und Taleb lag eine Philosophie mit drei Annahmen zugrunde. Erstens ist eine Zukunft, die von großen, einschneidenden Ereignissen geprägt ist, sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich vorherzusagen. Alles kann passieren (Schwarze Schwäne). Zweitens sind extreme Ereignisse verheerender, als viele annehmen, weil Standard-Risikometriken wie die Glockenkurve sie nicht erfassen. Das bedeutet, dass auf den Finanzmärkten extreme Ereignisse in der Regel unterbewertet sind: eine Gelegenheit zum Geldverdienen. Das bedeutet auch, dass die meisten anderen Anleger ein größeres Risiko eingehen, als ihnen bewusst ist. Es ist eine weitverbreitete menschliche Schwäche, anzunehmen, dass die Welt morgen noch genauso sein wird wie heute, trotz aller Anzeichen des Wandels um uns herum. Die meisten Menschen konzentrieren sich auf die alltäglichen Spitzen im Zentrum der Glockenkurve, anstatt auf die extremen Ausreißer an den Randbereichen der Kurve zu achten.

Drittens: Drawdowns sind wichtiger als Gewinne. Spitznagel erkannte schon vor Jahren eine wesentliche Wahrheit für jeden, der auf ein zukünftiges Ergebnis wettet: Ein einziger großer Drawdown ist deutlich wichtiger als viele kleine Gewinne. Angenommen, Sie investieren 1.000 Euro in eine Aktie. Wenn aus irgendeinem Grund ein schlechter Ergebnisbericht vorliegt oder es einen Skandal im Topmanagement gibt oder die Leute aufhören, die Produkte des Unternehmens zu kaufen, dann fällt der Aktienkurs um 50 Prozent. Sie haben jetzt nur noch 500 Euro.

Das Problem ist: Um Ihr Geld zurückzubekommen, muss die Aktie um 100 Prozent steigen – nicht um die 50 Prozent, die Sie verloren haben.

Daraus lernen wir: Es ist entscheidend, große Verluste zu vermeiden. Universa bewerkstelligte dies durch den Kauf von Optionen, die bei einem Crash – und nur bei einem Crash – einen enormen Gewinn abwerfen. Optionen sind Verträge, die ihrem Inhaber das Recht einräumen, eine Aktie zu einem bestimmten Preis innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu kaufen oder zu verkaufen.

Jeden Tag kauft Universa sogenannte Put-Optionen, Verkaufsoptionen, die bei einem Crash Geld einbringen. In der Regel gehen die Wetten nicht auf und Universa muss einen kleinen Verlust hinnehmen (ein Prozess, den sie „Bluten“ nennen). Aber die Gewinne, wenn sie denn kommen, sind viel größer als die schrittweisen Verluste. Spitznagel bezeichnet diesen Effekt als explosiven Abwärtsschutz. Stellen Sie sich das wie eine Feuerversicherung vor, die das Dreifache des Wertes Ihrer Hypothek (oder mehr) auszahlt, wenn Ihr Haus abbrennt.

Dies ist zufällig genau das Gegenteil von dem, was die meisten Profis an der Wall Street tun. Dort investieren die Händler in der Erwartung, im Durchschnitt jeden Tag einen kleinen, schrittweisen Gewinn zu erzielen, und haben dabei den jährlichen Bonus im Blick, der ihre Brieftasche füllt. Auf diese Weise gehen sie auch das Risiko ein, an den seltenen Tagen, an denen der Markt zusammenbricht, einen hohen Betrag zu verlieren. Universa hingegen kann nie einen großen Betrag an einem Tag oder in einer Woche verlieren – aber man kann und wird normalerweise fast jeden Tag einen kleinen Betrag verlieren. Es ist eine Strategie, die von Lawinen, Erdbeben und Wirbelstürmen profitiert. (Oder wie Taleb es einmal ausdrückte: „Ich will keinen Regen, ich will Dürren oder Überschwemmungen.“)

In den frühen 2020er-Jahren war diese Strategie äußerst erfolgreich. Ernst & Young hat die Black-Swan-Strategie von Universa von der Auflegung im Jahr 2008 bis Dezember 2019 geprüft und festgestellt, dass die durchschnittliche jährliche Rendite auf das investierte Kapital – eine gängige Kennzahl zur Messung des Erfolgs (oder Misserfolgs) von Hedgefonds – bei atemberaubenden 105 Prozent lag. Das bedeutet, dass Universa im Durchschnitt eine Rendite von 105 Prozent pro Jahr erzielte, womit Universa gleichauf mit den besten Hedgefonds der Welt lag oder diese sogar übertraf. Und da ist der Gewinn von über 4.000 Prozent im Frühjahr 2020 noch gar nicht mit eingerechnet.

Die Gewinne kamen zustande, ohne dass irgendjemand bei Universa auch nur eine einzige Vorhersage über die Richtung des Marktes, ob nach oben, unten oder seitwärts, gemacht hätte. Doch obwohl Spitznagel nie versuchen würde vorherzusagen, wann der Markt zusammenbricht, ist er tief in seiner Seele der festen Überzeugung, dass der amerikanische Aktien- und Anleihemarkt – angeheizt durch die Interventionen der Zentralbanken – seit Langem in einer unhaltbaren Superblase gefangen ist, die letztendlich platzen wird wie eine Bombe. Ein grundlegendes Prinzip in Spitznagels Weltanschauung ist, dass die US-Notenbank seit Jahrzehnten süchtig danach ist, immer wieder Spekulationsblasen zu erzeugen, und somit Zündstoff für einen Crash nach dem anderen schafft. Weder Spitznagel noch Taleb behaupten, dass sie wissen, wann die Zusammenbrüche stattfinden werden. Entsprechend schrieb Spitznagel 2020 in einem Brief an die Investoren: „Es gibt keine Kristallkugeln!“

Nicht alle sind jedoch der Meinung, dass es unmöglich ist, Marktzusammenbrüche vorherzusagen. Eine wachsende Gruppe von Mathematikern, viele von ihnen versiert in einem höchst komplexen Wissenschaftszweig namens Komplexitätstheorie, der von Genies wie Talebs Freund Yaneer Bar-Yam erforscht wird, behauptet, sie könnten bestimmte Signale im Marktrauschen erkennen, die auf einen bevorstehenden Zusammenbruch hinweisen. Experten in dieser Theorie, wie der französische Physiker Didier Sornette, haben Experimente entwickelt, um die Zuverlässigkeit ihrer Prognosesysteme zu demonstrieren, mit teils überraschenden Erfolgen.

Taleb bestreitet nicht rundheraus, dass einige Marktverwerfungen vorhersehbar sind. Er nennt diese Ereignisse „Graue Schwäne“, zu denen seiner Meinung nach auch die globale Finanzkrise von 2008 zählt. Wohl aber behauptet er, dass es verdammt schwer sei, den Zeitpunkt dieser katastrophalen Ereignisse vorherzusagen, und dass die Prognoseinstrumente, die von Marktexperten wie Sornette eingesetzt werden, für das Risikomanagement völlig ungeeignet seien. (Die Debatte ist ein zentrales Thema in Kapitel 12.)

Taleb und Spitznagel vermeiden zwar konkrete Marktprognosen, sagen aber voraus, dass sich die Welt immer wieder und mit rasender Geschwindigkeit verändern wird – und damit auch der Aktienmarkt. Wer nicht vorbereitet ist, ist zum Leiden verdammt.

Im März 2020 schien es, als ob das Leiden für die Anleger gerade erst begonnen hätte. Dann geschah etwas Unheimliches. Die Aktienmärkte auf der ganzen Welt begannen zu steigen – und schossen dann förmlich in die Höhe. Selbst als die USA einen epischen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlebten, bei dem Millionen von Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, während Covid-19 im Land wütete, setzten die Aktienindizes unaufhaltsam ihren Aufstieg fort und erreichten schließlich immer wieder neue Rekordstände.

Für das scheinbar irrationale satte Wachstum gab es einige Gründe. Spitznagels Schreckgespenst, die amerikanische Notenbank Federal Reserve, pumpte durch den Ankauf von Unternehmensanleihen in Milliardenhöhe eine noch nie da gewesene Menge an Liquidität in das Finanzsystem. Sie kaufte sogar Schrottanleihen. Der US-Kongress stellte Billionen von Dollar an Finanzhilfen für Unternehmen und Familien in Schwierigkeiten bereit. Die kombinierte Kraft der Fed und des Kongresses, zusammen mit anderen Rettungspaketen in Europa und anderswo, führte zu einer Risikobereitschaft von historischem Ausmaß. Bei den historisch niedrigen Zinsen brachten Anleihen so gut wie keine Rendite, was Investoren, die auf jede Art von Ertrag aus waren, dazu zwang, ihr Geld in den einzigen Ort zu stecken, an dem sie ihn erzielen konnten – in den Aktienmarkt. Die Aktienmärkte waren so überhitzt, dass sie eine neue Welle von Day-Tradern anzogen, und zwar in einem Ausmaß, das es seit der Dotcom-Blase Ende der 1990er-Jahre nicht mehr gegeben hatte.

Für Spitznagel war es einfach noch mehr Zündstoff – und damit mehr saftige Crash-Gewinne für Universa, als alles in sich zusammenfiel.

Als die 2020er-Jahre mit der scheinbar endlosen Covid-19-Pandemie und ihren nicht enden wollenden Varianten, ihren schrecklichen Klimakatastrophen und einem tödlichen Landkrieg in Europa, der das Gespenst der nuklearen Vernichtung heraufbeschwor, weiter voranschritten, schien es in der Tat, als würden sich die welterschütternden Risiken in einem noch nie da gewesenen Tempo häufen.

3

Das Schlimmste kommt erst noch

Ein kalter Regen fiel vom Himmel auf den höchsten Punkt eines massiven Gletschers im arktischen Inland Grönlands ungefähr 3.000 Meter über dem Meeresspiegel. Es war August 2021 und das erste Mal seit Beginn der Aufzeichnungen, dass es in einer der am zuverlässigsten gefrorenen Regionen der Erde geregnet hatte. Der Regenschauer war ein „beispielloser Schock für das System“, sagte John Walsh, ein Wissenschaftler des International Arctic Research Center, gegenüber der Naturschutzorganisation Sierra Club. „Das hat es noch nie gegeben. Irgendetwas geht in der Atmosphäre vor sich, das uns in unerforschtes Gebiet führt.“

Neuartig und noch nie da gewesen sowie Neuland waren die Schlagworte des neuen Jahrzehnts. Im September 2020 prognostizierten der Soziologe Jack Goldstone und der Wissenschaftler Peter Turchin in einem Artikel mit dem Titel „The Turbulent Twenties“ (zu Deutsch: Die turbulenten Zwanziger), dass eine Verknüpfung struktureller Faktoren in den USA zu einer zunehmenden und stärkeren gesellschaftlichen Instabilität führen würde, und zwar „auf dem höchsten Niveau an Anfälligkeit für politische Krisen, das in diesem Land seit über 100 Jahren beobachtet wurde“. Zäsuren wie die Black-Lives-Matter-Proteste von 2020 und die Covid-19-Pandemie „treten in einer Zeit extremer politischer Polarisierung auf, nach Jahrzehnten sinkenden Anteils der Arbeitseinkommen am nationalen Einkommen und mit tief verwurzelter Elite-Opposition gegen erhöhte Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen“.

„Wir sind bereits mittendrin“, schrieben sie. „Aber das Schlimmste kommt erst noch.“

Was die Prognose von Goldstone und Turchin so verblüffend machte – und zutiefst beunruhigend: Sie war nichts Neues. Anhand eines von Goldstone entwickelten Berechnungsmodells hatte Turchin bereits ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 2010, prognostiziert, dass die globalen Turbulenzen in den 2020er-Jahren eine kritische Masse erreichen würden. Das Modell analysierte strukturelle demografische Kräfte – Armut, Wohlstandsgefälle und Wettbewerb zwischen Eliten um Macht –, die eine Gesellschaft in Richtung Instabilität kippen lassen können. Es prognostizierte ein bevorstehendes Zeitalter der Uneinigkeit, geprägt von inneren Konflikten, Gewalt und dem Zerfall der Demokratie. Im Artikel aus dem Jahr 2020 sagten sie sogar die erschütternden Ereignisse nach den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen voraus. „Wenn Trump verliert, wird er das Ergebnis wahrscheinlich als ‚manipulierte‘ Wahl anfechten. … Trump könnte seine vielen bewaffneten zivilen Unterstützer dazu aufrufen, ihren ‚Lieblingspräsidenten‘ (wie er es ausdrückte) gegen die sogenannte ‚liberale Tyrannei‘ zu verteidigen.“

Prognosen von einem bevorstehenden Zeitalter des Chaos waren weitverbreitet, als das neue Jahrzehnt begann. Es wimmelte von „Hellsehern“, die vorhersagten, was passieren würde. In einem Bericht vom März 2021 mit dem Titel Global Trends 2040: Eine stärker umkämpfte Welt prognostizierte der amerikanische National Intelligence Council, dass hochdisruptive Ereignisse „wahrscheinlich in fast jeder Region und jedem Land häufiger und intensiver auftreten werden“. Diese Herausforderungen – bei denen es oft keinen direkten menschlichen Akteur oder Verursacher gibt – werden zu weitreichenden Belastungen für Staaten und Gesellschaften sowie zu Erschütterungen führen, die katastrophale Auswirkungen haben können.

Der Motor des Chaos: eine hochgradig vernetzte globale Ordnung. „Im vergangenen Jahr hat die Coronapandemie die Welt an ihre Zerbrechlichkeit erinnert und die Risiken aufgezeigt, die ein hohes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit mit sich bringen“, hieß es in dem Bericht. „In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird die Welt mit intensiveren und sich potenzierenden globalen Herausforderungen konfrontiert sein, angefangen bei Krankheiten über den Klimawandel bis hin zu den Störungen durch neue Technologien und Finanzkrisen.“

Die Globalisierung hat der Menschheit zwar zahlreiche Vorteile gebracht – die Lebenserwartung ist seit 1960 weltweit um mehr als zwei Jahrzehnte gestiegen, Hungersnöte und Kindersterblichkeit sind drastisch zurückgegangen –, aber sie hat durch die komplexen Technologien, Netzwerke und Kontrollmechanismen, auf denen sie beruht, auch neue Risiken mit sich gebracht. Einige befürchteten, dass diese Risiken den Ruin bedeuten könnten.

„Ein Gespenst geht um in der Globalisierung und im modernen Leben: die Möglichkeit eines weitverbreiteten zivilisatorischen Zusammenbruchs“, schrieben Mitglieder des Global-Systemic-Risk-Projekts der Princeton University in einem Paper aus dem Juli 2022.1 „Unsere Welt hat Existenzangst, weil wir spüren, dass das, was wir hier machen, nicht nachhaltig ist. … Globale systemische Erschütterungen wie der 11. September, die globale Finanzkrise von 2008 und Covid-19 haben das Bewusstsein für die Fragilität unserer zunehmend globalisierten und voneinander abhängigen Lebensweise geschärft.“

Marktabstürze. Pandemien. Terroranschläge. Unruhen. Großbrände. Superstürme. Extreme, zerstörerische, oft tödliche Ereignisse scheinen sich überall auf der Welt immer häufiger zu ereignen – und immer mehr Schaden anzurichten. Sie treten plötzlich auf und wirken sich flächendeckend aus. Das kleinste Ereignis kann sie auslösen, der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings, der Tornados über Kontinente hinweg losbrechen lässt. Ein beunruhigend pervertiertes Ergebnis ihrer zunehmenden Häufigkeit ist, dass solche Ereignisse in gewisser Weise vorhersehbarer werden. Sie sind keine Schwarzen Schwäne, die aus heiterem Himmel über uns hereinbrechen. Sie sind Talebs Graue Schwäne – verheerende Ereignisse, die nur allzu gut vorhersehbar sind. Wirbelstürme, die ganze Küstenabschnitte zerstören, treten mit beängstigender Regelmäßigkeit auf. Die Waldbrände an der Westküste, die im Sommer in den Fernsehnachrichten zu sehen sind, wirken wie eine verlässlich wiederkehrende saisonale Erscheinung – ähnlich zyklisch wie das Herbstlaub oder Schneestürme im Winter. (Sornette nannte diese vorhersehbaren Katastrophen Drachenkönige.)

Taleb hat argumentiert, dass unsere zunehmend instabile Welt das paradoxe Ergebnis der Bemühungen der Menschheit ist, sie mit Technologie, quantitativen Modellen und allgegenwärtiger Just-in-time-Optimierung zu kontrollieren. Dies führt zu einer immer komplexeren, von Menschen geschaffenen, fragilen Gesellschaft, die anfällig für Erschütterungen ist. Extremereignisse „nehmen zwangsläufig zu als Folge von Komplexität, Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Komponenten, Globalisierung und dem Ungeheuer namens ‚Effizienz‘, das die Menschen jetzt zu nahe am Wind segeln lässt“, schrieb er in „Antifragilität“.

Im Jahr 2020 tötete die Infektion einer einzigen Person in Wuhan mit einem mikroskopisch kleinen Virus Millionen von Menschen und stürzte die Weltwirtschaft in den freien Fall. Der Mord an einem afroamerikanischen Mann durch einen Polizeibeamten in Minneapolis, der mit einem Mobiltelefon aufgezeichnet wurde, löste nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der ganzen Welt Protestwellen aus. Die Kompromisslosigkeit eines einzigen Mannes – Donald Trump – hat Millionen Amerikaner radikalisiert und die Demokratie in den USA an den Rand des Abgrunds gebracht. Und im Jahr 2022 würde die Kompromisslosigkeit eines anderen Mannes, Wladimir Putin, die Welt an den Rand des Dritten Weltkriegs bringen.