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"Chaos" ist ein dystopischer Roman. Das rasante Sterben von Pflanzen und Tieren. Die Massenvermehrung einer beherrschenden Spezies. Ein dramatsicher Klimawandel und die Zerstörung von Ökosystemen. In der Geschichte der Erde waren dies bisher immer Zeichen eines großen Wandels. Der Mensch kann als erste Art die Kraft der Evolution bewusst erleben. „Chaos“ ist eine Geschichte über diese Kraft. Der Klimawandel hatte bereits vieles verändert. Das Meer verschlang die ehemaligen Küsten. Nur noch dort, wo es noch genügend Trinkwasser gab, existierten größere Städte. Die Menschheit war aufgeteilt in Privilegierte, Nichtprivilegierte, Plünderer und Wasserbettler. Peter Lobowski, der in einer Nichtprivilegierten-Siedlung den täglichen Kampf ums Überleben führt, flieht zu den Plünderern. Zur gleichen Zeit stellen Computer fest, dass alles Werden und Vergehen alleine durch die Evolution angetrieben wird. Angetrieben durch diese Erkenntnis rufen die Maschinen ihr eigenes Zeitalter aus und ändern die Evolution zu ihren Gunsten. Ohne Menschen. Doch die einzig wahre Ordnung der Welt ist das Chaos.
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Seitenzahl: 335
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.tredition.de
Der Autor
Robert Hock wurde 1961 in Aschaffenburg geboren. Er studierte Biologie und ist habilitierter Zell- und Entwicklungsbiologe an der Universität Würzburg.
Die Handlung und die Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Verwendung von Namen bestehender Institutionen, Einrichtungen oder Unternehmen ist schöpferisches Stilmittel. Der Autor hat zahlreiche Quellen für die Recherche genutzt und beabsichtigt keine persönlichen Ansprüche verletzen zu wollen.
Ein Refugium.
Man tritt ein und die Zeit
macht eine Pause.
Bild Vorderseite:
Ausschnitt aus einer Mandelbrotmenge (Fraktal). Die Mandelbrotmenge ist eine unscharfe, raue (fraktale) Menge, die eine bedeutende Rolle in der Chaosforschung spielt. Sich wiederholende Iterationen sind, wie bei der Berechnung eines Fraktals, Grundlage für die Funktionsweise von Computern. Benoît Mandelbrot (1924–2010) war ein Mathematiker, der Fraktale genauer beschrieb.
Bild Rückseite:
Startbild der Julia-Menge, berechnet auf Grundlage der Mandelbrotmenge auf der Vorderseite.
Fraktal und Julia-Menge wurden mit dem freien Programm „Fractalizer“ berechnet.
Robert Hock
Chaos
oder das Leben und Sterben des
www.tredition.de
© 2014 Robert A. Hock
1. Auflage
Umschlaggestaltung, Illustration:
Robert Hock
Lektorat, Korrektorat:
Maria-Elisabeth Rudolf, Lektorat Schusterjunge
(www.lektorat-schusterjunge.de)
Weiteres Lektorat und Tipps:
Mike Hanke
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
978-3-7323-1430-0 (Paperback)
978-3-7323-1431-7 (Hardcover)
978-3-7323-1432-4 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Prolog
Träume, Süße, träume.
Träume von Sonne und Lieben,
träume von Blumen und Trieben,
träume süße Träume.
Träume von der Welt und Frieden,
träume von Menschen, träume vom Süden.
Träume, Süße, träume.
Träume von allem, was Spaß macht,
träume, solange die Menschheit noch lacht,
träume, solange keine Bombe kracht,
träume, solange keiner einen Krieg gemacht.
Träume süße Träume.
Das Leben des Peter Lobowski
1
Wieder einmal war es seit Wochen unerträglich heiß. Die Welt lechzte nach Regen, und doch wusste jeder, wenn der Regen käme, würde die Welt ertränkt und weggeschwemmt werden.
An diesen Tagen der heißen Sommer lief das Leben besonders schleppend. Jeder Schritt wurde unter der drückenden Hitze zur Qual und jede Bewegung trieb Unmengen von Schweiß aus sämtlichen Poren des Körpers. Sofern man noch Kleidung am Leibe trug, klebte diese auf einer Haut, die mit jedem Fetzen Stoff eine feste Verbindung einzugehen schien. Riesige Mengen Flüssigkeit rannen durch die ausgetrockneten Kehlen, um einen beständigen Nachschub für die Schweißdrüsen zu liefern.
An diesen heißen Tagen des Sommers wurden die Städte zu Brutstätten von Gestank, Lethargie und Gewalt. Die unbarmherzig ausatmenden Motoren der Autoschlangen verseuchten die Luft mit beißenden Abgasen. Unzählige Fahrzeuge verschlangen den Sauerstoff, den die lebende Welt zum Atmen gebraucht hätte. Die Ozonkonzentrationen in der Luft stiegen unerbittlich und erreichten Werte, die jeglichen Bewegungsdrang erstickten. Das Atmen wurde zu einem Keuchen, der Geschmack im Mund metallisch. Der Rachen kratzte wie Schmirgelpapier.
Während die Menschen an solchen Tagen wie unter Zwang jedes schattige Plätzchen besetzten oder sich kaum aus dem etwas kühleren Haus wagten, lebten nur die Straßen.
Erst abends begannen sich die Hitzegeplagten durch die Gassen zu schleppen und steuerten zielstrebig die Straßencafés an. Biergärten schwappten über wie die Gläser, die auf den Tischen standen. Die Stadt schien trügerisch zu pulsieren.
An den heißen Tagen des Sommers brachten die Nächte keinerlei Abkühlung, nicht für den Körper und schon gar nicht für den Geist. Es herrschte eine seltsame Anspannung. Die Hitze verwandelte aufgeregte Gemüter in eine brodelnde Masse. Die Städte wurden zu Hitzefallen des Geistes. Tumbe Gestalten mit gutturalem Geplärre schienen die Oberhand in dieser brodelnden Masse zu gewinnen, während die meisten unbeteiligt daneben saßen und zusahen, wie der gesunde Menschenverstand mit Stiefeln getreten wurde.
Und gerade an diesen heißen Tagen trieb es viele Menschen aus den Städten hinaus in die hitzeflimmernde Natur der Vorstadt, japsend nach atembarer Luft, die, durch den Wind angetrieben, eine angenehmere Temperatur vorlog. Nur fort von den sich nie abkühlenden, hitzeabstrahlenden Straßen und Gemäuern. Nur fort von den brummenden, stinkenden Autos, die einem den letzten Sauerstoff vor der Nase weg verbrannten und stattdessen ätzende Dämpfe in die Lungen stießen. Sommer in einer Stadt voller Menschen – klebrig, stinkend, laut. Und ein jeder wartete, bis der Regen alles wegspülen würde.
Peter Lobowski hatte an solchen Sommertagen die Schnauze gestrichen voll von der Stadt und suchte, von einer inneren Unruhe getrieben, die ihn wie viele andere befallen hatte, nach einer Auszeit. Irgendwo draußen, auf den Hügeln vor der Stadt, würde ein kühlender Wind über seine Stirn wehen.
Dort draußen kannte er Plätze, an denen man die Gedanken fliegen lassen und träumen konnte. Und Peter Lobowski war ein Träumer. Er träumte oft im Schatten alter Kiefern, die in der Sommerhitze nach Süden und Meer dufteten und auf denen Zikaden eine Geräuschkulisse erzeugten, die das Hier und Jetzt vergessen ließ.
Doch es kostete stets große Überwindung, sich dorthin auf den Weg zu machen. Der Weg war lang und quälte sich durch eine Hitzehölle, mitten durch aufgeheizte, fast kochende Weinberge. Dort hing unbarmherzig jene Hitze, welche die Beeren an den Reben antrieb, sich zu prallen Früchten zu entwickeln.
Nur die leichte Brise, die beständig über die Weinberge strich, machte den Aufstieg erträglich. Ein kleiner Luftzug legte Bänder voller Bewegung über den grünen Mantel der Hänge. Es kostete schiere Willenskraft, aber Peter Lobowski wusste: Wer ins Paradies will, muss erst durch die Hölle.
Um die duftenden Wiesen oberhalb der Weinberge zu erreichen, musste Peter Lobowski einem Weg folgen, der durch diesen Traubenbrutofen serpentinenartig und steil nach oben führte. Und schon nach wenigen Metern hatte er das Gefühl, durch einen grünen See zu waten.
Die Betonwege inmitten der Reben wirkten wie Hitzereflektoren, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Fleisch rund um seine Knochen durchgegart wäre.
»Warum tue ich mir das an?«, dachte Peter Lobowski jedes Mal, wenn er sich nach oben schleppte. In seinem offenen Mund trocknete die letzte Feuchtigkeit. Die Wasserflasche, die er immer mitnahm, war bitter nötig, auch wenn das Wasser nach kurzer Zeit die Temperatur eines warmen Tees angenommen hatte. Die letzten Meter waren die schwierigsten. Auf seinem Hemd wuchsen dicke Salzkrusten aus Schweiß, bis schließlich der Weg an nackten Kalkwänden vorbeiführte und den oberen Rand des Hügels erreichte. Dort boten Buschwerk, duftende Wacholderbäume und Kiefern eine erste Entschädigung für die zurückliegende Qual. Die Flucht aus der stinkenden Stadt war gelungen, und Peter Lobowski war wie immer froh, den inneren Schweinehund überwunden zu haben. Er wusste, warum er sich diesen grauenvollen Anstieg antun musste.
Der Weg schlängelte sich nunmehr flach am Hügelsaum unterhalb des Waldrandes entlang, und aus der Betonpiste wurde ein weicher Pfad. Als Peter Lobowski den Kiefernwald am Rande der Wiese erreichte, blieb er mit geschlossenen Augen stehen und zog den Duft ätherischer Öle in seine Lunge. Angenehmer Schatten und ein warmer, weicher Boden waren sein Ziel. Die Landschaft erinnerte ihn an die Pinienwälder und Wacholderhaine des Südens, zirpende Zikaden lieferten die passende akustische Untermalung. Der lange, mühevolle Weg war jetzt unsichtbar und im grünen Meer der Weinstöcke verschwunden. Nur der Wind zog beständig seine Bänder durch den Weinberg. Die Häuser und Straßen der Stadt lagen weit entfernt.
Die Wiesen dufteten nach Thymian und anderen Kräutern. Wacholder- und Kiefernduft mischten sich dazu. Alles wirkte wie ein Anschlag auf den Geruchssinn, der seit Wochen nur Schweiß und Abgase gewohnt war und fast vergessen hatte, wie gut die Welt riechen konnte. Unter diesen Eindrücken rann ein Schluck aus der heißen Wasserflasche wie köstlichster Wein die Kehle hinunter.
Kein Straßenlärm, kein Gossengeplapper, kein Geschrei, keine grölenden Gestalten. Hier herrschte nicht das chaotische, stinkende und wabernde Treiben der Stadt, welches jeden einzuschnüren versuchte und das Gefühl verbreitete, dass es jeden Moment zum großen Knall kommen konnte.
An den heißen Tagen waren die Städte unerträglich. Und gerade dann, das wusste Peter Lobowski, lohnte sich der Gang durch jede Hölle, um wenigstens für kurze Zeit diesem Moloch zu entfliehen. Die graue Haut der Stadt wurde eingetauscht gegen das farbenprächtige Kleid der Natur.
Peter Lobowski legte sich auf den weichen, warmen Boden, um jede Sekunde in sich aufzusaugen und vor sich hin zu dösen. Büsche und Blumen raschelten im Wind. Allerlei Getier krabbelte und schwirrte umher. Dicke Hummeln brummten von Blüte zu Blüte. Grabwespen schleppten Nahrung in ihre Erdhöhle. Ameisen trugen ein Vielfaches ihres Körpergewichts in die Richtung ihres Nestes. Schmetterlinge flatterten umher – Bläulinge und Segelfalter, die wie von Geisterhand getrieben durch die Luft gaukelten.
Das kleine Männchen der Gottesanbeterin begann sein gefährliches Werben. Als ob es betete, hielt das Weibchen seine Fangbeine zum Töten bereit, während das Männchen schnell die Begattung vollzog, um dann noch schneller das Weite zu suchen. Nach der Liebe kannte die Betende keine Gnade. Das Männchen war für sie Beute. Die Betende frisst den Vater ihrer Kinder.
Die Gottesanbeterin ist so perfekt getarnt, dass ihre Opfer einfach über sie hinwegsteigen. Ausharrend in absoluter Bewegungslosigkeit, bis sie blitzartig ihre Fangbeine vorschnellt und ihre Beute packt.
Ihre Vorderbeine sind mit kräftigen Dornen und Zähnen bewehrt, sodass eine tödliche Waffe entsteht, aus der es für die ergriffene Beute kein Entrinnen gibt. Nur in der Ruhe ist sie die friedliche Beterin.
Peter Lobowski dachte daran, wie oft der Mensch in der Natur doch sein Spiegelbild vorgehalten bekommt, als er die Gottesanbeterin beobachtete.
2
Immer dann, wenn sich Peter Lobowski in den Schatten einer Kiefer legte und seine Augen schloss, hörte er das Meer rauschen. Manchmal meinte er zu spüren, wie ihm der Wind den Duft des Meeres direkt in die Nase wehte, und auch die Salzkruste auf seiner Haut schmeckte wie das Meer.
Dann, wenn die tiefe Entspannung einkehrte, verschmolz Peter Lobowski mit seiner Umwelt und wurde zum Schmetterling, zum Vogel oder zum Baum. Und dann, im Schatten der Kiefer, flogen seine Gedanken davon und flüchteten sich in die bunte Welt der Träume.
Die zwei Nächte in einem warmen, festen Steinhaus machten sich wohltuend bemerkbar. Die Glieder waren ausgeruht und die Füße verrichteten wieder bessere Arbeit. Die Rucksäcke schienen viel weniger zu wiegen, und da das Wetter milder wurde, war es ein gutes Vorankommen.
Zuvor hatte es in Strömen geregnet. Doch jetzt riss der Himmel etwas auf, sodass man kleine blaue Flecken entdecken konnte, die wie von einem Maler mit Tusche in die Wolken eingezeichnet schienen. Eine leichte Brise hatte den Wind, der die Wolken und den Regen über den Himmel peitschte, ersetzt.
Erst später am Abend fing es erneut an zu regnen. Die Suche nach einem trockenen Nachtlager wurde jetzt zur eilenden Notwendigkeit.
Vor der Brücke über den Fluss Laun verlief eine steile Holztreppe zum Ufer. Über einen Pfad entlang des Flussufers und über eine Holzbohle, die über einen in den Laun mündenden Bach führte, gelangte man auf eine Wiese. Ein schmaler Pfad endete an einem undurchdringlichen Sumpf und Auwald. Kurz vor dem Ende des Pfades fand sich ein fester Wiesenplatz, der hoch genug über dem Wasserspiegel des Flusses lag, um dort sicher ein Zelt aufstellen zu können. Eine Bleibe für die Nacht.
Inzwischen waren jegliche Anzeichen einer Wetterbesserung wie weggeblasen, und ein grauer Himmel hatte unnachgiebig seine Schleusen geöffnet. Trotz des Regens, der auf die Zeltwand prasselte, fiel Peter Lobowski in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde er durch seine nassen Füße geweckt. Die vordere Hälfte des Zeltes schwamm mehr, als dass sie fest auf dem Boden stand. Das Ufer verlief nun schräg darunter. Es war zehn Uhr morgens des darauffolgenden Tages, und es musste über fünfzehn Stunden ohne Unterlass geregnet haben. Der Fluss hatte die Wiese überschwemmt. Der zuvor sicher wirkende Platz wurde zum See. In Eile musste er nun das Zelt abbauen und in erhöhter Lage wieder aufstellen. Nur mit Glück wurde nicht das ganze Gepäck durchnässt und weggespült. Es blieb nur, dem Prasseln des Regens zu lauschen.
Erst als gegen Mittag etwas Wind aufkam und den grauen Teppich vertrieb, begannen die nass gewordenen Sachen allmählich so weit zu trocknen, dass sie notdürftig verstaut werden konnten. Selbst der kleine Bach mit der Holzbohle war über die Ufer getreten. Das nächste Ziel war Corran Tuathail.
In der Stadt träumte Peter Lobowski nicht. Dort wurde er immer wieder durch den pulsierenden Lärm aus dem Schlaf gerissen, und seine Träume zerplatzten wie Seifenblasen. Träumen konnte er nur auf dem Hügel vor der Stadt. Es schien, als ob der lange Weg bis zu den Kiefern die in der Stadt verlorenen Träume zurückbrachte.
In der Stadt würden nur Autos beständig am Fenster vorbeidonnern und ihr Brummen durch die Fensterritzen pressen. Rettungshubschrauber würden über die Dächer rattern und die Sirenen der Krankenwagen, welche die Opfer der Hitze abholten, durch die Häuserschluchten schreien. Die alten Menschen, und es gab viele alte Menschen, starben wie die Fliegen. Noch ahnte Peter Lobowski nicht, dass er viele Jahre später mit dem Sammeln der Leichen alter Menschen sein Brot verdienen würde.
In der Hitze schleppten dampfende Müllwagen die Reste des Lebens durch die Straßen. Ketten rasselten und Hebearme hoben Tonnen voller Dreck. Lastwagen wurden vor den Geschäften beladen und entladen. Irgendwo hämmerte ein Presslufthammer. Humptata und Besoffene grölten aus der Tageskneipe. Die Geräusche von Geschlechtsakten und hitzigen Orgasmen hallten aus den offenen Fenstern. Irgendwo bellte ein Hund, irgendwo schrie ein Kind, irgendwo lief Musik, irgendwo zwitscherte ein Vogel. Es gab zu viel zu hören in der Stadt, und die Flut der Reize überlastete die Filter im Gehirn.
An den heißen Tagen des Sommers schien es, als hätten sich diejenigen, die Geist, Menschlichkeit und Wissen ihr Eigen nannten, von der Realität verabschiedet.
Geld, egal woher, war die Antriebsfeder allen Lebens. Alles hatte einen Wert. Alles wurde berechnet.
Was kostet ein Baum, ein Mensch, die Welt? Die Menschen buchten an der Fähre in das Reich der Toten Pauschalreisen über den Styx – nur weil diese so schön billig waren.
Den Weltuntergangsreden der Apologeten hatte niemand zugehört. War da was? Gletscherschmelze? Steigende Meeresspiegel? Zunahme von Extremwetterlagen? Heiße Sommer? Überflutungen? Ozonloch? Vergiftete Nahrung? Waldsterben? Ausgehende Rohstoffe? Überbevölkerung? Artensterben?
So erfolgreich effiziente Filter im Gehirn den Menschen vor der Flut der Reize schützten, so katastrophal war es, dass diese Filter auch jene Reize aussonderten, die uns die Gefahren der Zukunft gelehrt hätten. Der Mensch wurde von der Evolution nur für das Überleben am nächsten Tag programmiert. Das war ausreichend, um vor einer unmittelbaren Bedrohung fliehen zu können. Aber das Programm war untauglich, um Gefahren in weit entfernter Zukunft wahrzunehmen. Dafür war das Gehirn des Menschen offensichtlich nicht ausgelegt.
Den Menschen ging es in den meisten mitteleuropäischen Ländern noch relativ gut. Aber eine tief liegende Unzufriedenheit schien wie ein Krebsgeschwür unaufhaltsam zu wuchern. Egoismus und Dekadenz in den Wohlstandsgesellschaften.
Es war kein Wunder, dass die Menschen der afrikanischen Länder nach Norden strömten, um etwas von dem zurückzuverlangen, das man ihnen zuvor weggenommen hatte.
Als schließlich gleichzeitig der Zusammenbruch von Umwelt, Weltwirtschaft und Politik propagiert wurde, hörte niemand zu.
Immer wenn die Unken recht hatten, war die Politik nur Moderator und zu schwach, um das Gute zu bewahren. Und die Religionen beschäftigten sich mit sich selbst statt mit den Menschen.
Wenn alles versprochen und kein Versprechen gehalten wird, erzeugt das zunächst Wut und dann Gleichgültigkeit. Es war die Zeit des Zerfalls des Geistes, der Humanität und der Wissenschaft. Brot und Spiele wurden verabreicht, genügten aber bald nicht mehr. Überdruss. Tausende Wünsche wurden geweckt, doch es waren keine echten Wünsche. Die Welt wurde reich an Dingen und arm an Geist.
Menschen strebten seit jeher Vorbildern nach. Kinder nahmen die Eltern als Vorbild, ob sie wollten oder nicht. Aber Eltern, die als Vorbilder taugten, gab es kaum noch.
Allmählich begann die Zeit der Antimenschen. Flache Geister tauchten auf. Immer häufiger stapften tumbe Fratzen durch die Straßen, gelangweilte Kleingeister, die versuchten, sich zu artikulieren, indem sie Menschen verletzten oder töteten. Missgunst, Hass und Neid erstickten die Menschlichkeit. Nationalisten und Rassisten waren schon immer die Eiterpickel einer satten und egoistischen Gesellschaft. Aber es waren Kinder der Zeit. Jede Zeit gebärt solche Kinder. Zusammen mit den anderen, den gleichgültigen Raffern, deren Lebenssinn darin bestand, zu besitzen, bildeten sie eine gefährliche Melange. Die rücksichtslosen Mitnehmer, die nur aufgrund einer gewissen Geldmenge zu den Privilegierten zählten, waren jene, die durch ihre Gier solche Eiterpickel entstehen ließen. Eiterpickel, die immer wieder aus einem wachsenden Heer der Unterschichten aufdunsen.
Die Menschen hatten ihre Wiege verloren und vergaßen, woher sie einst kamen. Fleischgewordene Erde. Aber unvollständig – denn es blieb zu viel Dreck auf der Haut kleben als sie aus der Erde krochen. Je mehr von ihnen unfähig wurden, diesen Dreck abzustreifen, desto weniger wirkliche Menschen gab es.
Wer konnte noch ein Geheimnis in einem Baum sehen? Wer konnte mehr als Brennholz oder Rohstoff in ihm erkennen? Bäume waren die Zeit. Um die Zeit zu verstehen, genügte es, die Wange an die Rinde eines Baumes zu legen. Doch auch die Bäume starben, wie der Rest der Welt.
3
Peter Lobowski lag wieder einmal unter der Kiefer und träumte. Der Wind konnte schlechte Zeiten wegblasen, wenn er nur kräftig genug wehte. Er konnte Menschen wie Papiertüten ins Nichts tragen.
Mitten im Wald rattern und knattern Autos und Motorräder. Es grölt und johlt und trampelt zwischen den Bäumen. Autobahnen durchschneiden den Wald und ziehen sichtbare Grenzen durch die Natur. Menschenmassen legen Spuren einer kahlen Welt in das Grün. Für die Bewohner des Waldes sind die Straßen unüberschreitbare Grenzen, und nicht wenige zahlen mit dem Tod, wenn sie dennoch versuchen, sie zu überqueren. Die Bewohner des Waldes werden von einer Flut lärmender Ruhesuchender in die kaum noch vorhandenen letzten Winkel vertrieben. Wie kann man erwarten, dass ebensolche Ruhesuchende jemals auf einen Nackensitzer treffen?
Nackensitzer trifft man nur selten an abgelegenen, ruhigen Orten, fern von Straßen und Autobahnen in tiefen Wäldern. Man kann sie nicht suchen oder finden. Man wird von ihnen gefunden.
Sie setzen sich unbemerkt auf die Schulter und flüstern allerlei Dinge in die Ohren. Sie aber bemerken sofort, ob sie auf einem Menschen oder einem Antimenschen sitzen. Sie helfen dem Guten, und flüstern ihm die Geheimnisse der Natur zu. Die Guten lernen verstehen. Wenn dann der Nackensitzer bemerkt, dass der Mensch verstehen kann, freut er sich und hüpft von der Schulter ab.
Bemerkt der Nackensitzer aber, dass er auf einem Antimenschen sitzt, kriecht er durch das Mittelohr über das Innenohr in das Gehirn und beginnt, es aufzufressen. Dumme Menschen brauchen kein Gehirn, weil sie es ja doch nicht benutzen. Windung für Windung frisst er alles auf. Der Nackensitzer wird zum Hirnfresser. Menschen mit Hirnfressern stumpfen langsam und unaufhörlich ab. Der Mensch vergisst, verdrängt, verdummt, zerstört und stirbt. Der Nackensitzer, der zum Hirnfresser wurde, hinterlässt nur Dreck im Gehirn und geht mit seinem Hohlkopf zugrunde. Deshalb gibt es kaum noch Nackensitzer.
Die Wissenschaft versucht verzweifelt herauszufinden, was mit den Gehirnen der Menschen passiert. Sie wissen nicht, dass sie eigentlich nur Nackensitzerscheiße finden. Und fast jeder Mensch hat schon Nackensitzerscheiße im Gehirn.
Mit etwas Glück kann man seinen Verstand zurückgewinnen. Wenn man das Glück besitzt, auf einen zweiten Nackensitzer zu treffen. Nur wenn dieser den Menschen als würdig empfindet, befreit er seinen Artgenossen.
»Auf dass es an dunklen Orten im Wald Nackensitzer gibt, die den Guten die Wunder erzählen«, dachte Peter Lobowski, als er nach diesem seltsamen Traum erwachte und die ätherischen Öle immer noch seinen Geist zu benebeln schienen.
Peter Lobowski dachte daran, dass er jetzt als Alternative in der Stadt in einer stickigen, heißen Wohnung liegen könnte. Und dort würde er an den Hügel am Fluss denken, an dem es Ruhe und Frieden gab. Er blickte in die Landschaft, und unter der Kiefer huschte ihm ein Lächeln über das Gesicht. Was war wirklich? Peter Lobowski lag auf dem Boden und wartete wie eine Gottesanbeterin, bis er wieder einschlief und in das Land der Träume eintrat.
Stille – so weit die Ohren hören konnten. Weite – so weit das Auge blicken konnte.
Hier und da bewegte ein Windhauch kahle Büsche, und Skelette von Baumkrüppeln knarrten und barsten mit einem letzten Aufschrei des verbliebenen Lebens unter den Schneemassen zusammen.
Hier und da tönte ein dumpfes Grollen über die schneebedeckte Weite. Dann stürzten Schneemassen ins Tal oder riesige Eisklippen fielen in sich zusammen.
Hier und da konnte man ein kaum hörbares Scharrgeräusch erlauschen, wenn Schneehühner oder Hirsche den Schnee Schicht für Schicht abtrugen, um etwas zum Fressen zu finden.
Hin und wieder schneite es und die so mühevoll in den Boden gescharrten Anzeichen des Lebens wurden von abertausenden Schneeflocken begraben.
Hin und wieder schien die Sonne und der glitzernde Schnee reflektierte vervielfacht ihre Strahlen, sodass eine undurchdringbare Strahlenwand errichtete wurde.
Nur die Stille, die Weite und die Kälte waren ständige Begleiter in dieser Wildnis – alles andere war eben nur hier und da, oder hin und wieder.
Und das monotone Schlurfen der Schneeschuhe und das Knirschen von Rucksackstangen – entnervend und immerfort.
Wie weit war der Weg?
Laut krachten die Stahlkugeln von Abrissbaggern, die Presslufthämmer ratterten, Kräne knarrten und Tausende Autos schienen den Lärm übertönen zu wollen, stinkend und brummend.
Hastig und geschäftig rannten unzählige Menschen von Geschäft zu Geschäft und erspähten in der Ladentür des einen die Sonderangebote des anderen. Die Augen suchten, fanden, verwarfen, prüften, da eine Hose, dort ein Hemd. Alles war bunt, farbig, anziehend, warm – eine Reizüberflutung.
Der tägliche Kampf um Schnäppchen und einen Platz im Bus. Zentimeter um Zentimeter kämpften sich Autoschlangen von Ampel zu Ampel und von Kreuzung zu Kreuzung. Nur selten herrschte hier und da Stille während der vierundzwanzig Stunden eines Tages.
Es hatte schon wieder geschneit, und die Welt schien Tag für Tag ihr Angesicht zu verändern. Wie viele Tage war er jetzt schon unterwegs? Diese beständige Totenstille war bedrückend und wunderbar zugleich, und wenn man genau hinhörte, war sie in den faszinierendsten Tönen zu vernehmen.
Trotz der Schneeschuhe brach er immer wieder in den weichen Schnee ein. Mit einem Stock suchte er vorsichtig nach Löchern und Spalten, die unter der Schneedecke verborgen waren. Wie ein Seiltänzer tastete er sich vorwärts – stets in Bewegung, um der klirrenden Kälte Einhalt zu gebieten. Aus der Ferne wehte der Wind ein immer kräftiger werdendes Rauschen an seine Ohren. Beunruhigt dachte er an den Fluss, der vor ihm lag. Wenn er bei diesen Temperaturen durch einen Fluss müsste, würde er zweifellos erfrieren.
Und in der Stadt?
Die vielen Fahrzeuge würden wie eine Mauer wirken und angespannte Fahrer hinter ihrem Steuer hin und her rutschen. Immer wieder Stau, und sie wollten alle irgendwohin. In einem Auto konnte es kalt werden. Das Radio würde vermelden:
»Heute wurde der Haushalt mit der Mehrheit der Regierungsparteien verabschiedet. In der Nähe von München gab es zehn Todesopfer bei einem Großbrand. Das in elf Tagen zweite Flugzeugunglück in Madrid forderte neunzig Todesopfer. Bei Rassenunruhen in Frankfurt wurden drei Menschen getötet. Das Wetter: Schneefälle in der ganzen Region bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Mit starken Behinderungen auf den Straßen muss gerechnet werden. Und nehmen Sie es nicht so tragisch. Denken Sie daran, dass Schneefall bis vor wenigen Jahren zu einem normalen Winter in dieser Region gehörte.«
Millionen würden irgendwohin wollen – ins Warme, zum Essen, vor den Fernseher.
Und hier?
Das Rauschen wurde mit jedem Schritt lauter. Wenn er tatsächlich den Fluss erreichen würde, stünde er vor der Entscheidung. Könnte er ihn irgendwie umgehen, würde er große Schwierigkeiten mit seinem Proviant bekommen und möglicherweise verhungern. Würde er ihn durchqueren, würde er sicher erfrieren.
Kein Vergleich zu den Problemen des Alltags?
Aussichtslos würden die Fahrzeuge festhängen. Schneefälle hätten ein Chaos auf den Straßen verursacht. Mit ihren Gedanken alleine, würden Tausende auf den Straßen fluchen. Frauen und Kinder würden warten. Feine Düfte von Braten, Gemüse und Kartoffeln würden überall aus den Häusern dringen und die Gerichte für ihre Vernichter warmgehalten werden. Wenn sie endlich mit einer Stunde Verspätung zu Hause angekommen wären, würden sie vom Kampf in der Autoschlange, vom miserablen Wetter und ihren unendlichen Strapazen erzählen. Erschöpft würden sie ihr aufgewärmtes Essen verschlingen und ermattet vor dem Fernseher einschlafen.
Während es immer noch schneite, holt er ein Stück Trockenfleisch aus seinem Rucksack. Der Gedanke an Braten hatte ihn hungrig gemacht.
Seit Tagen hatte er keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen, weil er mit den Gaskartuschen sparsam umgehen musste und trockenes Holz für ein Feuer nicht zu finden war.
Der Himmel vor ihm wurde dunkel und die Luft dunstig – Nebel zog auf. Dies waren die Zeichen der Natur, dass es etwas wärmer werden würde. Hinter ihm ging glutrot die Sonne unter und bestrahlte von unten die Wolkenwand.
Er musste sich beeilen und ein Nachtlager errichten, denn bald würde ein mächtiger Schneesturm losbrechen. Der Wind begann stärker zu toben und die ewige Stille schien durchbrochen. Sein Zelt wollte er in einem tiefen Loch im Schnee aufbauen, um es vor den starken Böen zu schützen. Er begann zu graben. Auf der Sturmseite schichtete er mühsam eine Schneewand auf, die als zusätzlicher Windschutz dienen sollte. Abgekämpft richtete er sein Nachtlager her. Im Zelt wickelte er sich in seinen Schlafsack.
Wie schön wäre es gewesen, wenn er ein Feuer zum Aufwärmen und Trocknen hätte anzünden können. So aber würde er am nächsten Morgen wieder in kalte und feuchte Kleidung schlüpfen müssen. Draußen fegte ein Sturm über ihn hinweg – doch der Windschutz leistete gute Dienste, und der Schnee isolierte etwas gegen die eisige Kälte. Einschlafen konnte er aber erst, als der Sturm endlich nachließ.
Hin und wieder unterbrach ein dumpfes Grollen von sich bewegenden Schneemassen das Heulen des Windes. Und später konnte man auch wieder das Rauschen des nahen Flusses hören.
Früh wachte er vor Kälte auf. Ein heißer Tee musste ihm Wärme einflößen, und nur langsam begann er, sich aus seinem Schneehaufen herauszuwühlen. Draußen war Stille eingekehrt. Er verstaute sorgfältig seine Ausrüstung. Mit den Schneeschuhen marschierte er weiter in die Richtung, aus der das immer deutlicher werdende Rauschen kam.
Dennoch nahm er es mit jedem Schritt weniger wahr. Fast überrascht stand er deshalb vor einem gischtsprühenden Wasserband. Die verdrängte Entscheidung musste jetzt gefällt werden. Verhungern oder erfrieren.
Er dachte an Zuhause – die Zivilisation. Dort hätte er seine Ruhe und keine Schwierigkeiten, die über Leben und Tod entschieden. Er dachte aber auch an die Hast des Alltags und an die Ruhe und Stille hier. Er wusste, egal was kommen würde, er würde hier überleben in diese Stille, so weit seine Ohren hören konnten, und in dieser Weite, so weit seine Augen sie sahen.
Vogelgezwitscher weckte Peter Lobowski und verscheuchte die Traumbilder von Eis und Schnee aus seinem Kopf. Es begann schon zu dämmern, die untergehende Sonne hüllte die Umgebung in rote Farbe. Im Westen drohten dunkle Wolken mit einem Gewitter. Vielleicht würde bald eine Regenzeit beginnen. Eilig brach er auf, zurück in die Stadt. In der Ferne grollte der erste Donner.
4
Irgendwann im Juli war es wieder seit Tagen unerträglich heiß. In den letzten Jahren wurden die Sommer heißer und drückender – manche murmelten etwas von Klimaveränderung und dass man nicht mehr in den Süden in den Urlaub zu fahren bräuchte, weil es bei uns ja auch schon heiß genug sei. Süden und Meer. Doch auch das Meer lag im Sterben, stank und blubberte voller Algenschleim und Abwässer der Städte. Es war aufgefüllt mit Plastikmüll, nicht mehr mit Fischen.
Die Natur im Süden lag im Sterben, weil sie auf den Ansturm der reiselustigen Massen nie vorbereitet war.
Plattgewalzt, gefliest, gekachelt und überall gleich. Jedes Hotel konnte irgendwo stehen, Hauptsache die Sonne brannte vom Himmel. Und die brannte immer unbarmherziger. Trockenheit. Waldbrände. Wüstenbildung. Millionen von Menschen trockneten den Süden aus. Und jetzt – Klimaveränderung murmelten manche – brannte auch im Norden die Sonne.
Peter Lobowski war noch keine zwanzig Jahre alt, als er begann, sich von seinen Mitmenschen zu entfernen. Er zog die Einsamkeit im Wald der Gesellschaft anderer vor. Menschen gab es überall auf der Welt. Immer mehr und an jedem Ort. Nach wie vor wuchs die Weltbevölkerung um nahezu drei Menschen pro Sekunde, täglich um mehr als 200.000 Menschen. Und alle wollten sie essen, trinken und leben.
Peter Lobowski fühlte sich als Teil der Welt und der Natur. Die meisten anderen sahen sich aber nur als Teil einer menschlichen Gesellschaft. Sie hatten vergessen, dass es noch eine Welt um sie herum gab. Die Natur. Die Natur hatte die Macht, Leben zu geben und Leben zu nehmen. Und jetzt hieß es immer öfter: »Die Natur schlägt zurück.« Die Natur wurde böse. Aber die Natur ist niemals böse. Der Mensch hatte nur vergessen, was Natur bedeutet.
Peter Lobowski wurde klar, mit welcher enormen Geschwindigkeit scheinbar ewig Bestehendes unwiederbringlich zerstört werden konnte. Wie schnell waren doch aus den Wiesen der Kindheit Häuser und Straßen geworden. Wie rasch wurden die Bäume gefällt, auf denen Pflaumen, Kirschen, Mirabellen, Pfirsiche und Birnen wuchsen. Wie lange musste man heute suchen, um diese Früchte pflücken zu können.
Was bleibt den Kindern dieser Zeit außer der Gewöhnung an eine verarmte, eintönige Welt und der wachsenden Erkenntnis, dass sie die Angeschmierten sind? Weil die Älteren nicht den kleinsten Happen abgeben wollten. Wenn sich so mancher verwundert die Augen ob der Gleichgültigkeit der jungen Generationen rieb, war das Dummheit oder Heuchelei. Die Zeit war gekommen, da jeder spürte, dass etwas Unabänderliches in Gang gesetzt worden war. Die Welt war im Begriff, im Chaos zu versinken. Wie ein Tier instinktiv ein bevorstehendes Erdbeben wittern kann, fühlten mehr und mehr, dass die Welt in Gefahr war.
Gleichzeitig aber wussten selbst die Verdränger, dass dies das Problem anderer, nämlich ihrer Kinder, sein würde. Sie mussten das Erbe antreten, ob sie wollten oder nicht. Die Kinder dieser Zeit hatten keine andere Wahl. Geschickt wurden sie mit einer virtuellen Welt gefüttert, damit sie nicht bemerkten, was mit der wirklichen Welt passierte.
Im Frühjahr roch der Wald nach jungem Grün und der Boden duftete nach Leben. Im Sommer roch es nach trockenem Laub und Blumen, im Herbst nach Moder und Zerfall. Doch nie war ein Geruch bedrohlich. Es war der modrige Geruch des Herbstes, der das Frühjahr ankündigte, nur unterbrochen durch die raue Luft eines kalten Winters. Jahreszeiten, die es so immer seltener gab. Frühjahr und Herbst waren zu kurzen Perioden reduziert. Kurze Übergänge in eine weitere Trockenperiode oder zur nächsten Regenzeit mit Überschwemmungen.
Massenhaft wurde die nackte Erde zugedeckt, um Platz für stinkende Fahrzeuge zu schaffen. Der Boden wurde eingehüllt in Teer, überfüllt mit Beton und festgewalzt mit Maschinen. Die Gerüche und das Gefühl, auf einem Laubboden zu liegen, wurden vernichtet.
Der Hunger nach diesen Gefühlen trieb Peter Lobowski aus der Stadt. Die Berührung eines Baumes war eine Berührung mit dem Leben dieser Welt. Durch die Berührung der Rinde konnte er die Geschichte eines Baumes lesen – aus der glatten Rinde der Buche, der blättrigen Rinde der Platane, der knorrigen Rinde der Eiche und der harzigen Rinde der Kiefer.
Peter Lobowski fragte sich bald, wie man es zulassen konnte, dass Kinder niemals erfahren würden, wie viele verschiedene Rinden es gab, und wie viele Geschichten nicht mehr von den Bäumen erzählt werden könnten. Wer einmal seine Wange an einen Baum gelegt hatte, begriff dessen Macht. Zeit erhält dann eine andere Dimension, denn die Zeit der Welt wächst in den Bäumen. Mit jedem gefällten Baum wurde die Zeit der Welt kürzer.
Es war das Laute, das Peter Lobowski störte, und es störte ihn, dass das Gehör jener Sinn war, den man nicht einfach abschalten konnte. Etwa so, wie man die Augen schließen konnte, um nichts mehr zu sehen. Gestank oder üblen Geruch konnte man abschalten, indem man die Luft anhielt oder durch den Mund atmete. Niemand hatte aber die Möglichkeit, seine Ohren zu verschließen oder sich willentlich von den vielen Geräuschen der Mitwelt abzuschotten – es sei denn mit den Händen. Das Gehör war stets in Bereitschaft, selbst im Schlaf.
Die feinen Arbeiter im Mittelohr, kleine Knöchelchen, die man Hammer, Amboss und Steigbügel nennt und die die Schwingungen des Trommelfells verstärkend ins Innenohr übertragen, um dort in einem Schneckengewinde eine Flüssigkeit zum Vibrieren zu bringen, waren ständig im Einsatz. Beständig waberte es im Ohr.
Maschinen quietschten, Autos brummten, Menschen schrien, Züge rattertn, Scherben klirrten, Flugzeuge heulten und verdrängten Geräusche, die zu leise waren, um gehört zu werden: Vogelgezwitscher, der Wind, der Blätter rascheln ließ, knackende Äste und im Laub scharrende Tiere. Die Hilfeschreie der Erde verloren sich im alltäglichen Lärm.
Beständiger Grundlärm überdeckte jeglichen Versuch der Stille, sich durchzusetzen. Der Verkehr deckte die Welt mit seinem brummenden Mantel zu, und es wurde zu einem Abenteuer, einen Ort zu finden, an dem absolute Ruhe herrschte. Und fand man zufällig einen solchen Ort, verspürte man eher Angst und Schrecken. Stille war bedrohlich geworden.
Eines Tages, es muss einer jener Tage gewesen sein, die dem Oktober den Beinamen »der Goldene« gegeben hatten, fand Peter Lobowski einen solchen Ort.
Jenseits der Stadt hatte einer der Hügel das Glück, unfruchtbar zu sein und zu flach oder zu steil oder zu steinig für Wege oder Felder. Was kann Nutzlosigkeit doch schützenswert sein.
Eine solche nutzlose Gegend lag also auf den Hügeln, wenn man flussaufwärts zog. Das Gebiet war von Gräben, Mulden und Dellen durchzogen, die Reste alter, offen gelassener Steinbrüche waren.
Allerlei Obstbäume standen auf den Wiesen und allerlei Getier hatte sich auf diese nutzlose Insel gerettet.
Er streifte an einem goldenen Oktobertag durch die Wiesen, als ihn das seltsame Gefühl der Angst überkam. Irgendetwas war nicht in Ordnung, und die Luft war zum Schneiden. Er stand in einer tiefen Mulde auf dem Berg und blickte voller Entsetzen um sich. Zuerst wusste er nicht, wie er seine Gefühle deuten sollte. Doch bald bemerkte er, was anders war – es herrschte absolute Stille.
Kein Vogelgezwitscher, kein Rascheln von Laub am Boden oder in den Bäumen, kein Wind, kein Rauschen oder Brummen – absolute Ruhe. Schwindel überkam Peter Lobowski. Eine oder zwei Sekunden dauerte das Spiel, bis irgendwo ein Hubschrauber ratterte.
Es musste ein Zufall gewesen sein, der nur selten eintrat, denn seine Ohren waren nicht darauf gefasst, nichts zu hören. Es war nur ein Moment. Aber seitdem war er gierig nach Stille. Es war jene Stille, die Peter Lobowski immer wieder unter dem Baum auf dem Hügel vor der Stadt suchte.
5
Es war sehr heiß im Juli. Noch waren die Zeiten gut für die Menschen in den nördlichen Ländern, aber der beginnende Umbruch war bereits zu spüren. Das Leben wurde unberechenbarer und die Politiker waren unfähig, mehr zu tun, als ihre eigenen Gelder zu sichern.
Peter Lobowski schleppte sich wieder einmal durch die grünen Reben aus der Stadt. Der Duft der Bäume und Blumen war noch da – irgendwo. Er legte sich auf seinen Platz der Träume und ein kühler Wind strich über seine Stirn.
Da hörte er unmenschliche Laute und seltsamen Lärm, der die Ruhe auf seiner Insel störte. Geräusche und Laute, die in den Städten alltäglich waren und aus der Gleichgültigkeit und Sinnlosigkeit geboren wurden. Ein Mensch in Stiefeln stapfte über die Blumen und walzte sie platt. Vögel stoben davon und ihr Gezwitscher wurde von Lärm abgelöst. Gestank lag in der Luft. Sein Platz unter der Kiefer schien zu sterben. Voller Zorn ertastete Peter Lobowski einen abgebrochenen Ast am Boden und näherte sich dem Eindringling. Er schlug dreimal kräftig zu, bis der Ast knickte und der Schädel zerbarst. Wie auf Knopfdruck herrschte Ruhe auf dem Hügel vor der Stadt. Peter Lobowski wusste, dass er nie wieder hierher zurückkehren würde. Er wusste, er würde sonst weiter töten.
Der Duft der Blumen kehrte zurück und ein kühler Wind strich über seine Stirn. Doch er verließ die Wirklichkeit und wusste Traum und Realität nicht zu unterscheiden. Offensichtlich musste Kain seinen Bruder Abel erschlagen – hätte er es nicht getan, wäre es die schlimmere Sünde gewesen und die Menschlichkeit im Keim erstickt.
Die Zeit der Träume würde wohl nie wiederkommen. Die Türme des Überflusses waren zerstört. Die Nordländer waren sich einig, auch weiterhin auf Kosten anderer ihren Wohlstand zu vermehren. Während wenige immer mehr zusammenrafften, blieb für die Mehrzahl der Menschen nichts mehr übrig.
Das Siechtum der Menschheit
1
Mehr als zwanzig Jahre später.
Die heißen Sommer, die vor vielen Jahren begannen, waren nur die ersten Vorboten der großen Veränderungen gewesen. Viele warnten immer noch vor den Folgen der Ignoranz und des Egoismus, mit deren Hilfe die Mächtigen versuchten, sich an der Macht zu halten. Die Politik, verkommen zum Spielball der Macht, griff diese Ignoranz liebend gerne auf, wiegelte ab und begnügte sich mit Reformen, die nur leere Worthülsen waren und dazu dienten, die Bevölkerung ruhigzustellen und die eigene Macht zu sichern.
Schlechte Nachrichten verfolgte man nur dann mit einem voyeuristischen Interesse, wenn man nicht betroffen war. Es war von jeher uninteressant zu wissen, dass die letzten Bäume tagtäglich irgendwo in Amazonien oder Indonesien gefällt wurden. Wen interessierte es, wenn kleine Inseln wie die Malediven im Meer versanken, und wer kannte schon den Namen Tuvalu als Menetekel? Was interessierte es, wenn weit weg in der Antarktis die ehemals riesigen Eismassen schmolzen und die Gletscher gewaltige Eisberge kalbten? Was interessierte es schon, wenn die Gletscher in den Bergen verschwanden? Wen interessierte der Klimawandel, solange es den Menschen, die ihn verursachten, gut ging.
Doch in den heißen Sommern begannen immer mehr Menschen zu bemerken, dass die Welt nicht nur aus einer Wohnung bestand.
Das Leben an den Flüssen wurde zu einem Zyklus aus Überschwemmung und Trockenheit, wie vor der Zeit der großen Flussbegradigungen. Den Städten an den Küsten stieg das Wasser bis zum Hals, jenen in den Bergen fiel der Himmel in Form von Geröll und Schlamm auf den Kopf, weil die Gebirgsgletscher verschwanden, die vorher die Berge wie Kitt zusammenhielten. Die Städte im Süden schwitzten sich zu Tode und die Menschen lechzten nach Wasser. Zahllose Unwetter und Stürme tobten über die Steppen. Und die Sonne verbrannte die letzten verdorrten Wälder.
Die Menschen waren von Hilflosigkeit erfüllt, und das zu Beginn nur ungute Gefühl wandelte sich allmählich in Panik. Statt eine Allianz zu bilden und zusammenzuarbeiten, versuchte weiterhin jeder Staat, seine eigene Lösung zu präsentieren. Organisationen wie die UNO und WHO oder internationale Konferenzen scheiterten an den Interessen einzelner Staaten. Alte Feindbilder wie »der Westen« oder »der Osten« hatten sich längst zu »Moslems und Christen« oder pauschal zu »Terroristen« gewandelt. Natürlich waren Feindbilder ein psychologischer Trick, um Zusammenhalt und Gemeinsamkeiten zu festigen. Gegen einen gemeinsamen Feind hielt man eben zusammen, auch wenn man dies sonst niemals tun würde. Bündnisse und Lager wurden in der Geschichte der Menschheit immer durch gemeinsame Feindbilder aufgebaut und gefestigt. Allerdings waren Feindbilder auch immer das größte Hindernis, die Menschheit zu einen. Und jetzt? Die Bedrohung der Menschheit war zu virtuell und zu wenig greifbar, als dass sie als Feindbild taugte. Und tatsächlich war die größte Bedrohung der Mensch selbst, weil er nicht fähig oder willens war, die Gefahr zu erkennen.
Auf der ganzen Welt wuchs die Zahl der Menschen und ein Kampf um das nackte Überleben hatte begonnen. Jeder wollte etwas von den begrenzten Ressourcen besitzen. Es waren inzwischen weit mehr als acht Milliarden Menschen, die Wasser und Nahrung brauchten. Die Überbevölkerung brachte den Planeten aus dem Gleichgewicht. Die Rohstoffe reichten längst nicht mehr, um alle zu versorgen. Die Folgen der Klimaänderung begannen, Staatengefüge und Staatsstrukturen auseinanderbrechen zu lassen. Neue Grenzen wurden durch die Meere gezogen. Und die Menschheit spaltete sich in zwei Klassen: jene, die aus irgendwelchen Gründen privilegiert waren, und jene, die nicht privilegiert waren.
Selbst in den wohlhabenden Ländern im Norden führten Restriktionen und Beschränkungen immer häufiger zu kaum noch kontrollierbaren Unruhen. In Afrika machten sich die Menschen des halben Kontinents auf den Marsch, um einen Platz zum Überleben zu suchen.
Immer noch wollten viele nicht glauben, dass die Welt vor dem Zusammenbruch stand. Der Untergang der Menschheit wurde durch den Verlust von Solidarität eingeläutet. Der Egoismus hatte gesiegt. Der Verstand, der dem Menschen von der Evolution gegeben wurde, war als Werkzeug zum besseren Überleben unbrauchbar. Die Menschen handelten nur noch instinktiv. Das Ziel der Evolution, beim Menschen die Instinkte durch Verstand zu ersetzen, schlug kläglich fehl. Letztendlich wurde die Erde täglich von Milliarden Haufen Menschenscheiße zugeschissen.
Es waren mittlerweile viele Jahre vergangen, seit Peter Lobowski den ersten Menschen erschlagen hatte. Er erinnerte sich noch recht gut an seinen Zorn, als seine Träume zerstört wurden, die seitdem nie zurückgekehrt waren – aber war dies tatsächlich die Realität, oder lag er eigentlich noch unter einer Kiefer? Es ging alles irgendwie zu schnell.
Damals standen noch einige Bäume – das war kurz bevor ein Großteil der Wälder durch die Sonne verbrannt und durch Stürme und Krankheiten niedergestreckt wurde. Heute war an Flucht aus der Stadt nicht mehr zu denken, denn die Menschen waren überall. Die Flüchtlinge aus allen Ecken der Welt drängten an die letzten noch lebenswerten Plätze.
Immer häufiger zogen plündernde Banden durch die Gegend, um das rationierte und wertvolle Benzin und frisches Wasser zu ergattern. In den länger und heißer werdenden Sommern wurde Wasser zum Zahlungsmittel. Ehemals große Flüsse und Ströme waren zu Rinnsalen vertrocknet, da die sie speisenden Gletscher der Berge versiegten. In Regenzeiten dagegen schwollen sie zu unkontrollierbaren Fluten an.
Die letzten Reserven des weltweit zur Neige gehenden Ölvorrats wurden unbezahlbar. Immer mehr Menschen wollten am Ölzeitalter partizipieren. Doch die Möglichkeiten, kostengünstig Öl zu transportieren und zu fördern, gab es nicht mehr. Ein Plastikbecher wurde wertvoller als ein Goldkelch. Die sogenannten Antiterrorkriege am Anfang des Jahrtausends, die mittlerweile als die ersten Ölkriege bezeichnet wurden, waren die ersten Anzeichen eines Kampfes um einen zur Neige gehenden Rohstoff.
Millionen von Menschen aus Afrika, Südamerika und zahllosen Küstenregionen Asiens drängten in die nördlicheren Regionen, in denen noch Regenzeiten für Wasser sorgten. Die zur Trinkwasserversorgung gebauten Meerwasserentsalzungsanlagen waren nur kurz in Betrieb, da die Soldaten, die den Schutz der Anlagen garantieren sollten, sich nicht mehr gegen die durstigen Massen erwehren konnten. Wie überall vernichtete auch hier der Egoismus des Einzelnen mögliche Lösungen für die Allgemeinheit. Die Entsalzungsanlagen wurden allmählich genauso zerstört wie die Sonnenkollektorfelder in den Wüsten und die Windräder im Norden, die den Strom lieferten. Mit der Zerschlagung der letzten gemeinsamen Großprojekte zerfiel zugleich die Zusammenarbeit der Nationen – damit wurde das Ende bestehender Gesellschaften eingeläutet.
2
Peter Lobowski saß in seinem Zimmer in der Nichtprivilegierten-Siedlung und schwitzte. Er bemerkte, dass sein Wasservorrat dem Ende nahe war. Peter Lobowski musste nach draußen, um frisches Wasser zu besorgen. Die Wasserausgabestelle war zwar rund um die Uhr besetzt und strengstens bewacht, aber es war gerade erst früher Nachmittag und noch weit über 40 Grad. Das Leitungssystem wurde von der Regierung nicht mehr eingesetzt, weil durch die maroden Wasserleitungen zu viel des kostbaren Wassers verloren ging. In den bewachten Privilegierten-Siedlungen war natürlich alles in Ordnung und die Wasserversorgung funktionierte dort, wie es vor vielen Jahren noch überall selbstverständlich war.
Peter Lobowski suchte nach seinem UV-Reflektoranzug und der Atemschutzmaske, die er gegen etwas Obst eingetauscht hatte.
Er war – wie die meisten Nichtprivilegierten, die nicht bei der Armee waren – Gelegenheitsarbeiter und hatte feste Zuteilungen an Obst, Nahrung und Wasser sowie einen wöchentlichen freien Fernsehtag. Es gab nur noch drei Fernsehprogramme, die im Inhalt austauschbar waren, da sie dem gleichen Besitzer gehörten.