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Frank Bernheimer (aka Johannes Meissner) lebt seit 25 Jahren unbehelligt von seiner Familie ein gutes Leben in Südfrankreich als Lektor und Schriftsteller. Bis er eines Tages Besuch bekommt, der längst verdrängte Schuldgefühle weckt. Frank tritt die Reise seines Lebens an. In eine Vergangenheit, die er lieber hinter sich lassen würde, und in eine Zukunft, die zum Schicksal Europas wird.
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Seitenzahl: 269
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Markus 16, (15) Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur. (16) Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. (17) Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden, (18) Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird‘s ihnen nicht schaden; auf Kranke werden sie die Hände legen, so wird‘s besser mit ihnen werden. (19) Nachdem der Herr Jesus mit ihnen geredet hatte, wurde er aufgehoben gen Himmel und setzte sich zur Rechten Gottes.
An einem anderen Ort
Dienstag, 17. Juli 2037
Es wird nicht mein Tod sein, sondern meine Auferstehung. Daran glaube ich fest. Ich danke dir, Herr, dass du mich durch dieses dunkle Tal führen wirst und bis hier geführt hast. Gelobt sei deine Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Holen Sie ihn! Das ist meine Bitte, meine Anweisung. Gehen Sie schnell. Seien Sie nicht zögerlich. Tun Sie das Notwendige. Lassen Sie sich von Ihrem festen Glauben leiten. Dann wird sich alles fügen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Um Himmels willen! Schon viertel vor sieben! Madame Colombiers Bäckerei betrete ich eine Stunde später als üblich und fühle mich als Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Sie steht hinter der Theke, adrett gekleidet, gepflegt wie jeden Morgen und sortiert Baguettes in die Holzkästen. Man sieht ihr die siebzig Lebensjahre an, aber auf eine sehr angenehme Weise. Alter und Schönheit sind keine unvereinbaren Elemente. Madame Colombier führt die Bäckerei seit nunmehr fünf Jahren allein, denn ihr Mann verstarb damals mitten in der Backstube und seither bezieht sie die Baguettes von einem Bäcker in La Garde. Madame Colombier will einfach nicht aufhören mit dem Verkaufen von Brot und Croissants. Es ist ihr Leben.
Ich bleibe eine Weile vor der Theke stehen und mustere die Auslage. Vielleicht werde ich heute anstatt eines Baguette ein paar Croissants mitnehmen. Ich räuspere mich vernehmlich und trete einen Schritt vor, direkt an das Glas, beuge den Kopf über die Kante.
»Guten Morgen, Madame Colombier. Wie geht es Ihnen heute?«
Sie dreht sich um, stellt eine Kiste mit frischen Baguettes auf eine Holzablage.
»Ah, guten Morgen, Monsieur Bernheimer. Danke, mir geht es sehr gut. Und Ihnen?«
Sie weiß, dass sie langsam reden muss. Obwohl ich schon fast zwanzig Jahre hier lebe, fällt mir manch schnell gesprochener Satz noch schwer.
»Ich habe heute Morgen verschlafen, eine Stunde, und fühle mich jetzt ein wenig schuldig.«
Sie beginnt zu lachen.
»Ah, Monsieur Bernheimer, Sie sind eben ein Deutscher, nicht wahr? Mein Mann hat immer gesagt, dass die Deutschen sogar pünktlich zu ihrer eigenen Beerdigung kommen. Ja, mein Mann, Gott habe ihn selig.«
Für einen Moment geht ihr Blick zur Wand rechts von mir, an der eine Fotografie von ihm hängt. Der Klassiker eines Südfranzosen. Etwas gedrungen, kompakt, ein großer Schnauzer und eine Baskenmütze auf dem Kopf. Aber ein gutmütiger, großherziger Blick. Direkt unter der Fotografie stehen auf einem kleinen Regal mehrere vergilbte Auszeichnungen für das beste Baguette der Region Alpes-de-Haute-Provence. Die Erinnerungen verschwinden aus ihrem Blick und sie sieht mich wieder lächelnd an.
»Darf ich Ihnen ein Baguette einwickeln?«
»Heute sogar zwei Baguettes und geben Sie mir bitte vier Croissants.«
»Ohlala, Sie wollen doch heute kein Fest feiern? Haben Sie vielleicht Geburtstag?«
»Nein, nein, ich habe nur das Gefühl, dass ich heute mehr kaufen müsste als sonst.«
»Vielleicht bekommen sie Besuch?«
Sie wickelt meine Bestellung in dünnes Papier und steckt alles in eine Tüte, die sie vor mich hinstellt.
»Nicht, dass ich wüsste. Aber sie dürfen mich gerne besuchen, Madame Colombier.«
Sie kneift ein Auge zu, legt den schmalen Kopf schräg und lächelt mich an.
»Vielleicht mache ich das sogar einmal. Ich verabrede mich gerne mit jungen Männern.«
Ich muss lachen.
»Vielen Dank, zu viel der Ehre. Immerhin bin ich auch schon 66. Aber gegen Ihren Besuch hätte ich nichts. Ich würde Sie sogar abholen. Es ist immerhin ein Stück zu mir raus.«
Die Türglocke bimmelt, ein junges Pärchen kommt herein. Ich lege zehn Euro auf die Theke und zwinkere Madame Colombier zu.
»Sehen Sie, Madame, das ist jung«, und deute auf die beiden. »Da müssen wir uns anstrengen, um wieder so zu werden. Auf Wiedersehen, Madame Colombier.«
Ich nehme die Tüte und verlasse den Laden. Ihr Lachen verstummt mit dem Schließen der Tür. Auf dem kleinen Platz ist kaum was los. Die Sonne steigt bald über die Bergkuppen und es wird wieder heiß werden.
Quer über dem Platz ist ein Gemüsehändler. So schnell ich kann, wechsle ich die Seite. Ein Blick auf die vielen Auslagen, verschafft mir richtige Vorfreude auf das Abendessen. Trotzdem ich allein wohne, kaufe ich Gemüse für eine ganze Familie. Tomaten, Paprika, Gurken, Artischocken, Knoblauch, Zwiebeln, wunderschöne Brechbohnen und viel frisches Obst. Nach dem Bezahlen hole ich im Kiosk noch die wöchentliche Ausgabe der Nice-Matin. Immerhin gibt es die noch auf Recyclingpapier gedruckt. Hin und wieder kaufe ich eine. Vollbepackt schleppe ich alles zum Wagen, lade ein und klemme mich hinter das Steuer, aktiviere den Elektroantrieb. Es wird Zeit. Bevor es zu heiß wird, will ich daheim sein.
Unterwegs kommt mir auf der Straße nach Le Bourguet in schneller Fahrt der Postwagen entgegen. Der Fahrer blinkt auf, hupt kurz und wedelt mit der linken Hand. Ich hupe ebenfalls. Als ich von der Straße in das kurze Stück Weg zum Haus abbiege, kann ich schon den Wagen sehen, der auf der kleinen Stellfläche vor der Garage steht. Besuch? Aber nein, es gibt niemanden, der mich besuchen will, weil niemand meinen richtigen Namen kennt – außer meinem Verleger. Für die Menschen hier bin ich Monsieur Bernheimer. Das werden Touristen oder Wanderer sein, die meinen, hier parken zu können. Die wahrscheinlichste Lösung. Immerhin steht er so, dass ich bequem vorbeikomme, um in die Garage zu fahren. Garage ist übertrieben, Unterstand das bessere Wort. Es ist ein kleiner Felsüberhang. Auf der hausabgewandten Seite erreicht er den Boden, gegenüber habe ich mit Kreuzrahmen und Schalbrettern eine Wand eingezogen. Ich steige aus und trage den Einkauf ins Haus; nicht ohne einen Blick auf den Wagen zu werfen. Ein blauer Renault, das Modell mit Brennstoffzellen. Auf der Windschutzscheibe klebt am rechten, unteren Eck das Label einer Autovermietung in Marseille. Wahrscheinlich sind die Touristen mit dem Zug gekommen, um mit dem Renault den Seealpen einen Besuch abzustatten. Unklug bei dem vorhergesagten Wetter.
Im Haus ist es kühl. Und das den ganzen Sommer durch. Der Hauptgrund, warum ich es gekauft habe. Zweistöckig, mit fünf Zimmern, aus massiven Kalksteinen gemauert, wie an den Felsen geklebt. Zwei der Zimmer wurden in den Kalkstein hineingetrieben. Das Grundstück zieht sich bis hoch zum kleinen Pass, wo der Vorbesitzer Solarzellen installieren ließ. Auf dem Vordach sind Kollektoren und im Technikraum arbeitet eine Wärmepumpe. Das Ganze ist ein perfekter Kreislauf. Für dieses Kleinod habe ich in Deutschland alles aufgegeben und verkauft, was nur irgendwie an den Mann zu bringen war.
Baguettes und Croissants lege ich auf den Tisch, trinke ein Glas kalten Fencheltee und räume das Gemüse in die kühle Speisekammer am Ende des Flurs. Dann mache ich einen Milchkaffe und setze mich an den Küchentisch. Madame Colombier und ihr herzliches Lachen fallen mir ein. Eine Einladung zum Wochenende würde ihr sicher gefallen, Flammkuchen mit Schmand und Lauch oder vielleicht Chili und Rosmarin. Ja, das ist eine gute Idee. Aus der Tüte greife ich ein Croissant und beiße hinein. Köstlich! Mein Blick wandert zur Zeitung. Die Schlagzeile … FRONTEX bekommt Feuerbefehl im westlichen Mittelmeer! Wie viele Afrikaner sollen es noch werden?! … Wassernot im Mezzogiorno! Region bekommt zwei Meerwasser-Entsalzungsanlagen … Wiederaufforstungsprogramm in Region Makedonien stockt – wegen Waldbrandgefahr! … eine Seite weiter … Regionales … Präfekt hat sich an seiner Sekretärin vergriffen und steht vor Gericht … Tiefengrundwasser unter Narbonne entdeckt … Probebohrungen laufen! … Interessanter ist da schon der Artikel zu der Idee, die D962 von Castellane nach Moustiers-Sainte-Marie zu einer gut ausgebauten Straße zu machen. Beleuchtete Tunnel, Parkplätze mit Aussicht auf die Schlucht. Eine Raststätte … warum? Die Straße ist gut so wie sie ist. Nur für Touristen? Die brauchen Wasser, und Wasser ist Mangelware. Eine Seite weiter. Politik. Ich hätte besser keine Zeitung gekauft, denke ich, als ich das Foto sehe. Mein Bruder blickt mich an.
Mit den Knien schiebe ich den Stuhl zurück, stehe auf und gehe zum Fenster, das Bild meines Bruders im Kopf. Jetzt kaufe ich nicht oft eine Zeitung, und ausgerechnet heute ist ein zweiseitiger Artikel drin! Einen Fernseher habe ich nicht. Die wenigen Informationen zur Welt da draußen bekomme ich über das Internet. Selbst da lasse ich die Nachrichten links liegen. Dass es immer wärmer und trockener wird, dass die Stürme zunehmen, das kann ich fast täglich beobachten, dazu benötige ich weder Zeitung noch Internet. Die Ellenbogen lehne ich auf den kühlen Kalksteinsims und schaue hinaus. Plötzlich fällt mir auf, dass etwas anders ist. Das Auto ist weg. Kein Renault mehr im Hof. Ich gehe nach draußen und vergewissere mich, dass er wirklich verschwunden ist. Er muss den Platz völlig geräuschlos verlassen haben. Seltsam, bei dem vielen Kies der hier liegt. Ich zucke mit den Schultern, gehe wieder ins Haus und setze mich an den Küchentisch. Da ist es wieder. Das Bild meines Bruders. Mit einer unwirschen Handbewegung blättere ich um und schiebe sie beiseite. Das kann mir den ganzen Tag versauen. Jemand klopft an die Haustür. Ich bin so verblüfft, dass ich einfach sitzen bleibe und darüber nachdenke, ob es nun wirklich geklopft hat oder mein Verstand mir einen Streich spielt. Es klopft wieder. Es ist jemand vor der Tür, ganz klar.
»Moment! Ich komme gleich!«
Schnell springe ich auf, wische Croissantbrösel vom Hemd, gehe zur Haustür und öffne.
»Bonjour, Monsieur Bernheimer.«
»Ja, auch guten Tag, Herr, äh …«
»Guerlaine. Monsieur Guerlaine von der Präfektur in Digne-les-Bains. Darf ich kurz reinkommen?«
»Wenn es bei kurz bleibt, bitte sehr ...«
Ich mache ihm Platz. Monsieur Guerlaine kommt herein, drückt sich an mir vorbei und geht schnurstracks in die Küche, als wäre dies seine gewohnte Umgebung. Ich gebe der Haustür einen Schubs mit dem Fuß und folge ihm. Er ist einen Kopf kleiner als ich, elegant gekleidet und eine Wolke aufdringlichen Parfums schwebt im Raum. Mit einem kurzen Blick erfasst er, auf welchem Stuhl ich saß und wählt den gegenüberliegenden.
»Möchten Sie einen Milchkaffee, Monsieur Guerlaine?«
»Ja, bitte. Da sage ich nicht nein.«
»Vielleicht ein Croissant?«
»Nein, vielen Dank.«
Ich schäume Milch und gieße den Kaffee hinein. Etwas Zimt darauf, dann stelle ich ihm die Tasse vor die Nase, setze mich und schiebe die Zuckerdose in die Tischmitte.
»Zucker?«
»Ja, gerne.«
Er tut sich zwei gehäufte Löffel Zucker in den Milchschaum. Langsam sinkt er nach unten. Guerlaine rührt um und sieht mich an.
»Sie werden sich fragen, warum ich hier bin?«
»Ich frage mich, wie sie hierhergekommen sind?«
Sein Blick zeigt kurzes Erstaunen.
»Mit dem Auto natürlich.«
»Draußen steht kein Auto.«
Er lachte kurz auf und nimmt einen Schluck.
»Ja, stimmt, das Auto ist weg. Es ist der Renault. Meine Fahrerin und ich waren zu früh. Wir haben sie nicht angetroffen und sind spazieren gegangen. Dann sahen wir sie kommen. Meine Fahrerin musste weg, einige Sachen besorgen in Castellane.«
Er setzt die Tasse ab.
»Sie sind ein aufmerksamer und misstrauischer Mensch, Monsieur Bernheimer.«
»Wenn man hier draußen wohnt, bekommt man nicht so oft Besuch.«
»Das ist wohl wahr. Es sei denn, man hat Familie.«
»Da kann ich nicht mit dienen, mit Familie.«
Er mustert mich einen Augenblick abschätzend.
»Monsieur Bernheimer! Ich bin hier, weil ich Ihnen ein Angebot machen möchte. Die Präfektur überlegt, dieses wunderschöne Tal touristisch mehr zu erschließen. Ihnen gehört das Grundstück Nummer 214-Strich-96 am Pass oben. Dort steht ihre Strom- und Warmwasserversorgung. Wir würden ein Stück ihres Grundstückes gerne - wie soll ich sagen - tauschen. Gegen eine Erweiterung hier unten, links und rechts des Hauses.«
Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Was verstehen Sie unter touristisch mehr erschließen?«
»Nun ja, natürlich haben wir noch keine konkreten Pläne, mehr Ideen. Aber wir stellen fest, dass die Tourismusindustrie, und auch Privatleute, zunehmend an dieser Region Interesse haben. Bei einer Verbesserung der Infrastruktur würden wir natürlich Gelder aus Brüssel bekommen.«
»Was hat das mit meinem Grundstück zu tun?«
»Ja, also, das Sträßchen hoch auf den Pass und hinüber in das Tal ist nicht für schweren Verkehr geeignet. Wir würden die Straße gerne auf der gesamten Länge verbreitern, so dass auch Gegenverkehr für größere Fahrzeuge problemlos möglich wird. Dazu müssten wir aber ihr Grundstück stark beschneiden.«
»Verstehe. Als Ausgleich bekomme ich hier unten ein Stück dazu.«
Guerlaine lehnt sich erleichtert zurück. Endlich sind wir am Kernpunkt seines Anliegens.
»Sie haben es erfasst, Monsieur Bernheimer. Im Übrigen würde die Präfektur Ihnen ein etwas größeres Grundstück hier unten überlassen, so dass Sie mehr als ausreichend entschädigt würden.«
»Aber was wird aus meiner Strom- und Wärmeversorgung? Die muss ja dann verlegt werden?«
»Nein, Monsieur Bernheimer. Da können Sie beruhigt sein, das haben wir schon geprüft. Lediglich die Zuleitungen nach hier unten müssten verlegt werden. Selbstverständlich auf unsere Kosten und auch in besserer Ausführung als momentan vorhanden.«
»Hm, das hört sich natürlich nicht schlecht an. Trotzdem muss ich es mir genau überlegen. Denn ich habe gerne meine Ruhe. Und wenn der Verkehr ins Tal stark zunimmt, wird davon nicht mehr viel übrig bleiben, von der Ruhe. Bis zur Straße sind es von hier nur hundert Meter. Da wäre vielleicht eine Mauer sehr hilfreich …«
»Aber Monsieur Bernheimer, da bin ich mir fast sicher, dass die Präfektur Ihnen entgegen käme …«
Er grinst über beide Ohren. Dabei fällt mir auf, dass Guerlaine ein völlig unscheinbares Gesicht hat. Eines, dass ich mir sicher nicht merken werde. Er trinkt den Milchkaffee in einem Zug aus und steht auf.
»Der Milchkaffe war ausgezeichnet. Da muss ich Ihnen ein Kompliment machen. Dabei sind sie ja gar kein Franzose.«
»Monsieur Guerlaine, das habe ich natürlich geübt, bevor ich mich hier niedergelassen habe.«
Er lacht und kommt um den Tisch herum.
»Ich muss leider wieder gehen. In einer Woche tagt der Ausschuss für Tourismusentwicklung und danach werde ich mich wieder melden. Da haben Sie überlegt und wir unser Angebot präzisiert.«
Guerlaine reicht mir die Hand, ich schlage ein und werde überrascht von seinem festen Händedruck. Das traut man dem kleinen Mann gar nicht zu, vor allem nicht dem etwas konturlosen Gesicht.
»Gut, dann hören wir bald wieder voneinander.«
Ich weise ihm den Weg zur Haustür. Als er sie öffnet, fährt der Renault auf den Hof.
»Auf Wiedersehen, Monsieur Bernheimer.«
»Wiedersehen, Monsieur Guerlaine.«
Der Wagen hat gedreht und steht mit dem Heck zu mir. Guerlaine öffnete die Beifahrertür und steigt ein. Die Person auf dem Fahrersitz erkenne ich nicht. Wenn es eine Fahrerin ist, trägt sie das Haar sehr kurz. Und sie ist zweifellos größer als Guerlaine. Schulterzuckend schließe ich die Tür und gehe wieder in die Küche. Sieh an, im abräumen sind sie alle nicht groß. Ich spüle die Tasse, stelle sie in den Geschirrkorb, dann fällt mein Blick auf die Nice-Matin. Doppelseite vier und fünf, das Foto meines Bruders.
Es ist Abend geworden. Kurz vor acht. Zeit, das Abendessen zuzubereiten. Die Straßenerweiterung geht mir durch den Kopf. Wenn sie im kleineren Nachbartal nur ein paar Häuser bauen, dann wird es mit dem Verkehr sicher nicht so schlimm werden. Aber dieses ‚mehr erschließen‘ bereitet mir Unbehagen. Ist es nicht schon immer so, dass Behörden stark untertreiben, wenn es um potentiell ungeliebte Projekte geht? Ferienanlagen für tausende Menschen. Wochenendsilos für die arbeitsgeschwächte Bevölkerung von Nizza, Marseille oder Grenoble. Reisebusse, die sich der Wanderung der Aale gleich durch einen engen Kanal quetschen. Was für ein Alptraum! Andererseits … wenn sie mich schon nach meinem Grundstück fragen, dann bin ich die billigere Alternative. Ansonsten gibt es nur die Möglichkeit, auf halber Höhe zwischen den Kehren, einen Tunnel zu bauen. Viel zu teuer. Da kann ich durchaus ein bisschen pokern und entschließe mich, Guerlaine morgen anzurufen um ihn ein wenig zu quälen.
Nach dieser Entscheidung geht es mir wieder besser und ich widme mich dem Baguette. Der Länge nach aufgeschnitten, streiche ich die Olivenöl und Knoblauchpaste drauf. Es kommt für einige Minuten in den Herd. Aus Tomaten, Zwiebeln, Paprika und Bohnen bereite ich eine Gemüsebruschetta, verteile sie auf den geröstetem Brot und schiebe es nochmal für fünf Minuten in den Ofen. Währenddessen gieße ich ein Glas Chateau La Louviere aus dem Dekantiergefäß in ein Glas und setze mich an den Küchentisch, trinke vorsichtig einen Schluck dieses wunderbaren Weines und schmatze genüsslich. Rechts liegt die Nice-Matin. Inzwischen etwas verfleckt vom Gemüse schneiden. Ich blättere zu der Doppelseite, auf der das große Foto meines Bruders abgebildet ist. Der dazugehörige Artikel ist überschrieben mit: Präsident Meissner zu Besuch in Russland. Alt ist er geworden, obwohl nur zwei Jahre jünger. Tatsächlich weiß ich nichts mehr über meinen Bruder. Alles Wissen sind Erinnerungen, die mit jedem vollendeten Lebensjahr mehr Lücken bekommen. Der Backofen summt, schaltet sich ab und ich ertappe mich dabei, es zu ignorieren, einfach sitzenzubleiben, um mich zu erinnern. Aber ich habe Hunger. Also stehe ich auf und nehme das Abendessen heraus. Vier der Baguettestückchen lege ich auf einen Teller, dazu das Weinglas, dann gehe ich vors Haus auf die Holzbank. Blaue Stunde, die Sonne bereits hinter einem der westlichen Bergrücken verschwunden. Die Luft riecht nach Pinien, Kiefern und dem wilden Rosmarin, der hier in Unmengen wächst. Das Thermometer zeigt 26 Grad. Durchaus erträglich. Ich lehne mich zurück und genieße meine Bruschetta.
Gegen zehn Uhr bin ich fertig, satt, und versuche die Erinnerungen wieder zu vergraben. Wie Luftblasen steigen sie auf, blubbern, ploppen in meine Realität, mitten hinein in diesen schönen Abend. Ich will sie nicht. Arbeit ist vielleicht die beste Ablenkung. Nachdem ich die Küche aufgeräumt habe, gehe ich hoch ins Arbeitszimmer und aktiviere die Computerkonsole. In der Arbeitsplatte steckt der Rechner. Eine kleine, flache Schachtel, die ich bei Bedarf gegen eine leistungsfähigere Komponente austauschen kann. Das Bild kann ich auf ein Tablet übertragen, wenn ich im Bett liegen bleiben will, um zu schreiben oder auf einen Holoschirm unten in der Küche. Bequemer geht es nicht und kein Vergleich zu meiner alten Kiste. Ein Druck auf den Schirm aktiviert das System. Ich wähle den Maileingang. Wie erwartet ist einiges an Arbeit eingetroffen. Ich suche kleinere Textstücke und beginne zu lektorieren.
Kurz nach Mitternacht werde ich müde. Zeit aufzuhören. Ein müder Lektor kann einem Text und damit einer Autorin oder einem Autor gegenüber nicht mehr gerecht sein. Er produziert Mist. Ich lese noch einmal den überarbeiteten Text durch und muss schmunzeln. Die erste Hälfte eines Kinderbuchs. Ritterhelden aus längst vergangenen Zeiten reiten gegen böse Waldmenschen, die immer und immer wieder die Felder der Bauern plündern. Klar, der König muss was tun. Also setzt er seine Ritter in Bewegung. Aber die Waldmenschen sind schnell und im Wald so gut wie nicht zu entdecken. Ärgerlicherweise gibt es auch noch einen Drachen, der die Arbeit der Ritter behindert, weil er seine Ruhe will. Bis dahin jedenfalls ist der Text ordentlich geschrieben und in sich logisch. Ich habe einige der Begriffe ausgetauscht, um ihn lesefreundlicher für die Kinder zu machen und manche der durcheinandergewirbelten Zeiten angepasst. Aber im Großen und Ganzen ein gutes Stück Text. Morgen werde ich mich um den zweiten Teil kümmern. Ich schalte den Computer aus, gehe hinunter, um abzuschließen. In der Küche entdecke ich die Reste des herrlichen Weines. Kurz nach halb eins. Gerade recht für einen letzten Schlummertrunk auf dem Balkon. Es ist immer noch recht warm, aber zuweilen kommt ein kühler Luftzug. Wohl schon Vorbote des nahenden Herbstes. Das Wetter hat sich radikal geändert in den letzten Jahren. Was die Franzosen früher Mistral nannten, diese kalte Polarluft, die zwischen Pyrenäen und Alpen eingeengt und beschleunigt wurde, die gibt es nicht mehr. Zumindest fehlt ihr die Kälte. Hier oben in den Bergen ist es zum Aushalten mit der Hitze. Trotz allem bin ich froh, dieses Haus zu haben, denn die Hitze wird langsam zu einer Dauereinrichtung. Das sollte mich mit 66 Jahren aber nicht mehr lange beschäftigen …
Ich lege die Füße auf den Tisch, genieße den Wein in kleinen Schlucken. Was für ein ausgezeichneter Jahrgang und welch talentierter Kellermeister. Viele der kleinen Winzer haben inzwischen aufgegeben, weil die Böden zu trocken sind. Besonders im Languedoc ist die Lage schrecklich. Und wenn es regnet, dann kommt das Wasser schlagartig in rauen Mengen, der Boden kann gar nicht alles aufnehmen. Zwischen diesen Gedanken huschen Schatten vor meinem Balkon vorbei. Fledermäuse. Wunderschöne Tiere, aber so selten geworden. Es ist ihre Nacht und für mich Zeit ins Bett zu gehen.
Kein Vogelgezwitscher. Warum nicht? Schon wieder habe ich verschlafen. Heute empfinde ich es jedoch als nicht so schlimm. Meine Vorräte sind aufgefüllt, das Wochenende kann kommen. Und Arbeit gibt es genug. Trotzdem denke ich an das fehlende Zirpen und Trällern. Vielleicht war es da und ich hab es einfach nicht gehört. In meinem Alter ist mit Ausfällen zu rechnen, das weiß doch jeder Mensch. Mein Gehör war Zeit meines Lebens außerordentlich gut gewesen. Eine feste Größe, auf die ich mich immer verlassen konnte. Ich erwäge einen Arztbesuch in der nächsten Woche. Leicht beunruhigt gehe ich ins Bad und stelle mich unter die Dusche. Das lauwarme Wasser bringt andere Gedanken. Heute morgen will ich unbedingt den Kinderbuchtext fertig bekommen, um dann vielleicht noch ein zweites Manuskript zu beginnen. Außerdem wird es Zeit, mich um meine Kurzgeschichtensammlung zu kümmern, die ich schon fertig layoutet habe. Ich stelle das Wasser ab, steige aus der Dusche und schaue in den Spiegel. Rasieren? Nein, keine Lust. Also abtrocknen und anziehen. Dabei fällt mir auf, dass keine gebügelten Hemden mehr im Schrank liegen. Es gibt lästige Dinge in dieser Welt und bügeln gehört eindeutig dazu. Ich öffne das Fenster und gehe runter in die Küche.
Mit einem Druck auf den kleinen Schirm aktiviere ich die Nachrichtenkonsole in der Wand, die Feeds trudeln ein. Wenig Interessantes dabei. Nachrichten aus meiner alten Heimat. Ich schalte ab und mache Milchkaffee. Guerlaine kommt mir in den Sinn. Den werde ich heute Morgen anrufen. Vielleicht lässt sich ja ein wenig mehr aus der Sache herausholen. Zum Beispiel denke ich da an einen zweiten Frischwasserbrunnen Richtung Talausgang. Links und rechts des Grundstücks ist niederes Buschwerk, kleinere Bäume und ein paar Pinien. Davon kann ich getrost etwas abgeben. Ein zweiter Brunnen hingegen ist Gold wert. Ich schlürfe einen Schluck Milchkaffee, schalte den Kommunikator ein. Die wunderschön samtene Stimme begrüßt mich und teilt mit, dass heute Freitag der 31. Juli 2037 ist und sich die EU-Region Ligurien-Alpes-de-Haute-Provence auf 38 Grad Tagestemperatur freuen kann. Hurra. Ein ganzer Tag im Haus.
Ich sage Operator ins Mikro. Der kleine Bildschirm wird hell. Eine gut aussehende Computerdame fragt nach meinem Verbindungsziel. Die Präfektur in Digne-les-Bains. Sie bedankt sich und verbindet mich mit der Präfektur. Die bestätigt die Verbindungsanfrage und eine echte Dame schaut freundlich in die Kamera. Ein paar ihrer Haare bewegen sich. Klimaanlage.
»Guten Tag, Monsieur. Ich bin Madame Reynaud. Was kann ich für Sie tun?«
»Ebenfalls einen guten Tag, Madame Reynaud. Gestern war jemand von der Präfektur bei mir, um über einen Grundstückskauf zu reden, weil die Präfektur dort eine Straße verbreitern möchte. Der Mann heißt Guerlaine. Ich würde ihn gerne sprechen.«
»Wie ist ihr Name?«
»Bernheimer.«
»Einen Moment, Monsieur Bernheimer.«
Sie verschwindet vom Monitor und das Wappen des Départements erscheint, eine Musik in Dauerschleife im Hintergrund. Die Melodie kommt mir bekannt vor … irgendein Schlager vielleicht. Furchtbar. Madame Reynaud schaut mich unvermittelt wieder an.
»Tut mir leid, Monsieur Bernheimer, aber einen Monsieur Guerlaine haben wir nicht in der Präfektur. Wo wohnen Sie denn?«
»In Le Bourguet, südlich von Castellane. Rue Brenon, Nummer 18.«
»Einen Moment …«
Wieder ist sie weg. Ich bin verwirrt, beschließe aber abzuwarten. Vielleicht nur ein derart neues Projekt, dass es sich noch nicht bis in alle Abteilungen herumgesprochen hat. Behörden … die linke Hand weiß nicht was die rechte Hand tut. Madame Reynaud taucht wieder auf, kratzt sich den Scheitel und schaut zerknirscht.
»Von welcher Abteilung war denn dieser Monsieur Guerlaine?«, will sie wissen.
»Er nannte die Abteilung Tourismusentwicklung.«
»Moment, Monsieur, ich stelle Sie zu Monsieur Canard durch, den Abteilungsleiter. Wiedersehen, Monsieur Bernheimer, vielen Dank für Ihren Anruf.«
»Ja, auf Wieder…«
Sie ist schon weg. Stattdessen schaue ich auf das unfreundlich wirkende Gesicht dieses gewissen Monsieur Canard.
»Monsieur Bernheimer, was haben Sie denn da für eine Geschichte auf Lager?«, fragt mich das unfreundliche Gesicht in einem weitaus unfreundlicheren Ton. Als hätte ich ihn bei seiner wichtigsten Arbeit gestört.
»Also, Monsieur Canard, ich entschuldige mich vielmals für die Störung, aber gestern war ein Herr bei mir. Ein Monsieur Guerlaine. Er hatte einen Dienstwagen und samt Fahrerin. Ich bat ihn herein und er fragte mich, ob ich bereit wäre, ein Stück Land oben am Pass zum Nachbartal abzugeben. Im Gegenzug würde ich hier unten etwas dazubekommen.«
»Für was sollen Sie denn das Stück Land abgeben?«
»Für die Verbreiterung der Straße, so dass auch größere Fahrzeuge im Gegenverkehr gut passieren können.«
Monsieur Canard schweigt und starrt mich an. Als müsste er überlegen, ob ich ihn in großem Stil veräppeln wollte oder nicht. Auf seinem Gesicht zeigen sich plötzlich tiefe Falten. Er hebt den Finger und beginnt ihn hin und her zu schwenken.
»Monsieur Bernheimer … ich gehe mal davon aus, dass diese Geschichte die Wahrheit ist, denn sonst würde ich ärgerlich werden ob dieser Zeitverschwendung …«, er holt Luft. »Wir haben keine Abteilung für Tourismusentwicklung. Wir haben keinen Monsieur Guerlaine, wir planen keine Verbreiterung irgendeiner Straße in und um Ihren Wohnort, und Dienstfahrzeug mit Chauffeur steht nur dem Präfekt zu.«
Wir fixieren uns für zwei Sekunden.
»Ja, das versteh ich aber wirklich nicht. Wer war denn dann der Mann?«
Canard drehte die Handflächen nach oben.
»Tja, Monsieur, ein Spinner vielleicht? Möglicherweise ein privater Investor, der mal abklopfen wollte, was in der Gegend geht und was nicht? Wer weiß das schon. Wir jedenfalls nicht. Ich wünsche einen guten Tag«, sprichts und beendet die Verbindung.
Ich schaue noch eine kurze Zeit auf das Display, schalte das Gerät aus und überlege hin und her … privater Investor, das ist ja durchaus eine Möglichkeit. Da kann mir ja eigentlich jeder alles erzählen. Ich hätte mir den Dienstausweis zeigen lassen sollen, ich Idiot. Na ja, er wird vielleicht wiederkommen, dann werde ich ihm die Meinung geigen. Unglaublich, was einem alles so passieren kann. Mit einem großen Zug leere ich den Milchkaffee und entschließe mich zu arbeiten.
Kurz nach zwei kommt eine bleierne Müdigkeit, ich gähne ausgiebig, stehe auf und drücke das Kreuz durch. Das lange Sitzen ist doch schon recht anstrengend für mein in die Jahre gekommenes Rückgrat. Obwohl ich nie ernsthafte Schwierigkeiten damit hatte, komme ich nicht umhin, es ein wenig zu schonen. Ich gehe hinunter in die Küche und als ich beiläufig auf den Kommunikator schaue, fällt mir wieder Madame Colombier ein. Spontan stelle ich eine Verbindung her. Es dauert etwas, bis sie antwortet, aber dann sehe ich ihr Gesicht auf dem kleinen Monitor. Offenbar hat sie Schwierigkeiten mich zu erkennen.
»Ja, bitte? Wer ist denn da?«
»Ich bin es, Monsieur Bernheimer.«
Ihr Gesicht erhellt sich.
»Oh, Monsieur Bernheimer. Das ist aber eine Überraschung. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Madame Colombier, ich möchte Sie zu einem Flammkuchenessen einladen. Hier bei mir. Wäre Ihnen der Samstagabend genehm?«
Sie ist für einen Augenblick still und dreht kurz ihr Gesicht weg. Als wären wir beide noch Teenager und sie müsste sich erst umdrehen, um ihren Vater zu fragen.
»Das kommt jetzt aber sehr überraschend. Sie wollen mich doch nicht verführen?«
»Nur zu einem Flammkuchen.«
Sie legt den Kopf schräg und lächelt.
»Ich glaube, ich muss mal bei Gelegenheit mit meinem Mann reden. Er hat sich wirklich getäuscht in den Deutschen. Ich werde also bei Ihnen Flammkuchen essen, aber wie komme ich zu Ihnen raus?«
»Wie das mit den Deutschen ist, weiß ich nicht genau, in meinem Fall bin ich mir jedoch sicher. Natürlich hole ich Sie ab. Das ist doch selbstverständlich. Und abends werde ich Sie wieder gesund nach Hause bringen.«
»Wann kommen Sie?«
»Ich würde sagen, um sechs Uhr morgen Abend.«
»Das ist mir recht.«
»Prima, Madame Colombier. Ich freue mich. Bis morgen also.«
»Bis morgen, Monsieur Bernheimer. Und vielen Dank.«
Sie schaltet ab. Toll, mein erstes Treffen mit einer Dame seit … verflixt, es fällt mir nicht ein. Aber meine Freude ist groß. Nicht nur, dass ich mal wieder Flammkuchen machen werde, plötzlich ist da ein lange unterdrückter Wunsch nach etwas Geselligkeit, nach einem Gespräch. Die Dialoge in meinen Geschichten sind gut, begeistern mich, doch letztlich ist es nur mein zweites Ich, mit dem ich diskutiere. Zwischen den Alltäglichkeiten jahraus, jahrein ist mir wohl gar nicht aufgefallen, dass Worte eines Gegenübers eine Wohltat sein können – wenn es denn ein kluger Mensch ist. Im Kopf gehe ich die in meiner Speisekammer gelagerten Zutaten durch und bin mir sicher, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.
Seltsamerweise denke ich kurz an Guerlaine, das konturlose Gesicht. Der Kerl hat mir ein Märchen aufgetischt, mich für dumm verkauft. Ich rufe spontan den Operator an, lasse mir Telefonnummern und Adressen aller Guerlaines im Umkreis von 100 Kilometern an meinen Maileingang schicken. Vielleicht kann ich anhand der beigefügten Berufsbezeichnungen etwas finden, ihn ausfindig machen. Doch jetzt kommt erst das Frühstück, ein Milchkaffee, die restlichen Bruschettas von gestern Abend. Als ich mich zum Kaffeeautomat umdrehe, höre ich ein Fahrzeug kommen, gleich darauf quietschende Bremsen. Die Post. Nur die besitzt ein so altes Auto. Ich öffne und eine Wand aus Hitze drängt sich mir entgegen. Der Mann von der Post trägt zwei Pakete und kommt zügig zum Eingang.
»Kommen Sie rein. Hier ist es schön kühl.«
Er marschiert schnurstracks in die Küche, murmelt ein Hallo im Vorbeigehen. Ich folge dem penetranten Schweißgeruch. Die Pakete liegen bereits auf dem Küchentisch, der Zusteller sitzt auf einem Stuhl und zieht den Scanner über die Paketmarken.
»Möchten Sie etwas trinken? Bei dieser Hitze muss man viel trinken, zumal in ihrem Beruf.«
»Ja, gerne, vielleicht ein Glas kaltes Wasser.«
»Kommt sofort.«
Ich fülle ein großes Glas und stelle es auf den Tisch. Neugierig schaue ich dabei auf den Adressaufkleber des einen Paketes. Es ist die Bettwäsche. Der Aufkleber ist versetzt, außerhalb des vormarkierten Feldes. Allerdings ist ein exakt gesetzter Kleberfleck im Rahmen, nur der Adressaufkleber ist versetzt. Nicht deckungsgleich. Auf dem zweiten Paket ist alles in Ordnung. Der Zusteller trinkt das Wasser in einem Zug aus und hält mir den Scanner unter die Nase.
»Bitte ihren Fingerabdruck.«
Ich drücke den Daumen auf das Glas. Die Echtheit wird bestätigt.
»Vielen Dank. Auch für das Wasser.« Er steht auf. »Ich muss weiter. Die Karre ist noch fast voll. Und hier draußen braucht man ewig.«
Aus der Hosentasche angle ich einen Zehn-Euro-Schein. »Hier. Für die Mühe.«
»Oh, vielen Dank, Monsieur Bernheimer. Das ist sehr freundlich.«
Er verabschiedet sich überschwänglich und ist wieder weg. Meine Pakete schneide ich mit dem großen Messer auf. Im größeren ist die Sommer-Bettdecke. Das zweite Paket enthält die bestellten Kopfkissen. Wunderbar. Ich leere die Kartons, räume das Füllmaterial aus und werfe alles in den Recyclingeimer. Wieder stutze ich. Zwei unterschiedliche Materialien. Popcorn bei den Kissen und geschreddertes Papier im anderen Karton. Da ist ihnen wohl das Material ausgegangen. Das Bettzeug kommt in die Wäschekammer. Bevor ich mich damit zudecke, will ich es mindestens einmal waschen. Sicher ist sicher.