Paul und die Jungs - Heiko Tessmann - E-Book

Paul und die Jungs E-Book

Heiko Tessmann

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Beschreibung

Köln, Ende 1980. Andi und Heinrich sind dicke Freunde. Paul ist schlaksig, voller Tics, unsichtbar, in einer dysfunktionalen Familie. Langsam entwickelt sich eine Beziehung zwischen Heinrich und Paul. Wechselwirkungen beginnen. Paul blüht auf in der Freundschaft. Bald stellt sich heraus, dass er homosexuell ist, in Heinrich verliebt und hat Fluchtgedanken. Nur weg von Schule und Heinrich, der eine Freundin hat. Es kommt zu einer intimen Annäherung, das lässt Heinrichs Weltbild wanken. Paul beginnt jedoch sein neues Leben und Heinrich bleibt unsicher zurück. Probiert aus und muss zusehen, wie Paul sich zusehends von ihm entfernt, im Mahlstrom von tradierter Gesellschaft, Konvention, Anfeindung, Entwürdigung.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Schachmatt

Kapitel 2: Um Gottes willen, Junge!

Kapitel 3: Es ist nichts

Kapitel 4: Was ist schon normal?

Kapitel 5: Wenn der Damm bricht

Kapitel 6: Das Verblassen beginnt

Kapitel 7: Viele Wege führen ins Ich

Kapitel 8: Wer schert sich drum

Kapitel 9: Sackgassen

Kapitel 10: Versuche

Kapitel 11: Wo bin ich

Kapitel 12: So weit

Kapitel 13: Abtauchen

Kapitel 14: Kreuzungen

Kapitel 1

Schachmatt

Andis Ellenbogen stupst meine rechte Seite. Ich hebe den Kopf, folge seinem Blick über den kleinen Schulhof zu den Fahrradstellplätzen. Zwischen den beiden rechten Wellblechunterständen sitzt Paul auf einem Waschbetonkübel, beide Hände vor dem Gesicht. Unter der Kapuze seines ausgewaschenen Bundeswehr-Parkas verschwindet der kleine Kopf, die tiefschwarzen Haare; ungeschnitten oder selbst geschnitten, darüber streiten wir lediglich hinter vorgehaltener Hand. Oder machen uns darüber lustig. Seit wir ihn kennen, hat Pauls Frisur Ähnlichkeit mit einer wilden Wiese, die einmal im Jahr mit stumpfer Sense gemäht wird.

»Was ist mit ihm?«, höre ich Andis Frage und kann sie nicht beantworten. Schweige also lieber. Doch Andi stupst mich wieder. »Geh doch mal hin. Ich glaube, mit dir kommt er noch am ehesten zurecht.«

Ich schau ihn an und weiß, was er meint, habe aber keine Ahnung, was ich zu Paul sagen soll. Obwohl wir schon fünf Jahre in einer Klasse sitzen, ist er so was wie die Haare auf unser aller Hinterkopf. Wir müssen uns nicht die Mühe machen, sie sehen zu wollen. Sie sind einfach gewohntermaßen an Ort und Stelle. Alles gut.

»Letzte Woche hatte er ein Schachbuch dabei und im Unterricht gelesen. Du spielst doch Schach …« Andis Gesicht ist frei vom üblichen Dauergrinsen. Er hebt kurz beide Augenbrauen und nickt in Pauls Richtung. »Na los, geh schon. Auf mich reagiert er gar nicht. Auf dich wird er hören.«

»Wie kommst du da drauf?«

Andi zuckt mit den Schultern. »Das tun wir fast alle.« Er grinst verlegen. »Noch nicht gemerkt?«

Ohne zu antworten, lege ich den Asterix in seinen Schoß und stehe auf, ziehe die Jacke straff und schaue mich um. Noch zehn Minuten übrig von der Großen Pause. Danach Mathe. Ich seufze und gehe die wenigen Meter zu Paul. Mit jedem Schritt schält sich die schlaksige Figur mehr aus dem Halbschatten der rostigen Blechhäuschen, die dünnen Beine, knochigen Hände. Kurz davor kann ich das Zittern erkennen, das durch Pauls Körper rollt. Alle paar Sekunden, von oben nach unten, dann umgekehrt. Zwischen seinen Handrücken läuft Rotz. Paul weint. Weitere Schritte … Paul schluchzt. Ich denke an Mutters zusammengefaltete Stofftaschentücher – die ich nie benutze, weil ich es hasse, nasse Klumpen in der Hosentasche zu haben – und ziehe ein sauber gebügeltes hervor, exakt gefaltet. Dann bin ich bei ihm. »Hier, Paul! Ein Taschentuch. Schenk ich dir. Ich kann es eh nicht leiden.«

Seine Unterarme senken sich in den Schoß. Ein Gespinst aus Rotz zieht Fäden zwischen Hände und Gesicht. Ich bin versucht, das Weite zu suchen, falte aber das Tuch auseinander und hebe es vor sein Gesicht. »Komm, lass uns mal in den Waschraum gehen.«

Er nickt mit gesenktem Kopf, greift nach dem Taschentuch und wischt sich notdürftig sauber. Dann springt er auf, wie nur Paul es kann. Mit seinen vielleicht knapp 45 oder 50 Kilo macht er jeder Sprungfeder Konkurrenz. Die Schwerkraft hat Mühe, ihn auf dem Planeten zu halten. Vom Sportunterricht ist er befreit, denn alles was Paul kann, ist hüpfen. Einhundert Meter hüpfen, rekordverdächtig. Hochsprung könnte seine Disziplin sein, würden nicht bei jedem Versuch alle Gliedmaßen tentakelgleich nach allen Seiten ausschlagen, sämtliche Latten in jeder Höhe reißen. Und so hält er eben nur das Klemmbrett der Sportlehrer, federt ihnen hinterher, darf Trillerpfeifen und Stoppuhren tragen. An manchen Tagen suche ich vergeblich die Hundeleine, um das Bild eines devoten Schülers zu vervollständigen.

Kaum jemand redet mit Paul. Selbstverständlich unsere Lehrer; aus beruflichen Gründen. Nein, nicht ganz. Pauls Gehirn ist ein Fotoapparat. Ab und zu laufen Wetten, wie viele Bilder er sich merken und in korrekter Reihenfolge wiedergeben kann. Meistens nehmen wir die Fotos aus Playboy oder Hustler und Paul wird rot. Aber er bringt die richtige Frau in der richtigen Position mit Seitennummer. Vierzig dieser Hochglanzseiten schafft er ohne Probleme; solange wir keine Details erfragen, etwa nach der Farbe der Brustwarzen oder ob wer große oder kleine Schamlippen hat. Er sagt dann ‚Seite 32, hochkant, rothaarig oben und unten … linkes Bein auf Stuhl, blickt von unten nach oben, rechts über ihr eine Kuckucksuhr und eine weiße Federboa um die Hüften‘. Wenn wir ihn fragen, ob er sich abends einen runterholt, er müsste ja nur die Fotos abrufen, dann senkt er den Kopf und beginnt an den Nägeln zu kauen. Paul … seit der fünften Klasse bei uns, und doch nur eine Art Tasche, die man mitschleppt.

Im Waschraum platscht die nächste Ladung Wasser auf die elfenbeinfarbigen Fliesen.

»Paul! Sag mal, muss das sein?! Der ganze Fußboden ist nass!«

Ich schiebe ihn beiseite und zweifle an meinem Verstand, einem Fünfzehnjährigem zeigen zu wollen, dass die Handschale langsam gefüllt und zielgerichtet zum Gesicht geführt wird, man möglichst alles Wasser nutzt, nicht mit Wucht versucht, ein Stückchen Haut zu treffen. Parka, Hosenbein, Schuhe, der Papiertuchhalter, alles ist nass. Einer aus der 9a kommt herein, sieht uns, fängt an zu lachen, schiebt sich amüsiert an uns vorbei. Ich stelle mich ihm in den Weg. Schaue auf ihn herab, einen Kopf unter mir. »Was gibt es da zu lachen?«

»Nix.« Er hustet, den Blick gesenkt.

Paul zieht zu viel Papiertücher aus dem Kasten. Die Hälfte fällt auf die nassen Fliesen.

»Meine Güte, Paul!«, rufe ich lauter als gewollt und greife nach seinem Parka-Kragen. Der Kleine vor mir lacht. Sofort ziehe ich das Knie in seinen Schritt. Er sinkt auf den Boden und japst nach Luft. Ich fühle, wie ihm schlecht wird. »Wir gehen, Paul!«

»Okay, Heinrich …«

»Kleiner, denk dran! Du bist ausgerutscht!«, sage ich im Rausgehen zu dem Kerl auf den nassen Fliesen und weiß, er wird es sich merken. Paul hält mir das Taschentuch vor die Nase. »Behalt es, um Gottes willen! Oder schmeiß es weg! Deine Mutter soll dir mal ein paar Taschentücher mitgeben …«

»So was haben wir nicht«, erwidert er und bleibt stehen. Am Eingang zur kleinen Aula, neben den Sitzgruppen. Dann sieht er mich an mit eng zusammenstehenden Augen. Tiefschwarze, kleine Pupillen in einem schmutzigen Weiß. Auf den Wangen alle Zentimeter schwarze Stoppel, die in jede Richtung sprießen. Und das seltsam eingefallene Gesicht, Hohlwangen. Er erinnert mich an Bilder aus einem der Kriege, die wir in Politik durchgenommen haben. Vietnam, vor vier Jahren zuende gegangen oder Biafra. Ein Horror, sich die Fotos anzusehen. In Pauls rechtem Augenwinkel formt sich eine Träne.

»Scheiß auf Mathe, Paul«, sage ich, drücke ihn auf einen der Stühle und setze mich daneben, betrachte seine ganze Kargheit, die dünnen Hände, blasse Haut im Parka. Er sagt nichts, aber blickt mich unentwegt an als wäre dies sein erster Tag in unserer Klasse und ich eine neue Wesenheit in seinem Leben. »Was ist los?«

»Andi hat gesagt, du spielst Schach.«

Ich bin überrascht. Dass Andi mit Paul redet, ist mir neu. Aber tatsächlich gibt es zwei oder drei der Mädchen, die sich neuerdings bei Mathe helfen lassen und Pauls Fotoapparat im Hirn nutzen.

»Ab und zu, mit ein paar Kumpels. Mehr so zum Spaß.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Ich hab mir das Buch von Bobby Fischer gekauft und schon alle Partien durchgespielt«, verkündet er stolz.

»Alle Achtung, Bobby Fischer, das ist beeindruckend …«

»Du kannst heute zu mir kommen und ich zeige dir das Buch. Dann können wir ein paar Partien nachstellen.«

»Ich, äh …«

»Bitte … das würde mich freuen.«

Ich sehe zur Decke über Paul. Abgehängte Elemente mit Löchern für die Belüftung, Neonlampen und ein überraschter Ausruf unseres Erdkunde-Lehrers, der vorbeigeht.

»Haben die Herren jetzt keinen Unterricht?«

»Paul ist kotzübel, Herr Burbacher, und ich halte ihm ein bisschen die Hand«, gebe ich über die Schulter blickend zurück.

»Vorbildlich, Herr Konstantin. Soziales Engagement. Wird Ihnen gut tun.«

»Danke«, rufe ich gegen die Decke und Paul wird rot. Mit dem Parka-Ärmel wischt er endlich die Träne weg und nickt mich an. »Ich komme um drei Uhr«, sage ich.

*

Mit dem Rad benötige ich zwanzig Minuten von Bayenthal in die Mommsenstraße, lehne das Peugeot gegen eine heruntergekommene Hauswand und schaue nach oben. Hochparterre und zwei Stockwerke, graue Ado-Gardinen hinter Fenstern, deren Rahmen sicher mal weiß gewesen sind. Das jetzt farblose Holz ist fahl und rissig. Zwei Alte gehen hinter mir vorbei, reden Belangloses, einer von ihnen zieht aus bronchialen Tiefen einen Klumpen Schleim und platziert ihn neben die Laterne. Mich ekelt es und ich denke daran, den Kopf des Idioten gegen den Laternenpfahl zu schlagen, klingle aber stattdessen bei Paul. Keine Sekunde später öffnet sich über mir quietschend ein Fensterflügel. Fast habe ich den Verdacht, er hat – auf einem Stuhl sitzend – die ganze Zeit auf mich gewartet.

»Heinrich!«, ruft er, nur einen halben Meter über meinem Kopf.

»Schon gut. Bin nicht taub! Sag mal, kann ich mein Fahrrad woanders hinstellen? Ich schätze, hier draußen werden bald zwei stehen.«

Paul grinst und schließt den Flügel. Sekunden später ist er an der Tür, winkt mich und mein Rad hinein. Fünf Stufen zum Hochparterre, er ist oben, stoppt und dreht sich zu mir. Sofort bemerkt er mein Zögern. Noch stehe ich an der Schwelle der zerkratzten Holztür mit ihren abgegriffenen Messingbeschlägen, verharzten Scharnieren. Steinfliesen auf dem Boden, über Jahrzehnte ausgetreten vom Kommen und Gehen der Menschen. Aus dem offenen Rechteck der Eingangstür strömt ein besonderer Geruch, der sicher seit dem Krieg hier drin wohnt, noch das Aroma der im Haus Verstorbenen enthält. Süßlich, alt, mit verkochtem Gemüse und zu heiß gewordenem Frittieröl. Dazwischen Waschpulver und nasse Wäsche.

»Heinrich?«

Ich nicke ihm zu, halte den Atem an und steige die Stufen hoch, kurz einen Blick auf vier zerstörte Briefkästen von insgesamt sechs. Zwei Kinderwägen im Abgang zum Innenhof, neben etwas, das mal ein Regal gewesen ist. Paul folgt jedem meiner Blicke, heftet sich an das, was ich sehe. Er wird rot.

»Ist nicht so toll hier, was?«

Ich winke ab und er nimmt das Fahrrad, geht damit in die Wohnung. Ich bin erstaunt, haste hinterher. Der Türgriff ist fettig. Also kicke ich die Tür mit dem Fuß zu. Eine schwache Lampe mit nikotingelbem Pergamentschirm leuchtet den Flur nur ungenügend aus. Allerlei Gerümpel ist an der rechten Wand abgestellt. Geschirrstapel, Gläser, Besteckkästen und davor Schuhkartons, Blumenerde samt großen und kleinen Tontöpfen, Pflanzwerkzeug. Dazwischen navigiert Paul mit dem Fahrrad hindurch und biegt in ein Zimmer auf der rechten Seite ein. Es klappert, dann lugt er wieder heraus und winkt mich zu sich. Alle Türen sind zum größten Teil aus gelbem Milchglas. Hinter jeder ist tiefe Nacht. »Sag mal, Paul, warum ist es hier so dunkel? Draußen ist heller Tag.«

»Meine Mutter hat Migräne«, erklärt er mit gepresster Stimme. »Deswegen müssen wir bisschen leise sein. Sie arbeitet nachts drüben beim Großmarkt.«

Ich nicke und presse die Lippen zusammen, schleiche übervorsichtig am Gerümpel vorbei, hinein in Pauls Zimmer und trete in eine andere Welt. Bett, Schreibtisch, drei Stühle, ein Regal, ein Kleiderschrank. Alles laienhaft weiß gestrichen, die getrockneten Pinselstriche kreuz und quer. Der Boden sauber, fast wie geleckt. Auf der Fensterbank ein Kaktus, handgroß.

»Setz dich, Heinrich. Willst du was trinken?«

»Hm, was gibt es denn?«

»Gelben Sprudel.«

Auf gelben Sprudel habe ich keine Lust. »Okay, dann gelben Sprudel.«

Paul verschwindet leise und kehrt nach kurzer Zeit zurück. Keinen Laut habe ich gehört, weder die Kühlschranktür noch klirrende Gläser. Seine Mutter wird es ihm danken, dass er so lautlos sein kann. Ebenso sanft stellt er Flasche und zwei Gläser auf den Tisch, dreht sich zum Regal, sucht in den Büchern. Ich hebe mein Glas gegen die Deckenlampe, entdecke keinen Dreck, schenke beide Gläser voll und lehne mich an, während Paul mit zwei Fingern durch die Buchreihen flippt.

»Du hast ganz schön viele Bücher.«

»Hätteste mir gar nicht zugetraut, was, Heinrich?«

»Schwer zu sagen. Ich kenne dich nicht so gut. Du erzählst nix, wir fragen dich nix …«

»Du fragst mich nichts«, unterbricht er mich. Ich stutze.

»Ist es für dich wichtig, was ich tue?«

Offenbar ist das Buch nicht im Regal zu finden und Paul bückt sich unter das Bett, gibt einen Jauchzer von sich, kommt federnd hoch, einem Flummi ähnlich, legt Bobby Fischer auf den Tisch und setzt sich. Er grinst breit. Kein Haar in seinem schwarzen Schopf ist gleich lang wie das nächste, geschweige denn zeigen sie in die gleiche Richtung. Ich trinke einen Schluck. Dieser gelbe Sprudel schmeckt besonders mies. Meine Frage bleibt unbeantwortet, stattdessen greift Paul in eine Kiste, holt ein klappbares Schachbrett heraus, öffnet es, entnimmt jeweils einen weißen und schwarzen Bauern, bringt die Hände hinter seinen Rücken und tauscht die Bauern aus. Er will jetzt Schach spielen. An allen vier Wänden sehe ich weiße Tapete, ohne ein Foto, kein Poster, nicht mal das kleine Loch einer Reißzwecke. Auch keine Musik. Nur Bücher und die paar Möbel. Pauls Fäuste schnellen vor. »Welche Hand?«

Ich tippe auf seine linke Faust. Weiß.

»Weiß beginnt, schwarz gewinnt«, sagt er und nickt in einem fort, während ich die Figuren aufstelle.

»Arbeitet dein Vater auch in der Nacht?«, frage ich beiläufig, um überhaupt irgendwas zu sagen. Die Bewegungen seiner Hände frieren ein. Das rechte Pferd fällt aufs Brett und stößt einen Bauern um. Statt mich anzusehen, legt er den Kopf schräg. Eine ganze Zeit lang. Meine Figuren stehen. Seine nur zur Hälfte. »Paul? Alles in Ordnung?«

Mit einem Seufzer baut er weiter auf, der Kopf geht in die Höhe, sein Rücken wird gerade, fast steif. Ein Besenstiel auf einem Stuhl, fällt mir ein. Oder ein Brett. »Der ist tot«, sagt er dann und der letzte Bauer rückt auf seinen Platz. Pauls Hände vibrieren und formen mehrmals eine Faust, entspannen sich wieder. Was hat er gerade gesagt?

»Tot? Wann ist das passiert?«

»Ist schon paar Jahre her«, verkündet er tonlos, als wäre das eine Nachricht der Lokalredaktion des Eifelboten zehn Jahre zuvor. »Du fängst an«, fordert er mich auf. Also gut. Dann fange ich an. Bauer e2 auf e4. Er antwortet spiegelbildlich. Ich ziehe Springer g1 auf f3. Paul zieht wieder ebenso nach. Als ich den weißen Läufer von f1 auf b5 setze, klatscht er in die Hände, hüpft aus dem Sitzen sicherlich zehn Zentimeter nach oben, stößt mit den Beinen unter die Tischplatte und unser Spiel löst sich in kullernde Figuren auf.

»Oh Mann, Paul …«

»Spanische Eröffnung!«, ruft er laut. »Du kennst die Spanische Eröffnung!«

Ich muss lachen. »Sag mal, hast du nicht gesagt, deine Mutter schläft?«

Paul schlägt die flache Hand vor den Mund und sieht mich entsetzt an. Keine zehn Sekunden später geht die Tür auf.

Mit nichts als einer weißen Unterhose und einem Schiesser Doppelripp-Unterhemd am Körper, tritt Pauls Mutter ins Zimmer. Langsam, auf jeden Schritt achtend, die Augen auf den Boden vor sich gerichtet. Sie ist fast so groß wie ich, schlank, eher drahtig. Von Muskeln geformte Berge und Täler an Beinen, Armen, hinauf zur Schulter, Bizeps und Trizeps, alles reichlich vorhanden. Sie ist durchtrainiert wie eine Leichtathletin. Ich denke an einen Jaguar, der konzentriert und mit allen geöffneten Sinnen um seine Beute kreist. Mit ihr kommt die Dunkelheit in Pauls weißes Zimmer. Sie folgt diesem Wesen auf den Fuß. Eine lange Schleppe aus Schwärze. Pauls Mutter ist die Braut der Finsternis. Das gefällt mir. Dieselben tiefschwarzen Augen, die auch Paul so unnahbar machen. Dieselben – allen Versuchen der Zähmung widerstehenden – Haare. Schwarz und hochgesteckt, ausgefranst oder wie angeheftet. Es fällt kein Wort. Erst als sie am freien Stuhl steht, ihn nach hinten zieht und sich setzt, ziehe ich die schlechte Luft tief in mich. Ein Reflex. Das Atmen hatte ich völlig vergessen. Paul zittert. Unmerklich, aber ich kann es sehen. Schließlich sitze ich seit fünf Jahren hinter ihm und kenne seine Bewegungen.

»Wer ist das, Paul?«

Als ich die Stimme höre, werde ich rot. Ich fühle mich, wie gerade erst wach geworden, um sogleich festzustellen, dass die Mutter eines Klassenkollegen – lediglich mit Unterwäsche bekleidet – neben mir sitzt, den Tisch anstarrt, während ich verzweifelt versuche, von dieser Erscheinung, ihren Formen, dem Dunklen in ihr nicht fasziniert zu sein, nicht ein Kribbeln zu spüren.

»Das ist Heinrich. Aus meiner Klasse. Hab dir schon ein paar Mal erzählt von ihm …«

»Das ist einer, der dich mal ausnahmsweise nicht dauernd ärgert, oder?«, fährt sie ihm ins Wort. Paul nickt mit zusammengepressten Lippen und seine Mutter sieht mich an. »Und warum isser jetzt hier?«

»Hab ihn eingeladen. Schach spielen. Weil er mir heute das gegeben hat …« Paul zieht das Taschentuch aus der Hose und legt es auf den Tisch.

»Ein vollgerotztes Taschentuch?«

»Nein, Mama. Meine Nase, also, die ist gelaufen wie nix, wegen …« Paul sieht mich an. Wie ein ertappter Hund auf der Suche nach einer guten Ausrede. Aber da bin nur ich und sage nichts. »Du weißt, wegen Papa. Weil …«

»Weil ich ihn rausgeworfen habe?«

Er nickt. Sie zieht langsam und tief die Luft ein, dehnt sich, überstreckt den Oberkörper, drückt die Brust raus und ich versuche ein paar Bücherrücken im Regal zu erkennen. Den wohlgeformten Busen unter dem dünnen Doppelripp will ich nicht anstarren. Um Gottes willen! Was tue ich hier?

»Du hast geflennt und er hat dir sein Taschentuch gegeben … verstehe.« Mit der rechten Zeigefingerspitze stupst sie den nassen Tuchklumpen mal nach links, dann nach rechts. Dann sieht sie mich an. »Hier, bitte. Dein Taschentuch, Heinrich. Kannst es wiederhaben.« Beim Aussprechen meines Namens legt sich ein Teil dieser Dunkelheit um mich, wie ein Batman-Cape, nimmt mich in den Schwitzkasten. Was kann ich sagen? Nichts. Also nur nicken und das tun, was sie fordert. Sie beugt sich zu Paul. »Wieso trauerst du deinem Erzeuger hinterher?«, fährt sie ihn an, schiebt den Zeigefinger weiter über den Tisch und drückt ein paar Mal auf Pauls dünnen Unterarm. Dann hebt sie mühelos ein Bein, ohne dass der Oberkörper sich bewegt, winkelt es an und stupst mit dem Fuß in Pauls Hüfte. Mit jedem Mal etwas heftiger. »Sag, Paul, was hat er schon geleistet? Außer dich zu zeugen? Hat er mit dir gespielt? Hausaufgaben gemacht? In den Kindergarten gebracht? Sich ums Essen gekümmert?«

Ich will was sagen, muss unbedingt etwas sagen, bewege den Oberkörper ein Stück näher an den Tisch. Sie reagiert sofort, sieht mich an. Friert mich mit dem Blick ein und Pauls Tränen laufen. Da unten, zwischen Bauchnabel und meinen Eiern, spüre ich Wut wachsen. So schnell wie eine explodierende Sonne. Was kann ich tun? Dann wird mir klar, dass ich auf mich wütend bin. Fünf Jahre neben, hinter und mit Paul. In dieser Zeit vielleicht hundert Sätze gewechselt. Zweihundert Hallo? Lachen über seinen Sprungfedergang. Jetzt, hier, zwanzig Minuten von daheim und dreißig Minuten von der Schule entfernt, bin ich völlig ratlos.

»Nein, Mama«, sagt Paul endlich. »Hat er nicht.«

Ich habe den Eindruck, dass er ganz ruhig wird. Vielleicht, weil ich jetzt hier sitze? Ich mit ihm zusammen das anhören muss? Dass endlich noch jemand vom Schwarz und Weiß seiner Welt erfährt? Paul sieht mich an. Kein Blick, den ich aus diesen fünf Jahren kenne.

»Na also, Paul. Er ist weg! Und du sollst nicht so werden wie dieser Versager! Vergiss deinen Vater! Lässt er sich noch mal hier blicken, haue ich ihm dermaßen in die Fresse, dass er die Engel im Dom singen hört. Da drauf kannste Gift nehmen.«

Ich spüre meinen Puls. Deutlich erhöht. Und ich stelle fest, dass ich vor dieser Frau Angst bekomme. Paul spielt mit seinem König. Stellt ihn auf, flippt ihn um, stellt ihn wieder auf. Durch meinen Kopf wandern Bilder. Vom schlaksigen Paul, unserem Klassengelächter, diesem ominösen Vater, dem weißen, so schmerzhaft sauberen Raum, der so gar nicht wie ein Kinderzimmer aussieht – und wieder unser Gelächter, Kichern. Das der Mädchen, wenn er mit einem viel zu großen Unterhemd, Trillerpfeife und Klemmbrett den Träger gibt. Spargel-Paul im Schwimmunterricht, Paul hüpft durch den Klassenraum. Die Hitze bringt mich zum Kochen. Mein Kopf muss rot sein wie eine Tomate. Mühsam stapfe ich durch tiefe Scham und räuspere mich. Die Figuren auf dem Tisch, Pauls Finger versuchen sie zu erfassen.

»Frau Müller«, fange ich vorsichtig an. Sie dreht ruckartig den Kopf, aber wartet ab. »Paul hat gesagt, dass Sie nachts im Großmarkt arbeiten und tagsüber schlafen. Vielleicht darf Paul nach der Schule zu mir kommen. Er kann bei uns essen, wir machen Hausaufgaben, und gegen späten Nachmittag, wenn Sie wach sind, kann er nach Hause.«

Ihr Kopf neigt sich Richtung Tisch. »Großmarkt? Was für en Großmarkt …«

»Also …«

»Paul? Was erzählst du für ne Scheiße? Du musst dich nicht für mich schämen! Das tu ich schon selbst zur Genüge.«

Ich verstehe nicht, was sie meint, blicke zwischen ihr und Paul hin und her. Er verschränkt die Arme auf dem Tisch und legt den Kopf drauf. Nur noch wildes Haargeäst nach allen Seiten.

»Ich bin Tänzerin«, sagt sie frei raus, fixiert mich mit den schwarzen Pupillen. »Ich würde sagen, meine Figur kann sich sehen lassen. Dafür trainiere ich auch ordentlich.« Als ich schweige und sie nur anstarre, grinst sie kurz. »Nackttänzerin, also Klamotten runter und so, auf dem Tableau, weißte? Na, und manchmal will auch einer bisschen mehr«, setzt sie dann nach. Ich schlucke trocken. Mehr als Nicken ist nicht. Etwas ist passiert – oder geschieht gerade. Paul richtet sich auf, seine Mutter drückt den Rücken durch. Beide sehen mich an.

»Also, ähm …«

Nur Stottern aus meinem Mund.

»Ihr seid jetzt fünf Jahre in einer Klasse, jeden Tag. Und noch nie ist von Euch Waschlappen einer auf die Idee gekommen, Paul zu besuchen, ihn einzuladen, sich für ihn zu interessieren, stimmt‘s?«

Ich kann nur nicken.

»Und warum jetzt?«, will sie wissen. »Was ist heute passiert?«

»Ich weiß es nicht, Frau …«

»War dein Angebot ernst gemeint?«

»Ja, das war ernst gemeint.«

Sie überlegt, sieht zu Paul, dann auf das Schachbrett. »Was macht dich sicher, dass deine Mutter nicht nen Anfall bekommt? Jeden Tag Paul, das ist nicht einfach.«

Ich suche vergeblich nach Regungen in seinem Gesicht. Warum redet sie so über ihn? »Meine Mutter kann das«, versichere ich. »Daran habe ich keinen Zweifel. Sie ist …«

»Weitaus besser als du?«, vollendet sie und streckt sich, nagelt mich auf dem Stuhl fest mit Blicken und Worten. Pauls Augen beginnen zu leuchten. Seine hohlen Wangen glühen förmlich. Er grinst mich an. Ich bin schachmatt gesetzt.

Kapitel 2

Um Gottes willen, Junge!

Perfekte Rauputzwände in einem perfekten Treppenhaus. Sauber. Es riecht nach Zitrone. Meister Propper vielleicht. Gelb lackiertes Vierkant-Stahlrohr als Geländer. An den Buchenholztüren hängen außen Kindergemälde, Kastanienfiguren, auf dem Boden sind Willkommen-Fußmatten oder geflochtene Abtreter. Wir wohnen im ersten Stock. Eigentumswohnung im Neubau, erst dieses Jahr fertig geworden. Aber ich will mich ablenken von einer ganz und gar unbequemen Sache, die ich mir selbst eingebrockt habe und von der ich noch nicht weiß, wie damit umgehen. Zuerst habe ich mich geschämt für meine Ignoranz, jetzt schäme ich mich, mein Eintreten für eine Sache wieder rückgängig machen zu wollen. Gott, ist das Leben verzwickt! Es ist kurz vor achtzehn Uhr, Zeit fürs Abendbrot. Ich schließe auf und trete in den hellen Flur, auf den dunkelgrünen Teppich, Fußbodenheizung. Moderner geht es nicht. Ziehe Turnschuhe und Jacke aus. Mutter hat mich gehört, sie pfeift unsere Erkennungsmelodie. Geschirrklappern in der Küche und der Duft nach Spiegelei überall. Sofort spüre ich meinen knurrenden Magen. Schnell Hände waschen, dann gehe ich ins Esszimmer an den reichlich gedeckten Tisch.

»Heinrich?«

»Mh?«

»Bitte schneide ein paar Scheiben Brot.«

»Mach ich.«

Nur zwei Gedecke, jeweils Teller und Brettchen. Vater kommt wohl nicht zum Abendbrot. Vom Schwarzbrot schneide ich sechs Scheiben ab und lege den Laib eingewickelt in den Brotkasten zurück. »Soll ich noch Gewürzgurken auf den Tisch stellen, Mama?«

Sie kommt mit den Spiegeleiern aus der Küche, stellt sie auf den Tisch und berührt meine Wange mit ihrer sommersprossigen Hand. »Gerne.«

Nickend hole ich das Glas aus dem Kühlschrank, öffne es und setze mich dann ihr gegenüber. Sie hat die Augen geschlossen, atmet langsam tief ein und aus.

»Wo ist Papa?«

»In Aachen. Eine Bauschlussreinigung in einem Metro-Neubau.«

So was dachte ich mir schon, nehme es still zur Kenntnis, überlege kurz, wie oft ich meinen Vater innerhalb einer Woche sehe und kann das an einer Hand abzählen, was mich aber nicht wirklich stört. Auf eine Scheibe vom Schwarzbrot lege ich ein Spiegelei und lasse beides dann auf dem Teller liegen. Mutter trinkt einen Schluck Schwarztee.

»Mama?«

»Ja?«

»Ich habe dir noch nie von Paul erzählt, oder?«

Ihr Blick wandert nach innen, dann schüttelt sie bedächtig und ausgiebig den Kopf.

»Er ist in meiner Klasse, seit der fünften. Paul wohnt drüben in Lindenthal, aber er ist, wie soll ich sagen, farblos, unscheinbar, na ja …« Ich suche nach dem richtigen Wort. »Ein Außenseiter. Niemand hat sich je mit ihm beschäftigt. Er ist zwar anwesend, ist nicht frech, ärgert uns nicht …«

Mutter beißt nicht in ihr Brot, stoppt auf der Hälfte des Weges und legt die Scheibe wieder auf den Teller. Dabei verliert sie mich nicht aus den Augen. Ihr Blick geht in jeden meiner dunklen Winkel.

»Aber ihr ärgert ihn, weil er Außenseiter ist?«

»Ärgern ist vielleicht das falsche Wort. Er ist viel zu unscheinbar, um ihn zu ärgern. Er ist halt in unserer Klasse und ab und zu … na ja, lachen wir, weil er auf eine gewisse Weise lustig ist.«

»‚Auf eine gewisse Weise lustig‘?«

»Paul ist ein Spargel und hüpft die ganze Zeit wie ein Gummiball.«

Mutter nickt und beißt endlich in ihr Brot, kaut langsam, trinkt etwas Tee. Ich sehe, dass es in ihr arbeitet, sie zu entdecken versucht, wo ich in diesem Stück reinpasse. »Hm, und jetzt bist du irgendwie näher mit ihm in Kontakt gekommen und merkst, dass alles anders ist als gedacht?« Sie kann Fluch und Segen zugleich sein. Etwas vor ihr zu verstecken, ist zwecklos, doch mich auf sie verlassen ist ein Pfeiler meines Lebens. Ausgiebig erzähle ich ihr von Paul, seiner strippenden Mutter, dem rausgeworfenen Vater und verwende viel Zeit für eine Beschreibung seines skurrilen Verhaltens. Der Sprungfedergang, wie der Wind durch ihn hindurch pfeift, seine Schweigsamkeit. Mutter trinkt langsam ihren Tee, gießt sich nach, tut einen Schluck Kondensmilch hinein und rührt um. Sie weiß, ich bin noch nicht beim eigentlichen Zweck meiner Erzählung, aber sie ahnt es schon und beugt sich vor.

»Warum bringst du ihn nicht mal mit, den Paul?«

Mein Stichwort.

»An so was habe ich auch schon gedacht. Ich meine, seine Mutter muss ja tagsüber schlafen. Er hat nie ein richtiges Mittagessen, stell dir das vor: nur kalte Küche. Wir könnten zusammen Hausaufgaben machen, dann zu Andi gehen …«

Mutter hebt die Hand. »Das klingt, als wäre es schon ausgemacht?«

Ich beiße auf die Unterlippe. Wie habe ich mich verraten? Egal. »Wenn er die Woche über bei uns zu Mittag isst, gebe ich auch von meinem sauer verdienten Geld ab und wir spülen jeden Tag das Geschirr.« Erwartungsvoll sehe ich sie an. Ein Nein kann ich mir nicht vorstellen. Ich müsste mich schon wieder in Grund und Boden schämen.

»Warum bist du plötzlich so Feuer und Flamme?«, bohrt Mutter. »Warum jetzt und nicht schon früher?«

»Das hat mich seine Mama auch gefragt. Aber ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.«

Sie zuckt mit den Schultern und schneidet eine Tomate in Scheiben.

»Dann freue ich mich auf Paul. Ab morgen also? Ich hoffe, er mag Spaghetti mit Hackfleischsoße.«

Ich will ihr um den Hals fallen, beiße stattdessen herzhaft ins Spiegelei-Brot. »Wer mag das nicht?«, murmle ich kauend.

*

»Spaghetti mit Hackfleischsoße?« Andis Augen stehen weit offen.

»Ja«, bestätige ich und klopfe ihm die Schulter.

»Dann bin ich jetzt abgeschrieben …«, deutet er unsicher an.

»Red kein Blech, Andi.«

»Ich habe bei euch noch nie Spaghetti mit Hackfleischsoße bekommen«, begehrt er auf.

»Doch. Bestimmt schon drei dutzend Mal. Neben Rindsrouladen, Putenbraten, Cordon bleu, Kassler mit Sauerkraut und all den anderen feinen Sachen seit fünf Jahren.«

Er verdreht die Augen und seufzt.

»Du bist ja eifersüchtig«, stelle ich fest, lege beide Arme um seinen Brustkorb, drücke zu und kneife in seine Brustwarzen. Er quiekt und lässt sich fallen. Paul kommt hüpfend aus dem Waschraum. Der Schulranzen auf seinem Rücken wird ordentlich geschüttelt. Aus dem oben halb offenen Parka lugt eine Penny-Tüte heraus.

»Oh, Mann«, sagt Andi und steht wieder auf.

»Hallo, ihr beiden«, begrüßt uns Paul. »Geht Andi auch mit?«

»Genau«, nickt der. »Gehe ich auch mit?«

»Wir gehen alle zusammen«, verkünde ich, »aber wir decken den Tisch, räumen ab und verlassen die Küche danach in astreinem Zustand. Meine Mutter soll keine Arbeit mit uns haben.«

»Außer kochen«, wirft Andi ein. So ziehen wir los zur Haltestelle, Paul in der Mitte. Seine Füße berühren kaum eine Sekunde den Boden. Andi sieht ihm eine Zeitlang zu.

»He, Paul, du läufst echt wie so ein Motorkolben. Oberer Totpunkt, unterer Totpunkt. Ein stetes Auf und Ab, oder?«

»Kann nix dafür. Seit ich denken kann, ist das so.«

»Wir könnten dich ‚Känguru‘ nennen«, schlägt Andi vor.

»Auf die Idee bin ich selbst schon gekommen.«

»Wundert mich nicht«, setzt Andi nach. Ich strecke die Hand aus und haue ihm eine auf den Hinterkopf, darauf bedacht, Pauls Bewegungsdrang nicht in die Quere zu kommen. Andi zuckt zusammen, flucht leise, dann starrt er auf Paul, die raschelnde Tüte in seinem Parka. »Sag mal, Paul, was ist in der Tüte?«

»Klamotten. Muss ich noch in die Reinigung bringen später.«

Andi schweigt, ist wohl zufrieden mit der Antwort. Wir steigen in den Bus, steuern die hintere Bank an und setzen uns. Paul lässt einen fahren und wird rot. Die Mädchen vor uns drehen sich um. Durchgefallen, sagen ihre Blicke. »Tschuldigung«, murmelt Paul. Andi dreht sich zur Scheibe und gackert vor sich hin. Es beginnt zu stinken. »Ihr Drecksäue«, kommt es von einem der Mädchen. Sie stehen auf und stellen sich in die Kinderwagenbucht.

»Oh, Mann …«, mehr fällt mir nicht ein. Dann fange ich an zu lachen.

Paul zupft in schneller Abfolge an seiner Nasenspitze. Ich vermute, wegen des Gestanks, bis ich begreife, dass es eine Art Nagelkauen ist. Ein Tic. »Du dummer, dummer Junge«, murmelt er. Die Türen schließen sich und wir fahren über den Gürtel nach Bayenthal.

Bald darauf stehen wir in der Bernhardstraße vor den Neubauten. Andi bohrt im rechten Nasenloch und Paul zuckt unablässig mit den Schultern, als hielte er ein blankes Stromkabel in der Hand. »Hier wohnst du?«, fragt er mit großen Augen.

»Ja, seit nem knappen Jahr.«

»Uiuiui …«

»Na kommt«, fordere ich beide auf. »Wir gehen rein. Ich habe Hunger.«

Andi schiebt Paul Richtung Eingang. Acht Parteien leben im Haus. Meist Familien, der alte Pastor von Sankt Matthias und ein kinderloses Paar. Unser Fußabtreter ist der einzige im Haus, der einfach nur schwarz ist. Aus der Firma meines Vaters.

»Schuhe abstreifen und ausziehen!«, ordne ich an. »Drinnen hat es Hausschuhe für jeden.« Ich schließe auf und der Duft von Mutters Hackfleischsoße drückt uns fast wieder auf den Hausgang. Andi jauchzt und Paul bleibt wie angewurzelt auf der Fußmatte stehen. »Was ist?«

Er sieht an sich runter. Eine weiße und eine grüne Socke, große Füße, mindestens Schuhgröße 46. Aber die Socken sind noch zwei Nummern größer. Erst will ich etwas sagen, dann lachen, aber Mutter fällt mir ein. »Du bist, wie du bist, Paul. Komm rein, es wird dir schmecken.« Um nachzuhelfen, greife ich den rechten Parka-Ärmel und ziehe ihn hinein, schließe die Tür, zeige ihm die Hausschuhe. »Ich habe 47. Nimm meine, Paul.«

Er nickt, zieht die Jacke aus, legt die Penny-Tüte vorsichtig auf den Stuhl neben der Garderobe und schlüpft in meine Latschen. Seltsamerweise hüpft er nicht mehr, nichts an ihm ist in Bewegung, lediglich die Augen suchen unentwegt den Flur ab.

»Komm, Hände waschen!«

Die Begegnung Pauls mit meiner Mutter ist denkwürdig. Ich habe vermutet, dass es so abläuft, weil ich ihre Wirkung auf Fremde zur Genüge kenne. Sie lächelt, wartet nicht, geht direkt auf ihn zu, ihre rechte Hand vorgestreckt, Handfläche nach oben. »Willkommen, Paul. Heinrich hat mir schon viel von dir erzählt. Schön, dass du da bist«, sagt sie, greift seine Hand und zieht ihn gleichzeitig an den Tisch. »Setz dich, Andi hat schon Spaghetti und Soße reingetragen.«

»Andi hat Hunger«, bestätigt der.

»Seine Mutter kann nicht kochen«, erkläre ich dazu und Paul sieht mich entsetzt an.

»Stimmt«, bestätigt Andi. Mutter lacht und etwas in Paul weicht zurück, ein Schatten vielleicht. Ein Stück der Dunkelheit. Sie gibt etwas von seinem Leben frei. Dann lacht er ebenfalls und Andi schaufelt einen Berg Spaghetti auf seinen Teller. Gelben Sprudel gibt es keinen, dafür leckeren Apfelsaft mit etwas frisch gepresster Zitrone. Wir essen, leeren unsere Gläser, erzählen, lachen und lästern. Säße ich in der Klasse nicht hinter Paul und wüsste über all seine Tics Bescheid und brächte ich sie nicht mit diesem Gesicht in Verbindung, würde ich sagen, da sitzt ein mir unbekannter Mensch. Ein kleines Wunder, das mich an mein schlechtes Gewissen erinnert, mich Scham empfinden lässt. Und in Andis Gesicht entdecke ich dieselbe Regung. Als sich unsere Blicke für einen Moment treffen, kann ich es sehen.

Wir räumen ab und ich schicke Andi mit Paul in mein Zimmer. Französisch-Hausaufgaben erledigen. Andi ist ein Sprachtalent und kann besser erklären als unsere Lehrerin. Ich spüle und beobachte Mutter, die am Esstisch sitzt und einen Brief schreibt. Endlich fertig, kontrolliere ich mit einem letzten Blick Spüle und Arbeitsplatte, dann setze ich mich zu ihr, bewundere diese schöne Schrift. Gleichmäßig, bewusst, konzentriert. Schon fast eine A4-Seite, dann ein Gruß, die Unterschrift. Sie faltet ihn zusammen, steckt ihn in einen A6-Umschlag, klebt ihn zu und eine Briefmarke drauf, legt ihn vorsichtig auf die Seite.

»Für Opa?«, frage ich nach einem kurzen Moment.

Sie nickt. »Opa hat bald Geburtstag. Ich hätte gerne, dass er für ein paar Tage herkommt. Würdest du den Brief später zum Briefkasten bringen?«

»Klar. Kein Problem.«

Sie atmet tief ein, streicht mit dem Zeigefinger über die gestickte Decke. Also überlegt sie, was sie wie sagen soll. Ich warte geduldig. Andi kommt, grinst uns an, holt eine Flasche Saft aus der Küche. An meinem Gesicht sieht er, dass es sich nicht lohnt, stehenzubleiben, weil es hier offensichtlich etwas zu besprechen gibt. Pfeifend verschwindet er im Zimmer. Die Tür geht zu. Es ist wieder still. Nicht mal unser Atmen ist zu hören.

»Andi ist wie ein Bruder für dich, nicht wahr?«, beginnt Mutter.

Ich nicke. »Und ich wie ein Bruder für ihn.«

»Im Gang lag eine Papiertüte auf dem Stuhl«, beginnt sie unvermittelt mit dem, was sie wirklich beschäftigt. »Sie ist runtergefallen und der Inhalt lag teilweise davor.«

Ich mache ein verwundertes Gesicht, ziehe die Augenbrauen hoch. »Kleider, die Paul später in die Reinigung bringen muss, hat er gesagt.«

Mutter seufzt. »Es sind frisch gewaschene Kleider. Sauber zusammengelegt. Strapse, Tangas, ein ziemlich knapper BH, vorne offen …« Sie zögert. »Wenn du weißt, wo ich meine …«

»Ich kann es mir vorstellen.«

»Ersatzkleider für seine Mutter, nehme ich an.«

Mir ist nicht ganz klar, was sie mir damit sagen will. Paul lügt? Oder seine Mutter ist eine Stripperin? Wir wissen beides. Dass Paul lügt, ergibt sich wohl aus seiner Situation. Die mache ich ihm nicht zum Vorwurf. Wer weiß, was ich täte …

»Ich weiß, dass Paul lügt, Mama, aber ich denke, er schämt sich oft und viel …«

Sie hebt die Hand und ich verstumme. »Die meisten von uns würden an Pauls Stelle lügen. Ich bin froh, dass du das ebenso siehst, aber … es war noch etwas anderes drin …«

Ihre Stimme zwingt mich in eine völlige Starre. Absolute Gespanntheit.

»Geld. In einem Umschlag. So viel, dass der Umschlag nicht zugeht. Ich schätze, über eintausend Mark.«

Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht mit Geld. Mehr als eintausend Mark? Was will er mit so viel Geld? Oder seine Mutter? »Das ist vielleicht sein Geld und er will es auf die Bank bringen.«

»Ein Zettel ist dabei mit einer Adresse und einer Uhrzeit. Um diese Uhrzeit hat keine Bank mehr geöffnet.«

Adresse? Uhrzeit? Ich bin völlig ratlos. »Was für eine Adresse?«

»Glasstraße 2e in Ehrenfeld um 20 Uhr.«

»Keine Ahnung, wo das ist.«

»An der S-Bahnstation Ehrenfeld. Ich hab schon nachgesehen im Stadtplan.«

»Aha.«

Sie bleibt still, schweigt sich aus, was noch in ihrem Kopf vorgeht. Mit Sicherheit bastelt sie in Gedanken an einem Topf voll Möglichkeiten. Ich finde nicht, dass mich oder uns das was angeht.

»Mama …«

»Weißt du, was ich befürchte?«, würgt sie mich ab.

»Nein«, erwidere ich überrascht.

»Seine Mutter zieht sich jeden Tag für andere aus, hält mit dem Geld die Familie am Leben. Spart mühsam die paar Kröten zusammen. Dann schmeißt sie ihren Mann raus, wegen Unfähigkeit. Pauls Vater, jetzt ohne Geld und vielleicht der Meinung, das Geld gehöre ihm, beauftragt seinen Sohn, das Ersparte einzustecken und ihm zu bringen. Schließlich war Paul ziemlich am Boden zerstört, hast du gesagt und würde alles für seinen Vater tun. Und Treffpunkt ist wie gelesen.« Sie nickt zur Unterstreichung ihrer Worte, klopft mit dem Zeigefinger gleichmäßig auf den Tisch. Ein bisschen was kann an diesem Konstrukt dran sein, aber …

»Ich sehe nicht, was wir dagegen tun könnten, Mama, falls es tatsächlich so ist.«

»Wir müssen wissen, ob Paul mit dem Abgeben der Kleider bei seiner Mutter auch das Geld dort lässt.«

»Und dann?«

»Puh! Keine Ahnung.« Sie ist ratlos. Ebenso wie ich. Ich habe das Gefühl, blind über eine Wiese mit Bäumen voller Wespennester zu laufen. Mein Blick geht zur Zimmertür, dann suche ich Mutters Augen. Ihre roten Haare glänzen im Schein der Esszimmerlampe. Es bleibt nur eins.

»Wir müssen mit Paul reden«, sage ich.

Sie nickt.

Die Tüte liegt auf dem Tisch, die Kleider davor. Mutters schmale Hände drehen den dicken Umschlag hin und her. Paul ist völlig zusammengesunken, ein Häufchen Elend, den Kopf gesenkt. Ab und zu kommt ein Fiepen aus seinem Mund.

»Die Tasche ist umgefallen, vom Stuhl runter. Kleider und Umschlag lagen auf dem Teppich«, beschreibt Mutter mit ruhiger Stimme. »Ich wollte alles wieder sauber hineinlegen und entdecke das viele Geld.« Sie macht eine Pause. »Und die Adresse. Ohne diese Adresse wäre ich weniger misstrauisch. Was machst du mit so viel Geld, Paul? Bist du in Schwierigkeiten?« Sie legt den Umschlag beiseite und eine Hand auf Pauls Unterarm. »Heinrich und ich versuchen das zu verstehen. Vielleicht können wir helfen. Bitte erklär mir das.«

Ich überlasse alles Reden meiner Mutter. Sitze nur still etwas abseits. Paul ist wie erstarrt, völlig ohne seine üblichen Tics. Dann sieht er auf. Er greift nach Mutters Hand und sie packt mit ihrer anderen ebenfalls zu, umgreift fest seine schmalen Finger. Aus heiterem Himmel fängt er an zu weinen, wie ein Dammbruch, den niemand vorhersehen konnte. Ich hole drei Packungen Tempos aus der Flurkommode, schaue kurz zu Andi ins Zimmer. Er liest und grinst mich an. Mutter hat Paul zu sich gezogen, hält seinen Kopf unter ihrem, krault durch den Wust schwarzer Haare. Ich bin kurz davor, selbst zu weinen, starre lieber aus dem Terrassenfenster. Hinter mir leise Worte, Mutters beruhigende Stimme. Sie flüstert und hält ihn fest umschlossen. Die Zeit vergeht. Zehn Minuten? Dann räuspert sich Paul.

»Ich habe Papa gestern Abend auf der Straße vor dem Haus gesehen und bin runter. Meine Mama hat ihm ja verboten ins Haus zu kommen. Und er braucht doch Geld. Was soll er denn essen?«

Ich setze mich wieder. Es fällt mir schwer, diesen Paul zu kennen, der so einen klaren Blick hat und so ruhig vor mir sitzt. Woher kommt dieser Wandel?

»Und dann hat er dich gebeten, das Ersparte zu nehmen?«

»Einen Teil davon. In der Küche ham wir eine Sago-Dose, da ist alles drin«, erklärt er wie befreit.

»Ist es das Geld, das deine Mutter verdient hat?«

Paul nickt. »Papa arbeitet schon seit Jahren nicht mehr. Er wäre krank, sagt er, und ich wüsste das ja. Also müsste ich ihm jetzt helfen.«

»Denkst du nicht, dass deine Mutter wissen möchte, was mit ihrem Geld passiert?«

»Doch, aber was soll ich denn jetzt tun?«

Wieder Tränen. Was für eine Zwickmühle!

»Paul, vertraust du mir?«, fragt sie, hebt mit zwei Fingern unter seinem Kinn Pauls Kopf an, so dass er nicht ausweichen kann.

»Aber ja …«

»Gut. Wir gehen zusammen zu deiner Mutter und bringen ihr die Kleider. Wann fängt sie dort an?«

»Um sechs machen sie den Laden auf.«

Sie sieht auf die Uhr. »Dann ist sie jetzt schon unterwegs. Gut, Paul. Den Rest lass mich machen. Wir gehen jetzt.« Sie nickt mir zu. Ich stehe auf und hole Andi aus dem Zimmer. Mutter geht zum Telefon.

Der Taxifahrer weiß nicht genau, was er von seiner Fracht halten soll. Eine Frau mit drei Jungs, die wirres Zeug reden. Andi hat daheim Bescheid gesagt, dass er später kommt, weil wir noch mit meiner Mutter unterwegs wären. Das ist wie ein Freifahrtschein. An der Ecke Eigelstein und Eintrachtstraße steigen wir aus. Paul dreht sich zur Hauswand. »Da drüben, das Moulin Rouge, das ist es. Der Typ am Eingang heißt Walther. Er ist ganz nett.«

Mutter sieht mich und Andi an. »Ihr beiden wartet hier.« Damit marschiert sie los, Paul an der Hand. Direkt auf den netten Walther zu, der ihr freundlich zunickt und dann Paul erkennt, ihm auf die Schulter klopft. Mutter sagt was zu ihm und er legt den Kopf schräg. Offenbar wiederholt sie es und Paul sagt ebenfalls etwas.

»Das ist wie im Film«, stellt Andi fest.

»Wenn er Mutter was tut, gehen wir rüber und hauen ihm was in die Fresse!«, kündige ich an. Ich spüre Andis Blick auf mir. Es muss ein entsetzter Blick sein, denn er schweigt. Aber Walther verschwindet in der Tür und kommt kurz darauf mit Pauls Mutter wieder heraus. Und sie ist ganz deutlich sofort auf einhundertachtzig, denn Paul bekommt umgehend eine Ohrfeige. Mutter zieht beide mit sich, unter Protest von Frau Müller, die leicht bekleidet den Eigelstein überquert.

»Das glaubt mir niemand«, sagt Andi.

Die drei erreichen uns. Mutter zieht ihre Jacke aus und reicht sie Frau Müller. Sie ist tatsächlich so groß wie ich. Einsneunzig. Mit hochhackigen Schuhen jedenfalls. Aus Mutters Tasche kommt ein Umschlag.

»Als Paul heute zu uns kam, bat er mich um Hilfe wegen einer Zwickmühle, in der er steckt. Sein Vater hat ihn gebeten, Geld aus dem Haushalt zu entwenden und ihm zu überreichen, heute Abend …«

Ich horche auf. Mutter kann also ebenfalls die Wahrheit beugen.

»Um Gottes Willen, Junge!«, kreischt Frau Müller quer über die Straße. Sie zieht einen der Pumps aus, holt aus und Paul duckt sich weg. Mutter nimmt ihr den Schuh ab. Walther streckt sich und schaut herüber.

»Beruhigen Sie sich, Frau Müller!«, ruft Mutter und stellt sich direkt vor die hochrote Frau Müller. »Was sollte ihr Sohn denn tun?! Er liebt seinen Vater. Hören Sie mich an und wir bekommen das Problem vielleicht vom Tisch!«

Andi lehnt mit weit aufgerissenen Augen an einem Käfer. Frau Müllers Arm bleibt oben, ohne Pump.

»Hier ist das Geld«, Mutter gibt ihr den Umschlag. »Paul tut es leid. Mit ihrer Erlaubnis werde ich zum Treffpunkt gehen und ihrem Mann anbieten, einen Job in der Firma meines Mannes anzutreten. Ich habe bereits mit meinem Mann gesprochen. Wir suchen noch jemand für das Lager. Dann hat er eine Perspektive und muss nicht mehr seinen Sohn nötigen, Ihnen das Geld zu entwenden.«

Der Arm sinkt langsam nach unten, ein Blick zu Paul, der halb hinter mir steht und meine Hand hält. Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich drücke ein wenig und zwinkere ihm zu.

»Auch Paul könnte bei uns arbeiten«, sage ich. »Das tue ich auch, drei Mal die Woche. Man verdient gut. So könnte er seinen Papa sehen.«

Seine Mutter starrt uns der Reihe nach an, schüttelt erst langsam, dann immer schneller den Kopf.

»Ist das so ne christliche Vereinigungsscheiße? Alle Menschen sind gleich und ihr seid gleicher?«

»Nein, nur eine Gebäudereinigung mit vielen Angestellten und jeder Menge Arbeit«, erklärt Mutter und gibt ihr die Tüte mit den Kleidern. »Die hatte Paul noch dabei. Seien Sie stolz auf ihn, er ist ein guter Junge.«

»Oh Gott …«, bricht es aus Pauls Mama hervor, dann knickt sie ein, schluchzend. Der Bürgersteig im Eigelstein ist nicht gerade der sauberste. Inzwischen sind schon einige Fenster offen und die Leute schauen gebannt, was da vor sich geht.

»Heinrich! Hilf ihr hoch und Andi, du holst diesen Kerl da drüben, er soll mal helfen!«

»Klar«, bestätigt Andi und rennt hinüber.

*

Wir sitzen wieder im Taxi. Dieses Mal Richtung Ehrenfeld. Paul darf heute bei uns im Gästezimmer schlafen. Seine Mama wird inzwischen auf dem Tableau stehen, im Halbdunkel ihre verquollenen Augen verstecken. Mutter starrt aus der Windschutzscheibe. Wir drei sitzen hinten und schweigen. Andi kichert immer wieder ein wenig. Offenbar hatte er seinen Spaß. Auf Pauls Schoß liegt sein Parka und darunter hält er meine linke Hand. Ich lasse es zu. Wenn es ihm hilft …