Chasing Melodies – Wir zwei im Lichtermeer - Annika Hanke - E-Book

Chasing Melodies – Wir zwei im Lichtermeer E-Book

Annika Hanke

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Beschreibung

Über Selbstverwirklichung, eine unerwartete Liebe und Selbstzweifel in der schillernden K-Pop-Welt Südkoreas. Für Leser:innen von Janine Ukenas »Seoul-Dreams«-Reihe  »Zwischen uns lagen keine fünf Meter, doch es fühlte sich wie eine unüberwindbare Distanz an. Und in diesem Moment wurde es mir klar: Wenn die Light Sticks heute Abend leuchteten, dann würde ich in dem Lichtermeer untergehen, denn ich war nur eine von vielen. Ich war nur ein weiteres Licht in diesem Ozean.«  Die New Yorkerin June arbeitet hart, unterstützt ihre Mutter, wo sie nur kann und stellt dafür ihre Wünsche vom College und dem Schreiben von Songtexten hinten an. Als sie mit einem Flugticket nach Seoul überrascht wird, kann sie die langersehnte Reise in die Heimat ihres Vaters antreten und wieder zu träumen beginnen. Die Zusage eines Praktikums bei einem Musikmanagement entführt June vollends in die faszinierende neue Welt samt koreanischer Idole und K-Pop-Musik. Während June richtig aufzublühen scheint, lernt sie über eine Dating-App Alexander kennen. Schnell entwickeln beide eine unvorhergesehene Verbundenheit und alles wirkt perfekt. Jedoch scheinen Zweifel und Ängste June zu übermannen und Alexanders wahre Identität droht die neugewonnene Idylle endgültig zu zerstören.  »Mich hat dieses Buch sehr berührt und ist mir ans Herz gegangen. Ich kann es sehr empfehlen.« ((wodisoft.ch))

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Janina Roesberg (Texthafen Lektorat)

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Crashkurs in Koreanisch und K-Pop

Koreanische Anrede

Wörter, die Du im K-Pop kennen solltest:

EXIT

Bandmitglieder und ihre Positionen

1장 | June

2장 | Taewon

3장 | June

4장 | June

5장 | June

6장 | Taewon

7장 | June

8장 | June

9장 | June

10장 | Taewon

11장 | June

12장 | June

13장 | June

14장 | Taewon

15장 | June

16장 | June

17장 | June

18장 | Taewon

19장 | June

20장 | June

21장 | June

22장 | Taewon

23장 | June

24장 | June

25장 | June

26장 | Taewon

27장 | June

28장 | June

29장 | June

30장 | Taewon

31장 | June

32장 | June

33장 | June

34장 | Taewon

35장 | June

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für dich und mich.

Für alle, die manchmal nicht wissen,

ob sie gut genug sind.

Ihr seid es.

Wir sind es.

Crashkurs in Koreanisch und K-Pop

Am Anfang eines jeden Kapitels wirst Du zwei koreanische Wörter finden.

Zum einen 장 – »Kapitel« und 노래 – »Song«

Koreanische Anrede

Begrüßung

안녕하세요 – annyeonghaseyo/annyeong | »Guten Tag«/»Hallo«

여보세요 – yeoboseyo | »Hallo« – wird verwendet, wenn man ans Telefon geht

Endungen, die an den Vornamen angehängt werden:

씨 – ssi | höfliche Endung, wird von jüngeren Erwachsenen bei älteren verwendet

아 – ah | Endung für Freunde – wird verwendet, wenn die letzte Silbe des Vornamens ein Konsonant ist

야 – ya | Endung für Freunde – wird verwendet, wenn die letzte Silbe des Vornamens ein Vokal ist

Alleinstehende Anreden oder Anhänge an Namen:

오빠 – oppa | »älterer Bruder« – wird von Frauen für ältere Männer oder große Brüder verwendet

형 – hyung | »älterer Bruder« – wird von Männern für ältere Männer oder große Brüder verwendet

아빠 – appa | »Papa«

엄마 – eomma | »Mama«

Wörter, die Du im K-Pop kennen solltest:

애교 – Aegyo

Wenn ein K-Pop-Idol aegyo macht, dann bedeutet es, dass er oder sie besonders süße Mimiken und Gesten zeigt oder eine kindliche Stimme imitiert. Am Ende des Auftritts hat jedes Mitglied nur eine kurze Zeit mit der Kamera und in dieser Zeit muss er oder sie herausstechen und dem Zuschauer im Gedächtnis bleiben. Manche zeigen, wie sexy sie sind, andere zeigen mit aegyo, wie süß sie sind. Zumeist macht der oder die Maknae (Jüngste*r) aegyo.

바이아스 – Bias

Als Bias wird der Favorit innerhalb einer K-Pop-Band betitelt.

차애 – Bias Wrecker

Mit Bias Wrecker ist die Person gemeint, die man in einer Band am zweitmeisten mag. Der Ausdruck Wrecker oder jemanden zu wrecken bedeutet, dass der Bias infrage gestellt wird, weil man den Bias Wrecker als sehr charismatisch und ansprechend empfindet.

컴백 – Comeback

Das Comeback bedeutet, dass eine Band zurück zu ihren Fans kommt. Sobald eine Band ein neues Album herausbringt, ist immer die Rede von einem Comeback. Das Album wird dann promotet und der Titeltrack wird in diversen Shows als Comeback Show performt.

화이팅 – Fighting

Fighting/Hwaiting wird gesagt, wenn man jemandem Glück oder gutes Gelingen wünscht.

손가락 하트 – Fingerherz

Ein Fingerherz ist eine Geste, die mit der Hand gemacht wird. Hierbei werden Daumen und Zeigefinger gekreuzt, was ein kleines Herz ergibt. Diese Geste wird von Idols benutzt, um die Liebe zu ihren Fans zu zeigen.

자기야 – Jagiya

Die Bezeichnung wird als Kosename benutzt.

리더 – Leader

Der Leader ist der Anführer einer Gruppe. Der Leader der Band übernimmt meist die Dankesreden bei Awardshows, plant die Einteilung bei Interviews mit oder beginnt die Vorstellung der Band bei Auftritten etc. Zumeist ist der Leader die Person in der Band, die am charismatischsten ist, am meisten Respekt erhält und somit die anderen Mitglieder am besten führen kann.

라이트스틱 – Lightstick

Wenn eine Gruppe sich für das Management rentiert, erhalten sie ihren eigenen Lightstick. Dieser besteht aus einem Stab und einem Aufsatz, der je nach Band variieren kann. Dieser leuchtet und kann via Bluetooth zum Beispiel bei Konzerten die Farbe ändern. Wenn bei einem Konzert alle Fans einen Light Stick haben und diese gemeinsam leuchten, redet man von einem Ozean.

막내 – Maknae

Der Maknae ist der Jüngste einer Gruppe. Sie sind auch diejenigen, die das Aegyo in Shows machen dürfen beziehungsweise müssen.

미니앨범 – Mini Album

Ein Mini-Album bedeutet nicht, dass es physisch klein ist, sondern, dass es weniger Songs beinhaltet. Ein normales Full Album beinhaltet ca. zehn bis fünfzehn Songs, ein Mini-Album dagegen nur vier bis acht. Es ist mit einer EP vergleichbar.

프로듀서 – Producer

Producer sind Idols, die eigene Songs oder Alben produzieren. Normalerweise arbeiten K-Pop-Gruppen mit professionellen Composern zusammen, mittlerweile produzieren jedoch einige Bands ihre Alben und Songs fast ausschließlich selbst und schreiben auch die Lyrics.

사생팬 – Sasaeng Fan

Als Sasaeng Fan werden Leute bezeichnet, die keinerlei Respekt vor der Privatsphäre ihres Idols haben. Sie sind obsessiv, verfolgen ihr Idol und tun alles, um ein Foto zu bekommen oder in deren Nähe zu sein. Saseaengs scheuen sich nicht davor, in die Privatsphäre einzudringen, Familienmitglieder aufzusuchen oder die Wohnung zu belagern.

스탠 – Stan

Die meisten K-Pop Fans nennen sich selbst Stan – es ist eine Mischung aus Stalker und Fan, was allerdings nichts Negatives (wie bei den Sasaengs) bedeutet. Stan zeigt die extreme Liebe zu einer Band und wie sehr sich die Fans um ihre Idols sorgen und kümmern.

연습생 – Trainee

Als Trainee werden diejenigen bezeichnet, die in einem K-Pop-Management, auch Entertainment genannt, aufgenommen wurden und für ihr Debüt in einer Band trainieren. Die Länge der Trainee-Zeit ist unterschiedlich, kann von drei Monaten bis zu zehn Jahren dauern – je nachdem wie das Management ihren Trainee einsetzt beziehungsweise denkt, dass er oder sie bereit für das Debüt ist. Als Trainee gelten strikte Regeln, so wie Handyverbot oder Datingverbot, und die Zeit im Management wird konsequent nur fürs Trainieren (Tanz, Gesangsstunden, teilweise auch Koreanischkurse) genutzt. Es ist nicht unüblich, dass Trainees später die Entertainments wechseln, um bei einem anderen Erfolg haben.

비주얼 – Visual

Als Visual einer Gruppe wird das Mitglied benannt, welches – nach den koreanischen Schönheitsidealen – der oder die Hübscheste ist.

EXIT

EXIT ist eine südkoreanische Band, die unter GRR Entertainment (jetzt Blossom Entertainment) debütierte. Die Gruppe besteht aus fünf Mitgliedern: Kim Minsoo, Choi Chan-Sung, Jeong Ha-ru, Park Taewon und Hwang Jaemin. EXIT ist die erste Boyband des Entertainments, die sich selbst produziert.

Bandmitglieder und ihre Positionen

Kim Minsoo, 23 | 25.04.2000 in Seoul, Südkorea

Ältester der Band, Lead Dancer, Vocalist, Visual

Choi Chan-Sung, 22 | 01.08.2001 in Busan, Südkorea

Main Rapper, Producer, Songwriter

Jeong Ha-ru, 22 | 26.03.2001 in Seoul, Südkorea

Leader, Dancer, Vocalist

Park Taewon, 21 | 03.10.2002 in Seoul, Südkorea

Producer, Songwriter, Dancer, Vocalist

Hwang Jaemin, 21 | 14.06.2003 in Gimpo, Südkorea

Maknae, Rapper, Vocalist

1장 | June

노래: Butter

– BTS

New York war zu jeder Zeit laut.

Laut und unruhig.

Laut und bunt.

Und doch nicht laut genug, um meine Gedanken zu übertönen.

Ich saß in der U-Bahn, ein schlafender, nach altem Frittierfett stinkender Mann neben mir. Immer wenn ein Song aus meiner Playlist endete, hörte ich das Schnarchen von ihm, und immer, wenn die Bahn durchgeschüttelt wurde, sank er ein wenig näher in meine Richtung. Ich war mir sicher, dass an meiner Jeansjacke mittlerweile auch schon der Geruch des Fettes klebte. Wahrscheinlich würde ich sie in die Waschmaschine werfen, sobald ich zuhause ankam. Doch laut der Anzeigetafel musste ich noch mindestens fünfzehn Minuten hier aushalten.

Also drehte ich die Musik auf meinem Handy lauter, schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen das kühle Fenster. Im Kopf rechnete ich nach, wann ich mein nächstes Gehalt von dem Job in der Buchhandlung erhielt und was noch von dem letzten übrig war. Es war nicht viel, aber für die nächste Woche würde es für Mom und mich noch reichen. Außerdem gab ich diese Woche auch noch eine Gitarrenstunde, bei der ich ein bisschen was dazuverdiente, weil ich einem verzogenen Achtjährigen mit reichen Eltern das Spielen beibrachte.

Die Bahn ruckelte und der Kopf des Fritten-Mannes fiel auf meine Schulter. Ich öffnete die Augen und versuchte von ihm abzurücken, doch ich saß bereits so weit links auf meinem Sitz, dass meine beiden Beine kaum Platz fanden. Vielleicht sollte ich den Rest der Fahrt stehen … oder einfach ein Stück zu Fuß gehen. Schließlich würde ich sowieso nicht bis in den Randbezirk, in dem Mom und ich wohnten, fahren können.

Als die U-Bahn ächzend zum Stehen kam und der Kopf des Mannes wieder an meiner Schulter hin- und herwackelte, entschied ich mich tatsächlich, zu laufen. Ich schob mich an den Fahrgästen vorbei, aus dem Abteil hinaus und auf den überfüllten Bahnsteig. Stray Kids’ »Star Lost« übertönte die Geräusche und das Gerede der Menschen. Hektisch liefen sie mit Aktentaschen, auf hohen Absätzen und mit Handys an den Ohren oder in den Händen an mir vorbei, stießen gegen mich, entschuldigten sich nicht, während der Träger meines Rucksacks herunterrutschte.

Als ich mich endlich zur Treppe und aus der U-Bahnstation herausgekämpft hatte, wechselte der Song und »Clouds« von der koreanischen Band EXIT dröhnte in meinen Ohren und ich spürte mein Herz ein bisschen schwerer werden. Der Song erzählte von einer Reise, die noch nicht vorbei war. Von Hoffnung, von Durchhaltevermögen und davon, dass die Wolken vorbeizogen, auch wenn es manchmal nicht so wirkte. Meine Wolken waren offenbar noch nicht vorbeigezogen, aber ich gab nicht auf. Sie würden weiterziehen – früher oder später taten sie das immer.

Ein kalter Wind erfasste mich und ich fröstelte. Mittlerweile war der Herbst, meine liebste Jahreszeit, in New York eingezogen. Ich liebte es einfach, wenn die Blätter der Bäume sich bunt verfärbten und eine gewisse Schwere in der Luft lag. Wenn die Wolken am Himmel ein bisschen düsterer und unheilvoller waren und man sich mit Blick nach oben fragte, ob es zu regnen beginnen würde. Genau deswegen gönnte ich mir einen Moment auf der obersten Stufe und tat genau das: Ich betrachtete den Himmel, der übersät war von flauschigen Wolken, die sich zwischen weiß und grau nicht entscheiden konnten. Als der erste Regentropfen auf mein Gesicht fiel, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich griff nach hinten, zog die Kapuze meines Hoodies, den ich unter der Jacke trug, über den Kopf und lief los.

Als ich komplett durchnässt eine knappe Dreiviertelstunde später zu Hause ankam, stand der alte Saab nicht in der Einfahrt. Ich stieß ein Seufzen aus. Meine Mom arbeitete definitiv zu viel und das schon seit Wochen. Es war nicht leicht für uns, doch ich tat mein Bestes, um sie irgendwie zu entlasten. Also ignorierte ich die Uhrzeit und die Tatsache, dass auch ich bereits seit über elf Stunden unterwegs gewesen war, sprang in Windeseile unter die Dusche und schmiss noch eine Waschmaschine an, ehe ich mich um das heutige Abendessen kümmerte. Wenn Mom nach Hause kam, würde sie sicherlich etwas essen wollen.

Während ich kochte, machte ich meinen Bluetooth Lautsprecher an und ließ meine K-Pop-Playlist laufen. Da ich allein war, grölte ich aus vollem Herzen »Butter« von BTS mit. Vielleicht sollte ich den Song doch irgendwann mal covern und bei YouTube hochladen. Ein Versuch war es wert, auch wenn es mich oftmals Überwindung kostete, überhaupt Videos zu drehen. Meist überfiel mich im letzten Moment ein flaues Gefühl im Bauch, wenn ich einen aufgenommenen Cover-Song wirklich hochladen wollte. Doch ich versuchte mich dadurch ab und zu aus der Komfortzone zu locken. Nicht nur die Liebe zur Musik schenkte mir in den Momenten das letzte Quäntchen Mut, auch Bands wie BTS, Stray Kids oder EXIT halfen mir dabei, mich selbst mehr zu akzeptieren und zu lieben. Deswegen war ich dem K-Pop so verfallen. Die Bindung zwischen Fans und Idol war unfassbar stark, die Bands vermittelten so viel Liebe und Kraft, dass man praktisch keine Möglichkeit hatte, sich dem zu entziehen. Einmal in der Bubble kam man nur sehr schwer wieder heraus – oder eben gar nicht.

Mein Handy vibrierte, während ich das Backblech mit der selbstgemachten Pizza in den Ofen schob. Ich sah auf das Display und runzelte die Stirn. Es war Cassy. Seltsam, um diese Zeit müsste meine beste Freundin eigentlich in der Buchhandlung sein. Sie arbeitete ebenso wie ich bei Tony’s Books, dem kleinen Buchladen nahe meines Lieblingscafés, der bekannt für seine Klassiker-Abteilung war. Im Gegensatz zu mir war es bei Cassy nur ein Aushilfsjob, der ihr das Studium mitfinanzierte, während ich dort arbeitete, um die Miete und laufenden Rechnungen bezahlen zu können und meine Mutter so gut es ging zu unterstützen.

»Hey, was gibt’s?«, begrüßte ich sie. Im Hintergrund dröhnte bereits der Verkehrslärm durchs Telefon. Sie musste wohl schon auf dem Heimweg sein.

»Kannst du morgen meine Schicht in der Buchhandlung übernehmen?«, fragte sie geradeheraus.

Ich musste mir ein Aufstöhnen verkneifen. Cassy wusste genau, dass ich morgen nur den halben Tag arbeiten wollte, um alles für meinen Geburtstag in zwei Tagen vorzubereiten. Meine Cousine Dina kam zu Besuch und ich freute mich sehr darauf.

»Was hast du für eine Schicht?« Morgen hätte ich Frühschicht gehabt, also von halb acht bis eins.

»Von zehn bis drei. Mom und Dad können nicht zu Ellis Fußballspiel kommen und ich habe es ihr versprochen. Pete ist zwar mit seiner Frau auch da, aber sie wird enttäuscht sein, wenn ich nicht komme. Die Vorbereitungen fangen schon ab zwölf an.« Elli war Cassys kleine Schwester und da ihre Eltern oftmals geschäftlich unterwegs waren, passte Cassy häufig auf sie auf. Ihr großer Bruder war bereits vor Jahren ausgezogen und hatte mittlerweile seine eigene Familie, weswegen alles an Cassy hängenblieb. Manchmal war ich mir nicht so sicher, ob sie nicht auch lieber in einem Studentenwohnheim gelebt hätte, anstatt weiterhin daheim zu bleiben. Aber Elli war erst vierzehn, sie konnte nicht ständig allein zuhause sein.

Jetzt konnte ich mir das Seufzen doch nicht mehr verkneifen. »Ja, ich denke, es lässt sich einrichten. Passt mir zwar nicht so, aber ich mach’s.«

»Du bist die Allerbeste, weißt du das eigentlich?«

»Klar. Hab viel Spaß beim Fußballspiel und feuere Elli für mich mit an.«

»Immer. Sie wird sich freuen. Wieso kommst du nach der Arbeit nicht zu uns? Wir wollen grillen, Peter kommt auch mit seiner Familie vorbei. Oh, und Simon.«

Meine Wangen wurden warm, als sie Simon erwähnte. Er war ein Kommilitone von Cassy und ich war ihm bereits öfter begegnet. Wenn ich daran dachte, was passiert war, als wir das letzte Mal gemeinsam bei Cassy gewesen waren, dann wurden meine Wangen nicht nur warm, sondern heiß. Schnell schob ich die Erinnerungen beiseite.

»Ich schau mal, ob ich es einrichten kann, okay? Ich muss Dina auch noch vom Flughafen abholen.«

»Bring sie einfach mit. Das Barbecue fängt bestimmt erst um sechs oder so an.« Es knackte und kurz darauf kaute Cassy geräuschvoll auf irgendetwas herum, was sich wie eine Möhre anhörte. Dina würde gegen halb fünf ankommen, also hatten wir noch genug Zeit, zu Cassy zu fahren. Ein Teil von mir hatte bereits entschieden, hinzugehen, während der andere noch haderte.

»Ich melde mich bei dir.«

»Wir sehen uns morgen, June. Was habe ich dir über das Schneckenhaus erzählt?«

»Es ist dazu da, um es zu verlassen. Jahaa, ich weiß.«

»Schön, dass du dich an meine Worte erinnerst. Also, bis morgen«, verabschiedete sie sich schließlich. Ich beendete den Anruf und legte das Handy auf die Anrichte vor mir. Cassy wusste, dass es mir manchmal schwerfiel, aus mir herauszukommen, aufgeschlossen und unbeschwert zu sein. Während sie laut und bunt war, waren meine Farben eher schlicht und gedeckt gehalten. Komisch, dass wir trotz unserer Unterschiede beste Freundinnen waren – vielleicht aber auch gerade deshalb. Außerdem hatten wir eine große Gemeinsamkeit: die Liebe zum K-Pop. Das verband uns seit Jahren eng miteinander.

Mein Handy leuchtete wieder auf und riss mich aus den Gedanken.

Mom: Verspäte mich, es gab einen Unfall mit mehreren Verletzten. Iss schon ohne mich. xoxo

Ich stieß das nächste Seufzen aus. Obwohl sie so viel arbeitete, reichte es kaum aus, die Schulden abzubezahlen. Um mir eine Kindheit in einem Haus, statt in der muffigen kleinen Wohnung zu ermöglichen, in der wir bis zu meinem siebten Lebensjahr gelebt hatten, hatte sie damals einen hohen Kredit aufgenommen. Außerdem mussten wir das Pflegeheim, in dem mein Grandpa lebte, bezahlen und auch das war leider teuer. Mein Job in der Buchhandlung war zwar unterbezahlt, doch etwas Besseres hatte ich bisher nicht gefunden – schließlich hatte ich keine Ausbildung, kein Studium. Ich hatte nichts vorzuweisen, außer einen Highschool-Abschluss und natürlich meinen Willen, zu arbeiten und meine Mom zu unterstützen.

Manchmal nervte mich das alles so sehr. Dass ich meinen Vater, der in Seoul lebte, nur einmal im Jahr, oder manchmal sogar nur alle zwei Jahre, sah, dass Mom so viel arbeitete, die Situation mit Grandpa, dass ich nicht studieren konnte. Dabei wollte ich nichts sehnlicher, als mich an einem College zu bewerben, um irgendwann Musik produzieren zu können. An manchen Tagen spürte ich die Verzweiflung ein kleines bisschen mehr als sonst. Als würde sie über die Mauer klettern und ihre Finger nach mir ausstrecken, mich beinahe berühren. Dann war es schwer, ihr nicht meine Hand reichen zu wollen und mich in der Genervtheit und Ungerechtigkeit zu suhlen.

Aber heute ließ ich nicht zu, dass das passierte. Ich machte weiter wie immer, holte nur einen Teller aus dem Schrank und tippte Mom eine Antwort.

June: Pass auf dich auf. Hab Pizza gemacht, ist dann im Ofen. xx

Wahrscheinlich würde sie diese sowieso nicht mehr lesen. Wenn es einen Unfall gegeben hatte, würde im Krankenhaus die Hölle los sein. Auch wenn sie immer sagte, dass alles okay wäre, zog sich der Knoten in meinem Inneren bei jeder ihrer zahlreichen Überstunden fester.

Gerade als ich Spotify wieder öffnen wollte, um etwas gegen die Stille im Haus zu tun, ploppte eine Benachrichtigung auf, dass Taewon von EXIT ein Live-Video gestartet hatte. Ich tippte auf die Nachricht, wartete einen viel zu langen Moment, ehe die App startete, und sah wenige Sekunden später Taewon auf meinem Display. Er saß vor seinem Handy und machte im Sitzen die Cheoreo eines EXIT-Songs mit, der im Hintergrund lief. Dabei trug er das wohl schönste und breiteste Grübchen-Lächeln, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Postwendend kam die Nachricht von Cassy, dass Taewon live war. Ich antwortete ihr, dass ich es auch schaute.

Cassy: O mein Gott, siehst du dieses Lächeln?! ICH WEINE GLEICH!

Cassy: Wie schön kann ein Mann sein? Taewon: Ja!

Cassy: Lass mich in Seoul sein, biiitteeeee!!

Cassy: Singt er gerade EUPHORIA?! Diese Jungkook Vibes

Cassy: KILL ME NOW

Es war schier unmöglich, mit dem Tippen hinterherzukommen, dank ihr musste ich aber lachen, als nur noch Emojis mit platzendem Kopf kamen. Taewon war Cassys Bias von EXIT und somit ihr unangefochtener Favorit. Lächelnd ermahnte ich sie, dass sie mir weniger schreiben und ihm mehr zusehen sollte. Dann lehnte ich mein Handy gegen den Mixer, um beide Hände für die Pizza freizuhaben. Nachdem ich das Blech ohne verbrannte Finger auf der Arbeitsfläche abgestellt hatte, nahm ich mir ein Stück und setzte mich an den Tisch. Natürlich nicht ohne mein Handy.

»Kannst du bitte Englisch sprechen?«, las Taewon gerade eine Frage auf Koreanisch vor. Er lachte. »Ihr wollt nur meinen australischen Akzent hören«, switchte er ins Englische.

Ein Zwinkern für die Kamera. Das Grübchen in seiner linken Wange hatte gefährliche Ausmaße angenommen und ich schaute ihm zu, wie er über einen Kommentar lachte, während ich meine Pizza aß. Vielleicht mochte es für den ein oder anderen echt traurig aussehen – aber ich war froh, dass ich nicht ganz allein in völliger Stille essen musste. Mom war oft nicht da und trotzdem hatte ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, so viel allein zu sein. An manchen Tagen genoss ich die Ruhe und die Einsamkeit, doch an anderen war es eben genau das – einsam. Also lauschte ich Taewon, der in seinem ziemlich attraktiven australischen Akzent Fragen beantwortete.

Am oberen Displayrand tauchten Nachrichten von Cassy auf.

Cassy: Sollte ich ihm eine Frage stellen?

Cassy: Ja, oder?

Cassy: Es ist eh unwahrscheinlich, dass er sie beantwortet. Weil eine von Tausenden und so.

Cassy: Ach, scheiß drauf! No risk no fun.

Natürlich wurde Cassys Frage, ob EXIT bei der nächsten Tour nach Amerika kommen würde, nicht beantwortet. Taewon erzählte noch von den letzten anstehenden Konzerten in Südkorea, ehe die Band sich eine Pause gönnen wurde. Seit dem letzten Comeback waren sie nonstop bei Terminen für die Promotion des neusten Albums gewesen und hatten direkt im Anschluss eine Tour gestartet, weshalb sie seit Monaten unterwegs waren. Das sah man Taewon allerdings auch an. Er war ungeschminkt, hatte leichte Ränder unter den Augen und sein Englisch war noch akzentreicher als ohnehin schon. Dass er trotzdem für die Fans Live kam, zeigte nur einmal mehr, wie viel diese ihm bedeuteten.

Nach einer halben Stunde verabschiedete er sich dann auch schon wieder, weil er noch Dinge zu tun hatte, wie er so schön sagte. Kein Wunder, es war früher Morgen in Seoul, während es hier noch der Abend vorher war. Die Zeitverschiebung war nervig, vor allem, wenn ich mit meinem Vater telefonieren wollte.

Nachdem ich gegessen hatte, räumte ich das schmutzige Geschirr weg und ging schließlich nach oben in mein Zimmer. Meine schwarze Akustikgitarre blitzte mir entgegen und ich setzte mich mit ihr aufs Bett und fuhr über die Saiten.

Einen kurzen Moment haderte ich, doch dann lehnte ich sie gegen das Bett, stand auf und schaltete mein Ringlicht an. Ich befestigte das Handy am Stativ, strich mir die Haare glatt, ehe ich mich wieder setzte und die Gitarre zur Hand nahm. Dann begann ich »The Truth Untold« von BTS zu spielen. Koreanische Songs zu singen, half mir dabei, die Sprache nicht zu verlernen. Mit meinem Vater unterhielt ich mich zu selten, als dass mein Koreanisch nicht einrosten würde.

Mit pochendem Herzen und leicht außer Atem beendete ich den Song und die darauf eintretende Stille erdrückte mich beinahe. Diese gewohnte Leere in meiner Brust tauchte sofort auf, als der letzte Laut der Gitarrensaiten verklang. Das Gefühl, stehen zu bleiben, mich in einem Käfig zu befinden, drohte mich zu übermannen und ich schloss kurz die Augen, ehe ich schließlich aufstand und das Video beendete. Sofort kam das schlechte Gewissen, weil ich mich so unfassbar undankbar fühlte. Meine Mom hatte mir während der Schulzeit alles ermöglicht, was irgendwie ging. Sie hatte sich verschuldet, um mir ein gutes Leben zu ermöglichen. Auch wenn Appa uns monatlich etwas an Lebenshaltungskosten überwies, reichte es einfach nicht. Es war das Mindeste, was ich tun konnte, mich hintenanzustellen und sie, wo ich konnte, zu unterstützen.

»Manchmal ist das nur nicht so leicht, was?«, murmelte ich also zu mir selbst und ging ins angrenzende Bad, um mich bettfertig zu machen. Mittlerweile war es schon spät und ich war müde vom langen Tag. Als ich wieder in meinem Schlafzimmer ankam, blinkte eine Benachrichtigung auf meinem Handy auf.

Ich öffnete den Post von Jaemin auf Social Media, um ihn vollständig ansehen zu können.

Erinnerung für heute: Du machst das gut. x

Unweigerlich musste ich lächeln. Er hatte es öffentlich gepostet, einfach so aus dem Nichts und trotzdem gaben mir diese Worte unheimlich viel Kraft.

Genügend, um mit einem besseren Gefühl ins Bett zu kriechen. Ich nahm mir das Buch, in dem ich schon seit mehreren Wochen las, zur Hand, und blätterte die Seite auf, bei der ich stehengeblieben war.

Und für den Moment konnte ich in eine fremde Welt abtauchen, was ich mehr als nötig hatte.

2장 | Taewon

노래: My House

– 2PM

Es war mal wieder einer dieser Tage, an denen nichts so funktionieren wollte, wie ich es gerne gehabt hätte. Seit geraumer Zeit arbeitete ich an einem Song und wollte endlich mein eigenes Mixtape veröffentlichen, doch mein Kopf war wie leergefegt. Als würde ich keine Inspiration mehr finden, als wäre ein dicker Nebel aufgezogen, der mein Denken beeinträchtigte. Doch es war nicht nur dieser Nebel, der mich hemmte, es war auch der Druck.

Seit wir vor drei Jahren debütiert hatten, arbeiteten wir praktisch pausenlos durch. EXIT war immer bekannter geworden, bis wir letztes Jahr sogar einen eigenen Light Stick bekommen hatten. Damit setzte unser Management nicht nur ein Zeichen dafür, dass es sich mehr von uns versprach und wir uns bisher rentiert hatten, es erhöhte auch unaufhörlich das Gewicht auf meinen Schultern. Wir waren auf dem besten Weg, die erfolgreichste Band des Entertainments zu werden.

Je bekannter wir wurden, desto größer wurden die Erwartungen. Nicht nur die des Managements, sondern auch unserer Fans, den Luvers, die sich schon lange nicht mehr nur auf Südkorea begrenzten.

Doch genau das war es doch, wofür wir – ich – so hart gearbeitet hatten. In der K-Pop-Branche bekannt zu werden, wirklich Fuß zu fassen, war unglaublich schwer und in uns und unser Können wurde so viel Vertrauen gesteckt. Man zählte auf uns. Und wie dankte ich es ihnen? Indem ich einfach Panik bekam. Panik, weil wir von einem Termin zum nächsten hetzten, unsere letzten Konzerte der Tour planten, trainierten, an unserer Musik arbeiteten … und dabei ganz und gar vergaßen, zu atmen.

Die Gedanken beiseiteschiebend starrte ich auf die leere Notizen-App auf meinem Smartphone. Ich stützte meinen Ellbogen auf die Tischplatte, stütze meinen Kopf in die Handfläche. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas schreiben wollte, fühlte es sich nicht richtig an, das kribbelnde Gefühl der Aufregung setzte nicht ein – egal, ob in Koreanisch oder Englisch, der Funke sprang einfach nicht über. Chan-Sung und ich waren für die Songs verantwortlich, wir schrieben und produzierten sie. Doch aktuell war ich nicht auf der Höhe und scheinbar zu nichts zu gebrauchen. Ausgerechnet jetzt, wo uns das Management zum ersten Mal nicht in unsere Arbeit reinreden wollte. Seit CEO Kang von Blossom Music unsere Company übernommen und sie zu Blossom Entertainment geworden war, hatten wir freie Hand bei unseren Songs. Vorher war alles von anderen geplant worden, und uns am Ende nur vorgesetzt worden. Nach außen hin sagte man, wir würden uns selbstproduzieren, doch wir spielten im Endeffekt doch nur die Musik, die andere machen wollten.

Müde schloss ich die Augen und fuhr mir über die Stirn. Mein Kopf tat weh. Trotzdem wollte ich den Tag noch nicht beenden. Also stand ich auf, ging aus meinem Studio und die mittlerweile dunklen Flure entlang Richtung Trainingsräume. Ich öffnete die Tür, schaltete das Licht und die Bluetooth-Boxen an. Unentschlossen skippte ich durch die Songs in meiner Playlist und traf schließlich doch meine Wahl. Dann zog ich mir den Pullover über den Kopf und begann mit Einsetzen des Beats zu tanzen.

Das Tanzen half immer. Bis an meine Grenzen zu gehen und neue Schritte auszuprobieren, gaben mir wenigstens für den Moment das Gefühl, als würde ich etwas Produktives und Sinnvolles für die Band tun.

Ich verlor mich völlig in der lauten Musik und konzentrierte mich so auf meine brennenden Muskeln, dass ich erst eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, als der laufende Song sein Ende fand. Mein Brustkorb hob und senkte sich heftig, Schweiß rann mir die Schläfen hinab, während ich mich herumdrehte.

»Jae-ssi«, begrüßte ich den Maknae der Band und griff nach einem Handtuch, das auf dem Boden lag. »Was machst du hier? Es ist spät.«

»Ich dachte mir, dass du hier bist, als ich die Musik gehört habe.« Er kam näher und schob die Hände in die Hosentaschen. »Muss ich mir Sorgen machen? In letzter Zeit trainierst du oft noch bis spätabends.«

Ich stoppte den nächsten Song, der bereits anlief, und griff nach meinem Pullover, um ihn wieder überzuziehen. Dann zuckte ich mit einer Schulter und setzte mich auf den Boden. Ich konnte ihm nichts von meinen Zweifeln erzählen, oder? Eigentlich hatten wir innerhalb der Band keine Geheimnisse. Nur deswegen waren wir so weit gekommen: Wir waren wie eine Familie. Wir hielten zusammen. Doch jemanden von meinen Ängsten und Sorgen zu erzählen, fühlte sich undankbar an. Als würde ich wirklich an dem Druck scheitern, als würde ich das, was wir erreicht hatten, nicht wertschätzen.

»Ich will einfach noch besser werden, daran ist nichts verwerflich, oder? Außerdem gehe ich neue Schritte durch, die wir vielleicht nutzen können.« Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber definitiv auch keine Lüge.

Jae setzte sich mir gegenüber im Schneidersitz auf den Boden. »Du siehst aus, als würde dir viel im Kopf herumschwirren.«

Irgendwie hatten wir uns schon immer auf einer Wellenlänge befunden, weswegen es mich jetzt nicht wunderte, dass er ahnte, dass meine Gedanken zu laut waren.

»Es ist nichts«, erwiderte ich ausweichend und wandte mich von ihm ab.

»Genau. Und deswegen kannst du mich nicht mal ansehen, wenn du das sagst.« Jae rutschte näher zu mir und stieß mich sacht gegen die Schulter. »Rede mit mir, hyung.«

Ich raufte mir das blondierte Haar. Es war ein Wunder, dass sie mir noch nicht reihenweise abgebrochen oder ausgefallen waren. Nach den Konzerten würde ich ihnen eine Auszeit von dem Färben gönnen, so viel stand fest.

»Bist du glücklich?« Ich sah ihm direkt in seine dunklen Augen. Noch immer traute ich mich nicht ganz mit der Sprache rauszurücken, doch es kribbelte mir bis in die Fingerspitzen, diese Wahrheit loszuwerden. Bisher hatte ich noch mit niemanden darüber gesprochen, wie ich mich in der letzten Zeit gefühlt hatte. Was, wenn ich das alles einfach einmal rauslassen musste?

Verwirrt runzelte er die Stirn. »Wie meinst du das?«

Wieder zuckte ich mit den Schultern, haderte noch immer damit, meine Gedanken auszusprechen.

»Tae-hyung, rede mit mir. Was ist los?« Jae lehnte sich zu mir rüber und griff nach meinen Händen.

»Ich meine es, so wie ich es gesagt habe. Bist du glücklich? Ich weiß nicht, ob ich es bin. Wir haben in den letzten Monaten so viel erreicht, aber ich fühle nicht das, was ich denke, fühlen zu müssen. Ich müsste erfüllt von Glück sein, denkst du nicht?« Ich tippte mir mit der Hand auf die Brust, dort, wo mein Herz schlug. »Ich fühle mich … so leer. Ausgelaugt. Als würde etwas fehlen, dabei habe ich alles, was ich mir je gewünscht habe. Ihr seid da, wir haben Erfolg, für den wir hart gearbeitet haben. Und trotzdem ist da diese Leere in mir und ich fühle mich so verdammt undankbar.«

»Es wird einfach Zeit, dass wir eine Pause haben.« Jaes dunkle Augen blickten mich direkt an und er drückte meine Hände. »Du bist nicht undankbar, nur weil du an deinen Grenzen ankommst. Wir machen seit Jahren nichts anderes als durchzupowern. Ein Auftritt nach dem anderen, die Tour, Interviews, Shootings, Videodrehs. Jeder von uns ist irgendwann am Ende und glaub mir, ich bin auch froh, wenn wir etwas Freizeit haben, egal wie sehr ich das liebe, was wir tun.«

Ich nickte. Es tat gut, diese Bestätigung von ihm zu bekommen. Und trotzdem füllte sie das Loch in meinem Inneren nicht, was schwer auf mein Herz drückte.

Was war es, das mir so offensichtlich fehlte?

3장 | June

노래: LMLY

– Jackson Wang

 

»Du bist ja noch da«, begrüßte ich meine Mom am nächsten Morgen, als ich in die Küche kam und sie noch am Tisch saß.

Sie warf mir ein müdes Lächeln zu. »Rita hat mir heute den Spätdienst und morgen freigegeben, weil ich in letzter Zeit so viele Überstunden gemacht habe.«

Ich schenkte mir einen Kaffee ein und setzte mich zu ihr an den Tisch. Sie sah erschöpft aus, dunkle Ringe zeigten sich unter ihren Augen. Besorgt verzog ich das Gesicht. »Da hat Rita nicht ganz unrecht. Du siehst müde aus, Mom. Du brauchst dringend ein paar Tage frei.«

Mom winkte ab. »Etwas Schlaf und ich bin wieder wie neu.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und strich sich das Haar hinters Ohr. »Wenn du willst, können wir den Kuchen für morgen gemeinsam backen«, schlug sie vor und lächelte.

»Theoretisch gern, aber Cassy hat mich gebeten, ihre Schicht zu übernehmen, deswegen bin ich heute bis drei in der Buchhandlung.« Ich seufzte.

Immer wenn ich dachte, ein wenig Freizeit zu haben, kam irgendetwas dazwischen. Fast alle meine Tage waren so vollgestopft, dass ich kaum die Chance hatte, zu atmen.

»Ach, das ist typisch. Heute Abend holst du Dina vom Flughafen ab, oder?«

Ich nickte und überging den bissigen Kommentar. Es war nicht das erste und gewiss auch nicht das letzte Mal, dass ich spontan eine Schicht von Cassy übernahm. »Genau und dann fahren wir vermutlich gemeinsam zum Barbecue zu Cassy. Elli hat doch heute ein Fußballspiel und ihre Eltern können mal wieder nicht dabei sein.«

»Dann kümmere ich mich um deinen Kuchen, okay? Es wird der beste Geburtstagskuchen, den du jemals gesehen hast.« Sie prostete mir mit der Kaffeetasse zu und nahm den letzten Schluck, ehe sie ein Gähnen unterdrückte.

»Vielleicht solltest du erst mal noch ein bisschen Schlaf nachholen, Mom«, erwiderte ich und betrachtete sie besorgt. Ihr eigentlich rundliches Gesicht wirkte ausgezehrt, regelrechtblass. Mit ihren dunklen Augen schaute sie mich zwar an, doch sie wirkten müde und nicht wirklich im Hier und Jetzt.

»Du hast recht«, antwortete sie und fuhr sich über das Gesicht. »Ich räum noch schnell auf und dann lege ich mich hin.« Sie stand auf und wollte gerade ihr Geschirr abräumen.

»Quatsch, lass stehen. Ich mach das gleich. Geh schlafen.«

Mom sah mich einen Augenblick liebevoll an und lächelte. »Du bist die beste Tochter, die man sich wünschen kann, weißt du das eigentlich?« Sie tätschelte mir die Schulter, als sie schließlich aus der Küche und nach oben in ihr Schlafzimmer ging.

Ich leerte meinen Kaffee in einem Zug und räumte auf. Dann machte ich mir in Windeseile ein Sandwich, das ich auf dem Weg zur Arbeit aß. Nicht allzu gesund, aber für ein entspanntes Frühstück war keine Zeit mehr.

In der Buchhandlung angekommen, war es herrlich ruhig. Es war noch nicht ganz halb acht, die Sonne stand noch tief zwischen den Hochhäusern und kündigte einen goldenen Herbsttag an. So früh am Morgen waren meist noch keine Kunden hier, weswegen ich Zeit hatte, zwischen den Regalen zu schlendern und durch die Bücher zu stöbern. Es gab so viele interessante Themen, doch mein Herz blieb immer in der Fantasyabteilung hängen. So auch heute. Fremde Welten zu entdecken, zaubern zu können, eine Kriegerin zu sein … all das waren Dinge, in die ich mich in meinem Alltag nur zu gerne flüchtete.

»Guten Morgen, June«, ertönte eine viel zu tiefe Stimme hinter mir und ich ließ beinahe das Buch aus den Händen fallen. Ich drehte mich ruckartig um, und stand niemand anderem als Simon gegenüber.

»S-Simon«, stotterte ich und räusperte mich kurz. »Was machst du denn schon hier?«

Seine hellblauen Augen blitzten. Durch seine von Natur aus dunklen Haare wirkten sie noch strahlender als ohnehin schon und die ebenso dunkle Kleidung tat ihr übriges.

»Ich hab meine Bestellung abgeholt. Für den Wirtschaftskurs«, erklärte er mit einem sanften Lächeln und deutete auf das Buch in seinen Händen. Natürlich. Wir waren schließlich in einer Buchhandlung. Auch wenn es für ihn eigentlich einfacher wäre, die Bücher in der Unibibliothek auszuleihen oder dort zu bestellen.

»So früh?«

Simon fuhr sich durch das Haar. »Ich wusste, dass du schon hier sein würdest, vielleicht bin ich deswegen früher aufgestanden.« Als er zwinkerte, wäre mein Herz wohl am liebsten stehengeblieben. Flirtet er gerade mit mir?

Bilder des letzten Treffens bei Cassy flammten in meinen Erinnerungen auf und mir wurde ganz warm.

Simon, der plötzlich nach meiner Hand gegriffen hatte, als Cassy etwas zu trinken geholt hatte.

Simon, der mir eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen hatte.

Simon, der mir immer nähergekommen war.

Und dann Cassy, die dazwischen geplatzt war, bevor unsere Münder sich berührt hatten. Es war, als spürte ich das erwartungsvolle Kribbeln auf meinen Lippen wieder.

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. In Momenten wie diesen hasste ich es, dass ich so schüchtern und nicht so schlagfertig war. Vielleicht hätte ich ihm sonst sagen können, dass ich gern mit ihm allein war. Dass wir da weitermachen sollten, wo wir stehengeblieben waren. Doch kein einziges Wort, was ich sagen wollte, kam tatsächlich raus.

Stattdessen sagte ich: »Wir sehen uns nachher doch beim Barbecue.«

Auch wenn er es sich sicher nicht hatte anmerken lassen wollen, konnte ich erkennen, wie sein Lächeln eine Spur schmaler wurde. Es verlor an Glanz, an Strahlen. Als würden sich Wolken vor die Sonne schieben.

»Stimmt, ich hatte nur gedacht, es wäre schön, dich heute früh noch zu sehen.«

Ich biss mir fest auf die Zunge. Mein Herz pochte in jeder Ecke meines Körpers.

Als ich nicht antwortete, stieß er ein schüchternes Lachen aus. »Du scheinst nicht allzu begeistert zu sein.«

Erschrocken darüber weitete ich die Augen etwas. Aber da hatte ich mit meiner Reaktion wohl selbst schuld. »Ich freue mich dich zu sehen«, gab ich endlich zu. »Ich bin nur nicht sonderlich gut … in sowas.« Hilflos gestikulierte ich mit den Händen zwischen uns beiden herum und wagte es dabei schon wieder nicht mehr, ihn anzugucken. Ich blickte überall hin, nur nicht zu ihm. Himmel, June, wie soll das nachher beim Barbecue werden?

»Musst du auch nicht sein.« Er kam einen Schritt näher. Das Bücherregal in meinem Rücken verhinderte, dass ich vor ihm zurückweichen konnte. Er hob mein Kinn an, sodass ich mich nicht wehren konnte. »Alles in deinem Tempo«, raunte er mir zu, beugte sich vor und setzte einen Kuss auf meine Wange, viel zu nah an meinem Mundwinkel. »Dann bis heute Abend.«

Mit diesen Worten ließ er von mir ab und verschwand zwischen den Regalen. Mein Herz klopfte in einem Takt, der jenseits von Gut und Böse lag. Er war schon lange fort, da stand ich immer noch wie vom Donner gerührt an Ort und Stelle.

»Ach, hier bist du«, holte mich meine Chefin aus der Starre und ich fuhr herum. »Hast du einen Geist gesehen?« Sie hob eine Augenbraue. Ihre langen, blonden Haare, die mich immer ein bisschen an Rapunzel erinnerten, waren heute in einem gigantischen Dutt mitten auf ihrem Kopf drapiert. Auch ihre großen, runden Augen erinnerten an den Animationsfilm – selbst wenn da die Ähnlichkeit eher zu Pascal, dem Chamäleon, tendierte.

»Nein, natürlich nicht. Wieso suchen Sie mich?«

»Es kam eine neue Lieferung an. Könntest du die Bücher im Lager einsortieren?«

Ich nickte. »Ja, natürlich.«

Den restlichen Vormittag kam ich nicht mehr aus dem Lagerraum heraus. Anstatt nur die neuen Kisten zu verstauen, mussten wir das System auf den neusten Stand bringen, da im nächsten Monat die Inventur fällig war. Also verbrachte ich meine Arbeitszeit im hinteren Teil der großen Buchhandlung und kam nur aus dem Büro heraus, als ich eine kurze Mittagspause einlegte. Ich kaufte mir in einem Café einen Bagel und einen großen Schokoladen Frappé, vertilgte beides in Rekordzeit und arbeitete danach im Lager weiter, bis ich schließlich Feierabend hatte.

»Schönen Abend, June«, rief mir meine Chefin zu, als ich den Laden durchquerte.

»Ihnen auch später«, erwiderte ich höflich und deutete mit dem Kopf ein tieferes Nicken an, was mehr oder weniger eine Verbeugung sein sollte. Dank meines Appas waren die koreanischen Manieren fest in mir verankert, auch wenn ich mich kaum noch an die wenigen Jahre, die wir in Seoul als eine Familie gelebt hatten, erinnerte. Als ich drei war, wurde Grandpa krank und musste ins Pflegeheim, sodass Mom gezwungen war, zurück nach New York zu ziehen. Natürlich hatte sie mich mit sich genommen. Appa hatte damals gerade erst sein Restaurant in Itaewon eröffnet und Mom hatte ihm nie ein Ultimatum gestellt. Sie war nicht die Person, die jemanden zwang, sich zwischen zwei Dingen zu entscheiden. Außerdem wohnten meine Großeltern bei Appa und auch sein unverheirateter Bruder – in Südkorea war es üblich, dass mehrere Generationen einer Familie in einem Haus lebten. Meine Eltern hatten sich beide ihren jeweiligen Familien gegenüber verpflichtet gefühlt, weshalb Appa in Seoul blieb. Es wäre vermutlich leichter gewesen, wenn meine Eltern sich getrennt hätten, anstatt an ihrer Liebe festzuhalten. Doch die Momente, die sie gemeinsam verbringen konnten, waren für sie mehr wert als die vielen Meilen, die sie trennten.

Mittlerweile hatten wir uns gut damit arrangiert. Ich hatte eine gute Beziehung zu meinem Vater, wir sahen uns häufig über Videocalls, oder immer dann, wenn ich genug Geld hatte ansparen können, um mir ein Flugticket zu kaufen. Mom allerdings hatte ihn inzwischen länger nicht mehr gesehen, und auch wenn sie sagte, es sei kein Problem, wusste ich, dass es eins war. Ich hoffte sehr, dass sie bald im Krankenhaus freibekam und wenigstens für ein oder zwei Wochen nach Seoul fliegen konnte.

Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr ich direkt zum Flughafen. Müde lehnte ich den Kopf gegen das Fenster links von mir und schloss für einen Moment die Augen. Musik spielte durch meine Kopfhörer und half mir dabei, meine Umgebung auszublenden. Nur das holprige Ruckeln des Zuges hielt mich davon ab, einzuschlafen.

Am Flughafen angekommen scrollte ich mich durch die ganzen Nachrichten, die Cassy mir über den Tag geschickt hatte. Ellis Team hatte das Fußballspiel gewonnen. Ich antwortete ihr und schob das Handy schließlich zurück in meine Tasche, während ich einen kleinen Coffeeshop ansteuerte, um mir und Dina einen Kaffee zu besorgen.

Laut Anzeigetafel musste Dinas Flug jeden Moment landen, weshalb ich schon langsam Richtung Ankunftsbereich schlenderte. Menschenmengen kamen mir entgegen und ich drückte mich gekonnt am Rand an ihnen vorbei.

Einmal wurde ich geschubst und verlor beinahe einen Kaffeebecher aus der Hand. Ohne Entschuldigung lief der Mann weiter und ich schüttelte leicht den Kopf. Menschen waren so unfassbar anstrengend.

Es dauerte nicht allzu lange, bis ich meine Cousine in der Menge ausmachte. Dina hatte seit unserem letzten Treffen offenbar ihre Haare gefärbt, denn es war kein hellbraun mehr auf ihrem Kopf, stattdessen leuchtete mir ein kräftiges Neonpink entgegen, das ihr aber nicht weniger stand. Als sie sich nach mir umsah, ging ich auf sie zu. Sie entdeckte mich und ein Grinsen breitete sich in ihrem Gesicht aus.

»Da ist ja meine Lieblingscousine!«, rief sie bereits aus weiter Entfernung. Reflexartig zuckte ich bei ihrer Lautstärke zusammen und schaute mich unauffällig um. Als wir beieinander ankamen, wollte ich ihr den Kaffee in die Hand drücken, doch sie fiel mir bereits um den Hals. »So schön dich wiederzusehen, June.«

»Dito«, erwiderte ich mit einem Lächeln. »Was ist mit deinen Haaren passiert? Seit wann sind sie pink?«

»Ach, erst seit ein oder zwei Wochen. Steht mir, oder?« Sie grinste über beide Ohren. »Erzähl mal, wie ist es dir die letzten Monate ergangen?«

»Alles beim Alten.« Ich winkte ab, gab ihr einen der Becher und folgte ihr zum Ausgang des Gebäudes. »Wie war dein Flug?«

»In Ordnung. Lang. Von Chicago nach New York geht es wirklich schneller als von San Francisco aus.«

»Du hättest Vi auch mitbringen können«, erwiderte ich. »Zieht ihr eigentlich bald zusammen oder willst du weiter pendeln?«

Sie nippte an ihrem Kaffee. »Mein Studium in Chicago geht noch ein paar Semester, also pendele ich wohl weiter. Aber wir sind eh nicht so das Pärchen-Pärchen, weißt du? Wir können auch sehr gut ohne die anderen etwas unternehmen.« Dina zwinkerte mir zu und steuerte ein Taxi an, das draußen vor dem Flughafen auf Fahrgäste wartete.

»Ehm … was hältst du davon, wenn wir mit dem Zug fahren?«

Dina verzog das Gesicht. »Ich zahle das Taxi«, sagte sie nur und zog mich bereits zu einem der gelben Fahrzeuge. Der Taxifahrer half uns beim Einladen des Koffers, während ich ein Seufzen ausstieß.

»Dina, du musst nicht.«

Doch sie hob den Kaffeebecher in einer Geste an, die mir wohl zeigen sollte, dass ich kein Mitspracherecht hatte. »Ich weiß. Aber ich mache das gerne, okay? Also los.« Sie nickte zum Taxi und ich stieg beinahe widerwillig ein. Es war mir unangenehm, Geld von anderen zu nehmen, auch wenn sie es noch so gerne taten.

»Erzähl mir von San Francisco!«, wechselte ich gekonnt das Thema. »Ich bin noch nie dort gewesen.«

»Es ist wunderschön«, schwärmte Dina träumerisch. »Vi hat mir schon viele unglaublich schöne Plätze gezeigt. Ich habe da auch schon definitiv einen der besten Coffeeshops der Welt gefunden. Wenn ich dort bin und du mich mal besuchen kommst, dann zeige ich dir den.« Ihr Grinsen war ansteckend und sie verfiel in einen Rederausch, dem ich nur zu gerne lauschte. Sie erzählte von der Eventfirma, bei der sie ein Praktikum machte und natürlich ohne Punkt und Komma von ihrer Freundin. Dafür, dass die beiden kein »Pärchen-Pärchen« waren, sprach Dina ausgesprochen viel von Vi. Es war schön zu hören, wie glücklich sie waren.

Als wir bei mir zuhause ankamen, bezahlte Dina alleine das Taxi und ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, den sie gekonnt ignorierte.

»Was steht heute noch an?«, fragte Dina, als ich die Tür aufgeschlossen und sie hereingelassen hatte. »Machen wir die Nachtclubs von New York unsicher?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn du magst, können wir zu Cassy gehen, sie veranstaltet ein Barbecue.«

Kurz legte Dina den Kopf schief, dann nickte sie. »Sehr gern. Kommen heiße Studenten zu diesem Barbecue?«

Automatisch wurden meine Wangen heiß, wenn ich nur daran dachte, dass Simon kam. »Nicht, dass ich wüsste.«

Dina zog geräuschvoll die Luft ein und schaute mich mit offenem Mund an. »Sag mir nicht, dass du was mit einem Studenten am Laufen hast! June! Ich muss alles wissen!«

Peinlich berührt legte ich meine Hände an die erhitzten Wangen und schloss kurz die Augen. »Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Damit fangen die besten Geschichten an.« Sie lehnte sich gegen die kleine Kochinsel.

Ich seufzte. Tief und so genervt, wie ich konnte, bevor ich die Augen wieder öffnete. »Da gibt es jemanden, den ich mag, ja. Aber mehr ist da nicht. Er studiert mit Cassy zusammen. Nichts Spektakuläres. Du weißt, wie langweilig mein Leben ist.«

Dina schnalzte mit der Zunge. »Dein Leben ist nicht langweilig und ich bin sehr gespannt, Mr Student kennenzulernen. Ist es überhaupt schon mal vorgekommen, dass dir ein Kerl gefallen hat? Also abseits der ganzen K-Pop-Idols natürlich?«

Ich verdrehte die Augen. »Natürlich ist das schon mal vorgekommen, Dina. Und sein Name ist Simon, nicht Mr Student.«

Dinas Grinsen erlangte eine Größe, die mir Angst machte. »Fein. Dann also Simon.« Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und stieß einen Laut aus, der einem Schnurren glich. »Hm, Simon ist ein ziemlich heißer Name. Wenn sein Träger nur halb so sexy ist, wird das ein sehr interessanter Abend werden.«

»Dina! An sowas denke ich nicht mal!«

»Dann solltest du es vielleicht mal tun«, erwiderte sie und zwinkerte. »Na komm, gehen wir uns für die Grillparty fertig machen.« Sie griff nach dem Henkel ihres Koffers, hob ihn hoch und schleppte ihn in die obere Etage. Natürlich kannte sie sich bestens in unserem Haus aus und steuerte sofort das Gästezimmer an, welches sie immer bewohnte, wenn sie zu Besuch war.

Dina fand keines meiner ausgesuchten Outfits passend für den Abend. Ich versuchte mich nicht von ihrer Euphorie verunsichern zu lassen und zog schließlich das an, worin ich mich wohlfühlte: eine einfache Bluejeans, dazu ein weißer oversize Pullover, den ich vorn in die Hose steckte. Zu meiner großen Erleichterung trug Dina auch nichts, was zu aufreizend gewesen wäre. Sie hatte beneidenswerte Kurven und wusste diese auch zur Schau zu stellen. Doch heute hatte sie sich für eine schwarze Jeans und eine gestreifte Bluse entschieden. Dazu kramte sie Herbststiefel aus ihrem Koffer und rundete das Outfit mit etwas Schmuck ab.

Während ich unten noch darauf wartete, dass sie etwas Make-up nachlegte, scrollte ich mich durch Social Media.

Cassy: Kann ich mit dir rechnen?

June: Dina und ich sind so gut wie auf dem Weg. :)

 

Cassy schickte als Antwort Emojis mit Partyhütchen, was mich zum Lächeln brachte. Als Dina herunterkam, steckte ich das Handy weg und nahm die Autoschlüssel. Mom war mit dem Zug zum Krankenhaus gefahren und hatte mir ein Post-It hinterlassen, dass wir uns einen schönen Abend machen sollten. Kurz bevor wir aus der Tür gingen, fischte ich noch das Geschenk für Elli aus der Kommodenschublade im Flur. Ich hatte ihr schon vor Wochen ein Armband gekauft, an dem ein kleiner Fußball hing, auf dessen Rückseite ihre Initialen eingraviert waren. Dafür hatte ich lange gespart, aber das war es mir wert. Schließlich war Elli wie eine kleine Schwester für mich.

Die Strecke zu Cassy kannte ich in- und auswendig. Dina übernahm die Musik und wir sangen zu einem etwas älteren Song von EXIT mit. Anfangs hatte die Musik noch mehr elektronische Beats und waren ziemlich gut tanzbar, was Dina auf dem Beifahrersitz unter Beweis stellte. Zwar war feiern und tanzen gehen nicht so mein Ding, trotzdem ließ ich mich dazu hinreißen, den Text laut mitzusingen.

»Verdammt, ich habe vergessen, was für eine schöne Stimme du hast!«, sagte Dina, als der Song endete und ich zuckte mit einer Schulter.

»Sie ist ganz okay.«

»Kannst du aufhören, dich kleinzureden? Deine Lieblingscousine hat gesagt, dass du eine verdammt schöne Stimme hast.«

Ich lachte. »Du bist wie Cassy.«

»Tja, dann hast du schon zwei bewundernswerte Frauen in deinem Leben, auf deren weise Worte du hören solltest.«

»Ich werde es mir merken.« An einer roten Ampel hielt ich und trommelte leise auf das Lenkrad, als ein Lied von Jackson Wang begann. Es gab so unfassbar viele gute Künstler im K-Pop und so viele verschiedene Richtungen. Von derben Beats, bis hin zu sanften Balladen, Rock, Rap und Pop war alles dabei. Ich fürchtete, niemals jedem Künstler gerecht werden zu können, auch wenn ich beinahe nur noch koreanische Musik hörte. Wann immer jemand ein neues Album veröffentlichte, wollte ich gefühlt nie wieder etwas anderes hören. Aber dann kam das nächste Comeback einer anderen Band, wodurch es immer viel zu viel Content gab, mit dem man einfach nicht hinterherkam. Auftritte, Dance Practice, oftmals in verschiedenen Versionen, die Reaktion der Band auf das neuste Musikvideo … Ich wusste teils gar nicht, wo ich anfangen und aufhören sollte. Zu schnell verlor ich mich in der Bubble und versank Stunde um Stunde in der Musik.

Wie oft hatte ich bis spät in die Nacht Musik gehört und war dann völlig übermüdet in die Buchhandlung gefahren? Doch das ließ mich den Alltag vergessen, ließ mich für einen Moment nicht an meine Probleme denken. Dann war ich einfach nur der K-Pop-Stan, der ich sein wollte und nicht das Mädchen, das keine Wahl in ihrem Leben hatte.

Zwanzig Minuten später kamen wir bei Cassy an und ich lenkte den Wagen auf den großen Kiesplatz vor dem Haus. Die Veranda war von Lichterketten umgeben, bunte Blätter waren überall auf dem Boden verteilt und warteten darauf, vom nächsten Windstoß erfasst zu werden, um einen Tanz zu vollführen.

»Wow. Das ist mal ein Haus.«

Ich zog die Handbremse des Saabs an. »Du sagst es. Ihre Eltern sind beide Chirurgen. Sie haben zwar ein großes Haus und viel Geld, aber dafür wurde Cassy zum Großteil von ihrer Grandma und einem Kindermädchen aufgezogen. Und bei Elli ist es ganz genauso. Es hat nicht immer Vorteile, reich zu sein.« Meine Stimme klang viel verbitterter, als ich beabsichtigt hatte, sodass ich ein Seufzen hinterher setzte und mich sofort rechtfertigen wollte.

»Nein, ich verstehe dich«, schnitt Dina mir das Wort ab, noch bevor ich den Mund aufmachen konnte.

Ich verzog das Gesicht leicht und ballte meine Hände zu Fäusten. »Na komm, lass uns reingehen.«

Wir stiegen aus dem Wagen und gingen direkt um das Haus herum zum großen, gepflegten Garten. Mich hätte es tatsächlich nicht gewundert, wenn hier irgendwo noch ein riesiges Labyrinth aus Buchsbaumhecken auf uns warten würde, doch dazu war New York nicht die richtige Stadt. Schon von Weitem stieg mir der typische Grillgeruch in die Nase und prompt knurrte mein Magen. Der Bagel heute Mittag war das Letzte gewesen, was ich gegessen hatte.