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Der kurioseste Marathon der Welt – und ein ausgeklügelter Mord: Commissaire Luc Verlain ermittelt wieder! Sein erster Sommer im Aquitaine neigt sich dem Ende entgegen – doch kurz vor der Lese der edelsten Weine wird Frankreich von einer Hitzewelle erfasst. Und ausgerechnet nun findet der Marathon du Médoc statt, wo die Läufer in bunten Kostümen antreten und unterwegs auch noch Rotwein verkosten dürfen. Ein riesiges Fest, das für Luc noch schöner wird, weil seine Angebetete Anouk nach einer geheimnisvollen Italienreise wieder ins Aquitaine zurückkehrt. Gemeinsam stehen sie im Schlossgarten von Lucs bestem Freund Richard, der die Marathonläufer mit einem feinen Rotwein verköstigt. Plötzlich brechen einige Sportler zusammen, ein Politiker kommt nur knapp mit dem Leben davon und ausgerechnet der sympathische Winzer Hubert stirbt. So sehr sich Luc auch dagegen sträubt: Alle Spuren führen zu Richard, denn der steckt offenbar in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Der Commissaire muss sich bald entscheiden zwischen der Loyalität zu seinem alten Freund und den Gefühlen für seine Partnerin Anouk, die Richard längst für den Täter hält. Dies ist der zweite Band mit Commissaire Luc Verlain. Weitere Ermittlungen im Aquitaine gibt es in diesen Bänden: Band 1 - Retour Band 3 - Winteraustern
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Seitenzahl: 350
Alexander Oetker
Château Mort
Luc Verlains zweiter Fall
Roman
Hoffmann und Campe
Für Oma Ilse,
die stets lieber »ein kleines Bier« trinkt
Er lag wach. Seit Stunden. Die Ziffern des kleinen runden Weckers leuchteten im Dunkeln. Sie zeigten halb vier. Die Zeit, in der ihn seine Dämonen besonders gerne heimsuchten.
Der Wecker stand auf dem Nachttisch neben seinem Bett und verhöhnte ihn, so schien es, verhöhnte seine Schlaflosigkeit und seine Sorgen. Seine Ängste.
Dabei hätte er tanzen sollen, feiern, das Leben genießen.
Alles lief nach Plan. Nein, viel mehr als das: es lief grandios, so grandios, wie er es nie für möglich gehalten hatte.
In den letzten Tagen waren Dinge geschehen, die sein ganzes Dasein auf den Kopf stellen würden.
Er hob das linke Bein aus dem Bett, dann das rechte. Behände, wie andere über ihn sagen würden. Für einen 62-Jährigen war er behände. Sportlich. Ausdauernd.
Und als er dort an seinem Fenster stand und hinaussah in das Tal und die sternenklare Nacht, da spürte er: Ausdauer. Das war der Schlüssel.
Wie lange hatte er sich abgekämpft für all das. Für die grünen Blätter dort unten und die vollroten Trauben, die an den Reben hingen. Für die Stallungen dort hinten in den Schatten, die Fässer unter ihm im kalten Keller, für dieses kleine Schloss hier, mit dem Turmzimmer, in das nie jemand einen Fuß setzte.
Aber jetzt könnte sich seine jahrzehntelange Ausdauer bezahlt machen. Jetzt war er dabei, endlich einen richtig großen Wein etikettieren zu können – und dann zu verkaufen. Für achtzig, neunzig, vielleicht hundert Euro pro Flasche. Und einen Ruf zu bekommen, der ihn in die großen Weinmagazine brachte und in die Reiseführer. Einen Wein, der ihm die Touristen in Bussen ins Schloss karren würde.
Die Trauben dieses Jahres, die da unten hingen an den Reben, diese prallen roten Trauben, sie wären der letzte simple Wein, den er herstellen würde. Ihm hatte sein Roter immer geschmeckt, es war ein solider, guter Wein, ein Genuss für Menschen, die etwas von Wein verstanden, aber auch auf ihren Geldbeutel achteten.
Und die Trauben wären in einem Jahr ja immer noch dieselben. Genau wie die Fässer. Und das Château. Aber die Klassifikation seines neuen Weines, die wäre dann eine andere: Grand Cru Classé – oder eines Tages sogar Premier Grand Cru Classé. Dann würden sich sparsame Genießer seine Tropfen nicht mehr leisten können.
Er wollte diesen Wein. Diesen großen Wein.
Sollte er das Turmzimmer renovieren? Für Führungen durch sein Château? Und könnte er auch endlich seine Tochter mehr unterstützen? Ihr wieder nahe sein?
Doch während er auf die vom Mond beleuchteten Reben dort unten vor dem Fenster sah und sich die eigene Zukunft ausmalte, schlich sich wieder dieser Gedanke ein.
Der Gedanke war verbunden mit dem Bild eines Mannes vor seinem geistigen Auge. Konnte er all das tun? Durfte er seinen Familienbesitz aufs Spiel setzen?
Wenn es schiefging, wäre alles verloren. Seine Zukunft. Und sein guter Ruf.
Durfte er als Weinliebhaber zum Betrüger werden? Sich vergreifen am größten Kulturgut Frankreichs?
Er sah wieder das Bild des Mannes. Eines sehr alten Mannes. Das Bild in seinen schlimmen Gedanken war das Gesicht seines Großvaters, der streng und drohend den Kopf schüttelte.
Kopfschmerzen. Und dazu dieses helle Licht, das Luc förmlich durch die Augenlider drang. Es war heiß. Elendig heiß. Das spürte er, bevor er die Augen schmerzhaft öffnete. Der Anblick dort oben war blau. Wolkenlos. Der Himmel des Aquitaine. Luc stutzte. Er richtete sich langsam auf und stützte sich dabei auf den Ellenbogen ab.
Sein Hinterkopf war voller Sand – und sein Blick fiel nach vorne auf den Ozean. Was war denn hier los?
Und dann kam die Erinnerung zurück. Langsam. Gemächlich. Wie der Nachhall des Rausches von vor ein paar Stunden.
Er lag am Hauptstrand von Carcans Plage, und als er den Blick ein wenig wendete, entdeckte er neben sich Yacine, seinen Pariser Kollegen und Freund. Auch er sah reichlich verwüstet aus, wie er da lag, den Kopf in der gleißenden Sonne, den Mund im Schlaf ein wenig geöffnet.
»Mein Gott«, stöhnte Luc und dachte an die vergangene Nacht.
Sie hatten gefeiert und getrunken, erst in der Ortsmitte in der Bar L’Aperock, dann hatten sie am Strand einen Grill aufgebaut und ein Barbecue gemacht.
Bier, jede Menge Bier, dann gab es kalten Weißwein, und später, zum Lagerfeuer, waren sie auf Eau de Vie umgeschwenkt. Härter als dieser Schnaps war wirklich wenig. Dazu hatten sie unzählige Zigaretten geraucht. Lucs Vorrat seiner geliebten Schweizer Zigaretten Parisienne war bis auf wenige Restexemplare zusammengeschmolzen, und der Dorf-Tabac in Carcans führte sie nicht. Da gab es nur rote Gauloises.
Aber Yacine hatte ihm fünfzig Schachteln Parisienne mitgebracht.
»Hast du ’nen Tabac überfallen?«, hatte Luc gefragt.
»Alles für meinen Commissaire«, war Yacines Antwort gewesen.
Gut möglich, dass die Zigaretten wirklich aus der Schmuggelware des Pariser Polizeikellers stammten. Luc hatte gelernt, bei Yacine nicht genauer nachzufragen.
All diese Ingredienzen des Abends hatten den Weg zurück über die Düne in Lucs Cabane und ins Bett unmöglich gemacht. So kam es jetzt jedenfalls als Erinnerung langsam wieder im Kopf des Commissaire an.
Also mussten sie sich offenbar in ihrer Not entschieden haben, hier am Strand zu schlafen. Mit allen Konsequenzen. Keine geputzten Zähne, Kopfschmerzen bis an die Ohren und ein beginnender Sonnenbrand. Gott sei Dank war Luc durch den heißen Sommer vorgebräunt, und Yacine war Kind algerischer Einwanderer, ihm machte die Sonne nicht so viel aus. Würde also alles nicht so schlimm werden. Was allerdings schlimm werden würde, war, dass es gerade einmal zehn Uhr war und die Sonne bereits wie ein Feuerball auf den Strand brannte. Die letzten zwei Wochen waren im Aquitaine backofenheiß gewesen, ganz Frankreich klagte über eine enorme Hitzewelle. Dabei war es schon Anfang September.
Im Büro herrschte gähnende Langeweile. Luc hatte sich darauf verlegt, morgens um zehn an seinem Schreibtisch aufzutauchen und kurz nach dem Mittagessen und einiger Aktenlektüre das Präsidium wieder zu verlassen. Richtung Strand, Richtung Bar, Richtung Schatten.
Yacine war gestern angekommen, er war vor der Hitze aus Paris geflohen, nun wollte er übers Wochenende bleiben, Kurzurlaub in Lucs Holzhütte, viel Bier und Wein, gute Gespräche, noch besseres Essen unter Freunden und Kollegen.
Luc war sehr froh, dass Yacine hier war. Denn auch Anouk sollte in den nächsten Tagen zurückkehren – nach fast acht Wochen Abwesenheit. Da traf es sich gut, dass sein treuer Freund aus Paris etwas Distanz brachte – zwischen ihn und Cecilia. Seit Anouk weggefahren war, hatte die Surflehrerin viele Nächte in Lucs Bett in der Cabane verbracht. Unzählige Nächte mit wenigen Gesprächen, dafür mit viel Sex und Schweiß und Flaschenbier.
Cecilia. Anouk. Das Aquitaine. Was war das für ein Wahnsinn. Hierher war Luc gezogen, um seinen todkranken Vater zu pflegen. War vor zweieinhalb Monaten aus Paris abgereist, mit der Angst, nichts mehr zu erleben, keine Frauengeschichten, kein Großstadtleben, keine Abenteuer.
Nun kam er gar nicht dazu, etwas zu vermissen. Denn er hatte neue Freunde, jede Menge Ablenkung und wenig Arbeit. Ein gutes Leben. Wären da nur nicht diese vermaledeiten Kopfschmerzen.
Er schlug Yacine auf die Schulter, etwas zu fest, wie er hinterher fand.
»Ey, Mann, aufwachen.«
Der junge Algerier räkelte sich, ließ die Augen aber noch zu und schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Merde, mec. Was ist denn das für eine Hitze?«, fragte er und sah noch total verschlafen herüber zu Luc.
»Wir nennen es Sonne«, antwortete der, »und sie verträgt sich nicht mit dem vergangenen Abend. Ich glaube, der letzte Schnaps war schlecht.«
Beide mussten grinsen, Luc erhob sich langsam auf die noch wackeligen Beine, und Yacine tat es ihm nach. Das Bild, das sich beiden bot, war majestätisch: Der Ozean rauschte mit großen Wogen heran, weiße Schaumkronen tänzelten auf den Wellen, die Sonne spiegelte sich weiter hinten im kristallblauen Wasser.
»So, was machen wir heute?«, fragte Yacine seinen ehemaligen Chef.
»Also, ich könnte gut noch so zehn Stunden schlafen«, antwortete Luc, »aber wir müssen die Strecke abfahren, und später am Abend ist ja das Nudel-Dinner.«
Yacine musste lachen.
»Ich kann’s wirklich kaum erwarten, dieses verrückte Event kennenzulernen«, sagte er.
Auch deshalb war er von Paris hierhergefahren, in seiner riesigen Karre, die nun vor Lucs Holzhütte stand.
Die beiden wollten ehrenamtlich mithelfen, als Streckenposten beim Marathon du Médoc, dem wohl speziellsten Marathon der Welt. Nicht nur, dass die rund 7500 Läufer in wilden Kostümen auf die Strecke gingen. Nein, es gab auch noch in den schönsten Weinschlössern im ganzen Médoc-Gebiet die besten Tropfen zu probieren – und zwar für die Sportler während des Laufes.
Das versprach ein heiteres Treiben zu werden, bei 35 Grad im Schatten. Luc spürte eine unangenehme Vorahnung, dass es dort zu mehr kommen könnte als nur zu einigen Kreislaufkollapsen, schob sie aber von sich weg – lag bestimmt nur an den eigenen Kopfschmerzen nach dem gestrigen Abend.
»Nun los, wir müssen nach Pauillac, dort stehen unsere Motorräder«, sagte er, »aber vorher gehen wir zu Jacques, ich muss etwas essen, sonst überleb ich den Tag nicht.«
Vor der kleinen Boulangerie im Strandort standen die Touristen Schlange an diesem Morgen, Jacques machte hier in den vier Sommermonaten das Geschäft des Jahres. Der Commissaire drängelte sich an den strandtaschenbewehrten Deutschen und den blassen Briten vorbei an die Theke und zeigte auf zwei Sandwiches mit Schinken und Käse, wortlos, der Schädel war immer noch angespannt. Und er musste sowieso nicht warten, Jacques hatte für die Einheimischen stets eine kleine Extrakasse links neben dem Tresen.
Lucs Blick fiel auf den Stapel mit der Lokalzeitung Sud Ouest und auf die Schlagzeile »Canicule du Siècle«. Die »Hitzewelle des Jahrhunderts« wurde da vermeldet, darunter die neuesten Meldungen zu Hitzetoten und Verhaltenstipps für Senioren. Regen war laut der Schlagzeile nicht in Sicht. Luc stöhnte auf.
Mit je einem Sandwich mixte in der Hand saßen die beiden wenig später in Lucs blauem Jaguar XJ6, Richtung Médoc. Luc hatte sich geweigert, in Yacines fetten Mercedes einzusteigen – in Paris ließ er sich gerne damit durch die Vororte kutschieren, die getunte Karre mit den getönten Scheiben sorgte für Respekt bei den kleinen Gaunern. Aber hier im Aquitaine war ihm der dicke Gangsterschlitten doch ein bisschen zu viel, obwohl er zugeben musste, dass sein englischer Oldtimer wahrscheinlich genauso viel Aufsehen erregte.
In Pauillac wollten sie die Motorräder abholen, die ihnen die Police Municipale zur Verfügung stellte, wenn sie beim Marathon als Streckenposten arbeiten würden. Luc freute sich auf die wilde Fahrt, den Fahrtwind auf der Maschine und auf den spaßigen Lauf durch die Weinberge. Obwohl er sich fragte, wie er die Hitze unter dem vorgeschriebenen Helm wohl aushalten sollte.
»Luc, Augen auf die Straße«, rief Yacine lachend und am Baguette kauend gleichzeitig. »Oder sollen uns die Cops anhalten?« Der Commissaire war in der Tat kurz abgelenkt. Zum ersten Mal seit gestern Abend hatte er aufs Handy geschaut. Da waren zwei Nachrichten. Eine von seinem Freund Richard. Und eine von … Luc bremste augenblicklich und hielt den Wagen an einem Waldweg auf der kerzengeraden Départementstraße hinauf vom Meer ins Médoc-Weingebiet.
»Warte kurz«, sagte er zu Yacine und stieg aus.
Wie lange hatte er auf diese Nachricht gewartet!
»Anouk« stand da auf seinem Handy über der SMS. Die erste Nachricht seit ein paar Wochen.
Lieber Luc, ich fahre in der Nacht mit dem Zug von Venedig zurück nach Bordeaux. Freue mich auf Dich. Es ist viel passiert, viel Schlimmes. Viele Gedanken, viele Erinnerungen. Komme morgen an. Vielleicht machen wir was Schönes in den nächsten Tagen. Anouk.
Lucs Herz pochte. Ein anderes Pochen als in den vergangenen Nächten, in denen Cecilia leise an seine Tür geklopft hatte, eingetreten war, sich wortlos ausgezogen hatte und zu Luc ins Bett geschlüpft war. Dieses Pochen in seiner Brust war nicht nur pures Begehren. Es war dasselbe wie vor zwei Monaten am Strand von Carcans. Beim ersten Kuss. Und plötzlich war es wieder da.
Luc schaute noch mal aufs Handy, nach Richards Nachricht. Bestimmt nur eine lose Verabredung für das »Dinner Mille Pâtes« – das alljährliche Nudelessen mit 1500 Teilnehmern, das immer am Abend vor dem Marathon stattfand. Und dieses Jahr hatte Richard die Ehre, dieses traditionelle Gelage ausrichten zu dürfen.
Doch es war keine heitere Einladung, ganz im Gegenteil:
Luc, bitte melde Dich bei mir. Wir müssen dringend reden, auf jeden Fall vor heute Abend. Es steht viel auf dem Spiel. Können wir uns treffen? Gruß, R.
Luc wusste, dass sein Freund niemand war, der dramatisierte, deshalb antwortete er sofort:
Lieber Richard, Lunch in der Bar in Saint-Julien? Ich werde um eins da sein.
Als er ins Auto stieg, sah ihn Yacine schon verschwörerisch an:
»Wenn du rechts ranfährst, um eine SMS zu lesen, dann ist es was Wichtiges. War von Anouk, oder, mein Alter?«
Luc grinste, verdrängte die Sorgen um seinen Freund Richard und dachte wieder an Anouks Nachricht. Sie freute sich also auf ihn.
»Ja, es war Anouk«, antwortete er. »Jetzt kannst du dir ein eigenes Bild machen, sie kommt morgen wieder. Dann weißt du, warum sie ein Grund ist, schlaflose Nächte zu haben. Und nenn mich nicht ›Alter‹, du weißt, ich hasse das.«
Gestern Nacht hatte er Yacine die Geschichte von Anouk und ihm erzählt, vom ersten Kennenlernen im Büro bis zum Kuss am Strand. Und von ihrem Verschwinden schon am nächsten Tag. Inspecteur Preud’homme war ins Büro gekommen und hatte verkündet, dass »Mademoiselle Filipetti« über den Sommer nach Italien reisen müsse, »aus persönlichen Gründen«. Luc hatte ihr kurz darauf geschrieben, was los sei, ob er ihr vielleicht helfen könne. Sie hatte nur einmal kurz geantwortet: Ein Trauerfall. Er könne nichts tun. Er möge sich erst mal nicht melden. Sie brauche Zeit. Schluss, aus. Danach kein Wort mehr, bis zu der Nachricht von gestern Abend. Einer Nachricht, die ihn deutlich ruhiger sein ließ. Aber auch aufgeregter, auf ihr Wiedersehen.
Nun fuhr Luc hinein in die berühmteste Weinstadt des Médoc: nach Pauillac. Hier würde der Marathon morgen starten, und auch der Zieleinlauf wäre an der Promenade der Stadt, unten am Ufer der Gironde. Entlang der hübschen Hauptstraße mit ihren niedrigen Häusern und kleinen Cafés. Luc bog in die breite Straße am Fluss, noch war sie nicht abgesperrt. An ihrem Ende war das Revier der Police Municipale. Luc hatte mit Yacine alles besprochen. Der würde erst ein Motorrad von den Kollegen übernehmen und auftanken und dann das andere, und beide im Stadtzentrum stehen lassen. So könnte Luc jetzt bequem nach Saint-Julien fahren und Richard sehen, am Nachmittag würden sie sich dann in Pauillac wiedertreffen.
Luc wusste, dass Yacine große Lust hatte auf diesen Kurzurlaub und auf viele neue Entdeckungen – und genau das mochte er an dem Capitaine de Police, deshalb hatte er ihn damals aus der Banlieue geholt, ihm die Ausbildung ermöglicht und ihn später zu sich ins Team geholt. Denn Yacine Zitouna war keiner, der nur die Banlieues, die Pariser Vororte also, kannte und das andere französische Leben verachtete. Er hatte immer Lust, neue Orte kennenzulernen – und, noch wichtiger, neue Menschen. Das machte ihn zu einem guten Kriminalbeamten mit Menschenkenntnis und zu einem Mann mit Charakter, mit dem Luc gut auskam. Luc, der sich nur sehr selten öffnete und der andere Menschen nicht so leicht in sein Herz schauen ließ. Mit Yacine war Luc nicht gezwungen, sein Innerstes zu besprechen, aber er wusste, dass er es könnte, wenn er mal das Bedürfnis hatte – so wie gestern Abend.
Er lenkte seinen alten Jaguar einmal quer über die Hauptstraße, um zu wenden, sah dabei die Gironde in der Sonne blitzen und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Luc mochte keine Klimaanlagen, deswegen waren alle Fenster des Oldtimers runtergekurbelt, doch selbst die Luft, die von draußen durch die geöffneten Scheiben hereindrang, war glühend heiß. Als er nach dem letzten Kreisverkehr des Ortes, kurz hinterm Carrefour-Supermarkt, auf die enge Landstraße kam, konnte er dem Jaguar die Sporen geben – bei 70 Stundenkilometern drang endlich der Fahrtwind ins Auto und schenkte ein wenig Abkühlung.
Es war nicht weit bis nach Saint-Julien, und Luc wollte eigentlich darüber nachdenken, was Richard wohl von ihm wollen könnte – doch es war nur Anouks Gesicht, das vor seinem inneren Auge erschien, die Vorfreude auf das Wiedersehen, die Sorge, was wohl in Venedig geschehen war.
Und die Frage: Was war denn nun zwischen ihnen beiden? Würde es so weitergehen, wie es beim ersten Kuss am Strand vorläufig aufgehört hatte? Sicher nicht, dachte Luc, es war zu viel passiert, und er wusste nicht mal, was bei Anouk los war. Er wusste nur, was in den letzten paar Wochen bei Cecilia und ihm im Bett in der Cabane passiert war. Und er wusste, dass auch immer noch Delphine in Paris wartete. Dass sie beide eigentlich als Paar galten. Mann, war das alles kompliziert.
Ein Blick nach draußen brachte zusammen mit der Musik aus den Lautsprechern sofortige Beruhigung. Leslie Feist, die kanadische Singer-Songwriterin und Lucs Lieblingssängerin, sang wunderschön, und draußen flogen die Weinberge vorbei, Tausende Reben mit mittlerweile reifen Rotweintrauben.
An jedem Weinberg stand ein großes Schild. Château Talbot stand darauf, Château Pichon-Longueville oder hier das Traditionshaus Château Lynch-Bages. Die Schilder kennzeichneten, zu welchem Schloss das jeweilige Weinfeld gehörte.
Für Luc war all das ein kleines Wunder: Aus all den Reben unter dem grünen Weinlaub würden schon in kurzer Zeit Weine in dunklen Flaschen, die Hunderte oder Tausende Euro wert waren und Weinkennern auf der ganzen Welt das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.
Luc freute sich sehr auf die Weinlese, er würde Richard dabei helfen, das war ausgemachte Sache. Und er freute sich darauf, den ersten Korken des neuen Weines aus der Probierflasche zu ziehen und zu spüren, wie Sonne, Regen und Wind auf die Trauben gewirkt hatten – in seinem ersten Spätsommer im Aquitaine als erwachsener Mann.
Luc parkte den Wagen unter einer der großen Linden auf dem Dorfplatz, genau vor der alten Mairie, dem Rathaus mit den schön gepflanzten Geranien, und ging die paar Schritte hinüber zum Bistro von Saint-Julien-Beychevelle. Der Platz sah malerisch aus, doch Richard saß da mit Grabesmiene, sein Fuß wackelte unter dem Bistrotisch, und als er Luc von weitem kommen sah, stand er sofort auf und kam auf ihn zu. »Gut, Luc, gut, dass du da bist, ich habe schon auf dich gewartet.«
So hektisch, so voller innerer Unruhe hatte der Commissaire seinen alten Schulfreund noch nie gesehen.
Und dann trug er auch noch einen grauen Anzug mit Krawatte, bei diesem Wetter! Es schien, als sei er sogar vor dem Kleiderschrank in Gedanken gewesen.
»Setz dich, setz dich«, sagte Richard und zog Luc förmlich auf den Stuhl neben sich. Der konnte gerade noch dem Wirt winken und ein Zeichen machen, das nach einer Café-Tasse aussah, dann sprudelte es schon aus Richard heraus.
»Es ist alles ganz furchtbar, jetzt habe ich schon den Zuschlag bekommen für dieses Dinner heute Abend, und zudem geht der Marathon auch noch genau durch unseren Schlossgarten. Das sollte ein ganz großer Höhepunkt werden für unseren Betrieb, und nun droht alles schiefzugehen.«
»Was ist denn los, Richard? Immer der Reihe nach … Jetzt atme erst mal tief durch.«
Richard tat wie geheißen, holte zwei-, dreimal tief Luft und fuhr fort:
»Es ist wie verhext. Wir wollten morgen nach dem Marathon eine Pressekonferenz abhalten. Meine Frau, unsere Tochter und ich. Wir wollten verkünden, dass unser Château Lecœur-Saint-Julien expandiert, um der steigenden Nachfrage aus Fernost zu begegnen, und dass wir ins Weingeschäft in Saint-Émilion einsteigen. Es waren monatelange Geheimverhandlungen, und nun droht alles zu platzen. Ich weiß es erst seit ein paar Tagen, und jetzt müssen wir alles absagen.«
Luc hörte der atemlosen Erzählung zu und war sehr überrascht. Dass alteingesessene Châteaus aus einer Weinregion in eine andere expandierten, geschah selten und war sehr kostspielig. Zudem waren die beiden Gebiete recht weit voneinander entfernt. Die Appellation Médoc lag nordwestlich von Bordeaux, Saint-Émilion dagegen befand sich über eine Stunde von hier entfernt östlich der Stadt. Dennoch waren beide Anbaugebiete der Spitzenklasse – vielleicht die besten der Welt.
Luc wusste, wie hart der Wettbewerb um die besten Weine war, und dass die einstigen Bauern nun Unternehmer geworden waren, die statt mit dem Traktor durch die Weinberge mit dem Jet von Weinmesse zu Weinmesse um die halbe Welt flogen.
»Es ist so: Wir hatten ein Weingut gefunden, ein kleines Château am Rande von Saint-Émilion. Es gehört einem alten, sehr renommierten Winzer, Hubert de Langeville. Er hatte Geldprobleme, und er hatte auch keine rechte Lust mehr, denn sein Wein war kein Grand Cru, weil er nicht die beste Lage hatte, um mit den großen Schlössern mitzuhalten. Für uns wäre das egal, wir haben die besten Lagen hier im Médoc, ich hatte ohnehin nur vor, einen einfachen Vin de Saint-Émilion zu produzieren, und dann hätte ich irgendwann noch weitere Anbauflächen zugekauft. Wir waren uns schnell handelseinig. Es war ein guter Preis, zwei Millionen für den ganzen Weinberg und das Schloss, das würde für de Langeville bis zum Lebensende reichen, und für ein schönes Erbe für seine Tochter – und für uns wäre es ein perfekter Einstieg in Saint-Émilion. Alles war vorbereitet. Und wir hätten schon in zwei, drei Wochen die Trauben dort ernten können. Es wäre der erste Jahrgang von Lecœur in Saint-Émilion geworden. Was da für eine Geschichte drinsteckt. Ich hatte sogar schon die Homepage reserviert – stell dir vor, Hubert de Langeville hatte bisher nicht mal einen Internetauftritt.«
Richard schien immer noch ganz überrascht über diesen Fakt, er war atemlos, als könne er nicht verstehen, dass es Winzer gab, die den modernen Zirkus für kein Geld der Welt mitmachen wollten. Luc wunderte sich insgeheim über die enge Sichtweise seines Freundes, während der fortfuhr:
»Die ganze neue Welt interessierte ihn nicht. Er wollte einfach nur Wein machen. Aber das reicht heute eben nicht mehr zum Überleben. Also – du siehst: alles war vorbereitet. Ich habe dem Deal vertraut, weil de Langeville als ein wirklich respektabler Geschäftsmann gilt, wie man in Saint-Émilion sagt. Das war wohl ein Schuss in den Ofen …«
Richard trommelte mit den Fingern auf den Tisch, so erregt war er. Luc wartete ab, er wollte nicht nachfragen, aber er war gespannt, was eigentlich genau geschehen war. Sein Espresso stand unberührt auf dem Tisch, er wollte Richard nicht von seiner Geschichte ablenken.
»Vor ein paar Tagen hat de Langeville angerufen und abgesagt. Er könne nicht mehr verkaufen. Es sei Familienbesitz, seit Jahrhunderten, er hätte es sich anders überlegt. Dann hat er einfach aufgelegt. Es ist alles so verrückt. Wir hatten schon einen Notar beauftragt. Das Ganze hat mich locker fünfzigtausend Euro gekostet. Alleine die Kosten bis hierhin. Und jetzt soll alles umsonst gewesen sein?«
Richard verbarg sein Gesicht in den Händen, es war eine verzweifelte Geste.
»Luc …« Er stockte und wiederholte dann den Namen des Commissaire, drängend, eindringlich. »Luc … Christine ist völlig außer sich.«
Richards Frau. Luc kannte sie gut. Und er mochte sie. Sie war bodenständig, ehrlich, und sie war gut zu Richard.
»Sie hatte sich schon so gefreut auf den Zukauf. Sie wollte das neue Schloss managen. Und es irgendwann unserer Tochter übergeben. Luc, kannst du bitte nachforschen, was da los ist? Heute Abend? Hubert de Langeville war wegen des Verkaufs als mein persönlicher Ehrengast eingeladen, in den nächsten Tagen wollten wir den Wechsel öffentlich machen. Er läuft morgen den Marathon mit, also wird er heute Abend dabei sein. Meinst du, dass du ihm ein wenig auf den Zahn fühlen kannst?«
Luc war unwohl bei dem Gedanken, schließlich wollte er mit Yacine einen schönen Abend verbringen – und er wollte sich auf das Zusammentreffen mit Anouk vorbereiten. Aber Richard war sein Freund, keine Frage, dass er ihm helfen würde, und die ganze Sache klang wirklich mysteriös.
Er atmete einmal tief durch, nahm die kleine weiße Tasse und trank den mittlerweile lauwarmen Espresso in einem Schluck. Es war eine idyllische Szenerie auf diesem kleinen Dorfplatz, der Verkehr der Départementstraße rauschte hinter den Bäumen vorbei, hier aber bei den vier kleinen Tischen sangen die Vögel, es roch nach frischer Landluft, und die Trikolore hing träge, aber in stolzen kräftigen Farben am Fahnenmast der Mairie herunter. Luc fühlte sich wohl in der Campagne, fast konnte er vergessen, dass er nur auf Zeit hier war – und hauptberuflich eigentlich der Leiter der zweiten Pariser Mordkommission. So entspannt fühlte er sich in diesem Moment, und so belebt. Der Kopfschmerz von vorhin war fast vergessen.
»Gut, ich werde heute Abend mal mit ihm reden. Aber nur, wenn ich dabei kein einziges Nudelgericht verpasse. Und kein einziges Glas Wein.«
Luc lachte probehalber ein wenig, als wartete er darauf, dass Richard einstimmte, aber der Winzer schaute nur gedankenverloren. Nichts zu machen, nicht mal ein so schwacher Scherz konnte ihn aufmuntern. Denn jeder im Médoc wusste, dass das Nudelessen vor dem Marathon eigentlich eine ziemlich unappetitliche Angelegenheit war. Die Schlossherren, die das jährliche Fest ausrichteten, mussten auf die Minute Nudeln für anderthalbtausend Menschen kochen. Das verhieß nichts Gutes für die Qualität der Pasta, statt al dente war die eher bien cuit. Dafür entschädigten die Weine, und so wie Luc seinen perfektionistischen Freund kannte, würde der diesmal auch für besseres Essen sorgen. Nur die gute Stimmung würde heute Abend eventuell auf der Strecke bleiben, dachte Luc, als er Richard bei der Verabschiedung in die traurigen Augen schaute.
Luc und Yacine waren kaum wiederzuerkennen, als sie einige Stunden später in Richtung Château Lecœur-Saint-Julien fuhren, zur Abendveranstaltung im Weinschloss von Lucs Freund Richard.
Sie saßen in den braunen Ledersitzen von Lucs Jaguar und hatten sich für den Abend zurechtgemacht: schwarze Anzüge, weiße Hemden, dazu ebenfalls schwarze Lederschuhe. Luc hatte sich für eine schmale schwarze Krawatte entschieden, Yacine verzichtete darauf und trug den obersten Knopf des Hemdes offen.
Bevor sie eben aufgebrochen waren, hatten sie den Nachmittag in Pauillac am Ufer der Gironde verbracht. Luc hatte die Literaturbeilage von Le Monde gelesen und in politischen Zeitschriften geblättert. Yacine spielte Handyspiele und lernte nebenbei im Café eine schwedische Touristin kennen. Einem angeregten Gespräch folgten zwei gemeinsame Zigaretten auf einem Spaziergang am Fluss, und dann hatte man sich schon verabredet für einen anderen Abend zum Dinner. Luc war immer wieder überrascht, wie charmant sein Kollege sein konnte, wenn es darauf ankam.
So war der Nachmittag vergangen unter den schattenspendenden Bäumen der Uferpromenade, begleitet von einer Flasche Weißwein – später hatten sie sich in Lucs Cabane in Schale geschmissen.
Nun fuhren sie von Carcans Plage kommend durch die Weinfelder, die in der Dunkelheit nur noch Umrisse waren. Doch kurz vor Saint-Julien riss Luc das Steuer herum. So sehr, dass Yacine sich den Handgriff oberhalb des Beifahrerfensters schnappen musste, um nicht gegen seinen Commissaire geschleudert zu werden.
»Sag mal, was machst du?«, rief er und sah Luc halb lachend, halb verwundert an.
Doch Luc zeigte hinaus.
»Dir, solange noch etwas zu erkennen ist, zeigen, warum dieser Marathon morgen der beste und besonderste der Welt ist – und was das Geheimnis dieser Region ist.«
Er hielt den Wagen am Rand des schmalen Feldwegs. Beide stiegen aus, Luc führte seinen Freund einige Schritte bis hinein in die Weinreben und ging dort in die Knie. »Komm her, sieh sie dir an«, sagte Luc, und Yacine folgte seinen Worten und kniete sich neben ihn.
Luc nahm das dichte grüne Blattwerk beiseite. Das gab den Blick frei auf eine Traube vollreifer dunkelroter Beeren. Immer wieder war er darüber erstaunt, wie klein diese Trauben waren.
Yacine schaute seinen Kollegen verständnislos an. »Ja, Weintrauben. Und nun, Luc?«
Doch der Commissaire lächelte nur, nahm eine Beere, reichte sie Yacine. Dann knipste er mit dem Finger selber eine ab und steckte sie in den Mund. Erst dann biss er ganz sanft darauf.
Es war eine Explosion. Aus dieser kleinen runden Beere ergoss sich unendlich viel süßer Saft – voll, rund, so intensiv. Ein Geschmack, der so gar nichts mit einer Weintraube aus dem Supermarkt gemein hatte: Luc schmeckte die kalkreiche Erde, die Sonne des langen Sommers, den Regen des Frühjahrs, den herben Wind des Atlantiks – eben all das, was diese Traube seit der Bestäubung im Frühjahr erlebt hatte. Es war phänomenal. Er öffnete die Augen wieder und sah den überraschten Blick seines Kollegen:
»Wow, das ist ja krass.«
Der Algerier leckte sich genüsslich die Lippen und wollte eben nach der nächsten Beere greifen, aber Luc hielt ihn mit dem Arm zurück.
»Lass, die Trauben müssen noch zu gutem Wein werden. Wir dürfen nicht so viele nehmen. Sonst schießt der Winzer noch auf uns.« Der Commissaire wusste, dass Mundräuber kurz vor der Ernte nicht gern gesehen waren. Und diese beiden Männer in schwarzen Anzügen nebst einem Oldtimer gaben ohnehin ein merkwürdiges Bild ab – hier mitten in den Weinfeldern des Médoc.
»Warum schmecken die so wahnsinnig gut?«, fragte Yacine. »Und warum kann man die nicht kaufen in Aulnay-sous-Bois? Die sind ja besser als was zu kiffen, da würden meine Freunde aber einiges für ausgeben.«
Luc grinste über die offenherzige Bemerkung seines Kollegen.
»Schau hier«, sagte Luc und beugte sich am Rebstock weiter herunter. Als Yacine genau hinschaute, erkannte er Dutzende Trauben, die unter jeder Rebe auf dem Boden lagen.
»Warum schneiden die denn die Trauben ab?«, fragte Yacine verwundert, »und warum so viele?«
»Wenn es durch das gute Wetter zu große Mengen gibt, so wie dieses Jahr, schneiden die Winzer fast die Hälfte der Trauben ab, lange vor der Erntezeit«, erklärte Luc, der von seinem Winzerfreund Richard schon als Jugendlicher alles über den Weinanbau erfahren hatte. »Damit konzentrieren sie die Kraft und die Sonne in den Beeren, die übrig bleiben. Und das gibt den Geschmack, den wir eben im Mund hatten. Wahnsinn, oder?«
Yacine nickte. Und Luc dachte, als er seinen Kollegen so ansah, dass der die Weintrauben jetzt anders betrachtete als noch vor zehn Minuten, gar nicht mehr naiv, sondern fast andachtsvoll.
Luc griff sich einige der Trauben vom Erdboden und ging zurück Richtung Auto. Yacine tat es ihm gleich. Sie stiegen ein und fuhren an den prachtvollen Weinfeldern vorbei Richtung Château Lecœur-Saint-Julien. Der Abend brach herein, die blaue Stunde ergriff Besitz vom Médoc, als sich beide im Wagen eine Traube nach der anderen in den Mund steckten und ihre Fahrt vergnügt kauend und schweigend fortsetzten.
Wenige Augenblicke später steuerten sie auf das hochherrschaftliche Schloss mit den zwei Türmen zu. Yacine schnalzte anerkennend mit der Zunge.
»Wow, was für ein fetter Kasten«, sagte er, der Junge, der in einem Plattenbau der Pariser Vorstadt aufgewachsen war, ohne Balkon, dafür aber mit Satellitenschüssel, damit die Eltern in Ruhe algerisches Fernsehen schauen konnten.
Nun stieg er mit seinem ehemaligen Chef aus dem Auto, stand vor einem der ältesten Weinschlösser Frankreichs. Der Kies knirschte, als sie über den Weg auf das große weiße Festzelt zugingen, das im Garten aufgebaut war. Auf dem sattgrünen und penibel gepflegten englischen Rasen, zwischen den beiden riesigen Zypressen, hatten die Arbeiter seit zwei Wochen alles vorbereitet für das größte gesellschaftliche Ereignis im Médoc.
Nein, auch Richard und sein Château waren leider kein Garant für gut gekochte Pasta, dachte Luc, als er den Haufen Nudeln auf seinem Teller sah, die irgendwann einmal Fusilli gewesen sein mussten. Wenigstens waren sie eingerahmt von einer kräftigen Tomatensauce, die reichlich nach Knoblauch und Zwiebeln roch, was der Atmosphäre in dem riesigen Festzelt allerdings auch nicht sehr entgegenkam.
Luc stand von seiner Bank auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Bei diesem Fest war einfach alles gigantisch groß.
In dem riesigen Zelt, in dem die Luft förmlich stand, verstand man sein eigenes Wort nicht. Alle Marathonläufer des morgigen Tages redeten durcheinander, es ging um die besten Weine des vergangenen Jahres, um Tipps für die beste Lauftaktik, und es waren ganz verschiedene Sprachen zu hören. Dort hinten saßen die deutschen Läufer, hier weiter vorne die Norweger und Niederländer. In diesem Moment stieg Richard mit einem Mikrophon auf den Tisch. Er trug ein blaues Sakko und ein weißes Hemd und hatte sich sichtlich gefangen von der schlechten Stimmung des Vormittags. Im Gegenteil: Er wirkte fast triumphierend, wie er da stand. Irgendetwas musste seine miese Laune weggefegt haben.
»Liebe Gäste, liebe Marathonläufer, liebe Freunde des Weines«, begann er, und seine Stimme klang klar und fest, als er auf die 1500 Gäste hinuntersah. »Ich begrüße Sie hier alle herzlich auf Château Lecœur-Saint-Julien zum diesjährigen Diner Mille-Pâtes am Vorabend des Marathon du Médoc. Sie haben alle schon Ihre Teller vor sich, die Ihnen Kraft geben sollen für die morgigen 42,195 Kilometer, und Sie haben sicherlich auch alle schon Ihre Kostüme gebügelt und sind fertig für den Startschuss!« Da gab es großen Jubel im Saal, denn genau das war ja das Besondere: Die Läufer gingen verkleidet auf die Strecke.
Einige hatten ihre Kostüme des morgigen Laufes schon heute an, und so prosteten Richard in diesem Moment verkleidete Kühe, maskierte Staatspräsidenten und dicke Super-Marios zu.
»So wünsche ich uns allen einen schönen Abend, trinken Sie von unserem vorzüglichen Wein, hier im besten Weinanbaugebiet der Welt …«
Großes Gejohle von den Tischen ganz nah bei Luc, wo die Winzer aus Pauillac, Margaux und Saint-Julien saßen, die den eigenen Erzeugnissen schon reichlich zugesprochen hatten, und Richard fuhr fort, indem er sein Glas erhob:
»Aber wir haben heute auch einen Ehrengast, der aus dem zweitbesten Weinanbaugebiet stammt. Begrüßen Sie mit mir Hubert de Langeville, Besitzer des Château de Langeville aus Saint-Émilion.«
Gejubel und scherzhaft gemeinte Pfiffe hallten durch den Saal, und links von Luc erhob sich ein großer schlanker Mann. Luc schätzte ihn auf Anfang sechzig, er hatte volles dunkles Haar mit einem Stich ins Graue, war athletisch und nickte freundlich und bescheiden in die Runde. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ihm war anzusehen, dass er diese Art der Vorstellung nicht gerade liebte. Aber er war höflich genug, um seinerseits die Menschen im Festzelt freundlich nickend zu begrüßen. Luc mochte Hubert de Langeville auf den ersten Blick. Und er fand es gut, dass Richard nicht nachtragend war und seinen Ehrengast trotz aller Probleme beim Verkauf des Weingutes persönlich erwähnte.
Alle im Saal erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu. Dann spielte die Kapelle hinten im Zelt auf, und das Stimmengewirr schwoll wieder an. Die Deutschen und die Niederländer stürzten sich halb verhungert auf die Pasta, während die Franzosen um Luc herum eher verächtlich auf ihre Teller schauten. Das sollten sie essen? Luc ärgerte sich über sich selbst. Er hätte seiner Erfahrung vertrauen und vorher in Pauillac ein schönes Steak genießen sollen.
Yacine neben ihm sah genauso angewidert auf seinen Teller und fing zögerlich an zu essen. Drei Tische weiter zwinkerte ihm Richard zu.
»Nun komm schon, schau dir Hubert an«, sollte das wohl heißen.
Also ließ Luc Yacine seine Nudeln genießen und bahnte sich einen Weg durch die Feiernden zum Tisch seines alten Freundes. Der begrüßte Luc überschwänglich und stellte ihn vor:
»Messieurs dames, darf ich Ihnen präsentieren: Commissaire Luc Verlain, der wohlbekannte Leiter der Pariser Mordkommission, den es aus privaten Gründen für eine Weile hierher verschlagen hat – und der mit mir schon zu Schulzeiten Dinge tat, die er als Polizist heute verfolgen würde«, sagte Richard, und die Damen und Herren am Tisch mussten grinsen.
Hubert de Langeville schaute Luc direkt an, es war, als würde er nachdenken, und in seinen Augen lag ehrliches Interesse an dem Commissaire. Er gab Luc die Hand.
»Freut mich sehr, Monsieur«, sagte er mit einer wohltuend tiefen Stimme, »ich bin Hubert de Langeville aus Saint-Émilion, aber ich wurde ja vorhin schon öffentlich vorgestellt.«
Dabei rollte er kurz mit den Augen, wieder das sanfte Lächeln um die Mundwinkel. Dann nahm er sein Glas Rotwein, um mit Luc anzustoßen. Er betrachtete den Wein, der fast ölig an den Rändern des schönen Glases herunterfloss, und sagte:
»Das ist wirklich ein sehr guter Tropfen, den unser Gastgeber hier erschaffen hat, sehr tief und kräftig.«
Luc nickte und nahm einen Schluck.
»Ja, kaum zu glauben, dass er erst drei Jahre alt ist. Er schmeckt wie ein fünfzehn Jahre alter Grand Cru.«
»Oh, Sie sind ein Weinkenner, Commissaire?«
»Ich bin zumindest aus dem Médoc, Monsieur de Langeville. Da wächst man mit den Trauben auf, man knutscht das erste Mal zwischen den Reben, man trinkt mit sechs Jahren auf dem Dorffest heimlich das erste Glas.«
»Und mit sieben Jahren bieten einem die Eltern offiziell den ersten Schluck an«, sagte Hubert lachend, und Luc fiel in sein Lachen ein.
Es stimmte. Und Luc mochte diese Idee sehr: wie die Eltern in diesen großen Weinregionen ihre Kleinen an das wunderbare Getränk heranführten.
Schon oft hatte er gesehen, wie Kindern die Gelegenheit gegeben wurde, aus dem Glas der Mutter zu probieren. Nur ein kleiner Schluck. Dazu erklärten die Eltern, wie Wein entsteht – und wie viel Arbeit es macht, ihn herzustellen, hier unter der Sonne des Aquitaine.
Und das Ergebnis war nicht, dass die Kinder versuchten, immer mehr zu trinken. Sondern sie wurden so zu sehr verantwortungsbewussten Jugendlichen herangezogen, die eben nicht kopflos jeden Alkohol in sich hineinschütteten. Dieses Phänomen des »Binge-Drinking«, wie es das in England gab, mit Jugendlichen, die sich am Wochenende kopflos ins Koma soffen, gab es in Frankreich nicht.
Er mochte diesen Hubert de Langeville. Der so ruhig und bedächtig sprach. Und den Wein ansah wie eine Geliebte. Und weil er ihn mochte, beschloss er, die Karten offen auf den Tisch zu legen.
»Und Sie, Monsieur de Langeville, haben also neue Pläne mit Ihrem Château?«
Hubert de Langeville zuckte nicht einmal zusammen, er sah Luc forschend an, und der fuhr erklärend fort:
»Mein Freund Richard hat mir erzählt, dass er Ihr Gut kaufen wollte, aber dass Sie es sich offenbar anders überlegt haben.«
Der ältere Mann nahm einen Schluck von seinem Rotwein und ließ ihn auf der Zunge liegen, bevor er den Abgang genoss.
»Wissen Sie, es ist alles in Bewegung im Augenblick«, antwortete er. Dabei tippte er an seinen Kopf: »Hier drin.« Er machte eine kurze Pause. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, noch nicht.«
Er erhob sein Glas, um mit Luc anzustoßen. Es war ein Moment des stillen Einvernehmens.
Luc trank genüsslich, er könnte auch im Laufe des Abends noch mal nachhaken. Wenn der Wein bei Hubert wirkte.
»So. Und Sie wollen sich das also morgen antun? Im heißesten September aller Zeiten?«
Hubert de Langeville sah ihn belustigt an.
»Ach wissen Sie, Monsieur le Commissaire, ich bin in meinem Leben schon zwanzig verschiedene Marathons gelaufen: New York, London, Berlin, Sydney. In Australien, da waren es damals 40 Grad, da hab ich mich gefühlt wie in einer Fritteuse. Und da sind wir durch eine riesige Stadt gerannt. Das Besondere an diesem Marathon ist ja, dass er durch die pure Natur geht. Durch die Weinfelder, durch die Schlossgärten. Und der Atlantik da hinten hilft ja auch und schickt immer eine leichte Brise.«
Luc fragte sich zwar, wo die Brise vom Atlantik in den letzten Wochen gesteckt hatte, als er sich in Bordeaux gefühlt hatte, als würde er gegrillt, aber nun gut. Er spürte die Leidenschaft dieses Hubert de Langeville: für Wein und für Sport.
»Sie sind nur für einige Zeit im Aquitaine, Monsieur Verlain?«, wollte Hubert wissen.
»Das stimmt. Die Brigade Criminelle in Bordeaux war so freundlich, mich aufzunehmen. Ich bin hier aufgewachsen, und war dann für sehr lange Zeit in Paris. Doch mein Vater ist schwer krank, und ich wollte ihn nicht allein lassen. Deshalb bin ich wieder hergekommen«, fasste Luc zusammen.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Hubert, und es klang nicht nach einer Floskel. »Das ist richtig von Ihnen, dass Sie diesen Schritt gegangen sind. Die Familie«, er machte eine Pause, in der er selbst ergriffen zu sein schien, »die Familie ist das Wichtigste. Seit meine Frau gestorben ist, vor so vielen Jahren, weiß ich das ganz genau. Aber das vergessen wir ab und zu in dieser schnellen Zeit.«
Luc horchte auf, fragte aber erst mal nicht nach.
»Und wie geht es Ihrem Vater, seit Sie hier sind?«
»Es ist ein Auf und Ab. Aber, wo Sie so fragen, in der Tat: Kurz nachdem ich angekommen war, hat sich sein Zustand verbessert. Eine Krankenschwester hat mir gesagt, dass er lange nicht mehr so beweglich und gut drauf war, wie an dem Tag, an dem wir im Krankenhausgarten spazieren gingen. Jetzt ist er gerade für zwei Wochen bei einer speziellen Kur in La Baule, oben bei Nantes. Ich habe ihn gestern dort hingefahren. Wir hatten eine schöne Fahrt, die Momente derzeit sind … sehr intensiv.«
Seine Stimme stockte, und er spürte, dass seine Augen leicht glänzten, es fühlte sich jedenfalls so an. Luc wusste gar nicht, warum er all das erzählte. Es war sehr intim, und Luc plauderte eigentlich nicht über derlei Dinge. Doch irgendwie hatte Hubert ihn sofort für sich eingenommen. Luc entspannte sich. Er fühlte, wie sich der Wein in ihm ausbreitete, es war warm und angenehm. Und ein Moment, in dem er so Intimes auch mit einem eigentlich völlig Fremden teilen konnte.
»Wenn er zurückkommt, und es nicht mehr ganz so heiß ist, will er mit mir sogar mal die paar Kilometer an das Bassin d’Arcachon fahren. Mein Vater ist Austernfischer gewesen, er hat sein ganzes Leben auf dem Wasser verbracht. Und er vermisst es sehr.«
Hubert de Langeville sah ihn an mit diesem eigentümlichen Blick.
»Sie haben Ihrem Vater ein Lebenselixier verpasst, allein damit, dass Sie nun hier sind, wissen Sie das?«
Der Winzer griff erneut nach seinem Glas, die nächste Flasche aus Richards Weinkeller war fast leer, und Hubert de Langeville wirkte stocknüchtern. Als hätte er den ganzen Abend Perrier getrunken statt den 2012er Château Lecœur-Saint-Julien. Lucs Taktik würde also eventuell nicht aufgehen. Aber um ehrlich zu sein, hatte er sie im Laufe des Gesprächs auch vergessen – zu gern unterhielt er sich mit diesem feinen Herrn aus Saint-Émilion.
»Haben Sie einen Fall, an dem Sie aktuell arbeiten?«
»Nein. Es ist wirklich die große Sommerstille eingekehrt, als die Hitze kam. Vor zwei Monaten gab es einen Mord an einem jungen Mädchen, hier ganz in der Nähe in Lacanau. Das war unser letzter großer Fall.«
Danach war Anouk weggefahren, dachte Luc. Zwei lange Monate.
»Oh. Davon habe ich gelesen. Es stand in der Zeitung. Ein schrecklicher Mord. «