Stille Nacht im Schnee - Alexander Oetker - E-Book
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Stille Nacht im Schnee E-Book

Alexander Oetker

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Beschreibung

 Alexander Oetkers Weihnachtsgeschenk für alle, die vom Fest der Liebe träumen   Es ist Heiligabend. Pünktlich zum Fest öffnet der Himmel seine Schleusen und schneit das idyllische Tal in den Schweizer Alpen tief ein. Kein Problem, denn die Großfamilie von Elisabeth und Pascal will sich ohnehin zum Käsefondue in der gemütlichen Almhütte treffen. Nach und nach kommt die Familie zusammen, aber die besinnliche Stimmung will sich nicht einstellen: Die Schwiegertochter meckert am Essen herum, der Sohn taucht ohne seine Freundin auf und die Tochter kommt viel zu spät. Dann aber geben Elisabeth und Pascal etwas Überraschendes bekannt, das auf unerwartete Weise endlich den Geist der Weihnacht einkehren lässt. 

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Alexander Oetker

Stille Nacht im Schnee

Roman

Atlantik

»Hier ist Radio Rottu – an diesem 24. Dezember in der schönsten Bergregion der Welt. Gleich geht’s hier bei uns zwischen Zermatt und Goms in unserer weihnachtlichen Hitparade weiter mit den besten Songs der letzten Jahrzehnte. Vorher aber noch ein kurzer Blick auf das Wetter: Wer sich weiße Weihnachten gewünscht hat, der muss dieses Jahr besonders brav gewesen sein. Denn Frau Holle scheint die Decken heute Morgen mal richtig auszuschütteln. Im ganzen Oberwallis schneit es, rund um Brig und den Aletschgletscher wird mehr als ein Meter Neuschnee erwartet. Das gibt eine märchenhafte Schneedecke zur Heiligen Nacht. Aber bedeutet auch: Achtung, Autofahrer, Schneeketten nicht vergessen! Aber heute bleibt man wohl eh lieber daheim und facht den Kamin an. Passend dazu jetzt Chris Rea mit – na klar – ›Driving Home for Christmas‹«.

Heiligabend, 11.55 Uhr

»Und? Sehr aufgeregt?«

Pascal legte Elisabeth behutsam die Hand auf den unteren Rücken, das Kaschmir ihres hellblauen Pullovers fühlte sich flauschig an, und er schloss kurz die Augen, weil ihm diese Geste so vertraut war und seine Hand ganz warm wurde. Sie wandte ihm den Kopf zu und lächelte. »Wie immer zu Weihnachten, seit so vielen Jahren«, flüsterte sie.

»Fünfunddreißig«, antwortete er leise, und dann legte sich auch ein leichtes Lächeln auf seine Züge.

»Bereit?«

Sie nickte.

»Bereit.«

»Na dann …«

Sie traten zur Tür, und Pascal drehte den Schlüssel, dann öffnete er die schwere Holztür. Augenblicklich stoben ihnen die weißen Flocken entgegen, sie drängten in den Flur hinein, und sofort spürte Pascal die Kühle auf der Haut. Wenn es noch eines Zeichens dafür bedurfte, was ihnen heute bevorstand, dann war es die Schneeluft, die über Nacht ins Wallis geströmt war. So verharrten sie einen Moment im Türrahmen und betrachteten wortlos die Landschaft, die sich ihnen darbot: Um sie herum die Bergchalets mit ihren flachen Dächern und den rostroten Fensterläden, das Holz ganz verwittert von den vielen Jahren, in denen es monatelang der gleißenden Wintersonne ausgesetzt war. Noch waren einige grüne Stellen zu erkennen, aber der Rasen würde bald schneebedeckt sein. Und dann ging es ringsum steil bergan, die Berge umgrenzten ihr kleines Dorf, als wollten sie es bewachen. Pascal kannte sie alle: Eggishorn, Bettmerhorn, Breithorn, Galmihorn – und weiter hinten Jungfrau, Eiger und der Mönch. In Gedanken korrigierte er sich: Es war nicht so, als wollten die Berge es nur bewachen. Die Berge bewachten das kleine Dorf tatsächlich – seit so vielen Jahrhunderten vor Feinden, vor Wasserknappheit, vor Eindringlingen, vor Sturm. Es war ein Schutzort, schon immer. Deshalb zog es sie jedes Jahr um die Feiertage hierher, weil dieses Tal und seine geschützte Lage ihnen zur zweiten Heimat geworden war – ihnen beiden und ihrer ganzen Familie.

Unter ihnen im Tal lag das Dorf, all die Dächer wegen der Dachlawinengefahr flach und überhängend, selbst aus der Ferne waren die gewaltigen Eiszapfen zu erkennen, die sich über Nacht gebildet hatten und herunterhingen wie Schwerter.

Alle Häuser gruppierten sich um den alten Kirchturm von Ernen, die Turmuhr zeigte inzwischen zwei Minuten vor zwölf.

Ihr Haus lag auf einer kleinen Anhöhe am Ortsrand, hier gab es nur noch einige verstreute Chalets aus schwerem Holz, große dunkle Balken, die Schnee und Kälte draußen hielten. Der Hügel hinter dem Haus war schon tief verschneit, Pascal fragte sich, ob er die Kufen der Schlitten noch einmal wachsen sollte. Das gäbe eine Mordsgaudi.

»Und? Wer wird wohl als Erster kommen?«, fragte Elisabeth und sah auf ihre kleine goldene Armbanduhr. »Na, was meinst du?«

Er lächelte sie an. »Das ist die rhetorischste aller Fragen. Seit Christoph aus dem Haus ist.«

Denn natürlich hörten sie beide schon den schnurrenden Motor, der den Wagen aus dem Dorf zu ihnen heraufzog. Es dauerte keine halbe Minute, dann bog der silbergraue Toyota Prius ums Eck, leise surrend wie ein kleiner Rasenmäher, die Scheibenwischer schlugen wild gegen den Schnee, und dennoch hielt der Fahrer ein Stück vor der Einfahrt, um dann in drei Zügen rückwärts einzuparken, ordnungsgemäß wie in der Fahrschule gelernt.

»Da würde ja ein Bus reinpassen«, flüsterte Elisabeth.

»Ist doch okay so«, sagte Pascal leise, »dann haben die anderen nachher Platz.«

Zuerst wurde der Blinker ausgeschaltet, dann die Scheinwerfer, schließlich der Motor. Und erst dann öffnete sich die hintere Tür des Wagens. Schon hörten sie ein Stimmchen: »Oma, Oma!«, rief es immer wieder, dann öffnete Christoph seine Tür und stieg aus.

»Mats, ich lass dich raus«, sagte er und trat nach hinten, um den Sohnemann abzuschnallen. »Na los«, er hob den Fünfjährigen aus dem Auto, »sag Oma und Opa guten Tag, ja?«

Pascals Blick lag immer noch auf der Beifahrertür, die verschlossen blieb. Täuschte er sich? Oder rieb sich die Person auf der rechten Seite die Schläfen und hielt die Augen geschlossen? Nicht schon wieder … Was war es denn dieses Mal? Doch der Gedanke musste warten, weil sich zuerst etwas anderes ereignete. Nämlich eine Naturkatastrophe namens Mats. Er nannte seinen Enkel nur insgeheim so, niemals hätte er diesen Spitznamen Elisabeth gegenüber erwähnt, die hätte ihn in kleine Stücke zerlegt. Und doch war es nun ebenjener Mats, der sich von seinem Kindersitz schälte und auf seine Oma zurannte. In der Hand hielt er etwas, was er aber so hin und her schlenkerte – nun gut: schleuderte –, dass sich Pascal richtig konzentrieren musste, um zu erkennen, was es war.

Doch. Jetzt. Es war ein Käfig. Und darin wackelte etwas …

»Matsi!«, rief Elisabeth und hob den Jungen hoch, er legte ihr sofort sein freies linkes Ärmchen um den Hals. »Oma Sabeth«, quakte er mit seiner hohen Stimme, und Pascal runzelte die Stirn, weil er erwartete hätte, dass der Junge mit seinen fünf Jahren doch etwas besser sprach.

»Matsi, was hast du denn da?«, fragte Elisabeth und ließ ihn wieder runter.

»Kuck mal, Oma«, antwortete der Junge, »kuck mal: Willi.«

Und dann hielt er ihr den Käfig hin, und jetzt erkannte Pascal, was das da drinnen war: der wohl dickste Hamster, den er je gesehen hatte. Und der nach der heftigen Schüttelpartie wohl auch erst mal wieder seinen Schwindel loswerden musste, weil er sich in seinem Käfig geduckt hatte, um nicht gegen die Gitterstäbe geschleudert zu werden.

»Du hast einen Hamster, Matsi? Das ist ja super … Und er heißt Willi?«

Elisabeth klang so ehrlich begeistert, dass Pascal Gänsehaut bekam. Dabei hatte sie als Mutter darauf geachtet, stets jede Zoohandlung zu meiden – ihre drei Kinder hatten Plüschtiere gehabt, aber keine Haustiere. Der Hund war erst ins Haus gekommen, als die Kinder es verlassen hatten, und als er starb, hatte Pascal insgeheim zugeben müssen dass er bei aller Trauer um das Tier doch froh war, endlich wieder einmal verreisen zu können, ohne darauf achten zu müssen, ob das verdammte Hotel hundefreundlich war.

»Willi is zwei Monate«, sagte Mats.

Christoph hatte schon den Kofferraum geöffnet, während sich an der Beifahrertür noch immer nichts regte. »Mats, sag mal Opa auch Tag, ja?«

Doch Mats hatte wieder begonnen, Willi zu schütteln. »Mats!«, rief Christoph nun.

Da ging langsam die Beifahrertür auf, und sie stieg aus. Endlich, dachte Pascal. Bis er sah, wie sich Gesine die Schläfen rieb. »Lass den Jungen doch erst mal ankommen«, knurrte sie, während ihr Mann die Koffer aus dem Heck hob, zwei auf einmal. Große, schwere Koffer. Pascal hatte wohl die Einladung nicht gelesen. Waren sie auch für Silvester verabredet?

Er wuchtete die roten und dunkelblauen Koffermodelle Typ Weltreise über den Schneehügel, den er mit seinem Wagen aufgeschoben hatte.

»Willi hat Hunger!«, rief Mats, und Elisabeth grinste. »Na, wollen wir mal gucken, ob wir eine Banane haben für deinen Willi?« Da stemmte Mats die linke Hand in die Hüfte. »Oma, nein. Banane darf er nicht. Wegen dem Zucker.«

»Oh«, sagte Elisabeth erstaunt. »Na, das wusste ich ja gar nicht. Wollen wir dann mal schauen, ob wir Salat …«

»Wir haben Futter für Willi mit!«, rief Gesine aus dem Fußraum des Autos, wo sie noch in ihrer Handtasche kramte. Pascal verdrehte die Augen.

»Hast du Opa schon guten Tag gesagt?«, fragte Christoph.

»Oma, komm, wir gehen rein«, sagte Mats und zog seine Großmutter nach drinnen. Christoph zuckte mit den Schultern, dann hievte er wieder die Koffer in Richtung des Hauses. »Puuh, war das ein Schneetreiben. Kurz hinter Bregenz habe ich gedacht, wir kommen überhaupt nicht mehr hier an.«

»Ist doch alles gut gegangen«, sagte Pascal, dem zum ersten Mal auffiel, dass der Junge natürlich nicht »Tag« sagen wollte, weil seine Eltern es auch nicht taten. Also platzierte er sich genau vor Christoph, der dann notgedrungen die Koffer abstellte.

»Gut siehst du aus, mein Lieber«, sagte Pascal und nahm seinen Sohn in den Arm. »Schön, dass du da bist.« Der schlaksige Kerl in Hemd und Bundfaltenhose und sein Vater im hellgrauen Pullover umarmten sich fest. Sie waren etwa gleich groß, einen Meter zweiundneunzig, aber nur weil Pascal irgendwann auf seinem Weg durchs Leben zwei Zentimeter geschrumpft sein musste. »Was gibt es zu essen?«, fragte Christoph leise, und Pascal schwante Schlimmes. Zu Recht. »Gesine ist auf der Fahrt eingefallen, dass sie ja neuerdings diese Laktoseintoleranz hat – und wir ja aber immer das Käsefondue machen an Heiligabend – und jetzt weiß sie nicht, ob …«

»Aber der Fonduekäse hat gar keine Laktose«, wandte Pascal ein, doch Christoph hieß ihn schweigen. Für Gesine hatte alles Laktose, was nicht Hummer war, so schien es.

Er brach ab, weil seine Frau es mit ihrer dunkelbraunen Ledertasche endlich doch aus dem Prius geschafft hatte und nun die Tür zuwarf. Sie kam auf sie zu, den Blick in den Himmel gerichtet. »Es ist so kalt, herrje, und das war eine elendige Fahrt hierher«, sagte sie, »ich bin ganz erschlagen.«

Sie reichten sich die Hände, Gesine und Pascal, und dann ging er noch einen Schritt auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die kühle Wange. »Ich hoffe, das sind nur Kopfschmerzen«, murmelte sie, als sie sich von ihm löste, »ich habe bis auf den letzten Drücker gearbeitet. Aber wenn meine Migräne wieder losgeht …« Sie sah am Haus hinauf. »Habt ihr den Kamin noch nicht an? Ein Glück. Das verpestet immer die ganze Hütte. Kommst du?«

Sie sah Christoph auffordernd an, dann ging sie voraus ins Haus. Ob sein Sohn den Blick des Vaters mit Absicht mied oder einfach nicht auf die Idee kam, eine unausgesprochene Komplizenschaft mit ihm einzugehen, konnte Pascal nicht sagen. Jedenfalls griff Christoph wieder nach den Koffern, doch der alte Herr ließ das nicht zu. Er war schneller und schnappte sich den taubenblauen. »Jeder einen«, sagte er, und dann hob er dieses Ungetüm an, das so schwer war, dass Pascal sicher war, es damit nicht die Treppe hinaufzuschaffen. Sie wuchteten die Koffer hinein, und er schloss die Tür hinter ihnen. Sofort umfing sie die Wärme des Wohnzimmers, der Kamin hatte zumindest bis spät in die Nacht gebrannt und das Wohnzimmer angenehm warm gehalten. Er spürte, wie seine Wangen prickelten, als er von der Kälte in die Wärme trat.

In der Küche, die genau ans Wohnzimmer grenzte und den Blick durch eine Durchreiche auf den Esstisch freigab, hatte sich Mats auf einen Stuhl gestellt und gab seiner Großmutter Anweisungen, wie sie den Salat richtig zu schneiden habe. »Kleiner. Willi mag die Blätter kleiner.« Der Hamster saß im Käfig, der auf der Arbeitsplatte stand, und sah aus, als käme er gerade erst wieder richtig zu Bewusstsein. »Ich hab auch Hunger!«, rief Mats gleich darauf. Pascal stellte den Koffer in die Tür. »Es gibt gleich ein kleines Mittagessen«, sagte er, »ihr seid bestimmt alle hungrig nach der Fahrt.«

»Ich gehe erst mal hoch und mache mich frisch«, sagte Gesine. Sie öffnete den blauen Koffer, entnahm die Waschtasche und stieg sogleich die Treppe hoch.

»Wann kommen denn die anderen?«, fragte Christoph, und Elisabeth rief aus der Küche: »Cord kommt um eins, halb zwei.«

»Und Cleo?«

Pascal grinste. »Wenn wir das wüssten, dann wäre es nicht Cleo, oder?«

Christoph lächelte ihn sanft an. »Ist sie noch mit diesem Typen zusammen?«

»Dem vom letzten Jahr?« Elisabeths Kopf zeigte sich in der Durchreiche. »Keine Ahnung. Sie hat gestern nur kurz geschrieben, dass sie natürlich kommt. Aber mit wem …«

»Jetzt hört aber auf und lästert nicht gleich wieder über Cleo«, sagte Pascal ernst. »Ich fand den jungen Mann letztes Jahr gar nicht so übel …«

»Na, immerhin hatte er alle Zähne – und sogar ein eigenes Auto«, entgegnete Christoph, »auch wenn es ein Fiat Panda war.«

»Oma, Willi will laufen.«

»Oh …« Elisabeth drehte sich schnell um und sah, dass Mats den Käfig des Hamsters geöffnet hatte. Der war jetzt drauf und dran, die Küche auszukundschaften. »Matsi«, sie ging schnell zum Käfig, »wir müssen erst mal einen Bereich absperren, wo Willi dann rumlaufen kann, aber nicht hier in der Küche, sondern lieber … im Bad?«

»Aber Willi will rumlaufen …«

»Mats«, Christophs Stimme klang ernst, »Oma will nicht, dass Willi in der Küche rumläuft. Und deshalb …«

»Blöde Oma«, sagte Mats, und seine Unterlippe begann zu beben. »Willi war so lange im Auto und jetzt …«

»Mats, was ist denn?«, fragte Gesine, die lautlos die Treppe heruntergekommen war. »Warum weinst du denn, mein Schatz?«

»Ist schon gut«, begann Christoph, aber sie beachtete ihn gar nicht.

»Oma hat Willi eingesperrt«, sagte Mats und hob den Käfig von der Arbeitsplatte.

Gesine ging in die Küche und half ihrem Sohn vom Stuhl. Dann sah sie Elisabeth ernst an. »Ihr hättet uns sagen müssen, dass Haustiere nicht willkommen sind. Aber da Cleo bestimmt auch wieder dieses riesige Tier mitbringt – da dachten wir …« Sie ließ die Worte in der Luft hängen, bis Elisabeth nichts anderes einfiel, als nach einem Lappen zu greifen und die Arbeitsplatte abzuwischen.

»Elisabeth hat gar nichts gesagt«, ging Pascal dazwischen, »außer dass der Hamster vielleicht besser in einem abgesperrten Bereich rumlaufen sollte. Nicht dass er dir noch abhaut, Mats – und außerdem wollen wir doch gleich kochen; nicht dass er noch an den Herd kommt und sich seine kleinen …« Obwohl er leidenschaftlich gern Tiersendungen sah, wollte ihm gerade partout nicht einfallen, ob die Füße von Nagern eine bestimmte anatomische Bezeichnung hatten.

»Blöder Opa«, sagte Mats kaum hörbar, und das waren dann auch die ersten beiden Worte, die er seit der Ankunft direkt an seinen Großvater richtete.

»Komm, wir lassen Willi im Gästezimmer laufen«, sagte Gesine und nahm den Käfig an sich. Mats hielt sich an der Strickjacke seiner Mutter fest und folgte ihr Richtung Treppe. Pascal sah, wie sich Christoph im Wohnzimmer auf die Couch fallen ließ und nach der Zeitung griff.

Sein Vater beobachtete kurz, wie sein Sohn sich in den Wirtschaftsteil vertiefte, dann ging er durch den hölzernen Türrahmen in die Küche. Elisabeth schnitt gerade grüne Bohnen klein, auf dem Herd stand ein Topf mit sprudelndem Wasser.

»Sie ist wirklich so eine …«, brach es aus ihm heraus, natürlich nur im Flüsterton.

»So eine bezaubernde Schwiegertochter«, erwiderte Elisabeth, reckte sich zu ihm empor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er schloss kurz die Augen, während er ihre Hand auf seinem Arm spürte. Und da war noch etwas: ein ganz leichter Schmerz in der Herzgegend. Ein zarter Stich. Eine Wehmut. Er hatte damit gerechnet, dass ihn dieses Gefühl überfallen würde an diesem Tag. Und sie auch. Ihr Blick ruhte auf ihm, liebevoll, aber auch traurig. Er nickte.

»Ich weiß«, sagte er leise, »aber nicht heute.«

»Heute machen wir es uns schön«, erwiderte sie. »Ich habe überlegt, ob ich zu den Nudeln eine Soße mit extra viel Sahne machen soll.« Nun mussten sie wieder lachen. Elisabeth hatte die Wehmut mit Leichtigkeit aus der Küche vertrieben. Pascal ging zum Kühlschrank, stellte sich so mit dem Rücken auf, dass seine Frau ihn nicht sehen konnte, nahm eine der kalt gestellten Flaschen Champagner heraus, löste den Draht, bewegte dann den Korken so vorsichtig hin und her, dass der mit nur einem ganz leichten Zischen aus der Flasche glitt. Sogleich ging er zum Schrank, griff nach zwei Gläsern und goss ihnen beiden je ein halbes Glas ein, bevor er an den Herd zurückging.

»Hier, Liebste«, flüsterte er, damit Christoph nichts von ihrem Gelage mitbekam.

»Jetzt schon?« Sie grinste ihn an.

»Für die Nerven«, erwiderte er. »Einen gesegneten Heiligabend.«

Sie nahm das Glas, und aus ihrem Grinsen wurde ein sanftes Lächeln. »Auf uns«, antwortete sie. Dann stießen sie an und tranken. Pascal sah, wie Elisabeth die Augen schloss. Auf diesen ihm so vertrauten Gesichtsausdruck hatte er gewartete, weil er es so mochte, wie sie das Prickeln genoss. Dass die Wehmut ihn gleich wieder packte, akzeptierte er.

Der Champagner war eiskalt, so frisch, mineralisch und von einer feinen Süße, dass er augenblicklich spürte, wie ihm die Bläschen in den Kopf stiegen und sich ausbreiteten. Und er spürte auch das warme Gefühl, das sie in seinem Bauch hinterließen. »Na, jetzt sind wir aber bestens vorbereitet«, sagte Elisabeth und gab ihm ihr leeres Glas zurück. »Wir Schnapsdrosseln.«

»Ich decke den Tisch. Meinst du, Cord kommt pünktlich?«

»Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

Heiligabend, 12.38 Uhr

»Ihr habt einen wirklich schönen Baum«, sagte Christoph, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.

Stimmt, dachte Pascal und betrachtete das Werk, das Elisabeth und er gestern gemeinsam vollbracht hatten: dunkelrote und perlmuttglänzende Kugeln, Strohsterne, ein kleines Holzrentier für Mats und der große Weihnachtsstern obendrauf. Sie hatten viel gelacht, als sie den Baum geschmückt hatten, zwischendrin aber auch einmal kurz innegehalten. Elisabeth hatte einfach seine Hand genommen und sie sanft gedrückt. Der Augenblick war schnell verstrichen, aber wenn er jetzt daran dachte, musste er schlucken.

Dieses Jahr hatte er wirklich einmal ein glückliches Händchen bewiesen. Die Nordmanntanne vom Weihnachtsmarkt in Brig war von einem tiefen und edlen Grün, die Nadeln schön dicht und gleichmäßig, die Spitze perfekt gewachsen. Wenn er da an den Baum aus dem Vorjahr dachte, den sie aus Düsseldorf mitgebracht hatten … Der Händler musste sie damals angeschmiert haben. Denn auf dem Markt hatte der Baum wunderschön ausgesehen, ebenso gerade und gleichmäßig wie der, der jetzt vor ihm stand. Allerdings war er dann noch kurz im Baumarkt gewesen und hatte den schon eingenetzten Baum erst eine halbe Stunde später abgeholt. Als er ihn dann im Haus in den Bergen aufstellen wollte, konnte er es kaum glauben: Der Baum, den er auspackte, war ein ganz anderer als der, den er meinte gekauft zu haben: auf der einen Seite voller dünner Äste, auf der anderen Seite ausgefranst und kahl, die Spitze war sicher dreißig Zentimeter lang und vollkommen nackt gewesen. Zu gerne wäre er wieder losgefahren und hätte dem Mann seine Krüppelkiefer vor die Füße geschmissen. Aber dazu wäre er selbst dann zu gutmütig gewesen, wenn er in Düsseldorf gewesen wäre und nicht eine Tagesreise weit entfernt vom Ort des verhängnisvollen Kaufs. Sie hatten den Baum also auf der bewachsenen Seite mit Schmuck behängt, dass er unter der Last der Kugeln fast zusammenbrach. Die nackte Seite hatten sie so nah an die Wand geschoben, dass sie niemandem auffiel. Und in der Tat hatte niemand etwas gesagt. Cleo hatte den Baum sogar bewundert – nur Gesine konnte sich eine stichelnde Bemerkung nicht verkneifen: »Na, hattest du beim Baumkauf deine Brille nicht mit?« Als ihm dieser Satz wieder einfiel, war er kurz davor, die Sahnesoße für die Nudeln gleich selbst zu kochen.