Chiara DeMontibus - Sabine Bauch - E-Book

Chiara DeMontibus E-Book

Sabine Bauch

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Beschreibung

Historisch basierter Fantasy, 1466-1536 in Mailand Stell dir vor, es gäbe Engel wirklich. Stell dir vor, es gäbe Luzifer und er wäre nicht das, was die Kirche aus ihm gemacht hat. Seine Aufgabe war einst, den Menschen das Licht zu bringen, aber er spendete zu viel davon und dafür wurde er aus dem Himmel verbannt. Er soll die Hölle beaufsichtigen, doch dort ist es ihm zu schmutzig und definitiv zu langweilig. Er kommt auf die Erde, um bei seinen Lieblingen zu leben. Er hat sein Auskommen, weil er dem einen oder anderen einen Gefallen tut - nicht um sonst. Aber viel lieber gibt er jemanden einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, die Menschen sollen sich weiterentwickeln. Eines Tages steht ein dünnes Mädchen mit feuerrotem Haar vor ihm. Die Kleine weicht nicht vor ihm zurück, sieht ihn nur traurig und trotzig an und er nimmt es bei sich auf, ohne zu wissen, warum ... und die Zeit vergeht ...

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prope Mediolanum MCDLXVI Aprilis regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnati.onis domini Iesu Christi

Prope Mediolanum MCDLXX Octobris regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Prope Mediolanum MCDLXXI Aprilis regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MCDLXXIII Octobris regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MCDLXXVI December regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MCDLXXX October regnante domino Gian Galeazzo Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MCDLXXXIII Maius regnante domino Gian Galeazzo Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MCDLXXXVII December regnante domino Gian Galeazzo Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MDIV Iunius Gallia sub imperio Dei anno incarnationis domini Iesu Christi

Mediolanum MDXXXVI Maius Hispaniam sub imperio Dei anno incarnationis domini Iesu Christi

Vorwort

Es ist nicht so, dass ich und meine Figuren leidenschaftlich Tabus brechen, wir interessieren uns nur nicht dafür.

Die Figuren entsprechen selten der Gesellschaftsnorm. Die einzige Regel, an die sie sich halten, ist: Leben und leben lassen. Errichten befriedigt sie mehr als zerstören.

Stilistisch merkt man es, weil wörtliche Reden keine neuen Absätze bekommen, sondern im Fluss bleiben wie im echten Leben, und deshalb sind die Geschichten auch in der Gegenwartsform geschrieben.

Prope Mediolanum MCDLXVI Aprilis regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnati.onis domini Iesu Christi

Was dachte sie sich dabei, das rote Kleid anzuziehen? Nun ist es bis zu den Knien nass, schlammverschmiert und unendlich schwer. Sie wollte ihren Eltern zeigen, dass es ihr gut geht, dass ihre Tätigkeit in der Stadt die richtige Entscheidung war. Es gibt bessere Leben, die liegen allerdings fern ab ihrer Möglichkeiten. Sie wollte damals ihren Eltern nicht mehr zur Last fallen. Der Hof wirft bereits für zwei zu wenig ab, sie bemühten sich lange, ein nichtsnutziges Kind durchzufüttern. Jedes Jahr kommt sie einmal heraus. Immer zum Ende des Winters, wenn die Vorräte knapp werden. Dieser kleine Karren voll Lebensmittel, den sie jedes Mal mitführt, ist wie das Geschenk zum familieneigenen Fest zu Jesu Geburt.

Letzten Sonntag lauschte sie in der Stadt einem Prediger, der behauptete, dass der Tag von Jesu Geburt frei erfunden sei. Sforzas Wachen führten ihn rasch ab. Er gefiel ihr und das, was er sagte. Er sprach nicht von Frevel, Teufel und Fegefeuer, sondern von Hoffnung und Glück, davon, dass sich nicht nur die Reichen von ihren Sünden loskaufen können, er behauptete, sogar einfache Leute können Gnade in den Augen Gottes finden, indem sie Gutes tun. Fast konnte sie glauben, dass sie auch in den Himmel kommen könnte. Wo man den Prediger wohl hinbrachte? In den Kerker oder gar an einen schlimmeren Ort?

Eine Zeit lang ist sie so in ihre Gedanken vertieft, dass sie die Mühsal des Weges vergisst. Ihre Eltern freuen sich jedes Mal über den Besuch. Dass sie von den Vorräten angetan sind, würden sie nie zeigen, dazu sind sie zu stolz. Wie zufällig legt Anna immer einen Beutel Münzen dazwischen.

Dieses Jahr kommt sie später, viel später. Sie versuchte so lange wie möglich durchzuhalten, bis zum Schluss zu arbeiten. Ein Liebhaber findet sich für jede weibliche Form. Doch es ging nicht länger. Sie redete sich ein, der Weg würde im Frühjahr einfacher sein. Trocken, besser zu laufen, selbst in ihrem Zustand, sogar mit dem Karren. Dass es ausgerechnet letzte Nacht übermäßig stark regnete, das überraschte sie. Zu jedem Schritt muss sie sich nun schon zwingen. Sie ist bald da, ermuntert sie sich, nachdem sie aus dem Wald tritt. Doch der Hof ihrer Eltern ist noch nicht zu sehen, allerdings die kleine Ansiedlung am Hang. Sie ist bald da. Am Dorf vorbei und hinunter in die Mulde zu dem Sumpfgebiet. Anna fixiert die Kante im Gelände, gleich wird sie in das Tal und auf den Hof blicken können.

„Schönen guten Tag, bist du nicht Anna, die Tochter von Matteo? Dich habe ich lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir? Du lebst in Milan, erzählte mir dein Vater. Besuchst du deine Eltern? Die werden sich freuen.“ Anna erschrickt derart, als der Mann aus dem Querweg vom Dorf her auftaucht, dass sie ihn lediglich anstarrt. „Kennst du mich nicht mehr? Ich bin ein guter Freund deines Vaters, wir besuchen uns oft. Mir gehört der Hof dort drüben vor den ersten Häusern. Erinnerst du dich?“ Anna nickt abwesend. Sie kann sich nichterinnern, sie will nur ankommen, sich hinsetzen, vor ein warmes Feuer, das nasse Kleid ausziehen. Anna fröstelt es, es schüttelt sie. „Der Weg war lang“, antwortet sie und deutet hinunter zum Hof, den sie nun sieht. „Ja, geh Kind, sie werden sich freuen.“ Er hebt die Hand zum Gruß und entfernt sich. Anna atmet tief durch: „Es ist nicht mehr weit, geh jetzt einfach weiter, geh weiter, geh!“ Endlich schafft sie es, den nächsten Schritt zu tun und den nächsten und den nächsten. Der Karren, der ihr erst stockend folgt, kommt wieder in ein gleichmäßiges Rollen, nun verläuft der Pfad bergab. Gleich hat sie es geschafft.

Kurz bevor sie den Hof erreicht, kommt ihr Vater mit einem Korb voll getrockneter Kuhfladen aus dem Schuppen. Sie weiß, dass er die das ganze Jahr sammelt. Er selbst hat lediglich Ziegen, die reichen Bauern dagegen besitzen Kühe und können sich Holz leisten, die brauchen die Fladen nicht. Er stockt, blickt den Hang hinauf und entdeckt Anna, stellt seine Last ab und läuft ihr entgegen. „Anna, wir fragten uns schon, wann du kommen wirst.“ Er schaut sie an, sieht die Kugel, wo ihr flacher Bauch sein sollte. Er schluckt, starrt weiter auf die Rundung und nimmt ihr den Griff des Karrens aus der Hand. „Komm, du wirst müde sein.“ Er zieht den Wagen zum Hof. Anna kann nur mit Mühe folgen. Jegliche Kraft hat sie verlassen. Ihr kommen Tränen der Erschöpfung, doch sie zwingt sich weiterzugehen. Noch die letzten Schritte, sagt sie sich. Ihr Vater lädt den Korb auf den Karren und zieht ihn zur Tür hinein. „Felicitas, Felicitas. Anna ist hier, hilf ihr, sie ist sehr müde.“ Annas Mutter öffnet die Küchentür, erblickt ihre Tochter, bemerkt die Kugel, dort wo ihr flacher Bauch sein sollte, stürzt zu ihr und zieht sie hinein in die Stube und zu dem Hocker vor dem Kamin. Ohne einen Augenblick innezuhalten, ohne ein Wort, streift sie ihr das nasse Kleid vom Leib, holt eine Decke, hüllt sie darin ein und nimmt sie in die Arme, wie ein Kind, das man trösten möchte. Anna rollen dicke Tränen über die Wangen und bald schüttelt es sie vor Erschöpfung und vor tiefer Liebe zu dieser Frau, die ihre Tochter nie für den Lebenswandel verurteilte, für den die sich entschieden hat. „Mein kleines Mädchen, mein kleines Mädchen“, wiederholt ihre Mutter immer wieder. „Es ist gut, jetzt bist du zu Hause, es ist gut.“ Annas Vater legt Kuhfladen auf das Feuer, mehr als üblich, das weiß sie. Die Flammen lodern hoch, die Wärme überrollt sie wie eine große Woge und sie lässt sich in die Arme ihrer Mutter fallen, ohne daran zu denken, was kommen wird. Auf einen Wink von Felicitas hin streut Matteo Kräuter in einen Becher, füllt ihn mit kochendem Wasser und reicht ihn seiner Tochter. Anschließend bereitet er ein Lager am Kamin und ihre Mutter bettet sie vorsichtig darauf. Es dauert nur wenige Augenblicke, bis Anna eingeschlafen ist.

Ihre Mutter kniet mit einer Tasse dampfenden Tees neben ihr, als sie am nächsten Morgen aufwacht. „Es ist wohl bald so weit?“, fragt sie und deutet auf den Bauch. Anna nickt. Sie weiß nicht, was sie sagen oder wie sie es erklären soll und nippt vorsichtig am heißen Tee. Felicitas wartet auf keine Antwort. „Ich kann mir vorstellen, dass du das kleine Ding in der Stadt nicht brauchen kannst. Wir werden es schon durchbringen.“ Anna schaut sie an, kann weiterhin nichts sagen, nickt lediglich und nippt wieder am Tee. Ihre Mutter gießt ihr heißes Wasser nach. „Das schaffen wir.“

Zwei Tage später liegt ein kleines Mädchen in dem strohgefüllten Korb neben dem Feuer. Anna und ihre Eltern stehen schweigend daneben. Die Kleine schläft und schmatzt im Traum leise vor sich hin.

Drei Wochen später marschiert Anna mit dem leeren Karren zurück nach Milan. Das Kleid ist sauber, dafür hat ihre Mutter gesorgt.

Prope Mediolanum MCDLXX Octobris regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Matteo blickt seiner Enkelin entgegen. Sie kehrt mit dem Schwein von der Schlammgrube zurück. Das Tier ist inzwischen größer als Chiara und bedeutend dicker. Seit ein paar Wochen hat er Angst, es könnte das dünne Kind umstoßen und fressen. Sie werden es bald zum Markt treiben, wo es gutes Geld bringen wird. Die Kleine müsste wieder einmal ein Stück Fleisch oder irgendetwas Nahrhafteres als dünne Hirsesuppe essen. Der Sommer ist, wie schon so oft, viel zu trocken und auf den Feldern ist kaum etwas gewachsen. Von den Fliegen, die in dicken Schwärmen aus dem Sumpf aufsteigen, könnten sie sich ernähren, während ihnen die ebenso zahlreichen Stechmücken das bisschen Blut aussaugen, das ihnen noch geblieben ist. Die Kleine ist viel zu blass. Er muss unbedingt einen guten Preis für das Schwein bekommen, um neben dem Saatgut für das neue Jahr ausreichend Getreide für den Winter zu bekommen. Matteo seufzt. Das nächste Jahr wird besser. Es muss doch einmal wieder aufwärts gehen. „Du trödelst Kind“, fährt er das Mädchen an und bereut es, ehe die Worte verklungen sind. Warum sagt er seiner Enkelin nichts Nettes? Sie erledigt, was er ihr aufträgt, ohne jemals nach dem Warum und Wieso zu fragen. Sie ist noch so klein, aber nie beklagt sie sich. Sie spricht überhaupt wenig. Letzte Woche, bei dem starken Regen, musste sie den Kofen des Schweins schließen. Durch das nasse Holz war das Gatter schwerer, sodass es sich auf den Steinen verklemmte, die er als Schwelle verlegt hat. Er beobachtete es durch das Fenster. Die Kleine zerrte an dem Tor. Er sah lange zu, sie gab nicht auf, sie wollte es schaffen, richtig stur ist sie. Ihm war klar, es war unmöglich. Er ist hinübergelaufen im strömenden Regen, durch das tiefe Schlammloch, zu dem der Hof inzwischen geworden war. „Geh ins Haus!“, schrie er sie an. „Zu nichts bist du zu gebrauchen.“ Sie ist geblieben und sah zu, wie er das Gatter schloss. „Nun geh endlich!“, brüllte er. Da lief sie ins Haus, zog die nassen Kleider aus, hängte sie ordentlich über das Gestell am Kamin, nahm sich die Bettdecke und saß den ganzen Abend schweigend am Feuer. Sie wirkte nicht verärgert oder verängstigt, vielmehr nachdenklich und er hielt es für möglich, dass sie überlegte, wie sie beim nächsten Mal sogar das regennasse Gatter allein schließen kann. Sie macht sich sonderbare Gedanken. Das Kind ist gerade einmal vier besonders trockene Sommer alt und doch um vieles reifer und sehr eigenartig. Wer wohl der Vater ist? Seine Tochter verrät es nicht, vermutlich weiß sie gar nicht, welcher der vielen Männer dafür infrage kommt. Das Mädchen hat feuerrotes Haar und eine ungewöhnlich helle Haut. Es fällt hier mehr auf als eine Ziege mit drei Köpfen. Es muss ein Kaufmann oder Handwerker aus dem hohen Norden gewesen sein. In Milan wird eine Kirche gebaut, die inzwischen bis in den Himmel reichen soll. Es kommen Arbeiter aus aller Welt, um ihr Seelenheil bei dem Bau zu finden. Wenn er gelernt hätte, Kirchen zu bauen, dann müsste sich seine Tochter nicht mit Männern das tägliche Brot verdienen und seine Enkelin kein Schwein hüten, von dem sie jederzeit aufgefressen werden könnte. Inzwischen ist Chiara bei ihm angelangt. Er nimmt ihr den Strick des Schweins aus der Hand und streicht über ihr Haar. Zusammen gehen sie zum Kofen.

~~die Zeit vergeht~~

„Oma? Ich habe heute eine Frau auf dem Hügel stehen sehen, mit einem langen, hellen Kleid und goldenen Haaren. Kennst du die?“ Felicitas schaut ihre Enkelin an und seufzt. „Was soll bloß aus dir werden? Du träumst zu viel mit offenen Augen. In dieser Gegend gibt es keine Frauen mit hellen Kleidern und blonden Haaren. Die Frauen hier haben Lumpen an, schmutzig und zerrissen von der harten Arbeit auf den Feldern, und blonde Frauen gibt es lediglich im Norden. Ich habe einmal eine gesehen, im Dorf, in einer feinen Kutsche. Die Herrschaften hielten, um im Gasthof zu essen, vermutlich war es ihnen zu derb. Sie sind weitergefahren Richtung Milan. Im Sonnenlicht sahen die Haare der Dame golden aus. Doch bei uns gibt es das nicht.“ Sie stockt, blickt auf Chiaras Haare und überlegt lange. Schließlich ergänzt sie: „Nur manchmal, wenn ein Stern vom Himmel fällt, gerade wenn ein Mädchen geboren wird, dann hat es Haare in der Farbe des Sterns. Und wenn der Stern zu Mitternacht fällt, dann sind sie so rot wie deine.“ Felicitas strahlt ihre Enkelin liebevoll an. Das Kind lächelt.

Prope Mediolanum MCDLXXI Aprilis regnante domino Galeazzo Maria Sforza anno incarnationis domini Iesu Christi

Chiara lässt die Hühner aus dem Kofen und führt den Ziegenbock auf die Wiese, schlägt einen Pflock, so fest sie kann, in die trockene Erde und bindet ihn an. Die restliche Ziegenschar folgt und wird bei ihm bleiben. Nun das Schwein. Normalerweise ist es eine ihrer Pflichten, darauf aufzupassen, damit es nicht fortläuft, aber das tat es noch nie.

Seit Wochen sammelte sie das langstielige, scharfkantige Gras, das die Ziegen stehen lassen und das sogar den Winter überdauert. Wochenlang versuchte sie, Schuhe zu flechten, wie sie auf dem Markt im Dorf verkauft werden. Mit dem Ergebnis ist sie unzufrieden, doch jetzt ist Frühling und sie möchte endlich los. Der Weg ist lang, er ist ihr unbekannt, sie vermutet es lediglich. Zu weit, um barfuß zu laufen. Ihre Mutter kommt jedes Jahr einmal hierher. Wenn sie wieder geht, dann immer gleich am Morgen, also muss es weit sein. Ihre Mutter hat Schuhe, Kinder dagegen, die noch wachsen, bekommen keine. Sie zieht die drei Paar unter dem Busch hervor. Bis zum Wald wird sie barfuß laufen. Derart weit war sie bereits einmal. Mutter erzählte, dass hinter dem Wald die Stadt zu sehen ist. Ein letztes Mal wendet sie sich zum Haus um. Ihre Großeltern werden sie erst am Abend vermissen, wenn sie ausbleibt. Sie läuft den Hang hinauf, ohne sich umzuwenden, wartet auf die Rufe ihres Opas, doch es bleibt still. Oben am Hügel atmet sie erleichtert aus. Sie überlegte sich das wirklich lange. Sie wird nicht ihre Mutter suchen. Die sagte ihr immer wieder, sie könne nicht bei ihr sein, hier wäre sie besser aufgehoben. Sie ist jedoch schon alt genug, um zu bemerken, es ist hier nicht besser. Großmutter verteilt zu Mittag das wenige Brot und ihr ist aufgefallen, wie sie jedes Mal ihren eigenen Anteil kleiner macht, damit ihre Enkelin mehr bekommt. Wenn Mutter sie besucht, ist es jedes Jahr ein Fest. Sie bringt immer Vorräte mit. Das Leben in der Stadt muss besser sein. Die Menschen können sich dort an all den leckeren Dingen satt essen. Chiara hat noch ein Stück von dem süßen Brot, das ihre Mutter dieses Mal dabei hatte. Es ist längst hart. Sie wird immer ein kleines Stück abbrechen und daran lutschen. Nun steht sie an der Kreuzung zum Dorf. Mit einem wimmernden Ton stößt sie die Luft aus ihrer Lunge und atmet ruckartig neue ein. Sie wird jetzt nicht weinen und sich keinesfalls umdrehen.

~~die Zeit vergeht~~

Sie schleicht sich gern zu dieser Zeit zu dem Gasthaus. Das Essen ist gut dort und zu später Stunde schlafen die wenigen übrigen Gäste an den Tischen. Auch der Wirt gönnt sich endlich ein kurzes Schläfchen, bevor er die letzten Kunden vertreibt. Von den Büschen unten am Kanal hört sie Kichern und heiseres Lachen. An der letzten schützenden Hausecke bleibt sie stehen, um die Lage zu überblicken. Wie erwartet sind nur noch zwei Schlafende an den Tischen, der Wirt ist fort. Es ist bisher nichts abgeräumt. Genau wie erhofft. Ein dritter sitzt an die Hausmauer gelehnt, die Beine auf der Bank lang gestreckt, er schläft. Es scheint sicher zu sein. Chiara muss sich jetzt auf den Platz wagen. Möglichst gelassen schlendert sie auf die Tische zu. Alles bleibt ruhig und unbewegt. Plötzlich erstarrt sie. Der dritte Gast hat die Augen nicht geschlossen, doch er sitzt unbewegt, zeigt keine Reaktion auf ihr Erscheinen. Schläft er mit offenen Augen? Das soll es geben, hörte sie. Vielmehr sagte es ihre Großmutter andauernd, wenn sie wieder durch Tagträumereien abgelenkt, zu lange in ihrer Arbeit innehielt. Sie geht vorerst am Gasthof vorbei. Der mit den offenen Augen rührt sich nicht, kein bisschen. Langsam dreht sie um und nähert sich den Tischen. Die Brotreste und Rüben von den Tellern schiebt sie schnell in ihren Beutel oder in ihren Mund. Verdammt. Zwischen dem mit den offenen Augen und einem anderen Schlafenden ihm gegenüber liegt ein Stück Fleisch auf dem Teller. Sie sollte das nicht tun, aber wann bekommt sie schon einmal Fleisch. Sie starrt es wie gebannt an, ihr Magen knurrt laut, zu laut. Endlich setzt sie sich in Bewegung. Vorsichtig schleicht sie dicht an der Wand entlang. Der mit den offenen Augen müsste den Kopf drehen, um sie zu sehen. Am Tisch angekommen, greift sie zuerst nach den Brotresten, die verstreut herumliegen. Nun streckt sie den dünnen Arm langsam nach dem Fleisch aus. Auf halben Weg hält sie inne. Der Gast mit den offenen Augen bewegt den Unterarm und schiebt damit den Teller in ihre Richtung. Sein Kopf ist weiterhin nach vorne gerichtet. Vor Schreck hört sie auf zu atmen und erstarrt, ihr Arm fängt an zu schmerzen. Sie atmet tief durch und schiebt sich auf die Bank neben den schlafenden, schnarchenden Mann, der erscheint ihr ungefährlicher. Der gegenüber sitzt wieder bewegungslos da. Bedächtig zieht sie den Teller zu sich herüber und versucht nicht zu sehr zu schlingen. Danach schleicht sie am Haus zurück und verschwindet in der nächsten Gasse. Den Beutel mit den Essensresten drückt sie fest gegen ihren Bauch. Auf schmalen, dunklen Wegen kehrt sie zurück zum Kanal. Hier ist eine Brücke mit Mauern, auf der sie unentdeckt zur anderen Seite gelangt. Am gegenüberliegenden Ufer verlässt sie sofort die breite Straße und läuft an den Hütten der Handwerker und Hafenarbeiter vorbei hinauf zu dem kleinen Baumbestand. Sie drückt sich durch die Äste eines Buschs zu einer Mulde, hebt einen großen Stein an und schiebt den Beutel in ein Loch darunter. Anschließend rollt sie sich in der Senke zusammen und schläft sofort ein.

Sie wird jeden Tag munter, wenn aus den Hütten der Hafenarbeiter die ersten Geräusche zu hören sind. Es ist noch dunkel. Obwohl sie versucht, nachts unbemerkt herzuschleichen, wissen vermutlich einige ihrer Nachbarn längst, dass sie im Gebüsch schläft. Angesprochen hat sie bisher niemand. Einmal drückte eine Frau ihrer kleinen Tochter ein Stück Brot in die Hand und schickte sie zu ihr, während sie zum Kanal hinunterlief. Es ist ungewohnt, wenn sie von jemandem beachtet wird. Es überraschte sie derart, dass sie sich nicht einmal bedankte. Bis dahin war sie sich sicher, unsichtbar zu sein. Seitdem läuft sie den ganzen Hang durch die Büsche bis zur Stadtmauer und am Kanal zurück in die Stadt, als ob sie aus einem der Dörfer stammen würde. Auf dem Platz am Kai herrscht dann bereits reges Treiben und dazwischen fällt sie nicht mehr auf, wenn sie nicht einem Arbeiter mit seiner Last in die Quere kommt. Auf kleinen Booten werden die Waren vom großen Hafen vor der Stadt durch eine Öffnung in der Mauer hierher gebracht. Chiara beobachtet ihre Umgebung stets besonders aufmerksam, weil sie manchmal etwas bekommt, wenn sie hilft, eine Last wieder einzusammeln, die zu Boden gefallen ist. Einmal riss ein Korb mit Orangen und alle kullerten über das Pflaster zwischen die Beine der Menschen, Pferde und Hunde. Da sie klein und dünn ist, half sie flink, das Obst zurückzubringen. Nicht eine steckte sie sich in die Tasche, obwohl sie auf dem nassen Pflaster an diesem grauen, regnerischen Tag besonders lecker leuchteten. Vielleicht blickte sie am Ende einen Moment zu gierig auf den Berg Früchte, denn der Bootsbesitzer, von dessen Kahn die Ladung stammte, überreichte ihr eine. Nie zuvor aß sie so etwas und die Orange war so gut, so süß, so saftig. Das war das erste Mal, dass sie hinauf zu den Bäumen hinter den Arbeiterhütten gelaufen war, weil sie befürchtete, eines der stärkeren Kinder könnte sie ihr wegnehmen. Andrea mit seiner Bande durchstreift den ganzen Tag das Gelände entlang des Kanals bis hinaus zum Hafen immer auf Raubzug. Er und seine Gruppe stehlen, was sie bekommen können. Sie mag Andrea nicht. Er ist das größte unter den Straßenkindern. Sie lernte schnell, ihm aus dem Weg zu gehen. Jedes Mal bekommt sie einen kräftigen Tritt, wenn er sie erwischt. Er nennt sie Gerippe, weil sie derart dünn ist. Zum Glück denkt er, sie ist ein Junge. Sonst würde sie weniger glimpflich davonkommen. Mit der Orange versteckte sie sich in den Büschen, schälte sie vorsichtig, aß sie ganz langsam und leckte sich danach jeden Finger immer und immer wieder ab, bis wirklich kein Saft mehr zu schmecken war. Danach legte sie sich hin und schlief ein. So tief konnte sie bisher nirgendwo in der Stadt schlafen. Später grub sie die Mulde, in der sie sich nun richtig geborgen fühlt. In einer Nacht lag ein leerer Sack am Kai und es war niemand mehr unterwegs, dem er gehören konnte. Da wagte sie, ihn mitzunehmen. Das ist seitdem ihre Zudecke und jetzt ist es in ihrem Busch richtig warm und gemütlich.

Noch unter der Decke isst sie ein Stück Brot und eine Rübe ihres gestrigen Beutezugs. Dieses Gasthaus ist immer einen Besuch wert. Gelobt sei der Tag, an dem sie es entdeckte. Auf der Nordseite des Kanals gibt es viele. Die reichen Bewohner der Stadt kommen am Abend hier heraus, um die kühle Luft am Wasser zu genießen. Zu der Zeit ist es laut dort drüben, man hört Lachen und Singen, ebenso Grölen und manchmal prügeln sich Betrunkene. Wenn die meisten wieder nach Hause gegangen sind, schlägt Chiaras Stunde. Andrea ist mit seiner Bande dann ebenfalls im Zentrum, irgendwo dort hausen sie oder vielleicht schlafen die nie.

Ein Beutezug ist heute gar nicht nötig. Der Sack ist gut gefüllt. Kurz entschlossen rollt sie ihre Zudecke zusammen, wickelt die Vorräte darin ein und macht sich auf den Weg zu ihrem See. Den entdeckte sie gleich zu Anfang, er liegt direkt vor der Stadt, dort ist selten jemand.

Das Wasser glitzert in der Sonne, es ist warm genug zum Baden. In den letzten Tagen wurde es kühler und in den Nächten wickelt sie den dicken Sack eng um sich. Der Winter und die Kälte machen ihr Angst, aber das wird sie schon irgendwie schaffen. Doch heute wärmt die Sonne wunderbar und es wird angenehm sein, ein paar Tage am See zu verbringen ohne Andrea, ohne den lärmenden Hafen und ohne den Gestank der Stadt.

Sie bleibt länger am See, als sie vorhatte. Die Sonne tat gut und es war überaus friedlich. Gestern hatte sie nur noch ein winziges Stück Brot. Beim Erwachen zog sich ihr Magen derart schmerzhaft zusammen, dass sie einsah, es muss sein. Trotzdem verweilt sie so lange am See, um erst kurz vor dem Schließen der Stadttore dort zu sein. Und es ist immer noch zu früh für ihren Beutezug, sie hat jedoch Hunger, sie kann sich auch am Kai verstecken, um auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Sie versucht es gar nicht anderswo, sondern läuft gleich zu ihrem Lieblingsgasthaus. Hier findet sie immer etwas.

Dort herrscht noch vergnügte Betriebsamkeit. Es wird getrunken, gegessen, gescherzt und gelacht. Sie hat gelernt, geduldig zu sein. Plötzlich entdeckt sie unter all den Gästen den schwarzen Haarschopf des Mannes vom letzten Mal, der mit offenen Augen geschlafen hat. Genau in diesem Moment dreht er sich zu ihr um. Er ist größer als die meisten anderen. Nein, er sah sie nicht, es sind derzeit viele Leute unterwegs und es ist dunkel, das bildete sie sich nur ein. Schnell versteckt sie sich hinter den Rädern des Lastkarrens, neben dem sie gestanden hat. Sie hält still und richtet sich auf eine lange Wartezeit ein. Währenddessen beobachtet sie das Treiben. Plötzlich tritt der Dunkelhaarige aus der Menge heraus. Er schlendert lässig auf den Karren zu. Das ist Zufall, denkt sie sich. Er hat mich bestimmt nicht bemerkt und warum sollte er sich für ein Kind interessieren. Er ist schlicht, jedoch elegant gekleidet, eindeutig reich und er läuft weiterhin in ihre Richtung. Sie bekommt Angst, wendet sich zum Kanal, schaut konzentriert auf die Hütten am gegenüberliegenden Ufer. Den Atem anhaltend stellt sie sich vor, sie wäre gar nicht da. Sie möchte weglaufen, allerdings würden sie alle dann sehen. „Ich heiße Luca, die meisten nennen mich Luc.“ Die Worte erklingen ganz in ihrer Nähe, tief und ruhig. Vorsichtig wendet sie sich der Stimme zu, sieht Beine auf der anderen Seite des Fuhrwerks und hält sich absolut still. „Ich dachte mir, du hast vielleicht Hunger“, er spricht weiter, gelassen, leise. Der Mann bückt sich, sie sieht einen Arm, eine Hand mit langen, schlanken, gepflegten Fingern, die eine Schale unter das Gefährt schieben. Sein Gesicht bleibt verborgen, er schaut nicht unter den Karren und drückt den Teller ein Stück weiter in ihre Richtung. Chiara hält still, sie zittert. Ihr Gönner richtet sich wieder auf und schlendert zurück. Sie starrt wie gebannt auf die Schale. Das Fleisch und die Rüben dampfen, Gemüse leuchtet in frischen Farben und es liegt eine Orange dabei. Als sie aufblickt, ist er zwischen den anderen Gästen verschwunden. Ein Windhauch treibt den Geruch des Essens an ihre Nase. Sie kriecht unsicher vorwärts, macht ihren Arm ganz lang, ihre Finger berühren den Teller, noch ein wenig, sie bekommt den Rand zu fassen und zieht ihn vorsichtig zu sich heran.

Ein paar Tage meidet Chiara die Gasthäuser. Sie versucht im Zentrum Essbares zu finden. Am Ende eines Markttages wird oft Gutes weggeworfen. Allerdings gibt es hier die Banden und die von Andrea ist dabei eine der Harmlosesten. Heute will sie wieder zu den Gasthäusern schleichen. Dieser Mann schenkte ihr eine ganze Mahlzeit, kann er dann böse sein? Es ist spät, wenn sie noch länger trödelt, sind die Tische abgeräumt. Chiara niest, es ist kalt geworden. Gestern sind am Morgen sogar ein paar Schneeflocken gefallen. Sie muss noch einmal niesen. Ein Mann steht im Eingang eines Hauses auf der anderen Straßenseite, hat es gehört und sieht neugierig herüber. Sie läuft schnell weiter und muss wieder niesen. Am ersten Gasthaus räumt eine Magd die Tische ab, alle Gäste sind fort. Sie will gerade nach Resten fragen, da fängt die Frau zu schimpfen an. „Eine andere würde sich weigern. Von morgens bis abends für diesen Hungerlohn. Du kannst dir eine andere suchen“, brüllt sie durch die offene Tür in die Gaststube hinein und stapelt geräuschvoll die Teller aufeinander. „Jaja, das sagst du jeden Abend“, kommt die Antwort von drinnen. „Wirst schon sehen.“ Mit diesen Worten verschwindet die Magd in der Gaststube und Chiara sucht das Weite. Am nächsten Haus sitzen tatsächlich noch zwei Gäste und unterhalten sich lallend, was sie sagen, ist unverständlich. Da beide nur auf den eigenen Bierkrug starren, nimmt sie sich rasch ein paar Reste. Vor ihrem bevorzugten Gasthaus sitzt niemand mehr.

Die meisten Tische sind abgeräumt. Schnell läuft sie zu den letzten Schalen, dort liegen Brot und Trauben. Die Schnitte ist bereits in ihrem Beutel verschwunden, gerade streckt sie die Hand nach den Weintrauben aus, da hört sie seine Stimme. „Der Wirt hat bestimmt mehr für dich übrig. Soll ich etwas bringen lassen?“ Er steht in der Tür und wartet keine Antwort ab. „Alfredo, hast du etwas zu essen für die junge Dame?“, ruft er nach hinten. Der Wirt steckt den Kopf zur Seite heraus. „Welche junge Dame, Signore? Meint Ihr diesen dreckigen Wicht.“ Luc raunt dem Wirt etwas zu, der verschwindet in der Gaststube und kehrt mit Brot und einem Stück Käse zurück. „Oh Alfredo, du hast doch Besseres.“ Der schnieft und läuft los. Luc legt beides auf den Tisch und schiebt es in ihre Richtung. Der Wirt gibt eine dicke Scheibe Fleisch eingebettet in Brot dazu und zieht sich mit einem Knurren zurück. Luc fixiert das Kind die ganze Zeit, als ob er sie mit seinem stechenden Blick festhalten will. Derart schwarze Augen hat sie noch nie zuvor gesehen, sie schaut einen Moment zu lange hin. Ihre Nase tropft, das ist ihr peinlich und sie wischt mit dem Ärmel darüber. „Hast du keine Angst als Mädchen allein in der Nacht?“ Vorsichtig greift sie zu Brot, Käse und Fleisch und zieht es näher zu sich. „Ich bin ein Junge.“ — „Ach so, du bist ein Junge.“ In diesem Moment fallen ihr die Worte einer Marktfrau ein, die sagte: „So kleine Jungs wie dich holen sich die reichen Herren gern zu ihrem Vergnügen. So was wie dich vernaschen die zum Frühstück.“ Sie macht ein paar langsame Schritte rückwärts, fort von dem Mann, schließlich dreht sie sich um und läuft davon.

In dieser Nacht ist es eisig kalt. Ihre Nase tropft unentwegt. Zu dem Niesen ist nun auch ein Husten gekommen. Am nächsten Tag muss sie sich überwinden, aus der Mulde zu kriechen und in die kalte Morgenluft hinauszutreten. Sie versuchte sich die ganze schlaflose Nacht vorzustellen, was reiche Herren mit kleinen Jungs machen. Endlich kriecht sie unter dem Sack hervor. Hunger hat sie keinen, doch sie muss sich unbedingt bewegen, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Ohne lange darüber nachzudenken, läuft sie hinaus zum See. Unterwegs wird ihr endlich wieder warm. Sie hält vor Schreck den Atem an, es ist eine Eisschicht auf dem Wasser, dünn und zerbrechlich, sie weiß, was das bedeutet.

Derart zeitig war sie nie hier. Viel zu früh für einen Beutezug, Essensreste zu klauen, ist jedoch heute nicht ihr Plan. Seit den Morgenstunden war sie in der Stadt unterwegs, sie ist lediglich durch die Gassen gestreunt. Hunger hatte sie weiterhin keinen. Ein Vorhaben liegt ihr schwer im Magen. Die Entscheidung, den Hof der Großeltern zu verlassen, ist den ganzen Winter über gewachsen. Ihr neuer Entschluss ist heute Morgen ihrem Kopf entsprungen und sie ist sich weiterhin nicht sicher, ob es das Richtige ist.

Das Gasthaus ist noch gut besucht, alle Tische sind besetzt. Sie versucht gar nicht unsichtbar an den Wänden entlangzuschleichen. Sie läuft quer über den Platz auf das Haus zu, bleibt ungeniert davor stehen, um den Mann in Schwarz, wie sie ihn für sich nennt, zwischen den Gästen zu suchen. Die Enttäuschung trifft sie wie ein Schlag. Er ist nicht da. Nicht aufgeben, vielleicht kommt er immer später! Sie sitzt auf der Kaimauer und beobachtet ununterbrochen den Platz. Während sie wartet, gerät sie ins Wanken. Ist es richtig? Sie hat keine Ahnung. Was weiß sie denn überhaupt? Wenn der Magen knurrt, musst du dir etwas zu essen suchen. Das ist das Einzige. Chiara schluckt. Ist das die Kälte oder die Angst, die sie zittern lässt?

Da ist er. Im angeregten Gespräch schlendert er zusammen mit einem anderen Mann die Gasse herunter. Er lächelt seinen Gesprächspartner an. Lächelt so ein böser Mensch? Was unterscheidet gute Menschen von bösen? Lächeln nicht die Bösen mehr als die Guten? Sie weigert sich länger darüber nachzudenken, denn sie findet keine Antworten auf all ihre Fragen. Beherzt springt sie von der Mauer und rennt hinüber. Der Mann in Schwarz ist inzwischen vor den Tischen stehen geblieben und verabschiedet sich von seinem Gesprächspartner, der weiter läuft. Er schickt sich an, durch den Gastgarten auf das Haus zuzugehen, als Chiara bei ihm ist und ihn von hinten vorsichtig an der Jacke zupft. Der schwarz Gekleidete dreht sich um und gleichzeitig brüllt ein Gast neben ihr, sie soll verschwinden. Der Mann in Schwarz beschwichtigt ihn und kniet sich vor das Mädchen. „Na, junge Dame, wie kann ich dir helfen?“ Vor Aufregung fängt sie zu stottern an und muss sogar husten. Es ist ihr peinlich und sie will davonlaufen, aber er hält sie am Ärmel fest. „Ich tue dir nichts, das verspreche ich. Also nun rede, was willst du von mir?“ Sie schluckt wieder, schließlich sprudeln die Worte aus ihr heraus. „Ich bin noch klein, trotzdem hütete ich auf dem Hof meiner Großeltern das große Schwein und die Ziegen. Es ist nie eine davongelaufen. Ich habe beim Melken geholfen und manchmal sogar die schwere Milchkanne bis zum Haus hinübergetragen. Ich kann alles lernen. Ich ... Ich ... Ich wollte fragen, ob Ihr eine Arbeit für mich habt, in der Küche oder so. Für etwas zu essen und einen warmen Platz am Ofen. Es war letzte Nacht eiskalt.“ Der Mann in Schwarz sieht sie lange und sehr ernst an. Gleich wird er sie auslachen. Wie konnte sie sich nur so etwas Verrücktes ausdenken? Vermutlich fragen bei einem reichen Signore jeden Tag unzählige kräftige Männer nach Arbeit. Der Gast von vorhin hat zugehört und lacht schallend los. Sie will nur noch fort, aber der Schwarze hält sie weiterhin am Ärmel fest und sieht sie durchdringend an, sagt kein Wort. Plötzlich richtet er sich auf und geht zurück auf die Straße. „Komm“, sagt er lediglich und schreitet Richtung Stadtmitte davon, ohne sich nochmals nach ihr umzudrehen. Sie zittert, nun eindeutig vor Angst. Sie hat zu viel gewagt, um jetzt zurückzuschrecken und rennt ihm hinterher, bis sie ihn einholt und versucht mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Fortwährend sieht sie ihn von der Seite an, aber er geht unbeirrt weiter, als ob er sie längst vergessen hätte. Vor einem großen Haus für reiche Leute bleibt er stehen und pocht an die Pforte. Eine rundliche junge Frau öffnet. „Oh, Signore, ihr seid heute früh zurück.“ Luc wendet sich nun zum ersten Mal wieder zu ihr um und schiebt sie vor die dicke Frau. „Diese junge Dame wird ab sofort bei uns wohnen. Ich dachte mir, wir geben ihr das Eckzimmer zur Straße hin. Du könntest ihr gleich einmal ein Bad richten, das ist dringend nötig und ansonsten wird es deine vorrangige Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass die junge Dame etwas mehr Fleisch auf die Rippen bekommt.“ Damit zieht er das Mädchen an der Frau vorbei ins Haus. Ruckartig bleibt er stehen. „Ach ja, das ist Camilla, sie sorgt sich um mich und das Haus. Wie ist eigentlich dein Name?“ Er blickt sie eindringlich an. „Chi-Chiara“ stottert sie. „Chiara? Die Leuchtende, die Helle, gleichermaßen die Schwarze. Dein Name gibt dir alle Möglichkeiten.“ Sie schaut ihn verständnislos an. „Ich hatte mich bereits vorgestellt. Luca, aber alle sagen Luc.“ Er hält ihr die Hand entgegen. Sie zögert und legt schließlich ihre hinein und deutet einen Knicks an, das beobachtete sie einmal, das macht man bei reichen Leuten. Er lächelt und neigt leicht den Kopf. „Komm“, sagt er und steigt die Treppe hinauf. Sie schaut ihm nach und folgt endlich. Oben öffnet er eine Tür und deutet ihr an hineinzugehen. Das Zimmer ist riesig, zur Straße hin sind hohe Fenster. Vor jedem ist eine Bank mit rotem Polster in den Erker eingepasst. Die Wände sind makellos hell getüncht, der Boden aus dunklem, fast schwarzem Holz wie im ganzen Haus. Es gibt kaum Möbel, lediglich ein großes Bett mit gedrechselten Säulen an allen vier Ecken, die einen Himmel aus dunkelrotem glänzenden Stoff tragen. Die Laken sind so weiß, dass sie schon blenden. Am Fußende des Betts steht eine reichlich mit Schnitzereien verzierte Truhe. Gegenüber sind die ganze Wand entlang eigenartige Steinsäulen aufgereiht, stark verwittert und von oben bis unten sind Zeichen eingemeißelt in akkurat geraden Zeilen, dicht an dicht. Sie hat keine Ahnung, was sie hier soll und blickt Luc fragend an. „Das ist deins. Wir können mehr Möbel hineinstellen, wenn du möchtest oder Bilder an die Wände hängen.“ Sie bewegt den Kopf langsam und unsicher hin und her. „Somit gefällt es dir?“ Sie nickt. „Ausgezeichnet. Meine Haushälterin hat sicherlich schon dein Bad fertig, das ist im Untergeschoss. Sie wird auch etwas zum Anziehen für dich finden. Um den Rest kümmern wir uns morgen. Komm, sie wartet.“ Er weist mit der Hand nach unten. Sie setzt sich langsam in Bewegung. Luc schubst sie vor die richtige Tür und nickt ihr aufmunternd zu. Die Magd erwartet sie und sieht sie mit geneigtem Kopf skeptisch an. Chiara muss wieder niesen. Schnell wischt sie mit dem Ärmel über die Nase. „Das klingt, als ob du ein heißes Bad dringend nötig hättest, meine Kleine. Steig in die Wanne, bevor das Wasser kalt wird. Ich werde mir erlauben, deine Kleider zu verbrennen. Bei dem Versuch, sie zu waschen, würden sie bestimmt zerfallen. Ich habe dir vorerst eines meiner Hemden hingelegt. Wenn wir es mit einem Band um die Taille raffen, wird es schon gehen.“ Sie hebt mit jeweils zwei spitzen Fingern die Kleidungsstücke vom Boden auf, die Chiara abgestreift hat, und wirft sie ins Feuer. Ob das gut ist? Das war das Einzige, was ihr gehörte, und nun geht es in Flammen auf. Sie schluckt, hat aber kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn die dicke Frau fängt nun an, Chiaras Körper von oben bis unten abzuschrubben. Es tut richtig weh. Nach einer gefühlten Ewigkeit, während der auch ihre Haare mehrmals eingeseift wurden, ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie noch eine Haut hat, zumindest war die nie so hell. Mit dem viel zu großen, gerafften Hemd trippelt sie hinter der Magd in die Küche. Dort stehen bereits Brot, Käse, Oliven und ein großes Stück Braten auf dem Tisch. Camilla deutet auf die Bank und anschließend auf das Essen. Vorsichtig nimmt sich Chiara eine Olive und steckt sie in den Mund. „Das ist alles für dich, mein Kind. Du hast gehört, was der Signore sagte.“ — „Wo ist er?“ — „Der ist wieder gegangen. Er wird erst spät in der Nacht zurückkehren, du gehörst mit deinem Schnupfen und Husten sowieso ins Bett.“ Bei ihren letzten Worten stellt sie einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit auf den Tisch. „Das hilft und decke dich heute Nacht gut zu, damit wird es dir morgen bereits besser gehen.“

Chiara kann nicht einschlafen. Sie und die Laken haben denselben wunderbaren Geruch. Und wie soll sie schlafen, wenn sie ohnehin bereits in einem Traum ist? Plötzlich kommen die Zweifel und die Angst, was Luc dafür von ihr erwartet. Auch wenn sie sich noch so sehr den Kopf zerbricht, das kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Bald tut die Wärme ihre Wirkung und sie schläft so tief wie nie zuvor in ihrem Leben.

Es ist warm unter der Decke und selbst als sie einen Fuß vorsichtig hervorstreckt, ist die Luft im Zimmer sehr angenehm. Ein leichter Wind wie eine Sommerbrise streicht über ihr Gesicht, nur dass er nach Holzfeuer riecht und nach etwas anderem. Ihr Magen zieht sich augenblicklich schmerzhaft zusammen. Dieser ausgesprochen leckere Duft treibt sie aus dem Bett. Die Wärme und der Wohlgeruch steigen aus einem Gitter am Boden auf. Schon ist sie an der Tür und hält abrupt an. Sie trägt allein dieses Hemd, das ein Band in dicken Falten an ihren Körper drückt. Kann man so in einem feinen Haus aus dem Zimmer gehen? Sie sieht zu der großen Truhe am Ende des Betts, läuft hin und öffnet mit Mühe den schweren Deckel, die ist allerdings leer. Was nun? Unschlüssig dreht sie sich herum, um vielleicht doch etwas zu entdecken, was sie anziehen könnte, aber da ist nichts. Entmutigt lässt sie die Schultern sinken, starrt die Tür an, als ob es ein bedrohliches Tier wäre, dann atmet sie tief durch und marschiert tapfer los, öffnet sie und schleicht leise die Treppe hinunter. Aus dem hinteren Teil des Untergeschosses hört sie Geräusche und geht zögernd darauf zu. Die Tür ist lediglich angelehnt und sie kann Bewegung durch den Spalt ausmachen. Sie drückt sie langsam und sehr leise auf, allerdings ist die Küche klein und die Haushälterin bemerkt sie sofort. „Du bist früh wach, Kind. Genau zur richtigen Zeit. Gerade habe ich die süßen Brote aus dem Ofen gezogen, damit fängst du schon einmal an und bis du damit fertig bist, habe ich deinen Hirsebrei gekocht.“ Die Magd legt ein kleines Brot auf einen Teller, stellt eine Schüssel mit etwas Hellem darin daneben und erklärt, als sie den ratlosen Blick sieht: „Das ist Rahm, den kannst du dir auf das Brot streichen.“ Anschließend streut sie Kräuter in einen Becher und füllt ihn mit kochendem Wasser auf. „Und dies hier so heiß wie möglich trinken. Warte.“ Sie wendet sich zu einem Regal, zieht einen Tontopf heraus und lässt von einem Holzstab Honig in den Becher tropfen. „So schmeckt es besser.“ Sie rückt ihn ein Stück näher zu dem Mädchen hin und nickt ihr aufmunternd zu. Chiara nippt vorsichtig an dem heißen Getränk, greift nach dem Brot auf dem Teller und hält es sich unter die Nase. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Das ist der Duft, der sie aus dem Bett gezogen hat. Als sich die Haushälterin ihr mit dem Brei zuwendet, lacht sie, da auf dem Teller nicht einmal mehr Krümel sind. „Na, das ist gut. Zum Essen muss ich dich zumindest nicht zwingen.“ Sie lächelt, dann legt sich ihre Stirn in Falten und sie beobachtet das Mädchen nachdenklich, wie es Löffel für Löffel den Brei in den Mund stopft. Plötzlich schüttelt sie den Kopf und wendet sich wieder ihrem Ofen zu. Sie erschrickt, als sich die Schüssel neben ihr auf die Arbeitsplatte schiebt und darüber ein unsicher lächelndes Mädchengesicht auftaucht. „Alles aufgegessen? Schön. Bist du satt?“ Die Kleine bleibt unbeweglich stehen und blickt sie aus großen grünen Augen an. „Noch nicht satt?“ Das Kind starrt sie weiter an. „Noch ein Brot?“ Der Kopf mit den kurzen roten Haaren bewegt sich langsam auf und ab. Die Magd lacht glücklich und legt ein Brot auf den Teller. „Der Signore kommt immer erst gegen Mittag aus seinem Gemach, du kannst dich hier ans Feuer setzen und deine Aufgabe ist es, so viel von dem Kräutertee zu trinken, wie du kannst. Der Signore beauftragte mich, gleich heute Morgen den Schneider ins Haus zu holen, damit du etwas zum Anziehen bekommst. Ich werde gleich loslaufen. Jetzt ist er längst in seiner Werkstatt und die ist gleich um die Ecke.“

„Was soll das Fräulein denn bekommen? Kleider nach der neuesten Mode? Wie viele?“ Die Haushälterin sieht ihn ratlos an. „So genau sagte das der Signore nicht. Nun müssen wir leider warten, bis er herunterkommt.“ Chiara kann die Tür sehen und damit den Hausherren, der geräuschlos den Raum betritt. Er greift nach einem Krug im Regal und einem Becher