Chiara DeMontibus - Sabine Bauch - E-Book

Chiara DeMontibus E-Book

Sabine Bauch

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Beschreibung

1631-1857 in London Der 30jährige Krieg vertreibt Chiara und Luc aus dem heiligen römischen Reich deutscher Nation, in dem die Grenzen und auch die Macht der Religion längst zerfallen sind. Ihr Ziel ist London, wo das puritanische Leben auf eine erblühende Theaterkultur prallt. Mit ihrem neuen Freund Vlad und den Ordensrittern geht sie gegen Pandoras Hinterlassenschaften vor, was auch Lucs Dasein verändert. Die Jungs aus Norwegen ergänzen die Gemeinschaft.

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Vorwort

Es ist keinesfalls so, dass ich und meine Figuren leidenschaftlich Tabus brechen, wir interessieren uns nur nicht dafür.

Die Figuren entsprechen selten der Gesellschaftsnorm. Die einzige Regel, an die sie sich halten, ist: Leben und leben lassen. Errichten befriedigt sie mehr als zerstören.

Stilistisch merkt ihr es, weil wörtliche Reden keine neuen Absätze bekommen, sondern im Fluss bleiben wie im echten Leben, und deshalb sind die Geschichten in der Gegenwartsform geschrieben.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Norenberc

MDCXXXI Aprilis: regnante domino Ferdinand II. Imperii sancti Romani Germanica anno incarnationis domini Iesu Christi

London

1640 August: For the Year of our Lord CHRIST In the 15th Year of the Reign of King CHARLES I.

London

24 th of October 1648: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

30 th of January 1649: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

31 th of December 1664: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

2 th of September 1666: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1683 December: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1688 June: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

27 th of July 1694: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

13 th of November 1702: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1 th of October 1707: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1759 May: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1765 December: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1780 March: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

London

1857 March: For the Year of our Lord CHRIST Commonwealth of England

Über das Buch

Über die Autorin

Norenberc

MDCXXXI Aprilis

regnante domino Ferdinand II. Imperii sancti Romani Germanica anno incarnationis domini Iesu Christi

Chiara hebt die schwere Tasche in den Wagen, der Kutscher blickt sie schuldbewusst an, er war zu langsam. Beschwichtigend schüttelt sie den Kopf und steigt ein. Luc tritt aus dem Haus und gibt letzte Anweisungen für den Abtransport der Einrichtung, eigentlich nur für die Bücher und die Stelen. Gespannt blickt sie ihm entgegen. „Du willst dich weiterhin darüber ausschweigen, wo wir demnächst leben?“ — „Lass dich überraschen, ich dachte, du liebst das Spionieren. Allerdings kann ich dir mitteilen, du musst eine neue Sprache lernen.“ — „Oh, das bedachte ich nicht.“ — „Es tut mir leid, Länder, deren Sprachen du sprichst, kamen nicht infrage. Bei den Griechen ist es schrecklich langweilig und über die arabischen Länder schweigen wir besser. Latein wurde nirgendwo gesprochen und Frankreich ist Kriegsgebiet, Spanien ebenfalls.“ — „Spanisch beherrsche ich nicht. Somit fahren wir ins Zarenreich?“ Erstaunt schaut er auf. „Daran dachte ich nie, vielleicht in einem anderen Leben. Warte ab, du wirst begeistert sein.“ — „Ich hoffe, wir müssen keine Berge überqueren, dafür ist meine Tasche zu schwer. Ich packte einige Bücher ein, da es das letzte Mal ewig dauerte, bis die Bibliothek nachgeliefert wurde.“ — „Dort, wo wir hinfahren, gibt es welche, die du lesen kannst, sobald du die Sprache beherrschst.“ Süffisant grinsend steigt er ein. „Und los! Dir ist bewusst, wir müssen Kriegsgebiet durchqueren, egal in welcher Richtung.“ — „Das befürchtete ich, also lass uns so schnell wie irgend möglich fahren und den Armeen ausweichen.“ — „Dazu bekam der Fahrer Anweisung, es liegt in seinem Interesse. Er würde auch ohne uns die Stadt verlassen, da er Verwandtschaft in derselben Richtung besitzt.“ — „Wo lebt seine Familie?“ — „Netter Versuch, junge Dame.“ Schelmisch grinst er.

Der Wagen ist leicht. Der Kutscher lud sein gesamtes Hab und Gut mit auf, allerdings passte das in eine einzige Kiste. Sein wichtigster Besitz ist das Gefährt selbst, die beiden Pferde davor und die, die hinten angebunden sind. Damit kann er die Tiere regelmäßig wechseln und sie werden schneller vorankommen. Sie wollen zur Nacht keinesfalls an Gasthöfen halten, sondern draußen kampieren, dadurch können sie den Städten und Schlachten besser ausweichen.

Bereits vor ihrer Abreise gab es Bekanntmachungen, nach denen der Kaiser neue Münzen einführt, die alten werden bald ungültig. Beim ersten Wechsler möchte der Kutscher seine gesamten Barschaften eintauschen, Luc hält ihn davon ab. Für vier der alten werden fünf neue gegeben, das klingt nach einem hervorragenden Geschäft, jedoch die neuen enthalten kaum Silber, das benötigt der Kaiser für den Krieg. Luc erklärt ihrem Fahrer, er wird außerhalb des Deutschen Reichs für das alte Geld ein Vielfaches erhalten. Die Bauern, bei denen sie ihre Vorräte auffrischen, nehmen beides, teuer ist ohnehin alles.

Die Waldlichtung liegt unbeschreiblich ruhig vor ihnen, als würde es nirgendwo Kämpfe geben. Vögel zwitschern, ein Bach plätschert, die Pferde schnauben zufrieden beim Grasen. Der Kutscher entfacht ein Feuer und röstet Brot darüber. Chiara kaut an einer Rübe. „Wo findet der Krieg im Moment statt, Luc?“ — „Glücklicherweise weiterhin in einem anderen Teil des Reichs. Derzeit tobt er um Magdeburg. Die Bürger hofften auf die Hilfe der Schweden, doch die wurden leider im Norden aufgehalten. Die Stadt wird fallen, vermutlich geschah dies längst.“ Luc erhebt sich, schlendert zum Wagen und durchsucht seine Tasche. Ein Buch nach dem anderen zieht er heraus und steckt es mit einem Kopfschütteln zurück. Unauffällig rückt sie näher zum Kutscher. „Wo sind wir im Moment?“, fragt sie möglichst gelangweilt. Flüchtig mustert er sie und schüttelt den Kopf. „Der Herr bat mich, Euch das keinesfalls zu verraten, er möchte Euch nicht unnötig beunruhigen. Wir werden rechtzeitig die Grenze erreichen. Macht Euch keine Sorgen.“ Mitfühlend legt er die Hand auf ihre Schulter, bevor er weiter in die Flammen starrt, das Gespräch ist für ihn eindeutig beendet. Als Luc zurückkehrt, knurrt sie leise. Verwundert schaut er sie an. „Ich will endlich wissen, wo es hingeht. Schließlich soll es ebenso mein zukünftiges Heim werden.“ — „Ich bin überzeugt, du würdest dich nach einer angemessenen Zeit überall Zuhause fühlen. Dazu bist du viel zu wissbegierig und darum wirst du über kurz oder lang auch ohne mein Zutun herausfinden, wohin wir unterwegs sind.“ Er grinst hämisch, sie knurrt erneut.

Seit dem frühen Morgen folgen sie einem breiten Fluss, in diesem Augenblick lenkt der Fahrer sein Gefährt auf einen Bauernhof, um neue Vorräte zu besorgen. Chiara bleibt sitzen, nach sechs Tagen schmerzt ihr jeder Knochen. Zwei Kinder spielen vor der Scheune, plötzlich kommt ihr ein Gedanke. Luc und der Kutscher verhandeln mit dem Bauern. Verwegen grinsend öffnet sie leise den Verschlag und schlendert zu den Kindern hinüber. „Schönen guten Tag euch beiden, was spielt ihr?“ — „Meine Schwester ist das Burgfräulein und ich der edle Ritter, der sie rettet.“ — „Oh, vor was musst du sie bewahren?“ Der Junge schaut sie verständnislos an und zuckt die Schultern. „Na, du hast Recht, edle Ritter müssen Burgfräulein fortwährend beschützen, dazu sind sie da. Wisst ihr, wie sich der Fluss dort hinten nennt? Ich bin fremd.“ Der Junge scheint viel zu verwirrt für eine Antwort. „Das ist die Saar“, antwortet darum das Mädchen. „Die kennt doch jeder“, ergänzt der Knabe. Chiara gibt sich zufrieden. „Danke mein edler Ritter. Gehabt Euch wohl, mein Fräulein.“ Rasch eilt sie zur Kutsche, springt hinein und gähnt gelangweilt, als Luc einsteigt. Somit fuhren sie die letzten Tage beständig nach Westen. Geht es doch nach Frankreich? Nein, sie wird Luc keinesfalls fragen, sie findet es allein heraus. Nach einer weiteren Stunde Fahrt trifft die Saar auf einen anderen Fluss. Vor ihrem geistigem Auge entfaltet sich eine Landkarte, das muss die Mosel sein, wir fahren nach Norden, sie ist gespannt, wie es weiter geht.

Am Abend macht sie sich auf die Suche nach Brennholz, sie flehte den Kutscher förmlich an, ihr jeden Tag diese Aufgabe zu überlassen. Es ist die einzige Gelegenheit, nach all den Stunden Durchrütteln die Gliedmaßen zu lockern. Ein Ast bricht in ihrer Nähe, instinktiv wendet sie sich dem Geräusch zu. Zwei Männer stehen vor ihr, ein weiterer gesellt sich dazu, die Kleidung ist zerschlissen, sie tragen Waffen, damit sind es marodierende Soldaten. Alle drei grinsen sie unverhohlen zweideutig an. Chiaras Blick schweift von einen zum anderen, sie nähern sich siegessicher. Sie drückt den Rücken durch und wären die Soldaten aufmerksamer gewesen, hätten sie die Luft gehört, die sie geräuschvoll aus der Nase stößt und ein leises Klicken. Die Schritte der Angreifer werden schneller, ihr Grinsen hämischer. Der Mittlere schaut herausfordernd zu seinen Mitstreitern, einmal links, einmal rechts, dann prallt er auf etwas, die Haut auf seiner Stirn platzt, Blut läuft ihm ins Auge. Die beiden anderen bleiben stehen und starren ihn irritiert an, einer von links, einer von rechts. Hinter ihr ertönt das vertraute Knurren eines Löwen. Der Mittlere wischt sich über die Stirn und blickt ungläubig auf die blutige Hand. Die beiden anderen starren an ihr vorbei und nähern sich geduckt, wie Wölfe kurz vor dem Angriff. Schon knallen auch ihre Köpfe auf etwas Hartes, Unnachgiebiges, Unsichtbares. Chiara blieb die ganze Zeit unbewegt stehen, anschließend bückt sie sich und hebt den Ast auf, nachdem sie vorher greifen wollte. Sie legt ihn auf den Arm zu dem anderen Brennholz. Luc steht nun neben ihr, nachdenklich schaut er zwischen den Soldaten und ihr hin und her. „Was war das? Ich glaubte, Ziegelsteine zu hören, die aufeinandergeschlagen werden.“ — „Ja? Sahst du sie?“ Bedächtig schüttelt er den Kopf, sie grinst. „Die drei würden schwören, sie sind da.“ Er nickt und nimmt ihr das Holz ab. Auf dem Weg zu ihrem Lagerplatz sammelt sie weitere Äste.

Am nächsten Tag regnet es heftig. Als sie in den Abendstunden an einem Gasthof, der einsam an einer Wegkreuzung steht, vorbeirollen, fordert Luc den Kutscher auf, anzuhalten. „Wir nächtigen hier. Ich bestelle zudem ein Zimmer für dich, du hast den ganzen Tag im Regen durchgehalten.“ — „Danke Herr, das bin ich gewöhnt.“ — „Willst du mich glauben machen, ein warmes Bett wäre bei diesem Wetter unangenehm.“ Der Kutscher schüttelt den Kopf und hebt die Taschen aus dem Verschlag. Luc reicht Chiara die Hand zum Aussteigen. „Ich gehe davon aus, du siehst das ebenso.“ Sie ist für jedwede Reaktion zu müde. Das Gepäck wird in ihre Kammern gebracht, der Kutscher versorgt seine Pferde und gesellt sich anschließend im Schankraum zu seinen Fahrgästen. Der Wirt trägt drei dampfende Schalen an den Tisch. Mitten in der Wirtsstube sitzt ein Trupp, die Männer halten sich an ihren Krügen fest, es ist mitnichten ihr erstes Bier, ihre Stimmen sind unüberhörbar. „Wir marschierten von morgens bis abends, tagein, tagaus.“ — „Wenn wir zu einem Schlachtfeld kamen, war die Schlacht meistens geschlagen und alles geplündert.“ — „Dumm sind wir nicht, darum beschlossen wir, vor dem Heer dort zu sein, dann gibt es bedeutend mehr zu holen.“ — „Es ist viel reizvoller, eine Frau zu nehmen, über die nicht bereits unzählige drüber rutschten.“ Der Wirt beugt sich tief über den Tisch, als er die Schüsseln abstellt und Luc zuraunt: „Das sind Fremde, marodierende Soldaten. Der Krieg ist schlimm genug und nun diese neue Plage. Sie kommen beständig aus dem Norden herunter.“ Er nickt knapp in die Runde und zieht sich hinter seinen Schanktisch zurück, fortwährend wirft er einen missmutigen Blick auf die ungeliebten Gäste. Chiara beobachtet ebenfalls die Horde und denkt an ein Buch, in dem die Franzosenkrankheit beschrieben wurde. Das las sie im friedlichen Norenberc, auf ihrem gemütlichen Sofa, in der heimeligen Bibliothek, vor einem prasselnden Feuer. Sie lässt die Beschreibung in ihrem Kopf Revue passieren und betrachtet den Soldaten, der mit seinem Bierkrug aufsteht, den anderen zuprostet und sie lange mustert. Ausdruckslos nickt sie ihm zu. Er tastet sie von oben bis unten mit seinen Blicken ab, in seiner Hose bäumt sich etwas auf, kurz, dann weiten sich seine Augen vor Entsetzen, er greift sich in den Schritt, verzieht den Mund zu einem Schmerzensschrei, dreht sich ruckartig um und humpelt breitbeinig aus der Stube. Luc sieht ihn kopfschüttelnd hinterher. „Nicht alles kam aus Pandoras Dose, die Menschen können vieles ganz allein.“ Der Kutscher sieht ihn fragend an. Luc schüttelt beschwichtigend den Kopf und bestellt ihm ein Bier.

Die Mosel liegt längst hinter ihnen. Heute folgen sie einem anderen Fluss, der sich in unzähligen Schleifen, wie eine Schlange durch die Landschaft windet. Er ist zu schmal, Chiara lässt es bleiben, den Namen herauszufinden. Sie folgen dem Ufer und wenn sie die Wasserscheide richtig im Kopf hat, bewegen sie sich weiterhin nach Norden, aufgrund des Sonnenstandes könnte es ebenso Westen sein. Inzwischen findet sie es äußerst spannend, all die Bruchstücke zu sammeln, um herauszufinden, wohin sie fahren. Es wäre um vieles einfacher, wenn sie nicht andauernd einen großen Bogen um Städte machen würden.

Soeben halten sie in einem Dorf und Chiara lässt ihren Blick kreisen, um jemanden zu finden, dem sie neue Hinweise entlocken kann. Friedliche Stille herrscht in dem Ort, der höchstens aus zehn Häusern besteht. Nun biegen Männer auf die Hauptstraße ein. Wo kamen die derart plötzlich her? Natürlich sind es marodierender Soldaten, da es ein ungeordneter Haufen in zerlumpten Kleidern ist. Sind es dieselben wie gestern? Ihre Augen wandern von einem zum anderen, doch sie entdeckt kein bekanntes Merkmal. Plötzlich ertönt aus einem Weg zwischen den Häusern Kichern und schon treten eine Frau und drei Mädchen auf die Straße. Die Soldaten entdecken sie und grölen freudig. Noch sind sie unschlüssig, denn soeben peilten sie die Kutsche als lohnendes Ziel an. Luc tritt ihnen entgegen, augenblicklich schlagen sie einen weiten Bogen um das Gefährt und widmen ihre volle Aufmerksamkeit der Weiblichkeit. Die Männer bemerken Chiara nicht, da sie hinter der Kutsche steht. Nun eilt sie auf die Mädchen zu, breitet die Arme aus und treibt die Schar wie Hühner zurück in die Lücke zwischen den Häusern. Sie erreichen die rückwärtige Seite des Gebäudes, als die Soldaten laut lachend hinterher stampfen. Sie sind eindeutig betrunken, denn es gibt einen heftigen Streit, bis sich jeder in den Spalt quetscht. Chiara treibt ihre Schützlinge zu einem Holunderbusch an der Hauswand, drängt sie zwischen die Äste und hält mahnend den Zeigefinger an die Lippen. Die Männer biegen um die Ecke, bleiben unschlüssig stehen und blicken sich nach beiden Seiten um. „Wo sind sie hin?“ — „Womöglich in den Wald.“ — „Derart weit konnten die in der kurzen Zeit auf keinen Fall kommen.“ — „Sucht nach einer Hintertür oder einer Klappe im Boden.“ Der Trupp schwärmt aus. Einer läuft auf den Holunderbusch zu. Eines der Mädchen schreit leise auf, die Frau drückt ihr die Hand vor den Mund, das zweite umschlingt sie mit dem anderen Arm, das dritte drängt sich dicht an sie. Der Unhold hält vor dem Busch an, der ist weder groß, noch das Blattwerk voll ausgewachsen. Die Frau starrt auf den Verfolger, bevor sie Chiara forschend mustert. Die führt erneut den Zeigefinger an die Lippen. Der Betrunkene bückt sich und hebt die Äste an, er steht direkt vor ihnen, zum Greifen nah und scheint trotzdem blind. Er hält weitere Zweige hoch und dabei den Rock eines der Mädchen, es zittert und verschließt den Mund mit einer Hand. Der Soldat schüttelt den Kopf, lässt Gebüsch und Kleid los, erhebt sich und dreht ab. Ein anderer gesellt sich zu ihm. „Und?“ — „Nichts.“ — „Die haben sich in Luft aufgelöst.“ Unschlüssig verharrt der Trupp. „Kommt! In einem anderen Dorf gibt es auch schöne Mädchen.“ Zwei lachen auf. Der dritte packt seine Kumpane an den Schultern und zieht sie entlang der Rückseite des Hauses weiter zur Straße und zum Dorf hinaus. Chiara wartet einige Augenblicke unbewegt, endlich legt sie ihre Hände auf die Arme der Mädchen und schiebt sie aus dem Busch. Zum Abschied nickt sie der Gruppe einen Gruß zu und läuft zum Dorfplatz zurück. Luc steht an der Kutsche und sieht ihr entgegen. „Na, richtetest du wieder Mauern auf?“ — „So etwas Ähnliches. Komm, lass uns weiterfahren.“ — „Erklärst du mir das irgendwann?“ — „Vielleicht.“ Schelmisch grinst sie ihn an.

Die Kutsche rollt über eine Brücke, unter der ein breiter Fluss mitten durch eine Stadt fließt. Chiara bewundert die Wassermassen und die Silhouette der Häuser. „Wann kommen wir an?“ Weiterhin fixiert sie die prachtvollen Gebäude, die sich zwischen dem Ufer und einer gewaltigen Felswand drängen. Oben eine beeindruckende Burg, unten möchte eine Kirche in ihrer Schlichtheit dem Felsen ähnlich sein. „Wie heißt die Stadt?“ — „Namur und der Fluss ist die Maas. Wir befinden uns in Flandern, vermute ich, Herrschaftsgebiete lösen dich derzeit rasch auf.“ Verwundert wendet sie sich zu Luc, da sie keine Antwort erwartete. „Flandern? Die Maas? So sind wir bald in Frankreich, aber um nach Paris zu fahren, befinden wir uns zu weit nördlich, die Küste ist nahe.“ — „Du wolltest keinesfalls nach Paris.“ — „Wo wollte ich hin?“ Er grinst. „Wir werden in zwei Tagen in Calais sein. Ich wusste, du würdest nachforschen und es über kurz oder lang herausfinden. Leider gab es niemanden, mit dem ich wetten konnte, wie lange du brauchst. Der Kutscher besitzt dafür unzureichende Mittel. Zu unserem Glück trat Richelieu bisher nicht dem Kriegsgeschehen bei, seine Truppen hätten uns regelrecht überrollt. Der Kardinal bändelt mit Schweden an. Er möchte kein Reformierter werden, doch er sieht sich von Habsburgern umringt. Das ist zwar seit langem so, nur derzeit stört es ihn. Es stimmt, wir sind bald auf französischem Gebiet, jedoch lediglich ein kurzes Stück. Ich bekam von einem guten Freund einen Passierschein für uns drei. Damit überzeugte ich den Kutscher, weiter zu fahren, als er beabsichtigte, er bringt uns direkt zum Hafen.“ — „Der, von dem all die Anwärter auf den englischen Thron in den letzten hundert Jahren zur Insel über setzten?“ — „Eben jener. Es stellt sich die Frage, wie lange es in England noch Könige geben wird. Es gibt beachtliche Bestrebungen, dies zu ändern. Das wird spannend.“ — „Wenn ich mich recht entsinne, sind das dieselben Worte, mit denen wir in Norenberc einrollten, wegen der spannenden Reformation, die danach zu einem langen Krieg führte. Wenn du mir nicht glaubhaft versichert hättest, dass du nicht mehr fähig bist, weit in die Zukunft zu schauen, müsste ich dich dafür verantwortlich machen. Was wird uns in diesem Land erwarten?“ — „Viel Literatur und großartige Darbietungen auf unzähligen Bühnen.“ — „Das klingt, als würden die Menschen dort dem Krieg keine große Beachtung schenken. Wie kommt das?“ — „England wechselte bereits vor langer Zeit die Religion, die Reformierten nennen sich Puritaner, nomen et omen, sie lieben ein besonders mageres Leben. Der Krone ging es bei dem Wandel nie um den wahren Glauben. König Heinrich der Achte, vielleicht hast du von ihm gelesen, weil er acht seiner Ehefrauen hängen ließ, konnte dadurch die Klöster enteignen und daraus für sich eine große Anzahl neuer Paläste gestalten lassen und er besaß ein Jagdgebiet direkt vor der Stadt, den einstigen Garten der Westminster Abbey, Convent Garden.“ — „Die hatten einen außerordentlich großen Garten.“ — „Ja, das lässt sich kaum mit dem vergleichen, was du hinter unserem Haus in Norenberc anlegtest.“ Sinnierend blickt Chiara auf ihren Schoß und brummt: „Zwölf Schritte zur Uferböschung und dreißig in der Breite.“ — „Was meinst du?“ — „Nichts.“ Nachdenklich mustert er sie, bevor er fortfährt. „England ist kein friedliches Land, seit über hundert Jahren gibt es Krieg, der König hält ihn zugunsten seiner opulenten Lebensweise fern von London, außerdem fehlen ihm die finanziellen Mittel, um gewinnbringend mitzumischen.“ — „Wie bitte? Kein Krieg, weil das Geld fehlt? Wo gibt es das denn?“ Er hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen. „Der derzeitige König Charles der Erste schaffte vor zwei Jahren das Parlament ab und allein dort durfte über Steuern entschieden werden, er führt einen kostspieligen Lebenswandel, die Kassen sind mehr als leer, es genügte nie für Krieg, darum schloss er mit Frankreich und Spanien einen Friedensvertrag. Vor fünf Jahren schlug er mit katastrophalem Misserfolg eine Schlacht in der Pfalz. Er musste hin, weil die Schwester seines Vorgängers dort vermählt war oder ehelichte die Schwester des Pfalzgrafen seinen Vorgänger, ich entsinne mich nicht, egal, denn letztendlich ist es beständig das Spiel der Habsburger. Die Beteiligung war eine Art Erbschuld. Sie endete derart desaströs, dass es der erste und einzige Versuch blieb, in diesem Krieg mitzumischen. Außerdem gibt es im Land ausreichend eigene Schwierigkeiten, mit den Schotten, den Adeligen, den Bauern, mit jedem.“ — „Und du bist sicher, es war die richtige Wahl, dort zu leben?“ — „Es gibt viel Gutes. Den größten Theaterschriftsteller der Zeit, William Shakespeare verpassten wir leider um einige Jahre, aber seine Stücke werden weiterhin zum Besten gegeben, du wirst es mögen.“ — „Was ist ein Theater?“ — „Ähnlich wie die Schausteller auf dem Markt, allerdings in einem großen Haus.“ — „In einem Haus?“ Er nickt. „Vertraue mir, du wirst begeistert sein. Auf den Bühnen ist es erlaubt, beinahe alles auszusprechen, gut verpackt in hübsche Worte.“ — „Das klingt spannend. Oje, jetzt sage ich das auch schon.“ — „Nun weißt du es. Wir werden demnächst in London leben. Und eines kann ich dir verraten, im Gegensatz zum biederen Norenberc ist London eine Lebestadt, jeder genießt sein Dasein in vollen Zügen.“ — “Wie passt dies mit den Puritanern zusammen.“ — „Das ergibt einen reizvollen Gegensatz. Ich kaufte noch kein Haus, wir sollten uns zuerst alles genau ansehen, es verändert sich derzeit gewaltig. Eigentlich sind es zwei Städte. Westminster, wo der König lebt und die Stadt London, in der der Lord Mayor das Sagen hat. Der König muss angeblich den Mayor um Erlaubnis fragen, wenn er die Stadt betreten möchte, sicherlich ist das nur pro forma. In London gibt es ein ähnliches System wie in Norenberc. Die Gilden bestimmen und die wichtigste ist die des Geldes.“ Er grinst breit. Ihre Unterhaltung wird durch lautes Krachen beendet. Die Kutsche hält an. „Mein Herr, wir sollten umdrehen, dort vorne wird geschossen, das ist Kanonendonner, ich sah die Kugel fliegen. Wir müssen fort.“ Luc streckt den Kopf zum Fenster hinaus. „Gut, dreh um, wir versuchen, das Gefecht zu umfahren. Anscheinend zog Richelieu bereits in den Krieg.“ Die Kutsche wendet und hält sofort wieder. Nun schaut auch Chiara hinaus. Eine Handvoll Frauen läuft die Straße heran. „Wo kommt ihr her?“, will der Kutscher wissen. „Unser Dorf wurde zerstört und die Männer sind entweder tot oder sie kämpfen gegen die feindlichen Truppen. Wir sollen uns in der Stadt in Sicherheit bringen“, sie weist mit der Hand auf die Häuser, von denen der Kanonendonner ertönte. „Nein, dort wollt ihr keinesfalls hin“, die Worte des Kutschers gewinnen durch erneute Kanonenböller an Glaubwürdigkeit. „Kennt ihr einen anderen Ort, an dem ihr unterkommen könnt? Ich und meine Herrschaft suchen einen Weg, auf dem wir möglichst unbeschadet nach Calais gelangen. Könnt ihr uns weiterhelfen?“ Der Kutscher spricht plötzlich in demselben eigenartigen Dialekt, wie die Frau, den hörte Chiara bisher nie von ihm. Wir befinden uns also in der Gegend, in der er zu Hause ist. Es muss eine böse Überraschung für den guten Mann sein, dass der Krieg bis hierher gelangt ist. „Wir müssen näher an die Grenze zu Frankreich. Die Truppen überschritten sie vor einigen Tagen und ziehen Richtung Osten, berichtete unser Pfarrer, er kehrte vor ein paar Tagen aus Rotterdam zurück, dort wusste jeder davon, uns überraschten sie leider. Wir müssen dem Heer ausweichen.“ Die Frau denkt nach, sie blickt dabei angestrengt auf ihre Schuhspitzen. Plötzlich reißt sie den Kopf hoch. „Ich besitze Verwandte in einem Ort nahe der Grenze, vielleicht ließen es die Franzosen unbeschadet.“ Erneut hebt sie die Hand. „Folgt diesem Weg bis in unser Dorf und nehmt am Ende den Abzweig linker Hand. Damit gelangt ihr dort hin und befindet euch hinter den Truppen.“ Nun mischt sich Luc in das Gespräch ein. „Wir nehmen euch mit, meine Damen, da wir ohnehin denselben Weg haben. Es könnte eng werden, aber wenn ihr damit zurechtkommt, steigt ein.“ Die Frauen schauen ihn verdutzt an, ihr Misstrauen währt nur kurz, wer kann Luc schon widerstehen. Chiara grinst, öffnet die Tür und stellt die Taschen auf den Boden der Kutsche. „Hier darf sich jemand draufsetzen, sie sind voller stabiler Bücher.“ Die Frauen nicken und zwängen sich herein. „Ich setze mich mit auf den Kutschbock, um dem Mann zu zeigen, wo er lang muss“, ruft die Sprecherin. Langsam rollen sie weiter, die Pferde kämpfen mit der größeren Last. „Das war unser Dorf, sie brannten es nieder.“ Die Frauen sehen hinaus. „Sollen wir anhalten, meine Damen? Gibt es etwas, was ihr bergen wollt?“, bietet Luc an. „Hier blieb nichts übrig, mein Herr, was sich lohnt, mitzunehmen. Das Vieh und alles von Wert nahmen die Soldaten mit und unsere Männer zogen dem Schlachtfeld entgegen.“ — „Wollt ihr eine Nachricht hinterlassen, damit sie wissen, wo sie euch finden?“ Verständnislos blicken die Frauen Chiara an. „Nur der Pfarrer könnte schreiben und lesen und der wohnt zwei Dörfer weiter oder flüchtete längst in die Stadt.“ Chiara nickt und schweigt.

Eine der neuen Reisegefährtinnen, die in einem fort aus dem Fenster schaute, stöhnt plötzlich auf und dreht sich zu den anderen um, die sehen sie fragend an. „Wir haben kein Glück, das Dorf wurde ebenfalls niedergebrannt.“ Die Kutsche hält. Die Frau am Fenster schreit ein weiteres Mal auf, sie atmet tief Mut ein und öffnet die Tür. Bevor sie aussteigt, dreht sie sich erneut um. „Alle sind tot.“ Zögernd klettern die anderen heraus. Das Dorf bestand aus wenigen Häusern und davon blieben lediglich Aschehaufen. Einst waren sie um einen Dorfplatz angeordnet, der nun mit Toten übersäht ist, Männer, Frauen, Kinder, die Angreifer machten keinen Unterschied. Alle bleiben wie erstarrt an der Kutsche stehen. „Können wir euch irgendwo anders hin mitnehmen?“, fragt Luc leise. Die Frauen schweigen. „Es gibt kein wo anders mehr, mein Herr, Ihr seid sehr freundlich, wir bleiben. Zuerst müssen wir die Toten begraben und anschließend verstecken wir uns in den Wäldern.“ Chiara räuspert sich. „Darf ich euch einen Rat aus eigener Erfahrung geben?“ Die Gruppe wendet sich ihr geschlossen zu. „Zieht euch die Kleidung der Männer an, bevor ihr sie begrabt, und schneidet euch die Haare ab. Es ist sicherer, in der nächsten Zeit nicht auf den ersten Blick als Frau erkannt zu werden. Haare wachsen nach, Kleider könnt ihr neu nähen, euer Leben und eure Ehre kann euch niemand zurückgeben.“ — „Die Kleidung ist blutig und zerrissen, meine Dame.“ — „Stinken und überleben oder sauber tot und geschändet sein, entscheidet euch rasch, es werden Truppen nachrücken.“ Die Frauen verharren weiter auf dem Dorfplatz, als die Kutsche anrollt. Chiara blickt zurück, bis die Szene hinter einem Hügel verschwindet. Luc betrachtet sie voller Mitleid. „Du kannst unmöglich alle retten.“ — „Warum nicht?“ Hilflos hebt er die Schultern und lässt sie wieder fallen.

Chiara gibt vor in einem Buch zu lesen, sie wollte es wirklich, doch sie kann sich nicht auf die Worte konzentrieren. Ist es richtig, das Land zu verlassen, wenn sie hier womöglich helfen könnte? „Luc? Wo ist derzeit der Krieg?“ Erstaunt betrachtet er sie. „Eigentlich überall. Anfangs sammelte ich die Berichte, es wurde zu müßig. Es scheint keinen Plan zu geben. Erinnerst du dich, was die Soldaten in dem Gasthof erzählten, dass sie lediglich marschierten? Das ist das Gute, denn wie viele Tote würde es geben, wenn die Ortschaften näher beisammen wären. Wir mieden sinnvollerweise die Städte auf unserer Reise. Die platzen derzeit aus allen Nähten. Der Süden blieb bisher verschont, im Norden, wo der Krieg hauptsächlich stattfindet, ist das so. Damit gibt es ein altbekanntes neues Übel. Die Pest. In den überfüllten Städten stirbt derzeit jeder zweite daran.“ Sie wünscht sich, sie hätte nicht gefragt.

Am nächsten Abend erreichen sie Calais. Es ist keine Stadt, lediglich ein Hafen, dieser allerdings umso größer. Chiara sah nie einen weitläufigeren, in Wahrheit kennt sie überhaupt keinen, in Milan und Lugano handelte es sich nur um eine Anlegestelle für Boote. Der Kutscher beeilt sich, ihre Tasche herauszuheben, solange sie staunend innehält, beim Umdrehen stolpert sie beinahe darüber, warnend hebt er die Hände. Traurig blickt sie ihn an. „Nun heißt es Abschied nehmen. Wir reisten vierzehn Tage gemeinsam. Danke für die Fahrt, die Begleitung und die Gesellschaft.“ Verlegen nickt er. „Bist du dir sicher, Frankreich ist derzeit ein guter Platz? Luc erzählte, du hättest in der Nähe Familie.“ — „Ja Herrin, es wird hier keinen Krieg geben, der findet im Deutschen Reich statt, obwohl Frankreich daran teilnimmt.“ — „Das sehe ich ebenso.“ Luc gesellt sich zu ihnen. „Ich möchte mich bedanken, dass du uns weiter brachtest als geplant. Wie lange brauchst du zu deiner Familie?“ — „Mit unserem Umweg fuhren wir beinahe daran vorbei, vor Einbruch der Dunkelheit werde ich zu Hause sein. Ich wünsche Euch und Eurer Gemahlin einen gelungenen Anfang auf der Insel, ohne Krieg und Ungemach.“ Chiara und Luc winken und beobachten, wie er die Kutsche wendet und den geschäftigen Ort verlässt. Erneut blickt sie sich um. „Erinnerst du dich, wie ich mich über die Stille im Hafen von Lugano wunderte, da in Milan dort keiner sein eigenes Wort verstand. Hier fühle ich mich richtig Zuhause, das Treiben ist bunt und laut wie es sein soll.“ Schwungvoll hebt sie ihre Tasche auf und stöhnt. Wog die von Anfang an derart viel oder kamen Bücher heimlich dazu? Erwartungsvoll grinst sie ihr Gepäck an. „Und? Wo geht es weiter?“, wendet sie sich an Luc. „Heute nirgendwo mehr. Wir suchen uns einen gemütlichen Gasthof, einen, in dem wir ein heißes Bad nehmen können und dort erfahren wir, wie wir morgen über den Kanal gelangen. Das sollte leicht sein, denn jeder ist deswegen hier.“ — „Du willst sagen, es gibt keinen Plan.“ — „Ich besitze nie einen, das solltest du inzwischen wissen. Du und Leo seid die mit den exakten Plänen. Ich verzeihe dir, dass du im Moment keinen vorweisen kannst, weil du erst seit zwei Tagen weißt, wo wir hinfahren.“ Sie lächelt. „Genau darum mag ich dich, du verschwendest deine Zeit niemals mit langweiligen Plänen.“ Einen Augenblick denkt sie nach. „Obwohl Leo damit nie langweilig wirkte.“ — „Das könnte daran liegen, dass er selten wusste, was sie bedeuteten.“ Chiara lacht auf und nickt. „Komm, lass uns einen Gasthof suchen, bevor mein Arm abbricht. Ich packte wohl ein paar Bücher zu viel ein.“ — „Bücher kannst du niemals genug mitnehmen.“ Mit diesen Worten hebt er seine Tasche hoch, die sicherlich um ein Vielfaches schwerer ist, aber es sieht aus, als würde er eine Feder anheben. Lächelnd schaut sie ihm hinterher. Egal wo sie ankommen, solange Luc dabei ist, kann es nur gut werden.

Der Wind peitscht ihr die Gischt vom Bug des Schiffs ins Gesicht, sie zieht ihren Schal enger um den Kopf. Ist die See hier immer derart kämpferisch? Als sie damals in Milan ein einziges Mal kurz zur Küste fuhren und mit einem winzigen Boot am Ufer entlang ruderten, erschien sie friedlich. Chiara lächelt, weil sie sich daran erinnert, dass sie weit hinaus auf das Meer wollte, um die Welt zu entdecken, aber ihre Arme viel zu schnell ermüdeten. Luc übernahm die Ruder und rief: „Lass uns Amerika entdecken.“ Daran erinnert sie sich, obwohl sie keine Ahnung hatte, was er meinte. Wann war das? Das ist lange her. Leo baute voller Eifer Waffen für Ludovico Sforza und in einer dieser Apparaturen wurde Edoardo zerquetscht wie eine überreife Frucht. Um das Bild loszuwerden, schüttelt sie heftig den Kopf. Danach verschwand sie in den Bergen, für dreißig lange Jahre, die ihr wie fünf Atemzüge vorkamen. Erneut schüttelt sie den Kopf, um dem Gedanken zu entkommen. Egal wie, als Luc Amerika erwähnte, hatte sie weder von Cristóbal Colón, noch von dem neuen Kontinent je gehört. Was weiß er alles? Womöglich würde er es ihr verraten, wenn sie wüsste, nach was sie fragen sollte. Trotz des eng gebundenen Schals fällt ihr aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf, aber sie ist zu tief in ihren Gedanken verstrickt, um darauf zu reagieren. Nun dreht sie sich zur Seite. Ein junger Mann steht neben ihr und starrt auf das Meer hinaus. Anscheinend wartete er auf diese Gelegenheit, denn augenblicklich wendet er ihr den Kopf zu, lächelt und sagt etwas. Verständnislos mustert sie ihn. Ist das die neue Sprache, die sie lernen muss? „Ihr seid nicht aus England, Madam?“ Das versteht sie und schüttelt den Kopf. „Aus Frankreich?“ Erneut verneint sie und überlegt, es ist lange her, seit sie zuletzt Französisch sprach. „Wir lebten die letzten Jahre in Norenberc.“ — „Von dieser Stadt hörte ich, sie liegt im Deutschen Reich, eine wichtige Handelsmetropole.“ Zur Bestätigung nickt sie, er fährt fort. „Ich bin auch Händler, ich komme soeben aus der Bretagne. Vermutlich das letzte Mal für eine lange Zeit, Frankreich rüstet zum Krieg.“ — „Sie marschieren längst. Wir begegneten den Soldaten.“ — „Ihr seid nicht allein unterwegs? Natürlich gibt es jemanden, der Euch beschützt.“ Sie nickt. Der junge Mann wirkt enttäuscht, lässt sich jedoch nicht entmutigen. „Wo wollt ihr hin?“ — „London ist unser Ziel.“ — „Welch ein Zufall, da lebe ich. Ihr besitzt dort ein Haus?“ — „Derzeit nicht, wir wollen uns zuerst umsehen.“ — „Ich empfehle Euch Westminster, jeder von Rang und Namen wohnt entlang der Straße zum Palast.“ — „So viel ich weiß, ist das nicht die Stadt London, sondern die Residenz des Königs?“ — „Stimmt. Jeder mit Rang und Namen, lebt in Westminster.“ — „Das erwähntet Ihr bereits.“ Der junge Mann starrt sie schweigend an, Chiara unterbricht seine Suche nach einem Gesprächsthema. „Wir sind bisher unentschieden, wo wir wohnen wollen, und werden uns zuerst umsehen.“ Mit diesen Worten nickt sie ihrem Gesprächspartner zu, dreht sich um und schwankt in die große Kabine, wo sich die meisten Passagiere und auch Luc aufhalten. Als die Wärme in ihren Körper dringt, schüttelt es sie, wie wenn ihr die Kälte soeben erst in die Knochen gefahren wäre. Erwartungsvoll blickt er ihr entgegen. „Genug Seeluft eingeatmet?“ — „Ja.“ Erneut schüttelt sie sich. Er schlingt die Arme um sie und sie genießt seine Wärme. Sofort fallen ihr die Augen zu. Durch ihr Gähnen hindurch fragt sie: „Wie lange brauchen wir bis nach London?“ — „Wir werden auf halber Strecke die Kutsche wechseln und fahren die Nacht hindurch, damit erreichen wir in zwei Tagen die Stadt.“ — „Ich kann es kaum erwarten. Wie formuliertest du es vor Norenberc so treffend: Wir werden derart lange unterwegs sein und die Reise wird von Tag zu Tag beschwerlicher werden. Du wirst froh sein, anzukommen, egal wo. Lass uns ankommen, Luc.“ Einen Augenblick später schläft sie.

„Madam, sucht Ihr eine Kutsche? Ich bestelle sie, bevor ich die Insel verlasse. Sie sind rar, wenn soeben ein Schiff ankam.“ Er betrachtet Luc mit einem langen, kritischen Blick und zögert. „Ich hätte Platz in meiner Kutsche, wenn das euer einziges Gepäck ist.“ — „Das ist es und wir würden Euer Angebot gern annehmen“, antwortet Luc. Der junge Mann mustert ihn erneut, endlich nickt er. „Wir werden die Nacht durchfahren. Der Kutscher wechselt unterwegs lediglich die Pferde.“ — „Das wäre ebenso unser Plan, mein Herr.“ Luc betrachtet fragend die Kutsche, der junge Mann nickt und öffnet die Tür. Die beiden lassen Chiara den Vortritt. Egal wie weich die Polster sind, ihr kommt inzwischen jedes hart vor. Beim Hinsetzen versucht sie ein Stöhnen zu unterdrücken. Ihr Gastgeber klopft an die Innenwand als Zeichen zum Losfahren. „Verzeiht, ich vergaß, mich vorzustellen. Godric Harris.“ Er möchte sich erheben, wird allerdings durch einen Ruck der Kutsche in die Polster gedrückt. „Es ist mir eine Ehre Mister Harris. Luca Aben Alleh,“ er bleibt sitzen und dreht sich lediglich zur Seite „und die Lady Chiara DeMontibus.“ Godric Harris setzt an zu sprechen und nickt nur. Ein Gespräch will sich nicht entwickeln und bevor ihr das Schweigen zu peinlich wird, öffnet sie ihre Tasche und zieht ein Buch hervor. Jedes Mal, wenn sie von den Seiten aufblickt, zuckt Mister Harris Kopf nach unten und er gibt vor zu schlafen. Er bemerkt, dass Luc ihn beobachtet, räuspert sich verlegen und sucht nach Worten. „Mister Harris, in welchem Gewerbe seid ihr tätig?“, kommt ihm Luc zuvor. Erneut räuspert er sich. „Ich handle mit Wollstoffen und liefere sie hauptsächlich nach Nordfrankreich oder zu einem Zwischenhändler in Rotterdam, der sie in die Neue Welt verschifft. In der letzten Zeit starten vermehrt Schiffe zum neuen Kontinent von London aus. Es ist ein einträgliches Geschäft.“ Bei diesen Worten nickt er Chiara freudig zu, die bleibt ungerührt. „Und welches Gewerbe betreibt Ihr, Mister ...“ — „Aben Alleh.“ Harris nickt eifrig. „Ich hoffe, der König benötigt jemanden, der ihm seinen Lebenswandel finanziert.“ — „Oh Sir, das tut er.“ Wieder räuspert er sich und spricht leiser weiter. „Die Krone ist kein zuverlässiger Schuldner, wenn Ihr versteht, was ich meine.“ — „Danke für den Hinweis, Mister Harris, mir bezahlt jeder seine Schulden. Das müsste mit dem Teufel zugehen, wenn ich mein Geld nicht zurückbekomme, mit Zins und Zinseszins.“ Der junge Mann mustert ihn forschend und nickt. Chiara bemüht sich ihr Grinsen im Buch zu verstecken.

Es ist noch hell, als sie am zweiten Tag in London einrollen. Chiara dachte, Norenberc wäre groß, aber diese Stadt besitzt gewaltige Ausmaße. Luc bleibt völlig gelassen. War er bereits an diesem Ort? In dem Moment wendet er sich an ihren Gönner: „Werter Herr, könnt Ihr uns in Blackfriars herauslassen?“ — „Bei den Dominikanern? Der Konvent und das Gästehaus wurden längst aufgelöst.“ — „Wir wollen nicht ins Kloster.“ — „Wie Ihr meint, mein Herr. Wir sind bald dort.“ — „Und Ihr wohnt in Westminster?“ Mister Harris sieht sie verlegen an. „Wenn meine Geschäfte weiterhin gut laufen, werde ich das bald, Madam.“ Derzeit fehlt ihr jegliche Vorstellung, zu den örtlichen Gegebenheiten, daher nickt sie lediglich kurz. Mister Harris konzentriert sich auf die Straßen und klopft plötzlich zum Halten. „Wir sind in Blackfriars, Sir.“ Die Kutsche hält, Luc öffnet die Tür, steigt aus und reicht Chiara die Hand. „Es war zu gütig von Euch, uns mitzunehmen“, wendet sie sich an den Zurückbleibenden. „Auch mein Dank ist Euch gewiss. Gehabt Euch wohl, mein Herr“, ergänzt Luc. Der junge Mann nickt. Luc schließt die Tür und läuft davon. Er weiß ganz genau, wo es lang geht, staunt sie und beeilt sich, zu folgen. „Warst du bereits hier?“ — „Das ist lange her, das Kloster steht seit Jahrhunderten. Heinrich der Achte nahm es den Dominikanern und verkaufte es zügig stückchenweise. Jeder englische König benötigt fortwährend Geld. Ein Freund erwarb eines der Anwesen und stellt es uns zur Verfügung. Seit langem lebt er in der Neuen Welt und versicherte mir, es sei bewohnbar und jemand dort, der für uns kocht und das Haus in Ordnung hält.“ — „Für mich kocht“, ergänzt sie. „Ob sie dir süße Brote backen kann, musst du herausfinden.“ — „Das werde ich, sobald ich diese Sprache beherrsche.“ — „Sie ist einfach, die wirst du schnell sprechen. Ich werde mich umhören, wer dir dabei behilflich sein kann. Lass uns zuerst ankommen. Dies sollte das Haus sein.“ Luc klopft an, nichts rührt sich. Er drückt die Klinke herunter, die Tür ist verschlossen. Unschlüssig wendet er sich um, in dem Moment wird geöffnet und eine hagere Frau streckt den Kopf heraus. Luc spricht mit ihr, Chiara versteht kein einziges Wort. Allerdings scheinen es die richtigen zu sein, denn das Gesicht der Dame hellt sich auf und sie reißt die Tür weit auf. Worte sprudeln aus ihrem Mund. Luc betritt das Haus. Es sprudelt weiter, während Chiara an der Haushälterin vorbeigeht. Die unverständlichen Worte verwirren sie derart, dass ihr Lächeln im Keim erstickt. Luc antwortet, deutet auf Chiara. Die Frau betrachtet sie mitleidig, nickt, schließt die Tür und spricht weiter mit Luc, ihre Arme weisen dabei andauernd in eine andere Richtung, sie redet und redet, plötzlich schweigt sie und blickt abwartend in die Runde. Luc wendet sich an Chiara. „Die Schlafzimmer befinden sich oben und sind gerichtet, heißes Wasser für ein Bad bereitet sie zu und zu essen kann sie ebenfalls etwas auf den Tisch bringen. Nach was steht dir der Sinn?“ Chiara überlegt. „Wie sieht es aus mit einem Bad, ein paar Happen und Wein dazu.“ — „Ausgezeichnete Wahl, damit kann ich leben. Lass uns herausfinden, ob die Wanne groß genug für uns beide ist. Er übersetzt die Wünsche für die Haushälterin, ergreift nun auch Chiaras Tasche, steigt die Treppe nach oben und öffnet jede Tür. „Schön, sie richtete alle vier Zimmer, vermutlich vergaß mein Freund mitzuteilen, wie viele Personen kommen. Wähle eines aus.“ — „Wie lange bleiben wir?“ — „Das könnte ein Jahr werden, wir sollten nichts überstürzen.“ Ein weiteres Mal nimmt sie die Räume in Augenschein, in jedem blickt sie zum Fenster hinaus. Im letzten Licht des Tages lässt sich erkennen, was von dort zu sehen ist. Erneut läuft sie jedes ab, Luc wartet geduldig. „Dieses nehme ich“, entschließt sie sich endlich. Er stellt ihre Tasche auf die Truhe. „Sie wird uns holen, wenn das Bad gerichtet ist.“ Chiara nickt und öffnet die Tür des Schranks. Sofort steigt ihr ein wunderbar würziger Duft in die Nase. „Oh“, entfährt es ihr und sie lächelt ihn glücklich an. Der nickt zufrieden und verschwindet in seinem Zimmer. Mit der Nase sucht sie den Schrank ab und findet einige Stücke eines roten Holzes, das diesen Duft verströmt.

Kaum liegen ihre wenigen Kleidungsstücke im Schrank, ertönen fremde Worte von unten. Luc antwortet und erscheint in der Tür. „Ein heißes Bad gefällig?“ Erleichtert folgt sie ihm nach unten. Das Bad liegt in diesem Haus im Keller. Chiara bleibt skeptisch, bis sie die gefliesten Wände und die sauber geschruppten Dielen sieht. Ein Feuer brennt im Kamin und Dampf steigt aus dem riesigen Holzzuber. Erleichtert atmet sie auf. Er lächelt sie an, verabschiedet die Haushälterin und beginnt, Chiara auszuziehen.

Luc schüttet heißes Wasser nach, Chiara rekelt sich in der Wärme. „Ich fange an, mich in dieser Stadt wohlzufühlen.“ Ihre Augen sind geschlossen, ein Lächeln umspielt ihren Mund. „Wie ich es vorhersagte, es ist völlig egal, wo wir ankommen, du findest überall umgehend etwas, was dir gefällt.“ — „Erzähle mir von unserem neuen Zuhause. Fangen wir dabei ganz am Anfang an. Kanntest du Boudicca?“ — „Woher kennst du sie?“ Für einen Moment entsteht das Bild der Bibliothek in Milan aus ihrer kindlichen Perspektive vor ihren Augen, sie hält inne, um sich, wie damals, erstaunt umzusehen. „Die Geschichten über die unbeugsame, britannische Heerführerin entdeckte ich in meiner Kindheit unter deinen Büchern in Milan. Obwohl ein römischer Geschichtsschreiber alles äußerst langweilig und nüchtern aufschrieb, bin ich überzeugt, es war eine beeindruckende Frau. Ich verschlang die Berichte geradezu.“ — „In der Tat, das war sie, leider begegnete ich ihr nie. Die Fähigkeit, ziemlich schnell überall zu sein, wurde mir leider genommen, ich vermisse es sehr.“ Leise seufzt er und plaudert weiter. „Boudicca war völlig auf sich gestellt, was es noch viel beeindruckender macht. Als die christlichen Mönche die Germanen missionierten, war denen die angebotene Religion egal, aber die Männer entdeckten darin eine Waffe, ihre Frauen untertan zu machen, die wurden ihnen längst zu unabhängig. Sie ahnten nicht, dass die Römer hauptsächlich durch diese mutigen und kämpferischen Frauen vertrieben wurden. Weder kannten das die Südländer, noch konnten sie damit umgehen. Ein Hoch auf die starken Frauen.“ Er hebt sein Glas und trinkt allein, nachdem Chiara nicht darauf reagiert und nachdenklich in den Wasserdampf starrt. „Die römischen Frauen verhalten sich also un