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Eine heiße Second-Chance-Romance!
Im Team der Chicago Devils ist Erik derjenige, den nichts aus der Fassung bringen kann - weder der stressige Alltag der Spieler noch der Ruhm, all das nimmt er mit Gelassenheit. Niemand ahnt, dass es eine Person gibt, die Eriks stoische Ruhe erschüttern kann. Die Frau, die vor Jahren sein Herz gebrochen hat. Als er in seine Heimatstadt zurückkehrt und Allie Douglas wiedersieht, brechen die alten Gefühle bei beiden wieder hervor, doch können sie die Kluft wieder schließen, die die Jahre zwischen ihnen geöffnet haben?
Wunderschön und herzerwärmend, ich liebe Brenda Rotherts Geschichten!" The Book I Love
Band 6 der Sports-Romance-Reihe CHICAGO DEVILS von Bestseller-Autorin Brenda Rothert
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Seitenzahl: 286
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Danksagungen
Die Autorin
Die Romane von Brenda Rothert bei LYX
Leseprobe
Impressum
BRENDA ROTHERT
Chicago Devils
DER TRAUM VON UNS
Roman
Ins Deutsche übertragen von Michaela Link
Im Team der Chicago Devils ist Erik derjenige, den nichts aus der Fassung bringen kann – weder der stressige Alltag der Spieler noch der Ruhm, all das nimmt er mit Gelassenheit. Niemand ahnt, dass es eine Person gibt, die Eriks stoische Ruhe erschüttern kann. Die Frau, die vor Jahren sein Herz gebrochen hat. Als er in seine Heimatstadt zurückkehrt und Allie Douglas wiedersieht, brechen die alten Gefühle bei beiden wieder hervor. Doch können sie die Kluft wieder schließen, die die Jahre zwischen ihnen geöffnet haben?
»Wie geht’s Jonah?«
Jack, mein Agent, legt am Ende unseres Meetings in seinem New Yorker Büro die Füße auf den Schreibtisch, wirft einen Baseball in die Luft und fängt ihn wieder auf.
»Es geht ihm gut.«
»Muss hart sein für einen Torwart, die Saison so zu beenden«, sagt Jack.
In der vergangenen Woche hechtete Jonah nur Sekunden vor Spielende nach einem Puck, der direkt auf das Tor zuflog. Er hat ihn nicht erwischt – und damit das Ende unseres Play-off-Runs besiegelt.
»Wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen«, bemerke ich zu Jack. »Wären wir in diesem Spiel insgesamt offensiver vorgegangen, hätten wir am Ende die Oberhand behalten.«
Jack nickt. »Außerdem konnte er Niederlagen immer schon gut abschütteln.«
»Was Eishockey angeht, gelingt ihm das bestens.«
»Oh, mit Niederlagen meinte ich natürlich nicht … Shit, die Sache mit seiner Frau ist eine verdammte Schande. Hat er viele Dates?«
»Jonah?« Ich zucke die Achseln. »Hin und wieder.«
Jack ist ein guter Kerl – er ist mein Agent, seit ich vor acht Jahren meinen ersten Vertrag bei der NHL unterschrieben habe. Aber ich erzähle niemandem irgendwelche persönlichen Sachen über meine Teamkollegen. Es gibt schon genug Gerede über uns alle.
»Fliegst du auch nach Kauai zum großen Mannschafts-Trip?«, fragt Jack.
Die meisten aus dem Team sind bereits im Strandhaus unseres Mitspielers Luca und seiner Frau Abby. Unser traditioneller Start in die Off-Season, den ich diesmal ärgerlicherweise verpassen werde.
»Dieses Jahr leider nicht. Ich hab abgesagt, weil ich eigentlich meine Mom und meine Tante auf eine Safari mitnehmen wollte. Aber vor einigen Wochen ist meine Tante gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen, also mussten wir da auch umdisponieren.«
»Verdammt! Aber es geht ihr gut?«
»Oh ja. Meine Tante Jo wird uns alle überleben.«
Jack grinst. »So eine Tante hab ich auch.« Er wirft einen Blick auf den Computerbildschirm auf seinem Schreibtisch. »Dann bist du also bei dem Spiel der Yankees heute Abend dabei, oder? Ich habe tolle Logenplätze, und danach können wir mal diesen neuen Club ausprobieren, von dem ich schon so viel gehört habe.«
»Jepp, bin dabei. Aber mein Flieger geht morgen früh um sieben.«
»Kein Problem, ich sorge dafür, dass wir bis sechs mit Partymachen fertig sind.«
Ich muss lachen. Jack und ich haben schon einige epische Nächte in New York City verbracht, und das, obwohl ich kaum öfter als zweimal im Jahr hier bin. Er lädt seine Kunden gern mal zu einem fürstlichen Abendessen ein, worüber ich mich angesichts des Honorars, das ich ihm zahle, sicher nicht beschwere.
»Ich bin fast dreißig, Mann«, sage ich. »Wenn ich die ganze Nacht durchfeiere, spüre ich das deutlich.«
»Du meinst, du spürst, dass du keine Pussy bist, oder? Sondern ein Mann, der zu schätzen weiß, was das Leben ihm schenkt, und der es nicht vergeudet, indem er ausgerechnet in der Großstadt früh zu Bett geht?«
Ich stöhne. »Ehrlich gesagt, fühle ich mich dann mehr so, als hätte mich ein Truck überfahren.«
Jack nimmt die Füße von seinem Schreibtisch und wendet sich dem Bücherregal hinter ihm zu, um den Baseball auf seinen Dekoständer zurückzulegen. »Der Truck verdammt schöner Zeiten, Bruder. Sei ein Mann, wir gehen aus. Und werden jede Menge Spaß haben. Außerdem bist du ein Womanizer.«
»Oh, darum geht es also?«
Er steht auf und zuckt die Achseln. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie verdammt oft man mich fragt, ob du mit diesem Schauspieler verwandt bist … Idris oder wie auch immer der heißt. Sobald die Frauen dich sehen, ist es, als würden sich ihre Beine wie von Zauberhand spreizen. Dein leichter französischer Akzent schadet dabei kein bisschen. Ich habe die Chance, morgen früh mit mehreren Frauen in meinem Bett aufzuwachen. Also gehen du, ich und ein paar Spieler der Yankees heute Abend aus. Das ist ein nicht verhandelbarer Vorschlag, mein Freund.«
Ich gebe nach, nicht wegen der Party, sondern wegen des Spiels. Ich liebe Major-League-Baseball, seit ich denken kann, und ein Spiel im Yankee Stadion ist das höchste der Gefühle.
»Okay, Mann. Aber zuerst muss ich zurück in mein Hotel und ein kleines Nickerchen machen. Und kannst du dafür sorgen, dass jemand mein Gepäck zum Flughafen bringt?«
Jack antwortet mit einem spöttischen Salut. »Wird erledigt, Sir. Meine Lenden danken es dir. Sie zittern schon in Erwartung der Weiberhintern.«
»Ich will nichts über deine verdammten Lenden hören, Mann.«
Ich schüttle den Kopf, und genau in dem Moment vibriert mein Handy. Ich ziehe es aus der Tasche, um ranzugehen, aber dann sehe ich den Namen meiner Mom auf dem Display und stöhne. Sie will mich dazu überreden, für ein paar Wochen zu ihr nach Greentree Falls in Wisconsin zu kommen. Nachdem ich in den letzten sieben Jahren während der spielfreien Zeit mit ihr und Tante Jo eine Reise unternommen habe, will sie dieses Mal – da wir wegen Tante Jos Sturz die geplante Safari canceln mussten –, dass ich stattdessen dorthin komme.
Aber nach Greentree Falls fahre ich auf keinen Fall. Lieber verbringe ich einige Wochen in jeder x-beliebigen Stadt dieses Landes – dieser Welt sogar –, als dass ich je wieder einen Fuß in diese Stadt setze.
»Entschuldige mich bitte«, sage ich zu Jack und gehe in den Flur, um den Anruf meiner Mom schließlich doch entgegenzunehmen. Wie immer melde ich mich mit: »Hey, Mom, wie geht’s dir?«
»Es ist mir schon besser gegangen«, erwidert sie mit schwacher Stimme.
Ich runzle besorgt die Stirn. Meine Mutter sagt niemals irgendetwas mit schwacher Stimme.
»Was ist los?«
Sie seufzt ins Telefon. »Ich habe Tante Jo heute aus dem Krankenhaus geholt und bin auf der Treppe ihrer Veranda gestolpert. Hab mir das Fußgelenk gebrochen.«
»Oh nein. Wo bist du jetzt?«
»Im Krankenhaus. Ein paar Freunde aus der Kirchengemeinde haben mich hingefahren.«
»Hast du Schmerzen?«
»Es tut weh.« Jetzt zittert ihre Stimme leicht. »Nicht so sehr, wie man vielleicht denken könnte, aber es tut trotzdem weh.«
Meine Mom ist der stärkste Mensch, den ich kenne. Sie so zu hören erfüllt mich mit einem Gefühl der Hilflosigkeit. Sie liegt in einem Krankenhausbett, und ich bin zu weit weg, um zu helfen.
»Bist du so weit okay?«, frage ich. »Gibt es irgendwas, das ich für dich tun kann?«
»Ich bin okay. Ich muss nicht operiert werden. Der Fuß wird nur eingegipst, und dann kann ich nach Hause.«
»Sind die Ärzte sich sicher, dass nicht mehr passiert ist? Hast du dir bei dem Sturz vielleicht den Kopf gestoßen?«
Nach einem weiteren Seufzer sagt sie: »Ich bin ziemlich durchgeschüttelt worden, aber der Arzt meint, ich könne nach Hause. Nach einiger Zeit werde ich Physiotherapie brauchen, aber man hat mir gesagt, der Bruch werde gut verheilen und ich könne den Gips in ein paar Wochen gegen eine Bandage eintauschen, um beweglicher zu sein.«
»Wissen die im Krankenhaus, wie alt du bist?«
»Ich bin sechsundfünfzig, Erik, nicht achtzig.«
Und da ist sie wieder, die Naomi Zimmerman, die ich kenne – ohne einen Hauch von Schwäche in der Stimme.
»Okay, okay«, sage ich beschwichtigend.
»Hör zu, mein Sohn. Es wird dir zwar nicht gefallen, aber es ist einfach so: Du musst für einige Wochen herkommen, um mir zu helfen. Ich sollte mich um deine Tante kümmern, und jetzt kann keine von uns gehen oder irgendetwas heben. Das schaffe ich auf keinen Fall allein.«
Meine Mom bedeutet mir mehr als irgendjemand sonst auf der Welt, aber ich komme nicht nach Greentree Falls – nicht einmal für sie.
»Du und Tante Jo könnt so lange, wie ihr Hilfe benötigt, bei mir in Chicago unterkommen«, biete ich an. »Ich werde einen Krankentransport für euch beide arrangieren.«
»Hast du komplett den Verstand verloren? Sie mit ihrer gebrochenen Hüfte und ich mit meinem gebrochenen Fußgelenk – wir fahren auf keinen Fall nach Chicago. Du kommst hierher, Erik.«
Ich stelle mich stur. »Ich habe jede Menge Platz in meinem Haus und kann Pflegepersonal engagieren.«
»Ich will kein Pflegepersonal, wenn ich einen kerngesunden Sohn habe, der gerade Sommerferien hat.«
»Das sind keine Sommerfe…«
»Schwing lieber deinen Hintern her, Sohn. Du warst jetzt seit mehr als zehn Jahren nicht mehr zu Hause, und es bricht mir das Herz, dass mein einziges Kind niemals heimkommt, um mich zu besuchen. Ich weiß, es liegt an Allie Douglas, aber …«
Ich schneide ihr das Wort ab, denn allein der Klang dieses Namens führt bei mir zu Verspannungen. »Mom, ich schicke dir mehrmals im Jahr einen Luxuswagen mit Chauffeur, um dich nach Chicago zu holen. Wir haben zusammen die ganze Welt bereist. Und ich hab dir gesagt, dass du gern zu mir ziehen kannst, wenn du willst; ich werde dir ein hübsches Haus kaufen.«
»Das hier ist mein Zuhause«, antwortet sie energisch. »Und selbst mit gebrochenem Fuß kann ich dir immer noch den Hintern versohlen, wenn es sein muss, also lass es nicht so weit kommen. Wann kann ich mit dir rechnen?«
Ich lasse das Phone sinken und stoße mit Blick zur Decke schnaubend den Atem aus. Scheiße! Ich habe tatsächlich keine Wahl. Meine Mom braucht mich. Sie hat mich nie im Stich gelassen, kein einziges Mal, und ich werde sie auch nicht im Stich lassen, ganz gleich, wie schwer es wird, nach Greentree Falls zurückzukehren.
»Heute Abend. Ich bin in New York, aber ich werde den erstbesten Flieger nach Wisconsin nehmen und einen Wagen mieten.«
»Gut. Ich werde zwar kein Abendessen vorbereiten können, aber sobald du hier bist, kann ich auf jeden Fall etwas für dich zusammenstellen.«
»Mom, zerbrich dir darüber nicht den Kopf.« Zwei Frauen, die den Flur entlang- und an Jacks Büro vorbeigehen, lächeln mich an, und ich lächle instinktiv zurück.
»Ich werde Krücken brauchen, aber ich erwarte nicht, dass man mich bedient«, sagt meine Mom.
Sie war schon immer halsstarrig. Ich sehe es geradezu vor mir, wie sie versucht, Tante Jo, die nicht eben klein ist, in ihr Haus zu helfen, und wie sie dabei stürzt. Und plötzlich kann ich gar nicht schnell genug nach Greentree Falls gelangen.
»Mom, sei vorsichtig, okay? Sieh zu, dass wirklich alles in Ordnung ist, bevor du das Krankenhaus verlässt. Wenn sich irgendetwas nicht richtig anfühlt, bleib dort. Ich werde dich abholen, sobald ich in Greentree Falls bin. Vielleicht kannst du zur Beobachtung auch über Nacht im Krankenhaus bleiben.«
»Erik, man hat mich schon von oben bis unten untersucht. Mach dir deswegen keine Sorgen.«
»Dann werde ich Cade Donovan anrufen und ihn bitten, dich nach Hause zu bringen«, sage ich, denn ich weiß, dass mein bester Freund aus der Highschool sich genauso um meine Mom kümmern wird, wie ich es tun würde. »Er wird dich anrufen, geh also auf jeden Fall an dein Handy.«
»Ich brauche keine Hilfe, um nach Hause zu kommen.«
»Nun, du kriegst sie aber. Er wird sich auch um Tante Jo kümmern.«
»Sie trägt wahrscheinlich ein Nachthemd und eine Duschhaube. Sie will sicher nicht, dass irgendein fremder Mann zu ihr nach Hause kommt.«
Ich schüttle den Kopf und bin schon jetzt mit meiner Weisheit am Ende.
»Hör mal, das Letzte, was wir brauchen, ist, dass eine von euch ein weiteres Mal stürzt. Also, nimm Cades Hilfe an, und wir sehen uns heute Abend.«
Nach einem Moment des Schweigens sagt sie: »Okay.«
»Bis dann! Ich hab dich lieb, Mom.«
»Ich dich auch, mein Sohn.«
Ich beende das Gespräch, und Jacks blonde Sekretärin, die an ihrem Schreibtisch vor Jacks Büro sitzt, sucht meinen Blick und leckt sich die Lippen. Ich nicke nur, mit den Gedanken zu weit weg, um zu flirten.
Als ich in Jacks Büro zurückkomme, deutet er auf mich und sagt: »Geh und mach deinen Mittagsschlaf, Prinzessin. Die Mädels, die wir heute Abend kennenlernen, werden sich nicht von allein bumsen.«
»Ja, was das betrifft … Ich kann nicht.«
»Was?« Er wirft mir einen entrüsteten Blick zu, und ich erkläre ihm die Sache mit meiner Mom.
»Okay, na dann«, sagt er düster. »Da kann man nichts machen. Fahr nach Hause und kümmere dich um deine Mom, auch wenn sie mir die Tour vermasselt.«
»Ein andermal«, verspreche ich ihm.
»Ernsthaft, deine Mom wird doch wieder, oder?«
»Sie wird wieder, klar.«
»Okay. Wie gesagt, dein Vertrag für die nächsten zwei Jahre sieht gut aus, und wir können ihn wahrscheinlich vorzeitig erneuern, wenn du willst. Und ich bin an den Ergänzungsofferten dran.«
Ich nicke. »In den nächsten zwei oder sogar mehr Wochen werde ich aber wohl nicht in der Lage sein, zu irgendwelchen Meetings oder Werbeaufnahmen zu kommen.«
Jack wedelt abwehrend mit der Hand. »Verschwinde und tu, was du tun musst. Lass mich wissen, wie es deiner Mom geht, sobald du bei ihr bist.«
»Okay. Danke, Mann!«
Blinzelnd blickt er auf seinen Computerbildschirm. »Ich möchte ihr gern Blumen schicken. Was hast du noch gleich gesagt, in welcher Stadt sie wohnt?«
»In Greentree Falls, Wisconsin.«
»Nie gehört«, murmelt er geistesabwesend.
»Ja, ist auch ziemlich klein.«
Ich gebe Jack die Adresse meiner Mom und verlasse sein Büro, dann checke ich aus dem Hotel aus und mache mich auf den Weg zum Flughafen. Trotz der Sorgen um meine Mom fühle ich mich wie betäubt bei dem Gedanken daran, zum ersten Mal seit über zehn Jahren nach Greentree Falls zurückzukehren. Meine Mom und ich sind nach ihrer Scheidung von meinem Dad nach Greentree Falls, ihrer Heimatstadt, umgezogen – da war ich in der achten Klasse. Davor haben wir in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt gelebt, wegen der Karriere meines Dads als kanadischer Diplomat. In Greentree Falls habe ich von allen Städten meiner Kindheit die meiste Zeit verbracht, und deshalb wird dort immer mein Zuhause sein.
Dort wird aber auch immer das Zuhause von Allie Douglas sein, und das ist der Grund, warum ich vorhatte, nie wieder dorthin zurückzukehren. Selbst nach zehn Jahren ist der Schmerz nicht verebbt. Allein der Gedanke an sie tut weh.
Ein paar Wochen in Greentree Falls werde ich schon überstehen, solange ich mich auf meine Mom und Tante Jo konzentriere und solange ich Allie nicht sehen muss. Denn wenn schon der Gedanke an sie so wehtut, möchte ich gar nicht wissen, was ein Wiedersehen mit mir machen würde.
»Mach schon, Tante Allie. Ich komme zu spät zur Schule. Das willst du doch nicht, oder?«
Ich lasse die Autoschlüssel meines siebzehnjährigen Neffen in der Luft baumeln und halte seinem Blick schweigend stand, ohne auch nur einen Moment lang ans Nachgeben zu denken. Nach einigen Sekunden schüttelt er den Kopf, fügt sich meiner Bitte und hebt seine rechte Hand.
»Ich, Max Porter, schwöre feierlich, heute gute Entscheidungen zu treffen, bis hin zu dem Moment, in dem ich heute Nacht einschlafe. Ich verspreche, einen Mindestabstand von fünfundvierzig Zentimetern zwischen meinem Penis und jeder weiblichen Person einzuhalten, es sei denn, der Gedanke daran, ein Kind mit ihr großzuziehen, ist nicht nur akzeptabel für mich, sondern erfüllt mich mit außerordentlich freudiger Erwartung. Darüber hinaus verspreche ich, nicht zu rauchen, zu trinken oder auf irgendeine andere Weise verbotene Substanzen zu mir zu nehmen.«
»Vielen herzlichen Dank«, sage ich und werfe ihm die Schlüssel für seinen zerbeulten Chevy Impala zu. »Vergiss dein Lunchpaket nicht. Du hast heute Pastrami anstelle von Roastbeef dabei, weil es im Angebot war.«
»Nach dem Training komme ich nach Hause«, sagt er und schultert seinen Rucksack.
»Vergiss nicht, heute Abend Vi von Jana Monroe abzuholen.«
Max stöhnt. »Das bedeutet ungefähr zwanzig Minuten Autofahrt, Tante Allie, einfach gerechnet. Insgesamt aber wird das eine Sache von einer Stunde, da sie nie fertig ist, wenn ich dort ankomme. Außerdem werde ich Hausaufgaben machen müssen.«
»Ich würde es übernehmen, wenn ich könnte, aber ich muss zu einem Elternmeeting von Hazels Eishockeymannschaft.«
Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Na schön, aber sag Vi, sie soll bei meiner Ankunft fertig sein, ja?«
»Fertig wofür?«
Meine vierzehnjährige Nichte kommt in die Küche, ihr langes blondes Haar in üppigen Wellen gestylt. Sie ist die Diva der Familie und steht sogar jeden Morgen früh genug auf, um noch vor der Schule ihr volles Schönheitsprogramm zu absolvieren. Ich dagegen nehme normalerweise nur eine schnelle Dusche und binde mir dann auf dem Parkplatz von Fox Foods, dem Lebensmittelladen, in dem ich arbeite, mein noch feuchtes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Wenn ich dich heute Abend von Jana abhole«, sagt Max zu Vi, »und du nicht innerhalb von zwei Minuten, nachdem ich vor dem Haus vorgefahren bin, herauskommst, verschwinde ich.«
»Du kannst nicht einfach verschwinden«, protestiert sie.
»Doch, kann ich, und …«
»Max, kannst du mich zur Schule mitnehmen?«, ruft Hazel, während sie die Treppe unseres kleinen Hauses hinuntereilt.
Er lacht spöttisch. »Ich bin doch kein Taxi. Nimm den Bus.«
»Komm schon, ich muss früh dort sein, um noch vor der ersten Stunde mit meinem Naturkundelehrer zu sprechen.«
Max zuckt mit den Schultern. »Na schön, aber ich fahre jetzt.«
Hazel schnappt sich eine Banane und ihre Lunchtüte von der Küchentheke. »Dann los.«
»Denk dran: Du musst heute Nachmittag um zehn nach vier abmarschbereit zum Hockey sein«, rufe ich ihr ins Gedächtnis. »Ausrüstung gepackt und fertig, um zur Tür hinauszuspazieren. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Ich werde fertig sein.«
Sie wird fertig sein. Hazel ist immer pünktlich. Sie ist mein Wildfang, der lieber zum Sport und zum Angeln geht, als sich um Jungs und Make-up zu kümmern. Ich würde es selbst nicht glauben, dass sie und Vi Zwillinge sind, wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie meine ältere Schwester sie zur Welt gebracht hat.
»Hab euch lieb«, rufe ich, als Max und Hazel zur Tür rausgehen.
»Wir haben dich auch lieb«, antworten sie gleichzeitig.
Vi schaut zu mir herüber, und sobald wir allein in der Küche sind, verzieht sie das Gesicht. »Uh, ich kann immer noch nicht glauben, dass du ihr erlaubst, Eishockey zu spielen. Was ist, wenn ihr jemand die Zähne ausschlägt?«
»Sie tragen einen Mundschutz«, erinnere ich sie.
Ich bin auch nicht gerade begeistert von Hazels neuer Leidenschaft, aber aus anderen Gründen als Vi. Zum einen ist es irre teuer. Zum anderen erinnert es mich an jemanden, aber ich will nicht, dass die Kinder davon erfahren. Denn diese Erinnerung schmerzt.
»Trotzdem.« Sie starrt in den offenen Kühlschrank, während ich das Frühstücksgeschirr abtrockne. »Sind diese Äpfel bio?«
»Nein, Eure königliche Hoheit. Nur ganz gewöhnliche Braeburn.«
»Du solltest Biolebensmittel kaufen, das ist gesünder.«
Ich unterdrücke einen Seufzer. Wir haben schon so viele Male darüber gesprochen. Ich erkläre ihr, dass Bioware zu teuer ist – sie erklärt mir, dass sie es wert ist. Die Kinder wissen nicht, wie knapp ich manchmal bei Kasse bin, und ich will nicht, dass sie es erfahren. Aber diese Diskussionen sind so nervig, dass ich am liebsten einen Kontoauszug hervorholen und ihnen zeigen würde.
»Beeil dich mit deinem Lunchpaket«, sage ich und hänge das Geschirrtuch auf. »Ich will nicht, dass du den Bus verpasst.«
Während sie sich ein Sandwich macht, werfe ich einen verstohlenen Blick auf ihr Outfit. Das Wetter in Wisconsin ist im Spätapril zwar warm genug, dass die Kids Shorts tragen können, aber Vi trägt eine, die so eng sitzt, dass ich etwas sagen muss. Ich will nicht, dass die Jungs ihre langen Beine bewundern. Sie wird mit jedem Tag schöner, und das zerreißt mir fast das Herz. Sie hat solche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, und ich will verhindern, dass sie die gleichen Fehler macht wie Jenna.
»Lass uns dieses Wochenende shoppen gehen«, schlage ich betont ungezwungen vor. »Du brauchst ein paar neue Shorts.«
Vi schüttelt den Kopf. »Ich hab bereits jede Menge, Tante Allie.«
»Ja, aber … du bist seit letztem Jahr auch ziemlich gewachsen.«
»Die passen noch.«
Ich will mich nicht vor der Arbeit mit ihr streiten, aber ich bin hier die Erwachsene. »Sie sind ein wenig zu kurz, Vi.«
»Nein, sind sie nicht.« Sie lacht. »Die Schule hat Regeln, was Shorts betrifft, und meine erfüllen alle Regeln. Ich trage bestimmt keine Shorts, die mir bis zu den Knien reichen.«
Ich kann förmlich spüren, wie mein Blutdruck in die Höhe schnellt. Mein Hauptziel im Leben ist es, diese drei Kinder so zu erziehen, dass sie Highschoolabsolventen werden und keine Teenie-Eltern mit Alkoholproblem. Meine Eltern hätten sich niemals träumen lassen, dass ihre älteste Tochter mit fünfzehn schwanger werden würde und dann noch mal im Alter von achtzehn mit Zwillingen. Drei Kinder von zwei verschiedenen Dads und null Interesse, sie großzuziehen. Mom und Dad mussten deshalb noch mal ganz von vorn anfangen und den Eltern-Job selbst erledigen. Was sie bravourös gemeistert haben, bis sie vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.
»Vielleicht können wir … einen Kompromiss schließen?«, frage ich Vi. »Du könntest doch einige von denen, die du bereits hast, behalten und trotzdem ein paar neue kaufen?«
»Neue Shorts, die ich aussuche?«
»Nun …«
Sie packt eine Wasserflasche und ihren Lunch in ihre Tasche, zieht den Reißverschluss zu und hängt sie sich über die Schulter.
»Vielleicht«, antwortet sie. »Aber ich ziehe mich bestimmt nicht wie eine Nonne an.«
»Ich bin sicher, wir finden ein paar, die zwischen Nonne und denen da liegen«, erwidere ich und zeige auf ihre Shorts.
Sie blickt an sich hinunter. »So kurz sind die doch gar nicht.«
Ich versuche, irgendwie noch die Kurve zu kriegen. »Ich weiß, aber sie sind so … figurbetont.«
»Tante Allie, entspann dich. Du bist diejenige, die mir immer sagt, Jungs hätten kein Recht auf irgendwas nur wegen der Kleidung, die ein Mädchen trägt.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber wenn Jungs ein Mädchen toll finden, ist das auch ziemlich schmeichelhaft. Und jetzt, auf der Highschool …«
Draußen vor unserem Haus ertönt die Hupe des Busses und unterbricht mich jäh.
»Ich komme bestens klar, versprochen«, sagt Vi und eilt zur Haustür. »Hab dich lieb.«
»Ich dich auch«, antworte ich müde, obwohl es erst zwanzig vor acht ist.
Früher habe ich in den zehn Minuten zwischen dem Aufbruch der Kinder zur Schule und meinem Aufbruch zur Arbeit immer mit unserer Katze geplaudert, Bellatrix. Aber sie ist im vergangenen Jahr gestorben, und angesichts der von ihrer Krankheit verursachten Tierarztkosten habe ich mich gegen ein neues Haustier entschieden.
Immerhin habe ich jetzt Kelly. Sie ist vor ungefähr sechs Monaten nach Greentree Falls gezogen und arbeitet als Abteilungsleiterin der Bäckerei bei Fox Foods. Wir sind sofort gute Freundinnen geworden. Da ich die Tagesschicht leite, haben wir die gleichen Arbeitszeiten.
Ich schnappe mir meine Autoschlüssel und meine Handtasche und mache mich auf meine fünfminütige Fahrt zur Arbeit. Auf dem Weg in den Laden schlinge ich mein feuchtes Haar zu einem tiefen Knoten.
Fox Foods wird von seinen Angestellten im Scherz »Der beliebteste Lebensmittelladen in Greentree Falls« genannt. Was nicht weiter schwer ist, denn es ist schließlich der einzige. In einer Stadt mit nur zweitausend Einwohnern ist Fox Foods der Treffpunkt für alle.
Wenn sich irgendwo ein Sturm zusammenbraut, kann man darauf wetten, dass die Rentner in der Imbissbar, wo sie sich jeden Morgen pünktlich zur Öffnungszeit um fünf Uhr auf einen Kaffee treffen, darüber reden. Als Greentree Falls vor einigen Monaten die Müllgebühren erhöht hat, hielten die Leute in unseren Gängen die Einkaufswagen an, um sich ausführlich darüber zu unterhalten, wie schrecklich sie das fanden.
»Morgen, Allie!«, sagt Jim, einer unserer Kassierer, während er neben mir durch die Schiebetüren geht.
»Guten Morgen, Jim!«
»Wie geht’s den Kids?«
»Gut, danke.«
Er nickt und wendet sich in Richtung des Pausenraums für die Angestellten, um sich für seine Schicht umzuziehen. Ich gehe in das kleine Büro der Abteilungsleiter, das direkt hinter den Toiletten für das Personal liegt. Wir hören jede Wasserspülung, und im Winter ist der Raum kalt und im Sommer heiß. Aber zumindest sind wir hier ungestört.
»Hey, Girl«, begrüßt Kelly mich, als ich hereinkomme und meine Handtasche an einen Haken im Wandschrank hänge.
»Morgen! Alles klar bei dir?«
Sie schenkt mir eine Tasse Kaffee ein, zuckt die Achseln und antwortet: »Kann mich nicht beklagen. Ich hab’s bereits heute Morgen mit meinem Mann getrieben, sodass ich wenigstens heute Abend einigermaßen früh schlafen gehen kann.«
Ich nicke. »Ich freue mich auch schon aufs Schlafengehen. Dieser verdammte Waschbär hat wieder in den Mülltonnen gestöbert und mich mitten in der Nacht geweckt.«
Sie reicht mir den dampfenden Kaffee in einem angeschlagenen alten Becher mit der Aufschrift Ich kaufe bei Fox und dem grinsenden, spitzohrigen Fuchs-Maskottchen, das den Daumen hochreckt.
»Hey, hast du noch mal drüber nachgedacht, wie es mit einem Blind Date mit Ross’ Kollegen wäre? Er sagt, der Mann sei supernett und würde dich gern kennenlernen.«
Ich stöhne und nehme einen großen Schluck Kaffee, während ich überlege, wie ich wieder einmal höflich ablehnen kann.
»Ich hab einfach zu viel zu tun mit den Kindern«, sage ich und versuche, zerknirscht auszusehen.
»Verarsch mich nicht, Allie!« Kelly verschränkt die Arme und funkelt mich an. »Es ist jetzt vier Monate her, dass du mit Hairy Larry Schluss gemacht hast.«
Ich verdrehe die Augen. »Hätte ich dir bloß nie von seinem behaarten Rücken erzählt.«
»Auf jeden Fall höchste Zeit, nach vorn zu blicken, oder?«
»Ich hänge nicht im Geringsten an Larry Wright«, antworte ich lachend, während ich die Stechkarten der Angestellten durchgehe. »Ich war erleichtert, als wir Schluss gemacht haben. Und ich bin gern allein.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Eventuell könntest du dich ja doch mit Dave treffen. Nur ein einziges Mal. Vielleicht bist du positiv überrascht.«
»Hast du ihn kennengelernt?«
Kelly schüttelt den Kopf. »Aber Ross findet ihn großartig.«
»Ross findet auch Oreos mit Wassermelonengeschmack großartig«, rufe ich ihr ins Gedächtnis.
»Allie, hör auf, so stur zu sein. Denk darüber nach, okay?«
»Das werde ich.«
»Du lügst.«
Ich lächle. »Ich will kein Blind Date, Kel.«
»Nun, Bettler dürfen nicht wählerisch sein. Hast du nicht gesagt, du hättest seit der Highschool nur noch eine weitere Beziehung neben der mit Larry gehabt?«
»Na und? Ich hab wirklich alle Hände voll zu tun mit den Kids.«
»Ja, aber …«
Ich ordne die Stechkarten zu einem adretten Häufchen und stehe auf. »Ich habe alles, was ich brauche, okay? Ich mag mein Leben genau so, wie es ist. Ich kann meine Sachen auf der ganzen Badezimmerablage ausbreiten, und es schert niemanden. Wenn ich abends früh ins Bett will, brauche ich niemandem Morgensex anzubieten, damit es klappt.«
Kelly zuckt die Achseln. »Gib mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast, keine Angst mehr zu haben.«
Ich zucke zusammen. »Angst? Nach all dem, was ich gerade gesagt habe – woraus ziehst du da bitte den Schluss, ich hätte Angst vor einer Beziehung?«
»Daraus nicht. Aber du hast mir von diesem Jungen auf der Highschool erzählt, und daher weiß ich, dass du sehr wohl Angst hast.«
»Hab ich nicht.«
Sie zieht skeptisch die Brauen hoch. Ein Funken Ärger flammt in mir auf, und ich schalte erst recht auf stur.
»Ob mich das, was zwischen mir und Erik war, immer noch berührt? Ich schätze, ja, und wahrscheinlich wird es das auch immer tun«, gebe ich zu. »Aber das war vor zehn Jahren. Es war uns einfach nicht bestimmt, zusammen zu sein. Und dann war ich vor einigen Jahren mit Hunter Jackson zusammen, fast ein Jahr lang, und schließlich einige Monate lang mit Larry. Ich wäre doch keine Beziehungen eingegangen, wenn ich immer noch an Erik hängen würde, oder?«
Kellys Miene wird weich. »Ich weiß nur, dass dein Gesicht anders ausgesehen hat, als du mir von Erik erzählt hast. Anders, als wenn es um Hunter oder Hairy Larry ging. Auch deine Stimme war anders. Ich konnte spüren, dass er dir mehr bedeutet hat.«
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich bin völlig überrumpelt von ihrer unerwarteten, aber absolut zutreffenden Einschätzung.
»Das hat er«, antworte ich leise. »Aber das ist lange her.«
Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte nur, dass du glücklich bist, Allie. Du investierst all deine Zeit und Energie, um dich um die Kinder zu kümmern, und ich möchte, dass du jemanden hast, der sich um dich kümmert.«
»Es geht mir gut, wirklich«, erwidere ich und setze ein Lächeln auf. »Und jetzt muss ich diese Stechkarten noch fertig machen.«
»Sehen wir uns zum Lunch?«
Ich eile an Kelly vorbei, erpicht darauf, endlich Abstand zu diesem Gespräch zu bekommen. »Jepp, wir sehen uns.«
Ich umklammere das Lenkrad meines Mietwagens und hole tief Luft, um mich zu wappnen. Ich wusste, dass es nicht leicht werden würde, aber verdammt, bis jetzt ist es noch härter als gedacht, nach Hause zurückzukehren.
Das Dairy Dream hat einen frischen Anstrich in strahlendem Gelb bekommen, aber die Lobby ist immer noch genauso überfüllt wie damals, als ich einen Großteil meiner Teenie-Jahre dort verbracht habe. Während meine Augen alle Details aufnehmen, kann mein Herz sich nur daran erinnern, dass ich Allie zu unserem ersten Date dorthin ausgeführt habe.
Greentree Falls ist eine Kleinstadt, und dementsprechend wimmelt es nur so von Erinnerungen an sie. Ich komme an dem Park vorbei, in dem unsere Eltern unsere Homecoming- und Schulballfotos gemacht haben, und an der Pizzeria, wo wir uns immer eine XXL-Pizza mit Peperoni und Würstchen für unsere Filmabende im Keller ihrer Eltern geholt haben.
Um nicht an der Highschool vorbeizumüssen – denn dazu kann ich mich nicht überwinden –, mache ich einen kleinen Umweg. Allie ist der bestimmende Teil meiner Erinnerungen an die Zeit auf der Greentree Falls Highschool. Es war nach meinem ersten Highschooljahr, einen Monat nach Beginn des neuen Schuljahres, als ich zusammen mit meinen Freunden aus der Zehnten bei einem Volleyballspiel abhing. Da zog eine dunkelhaarige Neuntklässlerin aus der ersten Schulmannschaft meine Aufmerksamkeit auf sich. Und von diesem Moment an habe ich Allie Douglas nie mehr aus den Augen gelassen. Bis sie mich vier Jahre später dazu gezwungen hat.
Ihr Lächeln … es hat sich auf ewig in meinen Geist eingebrannt. Allie gelang in diesem Volleyballspiel ein Ass und sie ließ das strahlendste Lächeln aufblitzen, das ich je gesehen hatte. In diesem Moment vergaß ich alle anderen um uns herum in dieser Sporthalle. Damals ahnte ich nicht, wie sehr mich zukünftige Ereignisse ins Unglück stürzen würden.
Ich atme scharf aus und versuche, die Erinnerungen abzuschütteln. Ich bin wegen meiner Mom und Tante Jo hier, und das ist alles. Wenn ich Zeit habe, werde ich ein paar meiner Highschoolfreunde besuchen, die immer noch hier wohnen. Allie werde ich wahrscheinlich nicht einmal zu Gesicht bekommen, daher gibt es keinen Grund, sich deswegen aufzuregen.
Nach einem tiefen Atemzug schalte ich das Autoradio ein. Aber der näselnde Akzent eines Countrysängers lässt es mich gleich wieder ausschalten. Ich wünschte, ich säße in meinem Audi Q7 statt in diesem Mietwagen der unteren Mittelklasse, in den ich kaum hineinpasste.
Meine Mom ist einer der wenigen Menschen auf der Welt, für den ich alles stehen und liegen lassen würde, um ihm zu helfen. Sie und Tante Jo sind so ziemlich alles an Familie, was mir nach der Scheidung meiner Eltern geblieben ist. Mein Dad hat mich zwar während meiner Highschoolzeit in allen Sommerferien für eine Woche in das Land einfliegen lassen, in dem er gerade arbeitete, aber er hat sich nicht ein Mal freigenommen, wenn ich dort war, sodass ich die meiste Zeit allein abhing.
Als ich vor Tante Jos bescheidenem Zwei-Zimmer-Bungalow vorfahre, fällt mir auf, dass er sich in dem Jahrzehnt meiner Abwesenheit kaum verändert hat. Nur die Fliederbüsche, die ich als Schüler gepflanzt habe, sind übergroß geworden, und die graue Farbe, mit der ich die Fensterläden gestrichen habe, ist verblasst.
Ich werde sie neu streichen. Und ihre Veranda muss ebenfalls gründlich gereinigt und gebeizt werden. Herumzusitzen und nichts zu tun liegt mir nicht besonders, daher werde ich auch alles andere, was sie im und am Haus erledigt haben will, auf meine Liste setzen.
Das einzig Gute daran, dass mein Dad uns hat sitzen lassen, als ich vierzehn war, ist der Umstand, dass ich gelernt habe, mich um alle Belange von Haus und Garten – unserem wie Tante Jos – zu kümmern. Mithilfe dieser Arbeiten konnte ich mich von der Scheidung meiner Eltern ablenken, wofür ich immer dankbar sein werde.
Tante Jos Hausprojekte sind genau das, was ich auch jetzt während meines Besuchs in Greentree Falls brauche. Ich werde so ziemlich alles tun, um nicht nur ein Wiedersehen mit Allie zu vermeiden, sondern schon den bloßen Gedanken an sie.
»Da ist er.« Mom hat die Vordertür geöffnet, während ich den Gehsteig entlangkomme. »Es hat nur eines Jahrzehnts und eines gebrochenen Fußes bedurft, um meinen Sohn hierher zu lotsen.«
Kopfschüttelnd erwidere ich: »Mom, du siehst mich andauernd in Chicago. Und erinnerst du dich an unsere Reise nach London im vergangenen Jahr?«
»Das ist nicht dasselbe, mein Kind.« Sie humpelt beiseite, damit ich eintreten kann.
»Mom, du solltest gar nicht auf den Beinen sein«, ermahne ich sie, als sie mich umarmt.
»Ich habe es bis sechsundfünfzig geschafft, ohne dass du mir gesagt hast, was ich tun soll«, entgegnet sie. »Glaub ja nicht, dass du jetzt damit anfangen kannst.«
»Erik!«, ruft Tante Jo aus einem Pflegebett herüber, das in ihrem Wohnzimmer aufgestellt worden ist. »Jedes Mal, wenn ich dich vor mir habe, siehst du noch besser aus.« Sie blinzelt mich an. »Sind da ein paar graue Strähnen in deinem Haar?«
»Schon möglich.« Ich grinse und zucke die Achseln. »Das lässt sich nicht vermeiden, wenn meine Mom inzwischen wie eine alte Dame umherschlurft und meine Tante ans Bett gefesselt ist.«
Es folgt eine Sekunde des Schweigens, bevor sie beide gleichzeitig über mich herfallen.
»Du findest das wohl witzig, hm? Komm rüber, und ich zeige dir, wie gut meine Arme immer noch funktionieren«, brüllt Tante Jo.
»Wag es ja nicht, mich jemals wieder als alte Dame zu bezeichnen«, schimpft meine Mom. »Ich will diese Worte aus deinem Mund nicht hören, und wenn ich hundert Jahre alt werde.«
Ich lege einen Arm um meine Mom und helfe ihr in einen Fernsehsessel, dann gehe ich zu Tante Jo und umarme auch sie.
»Ich hab euch vermisst«, sage ich.