Chilling Adventures of Sabrina: Tochter des Chaos - Sarah Rees Brennan - E-Book

Chilling Adventures of Sabrina: Tochter des Chaos E-Book

Sarah Rees Brennan

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Beschreibung

Eine bisher unveröffentlichte Geschichte aus Sabrinas Leben, die zwischen den Staffeln 1 und 2 der erfolgreichen Netflix-Serie spielt.

Sabrina Spellman hat die härteste Entscheidung ihres Lebens gefällt: Sie lässt ihre Freunde an der Baxter High zurück. Jetzt muss sie sich unter den jungen Hexen und Hexern an der Akademie der Unsichtbaren Künste zurechtfinden. Ihre Macht wächst täglich, aber der Preis dafür ist hoch ... Kann Sabrina ihren neuen Klassenkameraden trauen? Vor allem dem charmanten Nick Scratch und seinen Gefühlen ihr gegenüber?

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Seitenzahl: 469

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Das Buch

Ich hatte Angst, dass Harvey etwas zustoßen könnte. Ich hatte Angst, dass er mir niemals verzeihen würde. Und ich hatte Angst vor dem, was ich vielleicht tun musste, um meine Heimatstadt zu schützen …

Sabrina ist zwischen ihrem alten, »normalen« Leben an der Baxter High und ihrem neuen Leben als offizielle Hexe an der Akademie der Unsichtbaren Künste hin und her gerissen. Einerseits wächst ihre Macht täglich, andererseits vermisst sie ihre Freunde und ganz besonders Harvey, ihre erste große Liebe. Als die Geister von dreizehn toten Hexen drohen, über Greendale herzufallen und alle Sterblichen zu töten, will Sabrina das unbedingt verhindern. Doch Harvey will ihre Hilfe nicht! Ausgerechnet der geheimnisvolle Nick Scratch macht es sich zur persönlichen Aufgabe, Harvey und seine Familie zu schützen. Was Sabrina nicht ahnt: Nick verfolgt ganz eigene Pläne, vor allem, was das Herz der jungen Hexe angeht …

»Ein Muss für alle SABRINA-Fans!«   Nautilus Fantasymagazin über Hexenzeit

»Schwer unterhaltsam.«   jugendbuch-couch.de

Die Autorin

Sarah Rees Brennan wuchs in Irland auf. Nach der Schule verbrachte sie einige Zeit in New York und im englischen Surrey, wo sie Creative Writing studierte. Mittlerweile lebt sie wieder in Irland und widmet sich dort dem Schreiben. Sarah Rees Brennan ist eine erfolgreiche, international bekannte Jugendbuch- und Fantasyautorin – sowohl durch ihre Soloprojekte als auch durch ihre gemeinsam mit Cassandra Clare geschriebenen Bestseller.

TOCHTER  DES  CHAOS

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Chilling Adventures of Sabrina: Daughter of Chaos bei Scholastic Inc., New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2020 by Archie Comic Publications, Inc.

All Rights Reserved. Archie Comic is trademark and/

or registered trademark of Archie Comic in the U.S. and/

or other countries.

German language edition published by

arrangement with Scholastic Inc.,

557 Broadway, New York, NY 10012, USA.

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Christine Schlitt

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung einer Illustration von

© 2020 Archie Comic Publications, Inc.

Cover Art by © Katie Fitch

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-25110-9V001

Für Tasha und Dave, mit Liebe und besten Wünschen.

Danke für die hexenhaften Anmachsprüche.

Ich werde immer nur Molchaugen für euch haben!

Dieses Jahr die Welt wird neu gemacht.

Es beginne mit jedem unserer Schritte.

Es beginne mit Veränd’rung in unserer Mitte.

Es beginne mit dem Sprengen jeder Kette.

Es beginne, wenn der Hexe Sinn erwacht.

Traditioneller Hexengesang

ALL DIE HEXEN DEINER STADT

10. Dezember, Nacht der Dreizehn von Greendale

SABRINA

Lass dich niemals in der Schule beim Heulen erwischen. Das zeugt von Schwäche. Was insbesondere für eine Hexenschule gilt. Und doch saß ich in der Nacht, als die Geister über meine Stadt hereinbrachen, um sie zu zerstören, in der Akademie der Unsichtbaren Künste auf dem Balkon mit Blick auf die Statue Satans und kämpfte gegen die Tränen an.

Ich durfte nicht zusammenbrechen. Ich hatte einen Plan. Meine Familie und ich wollten die Sterblichen von Greendale beschützen. Wir hatten einen Ort, an dem sie sicher waren.

Aber der Sterbliche, den ich am meisten liebte, würde nicht kommen. Und ich konnte es ihm nicht einmal übelnehmen.

Ich hatte Harvey geliebt, seit er, ich und unsere besten Freundinnen Roz und Susie am ersten Tag in der Schule der Sterblichen aufeinandergetroffen waren. Er war der größte und liebste Junge in der Klasse, und ich war das kleinste, toughste Mädchen.

Aber mein ganzes Leben lang hatte ich etwas vor ihm geheim gehalten. Ich hatte ihm nie gesagt, dass ich eine Hexe war. Dass alle in meiner Familie Hexen waren. Und dass ich eines Tages Satan meine Seele überschreiben und ihn für immer verlassen würde.

Wann ist der beste Zeitpunkt, um dem Jungen, den man liebt, zu sagen, dass man eine Hexe ist?

Also ganz sicher nicht, nachdem man seinen Bruder als seelenlose Hülle von den Toten zurückgeholt hat. Harvey hatte Tommy eigenhändig Frieden gebracht. Und er hatte mit mir Schluss gemacht. Jetzt wollte er mir nicht einmal mehr erlauben, ihn zu beschützen.

Ich hatte gedacht, ich könnte Tommy für Harvey wieder ins Leben zurückholen. Meine Liebe und meine Magie sollten ein Geschenk für ihn sein. Vielleicht hatte ich auch geglaubt, es sei ein guter Weg, um Harvey zu zeigen, wie wundervoll Magie sein konnte. Sieh her! Kein Sterblicher kann so etwas! Sieh nur, dies ist die Liebe einer Hexe!

Oh ja, das hatte ich Harvey eindeutig bewiesen.

Ich hatte ihm bewiesen, dass die Liebe einer Hexe eine Katastrophe ist. Die Liebe einer Hexe bringt den Untergang.

Ich hatte Angst, dass Harvey etwas zustoßen könnte. Ich hatte Angst, dass er mir niemals verzeihen würde. Und ich hatte Angst vor dem, was ich vielleicht tun musste, um meine Heimatstadt zu schützen. Deshalb saß ich eng zusammengekauert auf dem Balkon und umklammerte meine Knie, um das Zittern zu unterdrücken. Ich durfte nicht zittern, durfte nicht zagen.

Ich hatte eine Mission.

In diesem Augenblick fiel das rote Licht der Laternen im Flur auf das dunkle Haar eines Jungen, der mit schnellen Schritten die Stufen zum Balkon hinaufhastete. Als er mich dort auf dem Boden entdeckte, ließ er verblüfft das Buch fallen, das er sich unter den Arm geklemmt hatte.

Es war in Menschenhaut gebunden, und vorne auf dem Einband war ein Augapfel eingelassen. Der warf Nick nun vom schmutzigen Boden aus einen kummervollen Blick zu, was Nick aber ignorierte. »Sabrina! Was tust du hier?«

Ich schluckte. Nicks Blick flackerte kurz; er hatte die Bewegung bemerkt. Sein Gesicht war umwerfend, aber oft nur schwer zu lesen. Einmal hatte er mir angeboten, ich könnte mich an seiner starken Schulter ausweinen. Allerdings war ich mir nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn ich ihn beim Wort nahm.

»Ich habe nach dir gesucht.«

»Auf dem Boden?«, wunderte sich Nick. »Dachtest du, jemand hätte mich fallen gelassen und ich wäre unter die Möbel gerollt?«

»Mir geht’s gerade nicht so gut«, antwortete ich ganz leise.

Ich wusste nicht, wie ich Nick meinen Kummer begreiflich machen sollte. Nick Scratch war mein einziger Freund an der Akademie der Unsichtbaren Künste. Und er hatte mich bei unserer ersten Begegnung sofort nach einem Date gefragt. Als ich ihm erklärte, dass ich einen festen Freund hatte, schlug er gelassen vor, ich könnte doch zwei haben.

Natürlich war das vollkommen ausgeschlossen, außerdem war Nick eindeutig ein Playboy. Wenn er meinte, ein Mädchen könne zwei Freunde haben, wie viele Freundinnen hatte er dann wohl? Nick hatte vielleicht zwanzig. Oder auch einhundert.

Doch die unbeschwerte Gelassenheit, mit der er die Absage hinnahm, hatte ihn mir sympathisch gemacht. Vermutlich war Nick Scratch nicht der Typ, dem ein Mädchen das Herz brechen konnte. Playboy mochte er sein, aber er war ein Playboy, der sich für dieselben Zauber und Bücher interessierte, die mich auch faszinierten, und wenn ich ein Problem hatte, hörte er mir zu, gab mir Ratschläge und brachte sich meinetwegen auch schon mal in Schwierigkeiten.

Deshalb war er nun mein neuer, hin und wieder anzüglicher und umwerfend attraktiver platonischer Freund. Aber ich kannte ihn noch nicht sehr lange, und ich wusste nicht, ob ich ihm wirklich trauen konnte. Jetzt saß ich am Balkongeländer, umklammerte meine Knie und war verzweifelt. Und ich wusste nicht, ob es vielleicht gefährlich war, in Nicks Gegenwart Verzweiflung zuzulassen.

Ich hörte, wie Nick zu mir herüberkam. Seine Schritte hallten so laut auf den Steinfliesen, dass es bis zu den gewölbten Decken der Schule hinaufdrang, die in ewigem Schatten lagen. Die gesamte Akademie basierte auf der sich immer wiederholenden Grundform des Pentagramms, die sich in die tiefste Dunkelheit erstreckte. Klänge hatten hier einen merkwürdig tiefen Widerhall. Auch das Licht war anders, es spiegelte sich rot in den Augen der Schüler. Ich war anders, wenn ich hier war.

»Was ist los, Sabrina?«, fragte Nick leise.

»Ich brauche Hilfe«, flüsterte ich. »Und ich weiß nicht, wen ich fragen kann.«

Als ich aufblickte, kniete Nick an meiner Seite. Nun hockten wir gemeinsam am Rand des in rotes Licht getauchten Balkons. Nick musterte mich so eindringlich, als wäre ich ein Rätsel, das er zu lösen versuchte.

»Frag mich«, schlug Nick Scratch vor. »Und dann warte ab, wie ich reagiere.«

DER WELT UN-STERBLICHSTE TÖCHTER

10. Dezember, Nacht der Dreizehn von Greendale

HARVEY

Sabrina hatte ihm gesagt, der Tod werde kommen, doch es war jemand anders.

Harvey zuckte heftig zusammen, als es plötzlich an der Milchglastür seines Hauses klopfte, aber er wollte kein Feigling mehr sein. Er musste in diesem Haus bleiben und seinen bewusstlosen Vater beschützen, der einfach nicht aufhören konnte zu trinken, weil der Falsche seiner Söhne gestorben war.

Harvey wollte unbedingt mutig sein, wie sein Bruder es gewesen wäre. Deshalb ging er zur Tür, auch wenn sein Herz lauter trommelte als die Faust an der Scheibe, und riss sie auf.

»Hi, Harvey«, grüßte der dunkelhaarige Fremde, der auf seiner Schwelle stand. Nach einer merklichen Pause fügte er hinzu: »Richtig, oder?«

Es klang nicht wie eine Frage, dazu war er sich zu sicher. Auch wenn Harvey diesen Jungen noch nie in seinem Leben gesehen hatte.

»Ja«, antwortete er zögernd. »Wer bist du?«

Noch bevor er zu einer Antwort ansetzte, marschierte der Junge ohne jede Einladung ins Haus. Harvey hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viel Selbstsicherheit empfunden, wie dieser Junge bei nur zwei Schritten verströmte.

»Ich bin Nick Scratch«, warf er lässig über die Schulter. »Sabrina hat mich geschickt. Ich bin ein Freund von ihr und deine Verstärkung für heute Nacht. Du musst mir sämtliche Fenster und Türen des Hauses zeigen, damit ich sie für dich versiegeln und mit einer Bindung versehen kann.«

Harvey blieb nichts anderes übrig, als Nick durch sein eigenes Heim zu folgen. Trotzdem fragte er: »Welche Art von Freund?«

Doch Harvey wusste es bereits.

In der Weihnachtsgeschichte bekommt Scrooge Besuch von den Geistern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht. Nick Scratch war die Verkörperung von Sabrinas zukünftigem festem Freund, und zwar die Version mit den neuesten Upgrades.

Harvey hatte schon immer gewusst, dass Sabrina etwas Besseres finden konnte als ihn.

Sie war so klug und so wunderschön, und manchmal so eigenartig. Ihr Leben lang schien sie in ihrer eigenen kleinen Welt zu wandeln, wo sie für Harvey unerreichbar war. Und ihn hatte stets die Angst umgetrieben, dass irgendwann jemand auftauchen könnte, der ihrer würdig war. Jemand, der clever war, gut aussehend, weltgewandt und cool. Jemand, der auf einer Ebene eine Verbindung zu ihr finden würde, die Harvey einfach nicht erreichen konnte. Hier war er nun, und er hatte magische Kräfte.

Ein Typ wie Nick war schon seit Jahren Harveys schlimmster Albtraum. Inzwischen wurde Harvey allerdings noch von viel schlimmeren Albträumen heimgesucht.

Was nicht hieß, dass er begeistert war von Nick.

Aber Nick war nicht gekommen, um sich über Harvey lustig zu machen. Nein, er hatte gesagt, er wolle ihm helfen, mit der mysteriösen Gefahr klarzukommen, die ihre Stadt bedrohte.

Zu gerne hätte Harvey behauptet, keine Angst zu haben und sich nicht von Magie retten lassen zu müssen. Doch als die Sonne versunken war und der Wind in den Bäumen plötzlich wie das Getuschel von Geistern klang, hatten ihn leise Zweifel gepackt.

Vielleicht war Harvey ja wirklich so nutzlos und hilflos, wie Sabrina glaubte.

»Was genau geht hier vor?«

»Die Geister von dreizehn toten Hexen versuchen, sämtliche Einwohner der Stadt zu töten«, verkündete Nick so sachlich, als wäre das etwas vollkommen Normales. »Versiegelte Türen und Bannzauber könnten sie für eine Weile zurückhalten.«

»Und wie lange?«

»Wahrscheinlich nicht lange genug«, antwortete Nick kühl.

»Na großartig«, murmelte Harvey.

Er war gereizt und eifersüchtig, aber trotzdem war er unglaublich erleichtert, dass Nick da war. Während er hinter ihm herlief, zeigte er ihm sämtliche Zugänge zum Haus. Die Versiegelungen dauerten eine Weile. Zwar motzten sie sich gegenseitig an, und Tommy war tot und Sabrina fort, aber zumindest hatte Harvey endlich wieder jemanden, mit dem er reden konnte.

Dann erschienen flackernde Frauengestalten mit verfilzten Haaren hinter dem trüben Milchglas der Tür. Sämtliche Türen und alle Fensterscheiben klapperten wie Knochen in einer bebenden Kiste.

Harvey richtete sein Gewehr auf die Tür. »Willst du nicht irgendetwas tun?«

»Bin bereits dabei, Farmbubi«, zischte Nick. »Auch wenn du es nicht verdienst. Du bist ein Hexenjäger, nicht wahr?«

Darauf hatte Harvey keine Antwort. Ja, Sabrina hatte ihm gesagt, dass er ein Hexenjäger sei, was einige Dinge erklärt hatte. Hatte er denn diesbezüglich eine Wahl? Hatte Sabrina eine Wahl, was ihr Hexendasein betraf?

Vielleicht nicht.

Nick hatte die Hände in einer Geste verschränkt, die an eine Gebetshaltung erinnerte. Dabei murmelte er etwas vor sich hin, was wohl ein Bannzauber sein musste. Zwar verstand Harvey kein Wort davon, doch bei jeder Silbe stellten sich ihm die Nackenhaare auf.

Irgendetwas ging von Nick aus, so etwas wie die Hitze oder das Licht eines Feuers, aber es war weder hell noch warm.

Es war Magie.

Sobald Nick seine Zauber gewirkt hatte, breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. In der Stille konnte Harvey regelrecht hören, wie sich das Böse näherte. Der Wind steigerte sich von einem leisen Murmeln vor dem Fenster zu einem weit entfernten Schrei, der immer dichter heranrückte. Die tiefen Schatten jenseits des schwachen Verandalichts wurden dunkler und drückender.

Und nichts davon war eigentlich Nicks Problem. Dieser Junge war nicht gekommen, damit es Harvey besser ging. Er war überhaupt nicht seinetwegen hier.

Um nicht zu zeigen, wie sehr er sich fürchtete, fragte Harvey: »Du hast doch alles versiegelt, oder? Du hast das Versprechen gehalten, das du Sabrina gegeben hast. Also kannst du jetzt gehen.«

Als er es endlich schaffte, seinen Blick von der brodelnden Dunkelheit hinter dem Fenster zu lösen, bemerkte er, dass Nick ihn aufmerksam musterte. Seine Augen waren von beinahe ebenso undurchdringlicher Schwärze wie die Nacht dort draußen.

Beinahe.

»Nein«, antwortete Nick bedächtig. »Ich werde bleiben.«

Nick half Harvey dabei, noch weitere Möbelstücke vor die Haustür zu schieben, und setzte sich Schulter an Schulter mit ihm auf den Boden, den Rücken an die zerbrechliche Barrikade gelehnt, während die Türknäufe und Fenster klapperten, der Wind kreischte, die Toten heranrasten. Es war erbärmlich, aber Harvey war unglaublich froh, dass Nick bei ihm war.

Gerade als Harvey sich sicher war, dass die Geister durchbrechen würden, ließ das Getöse nach. Die Welt und die Toten verstummten. Nachdem sie sich einen wortlosen Blick zugeworfen hatten, begannen Harvey und Nick damit, die Barrikade abzubauen. Sobald die Tür wieder frei war, wollte Nick sie öffnen, aber Harvey schob sich an ihm vorbei. Er würde nicht zulassen, dass Nick zuerst hinausging. Er konnte nicht noch einmal mit ansehen, wie jemand starb.

Das schien Nick zu verwirren.

»Was ist?«, blaffte Harvey ihn an.

Ein spöttisches Grinsen breitete sich auf Nicks Gesicht aus. »Gar nichts. Du bist schon ein merkwürdiger Hexenjäger, nicht wahr?«

Er ließ Harvey vorangehen. Der öffnete die Tür und zielte mit dem Gewehr in die stille Nacht hinaus, während Nick ihm über die Schulter spähte. Keine Geister mehr da. Nick verkündete, Sabrina habe es geschafft, die Stadt zu retten – auf eine Art und Weise, die Nick offenbar begriff, Harvey aber nicht.

Während sie noch gemeinsam auf seiner Türschwelle standen, fragte Harvey verlegen: »Warum bist du hergekommen?«

Nick blickte in die raunende Finsternis hinaus, als läge irgendwo dort die Antwort versteckt. »Sie hat mich darum gebeten. Also bin ich gekommen.«

Es klang irgendwie trostlos. Plötzlich hatte Harvey Mitleid mit Nick, wie mit einem verletzten Tier oder einem heimatlosen Streuner, auch wenn das total widersinnig war.

»Nein, ich meine …« Harvey biss sich auf die Lippe und versuchte, möglichst behutsam zu sprechen. Diese Nacht war bereits kalt und rau genug, es musste doch noch etwas Sanftheit auf dieser Welt verbleiben, auch wenn er sie erst selbst erschaffen musste. »Warum?«

Nick wandte sich ihm zu. Mit leiser Verwirrung sah er zu Harvey hoch, fast als ob ein so behutsamer Tonfall ihm völlig fremd wäre. Harvey schluckte.

»Seid ihr … Seid ihr zwei …?«

Es gelang ihm einfach nicht, es auszusprechen. Schlage mich mit dem Schlimmsten, hätte er am liebsten gesagt. Drücke ein Siegel auf mein Elend, so wie du die Fenster und Türen versiegelt hast. Ich hab es gewusst, als ich dich sah. Hab es gewusst, als du mir sagtest, warum du gekommen bist.

Nick antwortete: »Sie liebt dich, Sterblicher.«

Sabrina hatte Harvey gesagt, dass sie ihn liebte, aber sie hatte ihn auch ihr Leben lang angelogen. Vielleicht hatte sie nichts von alldem ernst gemeint. Magie war real, sein Bruder war tot, die gesamte Welt war in tausend Stücke zersprungen. Und Sabrinas Liebe, das Zerbrechlichste und Schönste, was es in Harveys Leben gab, hatte er verloren. Doch diesen merkwürdigen Jungen sagen zu hören, dass Sabrina ihn liebte, ließ es für Harvey beinahe wahr werden.

Sie liebt dich. Nick klang so gelassen, so sicher. Harvey wiederholte diese Worte während der schlaflosen, lichtlosen Nächte, wenn er sich ganz und gar verlassen fühlte.

Es gab noch jemanden, der ihn liebte.

Nick hätte ihm das nicht sagen müssen, ebenso wenig hätte er bei ihm bleiben müssen. Doch er hatte es getan.

VON EINER HEXE WAR ZU LESEN

27. Dezember, einen Tag nach der Zaunkönigjagd,

morgens

SABRINA

Es ist eine Frage des Glücks, Sabrina«, erklärte mir meine Tante Zelda an einem eisigen Morgen, zwei Tage nach dem Julfest. »Genauer gesagt habe ich das Gefühl – und ich hoffe, darin sind wir uns alle einig –, dass unsere Familie in diesem Jahr mehr als genug Pech gehabt hat: ständig Dämonenattacken auf unser Haus, einige wirklich peinliche Dinnerpartys und diese bösen Geister, die sämtliche Stadtbewohner umbringen wollten. Manch einer von uns hat dabei zutiefst verantwortungslose Entscheidungen getroffen, aber ich will auf niemanden mit dem Finger zeigen.«

Ich verdrehte die Augen. »Du zeigst doch direkt auf mich.«

Tante Zelda zeigte mit ihrem Zigarettenhalter auf mich. Die gefährlich scharfen Spitzen funkelten im Licht. Ich deutete darauf.

»Aber nicht mit dem Finger«, erwiderte Tante Zelda abschätzig. »Selbstverständlich habe ich auf dich gezeigt. Oder hat sich in diesem Jahr sonst noch ein Familienmitglied an verbotener Nekromantie versucht?«

Sie musterte streng sowohl die blaugrünen Küchenschränke als auch die Gesichter der versammelten Familienmitglieder. Die Schränke hatten sich nicht der Nekromantie schuldig gemacht. Meine Tante Hilda, die gerade am Herd stand, Rosmarin und Lavendel in einen Trank rührte und dabei leise vor sich hin sang, ebenfalls nicht.

Bei meinem Cousin Ambrose war ich mir nicht so sicher. Er saß mit angezogenen Beinen auf einer Bank und stopfte sich mit Sellerie voll. Sein Mund verzog sich zu einem fröhlichen Grinsen.

»Seht nicht mich an«, wehrte er zwischen zwei Bissen ab. »Ich bin so unschuldig wie Kain.«

Tante Zeldas Miene verriet, dass ihr Nervenkostüm gerade extrem dünn wurde. Meine Tante hatte das Baby, das sie in ihre Obhut genommen hatte, gestern zu einer Hexe im Wald gebracht. Bestimmt hatte sie deshalb nun diese extrem steife Haltung. Sie saß am Tisch, als hätte sie einen Besen verschluckt.

Ich stand auf und schlang Tante Zelda von hinten die Arme um den Hals. Liebevoll strich sie über meinen Unterarm – mit dem Zigarettenhalter.

»Ich weiß gar nicht, warum um den Jahreswechsel so viel Theater gemacht wird«, sagte ich. »Ihr sagt doch immer, das wäre nur ein Feiertag der Sterblichen.«

»Die Membran zwischen den Welten ist vom Julfest bis zum Dreikönigstag besonders dünn«, erklärte Tante Zelda. »Die Geister spitzen die Ohren, und es glauben so viele Sterbliche daran, dass mit dem Jahreswechsel ihr Schicksal eine neue Wendung nehmen wird, dass dadurch ein gewisser Druck auf die Welt ausgeübt wird. Zu dieser Jahreszeit kann das Pech an einem hängen bleiben wie eine Infektion. Ich habe große Pläne für unser aller Zukunft. Für das Schicksal unserer Familie ist es entscheidend, dass wir alle die korrekten Rituale durchführen und dass keinem von uns in den kommenden Tagen Fehler unterlaufen. Sonst ziehen wir vielleicht noch einen Unglücksgeist an, der uns das ganze Jahr über wie ein hungriger Wolf an den Fersen hängt.«

Ihre Stimme hallte durch die von Trankduftschwaden durchzogene Küche wie eine düstere Prophezeiung.

»Also, deinen unerschütterlichen Optimismus liebe ich ja am allermeisten an dir, Tante Z«, meinte Ambrose schließlich.

»Membran ist ein scheußliches Wort«, stellte ich fest. »Lasst es uns nicht Membran nennen.«

Tante Zelda warf Tante Hilda einen anklagenden Blick zu. Sie machte Hilda dafür verantwortlich, dass Ambrose und ich zu so respektlosen und unerträglichen Persönlichkeiten geworden waren.

»Die Glücksriten sind lustig, mein Schatz«, versuchte Tante Hilda mich zu ködern. »Wenn du am Silvesterabend einige Münzen auf das Fensterbrett legst, wirst du das ganze Jahr über Glück haben. Wenn du Zitronen an den Türrahmen hängst, wehrt das Pech und böse Geister ab. Kein Glas und keine Spiegel zerbrechen, sonst wird das Jahr für dich zur Katastrophe. Hab stets eine Eichel in der Tasche. Sage einem Freund niemals auf einer Brücke Lebewohl, sonst wirst du ihn nie wiedersehen. Hüte dich vor dem Schrei der Katze, und hoffe, dass ein Frosch über deine Schwelle hüpft. Und es heißt, der Jahresbeginn sei die beste Zeit, um eine neue Liebe zu finden.«

Tante Hildas Wangen röteten sich leicht. In letzter Zeit hatte sie viel über Dr. Cerberus geredet, den Inhaber des Buchladens, in dem sie arbeitete. Ich war mir sicher, dass Tante Zelda das nicht gut fand. Sie war der Meinung, Sterbliche und Hexen sollten sich voneinander fernhalten, dabei war meine Mutter eine Sterbliche gewesen und mein Vater ein Hexer. Und auch wenn Harvey und ich nicht mehr zusammen waren, glaubte ich doch, dass Liebe zwischen Sterblichen und Hexen möglich war.

Tante Hilda verdiente es mehr als jeder andere, glücklich zu sein und geliebt zu werden. Deshalb schenkte ich ihr nun ein ermutigendes Lächeln, das sie fröhlich erwiderte.

»Man sagt, wenn eine Hexe am Neujahrstag Anne Boleyn anruft, wird sie ihr einen Mann zuführen. Dazu muss man am frühen Morgen Richtung Horizont blicken und seinen Wunsch mit dem Wind aussenden: Lady Anne, Lady Anne, schick mir einen Mann sodann …«

»Ich habe schon einen Mann.« Ambrose warf sich ein Stück Sellerie in den Mund wie ein Seehund, der bei einer Show nach einem Fisch schnappt. »Aber falls Lady Anne darauf besteht, mir noch einen zu schicken, oder auch eine entzückende Grazie, werde ich sie willkommen heißen.«

»Eigentlich fand ich das schon immer komisch, dass wir Anne Boleyn anrufen«, überlegte ich. »Ich meine, klar, sie war eine der Pionierinnen auf dem Gebiet der Liebestränke, aber beim Thema Romantik hatte sie ja nun wirklich kein besonders glückliches Händchen.«

»Ein ziemlich glückliches Händchen. Sie hat einen König geheiratet«, befand Zelda. »Wofür sonst sollte man heiraten, außer um der Macht willen?«

Bei dem Wort Macht lief es mir kalt den Rücken herunter. Ich hatte meine Unterschrift in das Buch der Bestie gesetzt und damit Satan meine Seele überschrieben, um so an die Macht zu kommen, die ich gebraucht hatte, um die Dreizehn von Greendale zu besiegen. Damals hatte ich keine andere Möglichkeit gesehen, und doch wusste ich noch immer nicht, ob ich das Richtige getan hatte.

»Liebe?«, schlug ich vor. »Außerdem hat Heinrich VIII. Anne Boleyn den Kopf abgeschlagen.«

»Allerdings. Die Männer lieben Hexen, bis sie es dann irgendwann nicht mehr tun. Sterblichen Männern darf man ebenso wenig trauen wie der Liebe.« Tante Zelda schüttelte den Kopf, was ihre steifen Locken allerdings nicht in Bewegung versetzte. »Macht ist das einzig Wahre. Du solltest aus Lady Annes Fehler lernen und sicherstellen, dass niemals ein Mann Macht über dich gewinnt.«

Ich trommelte mit den Fingerspitzen auf Zeldas Stuhllehne herum und versuchte, nicht an mein gebrochenes Herz zu denken.

»Zum Beispiel die Macht, mir den Kopf abzuschlagen?«

»Lavendel ist blau, grün Rosmarin«, raunte Tante Hilda ihrem Trank fröhlich zu, ohne unsere Enthauptungsdiskussion zu beachten, »bist du der König, werd’ ich Königin.«

»Ganz genau«, bekräftigte Zelda. »Wir sollten jetzt gleich einen Vorsatz für das neue Jahr fassen. Wenn ihr aufhören könnt, von einer Katastrophe in die nächste zu stolpern, werde ich die Spellmans zu magischem Adel machen. Haben wir einen Deal?«

»Ich weiß nicht. Allerdings bin ich vor meiner Vorlesung noch auf einen Kaffee verabredet«, meinte ich. »Im Ortskern von Greendale hat eine Teestube aufgemacht. Ich treffe mich dort mit Roz.«

Sie hatte mich angerufen und um ein Treffen gebeten. Es hatte mich so glücklich gemacht, ihre Stimme zu hören. Hexen und böse Geister hatten Roz nicht vergraulen können – sie war noch immer meine beste Freundin. Roz und Susie hielten zu mir, auch wenn Harveys Liebe nicht stark genug war.

Tante Zelda hatte nicht unrecht. Die letzten Monate des scheidenden Jahres waren ziemlich hart gewesen, aber in der Finsternis und der Gefahr hatte ich gelernt, wem ich wirklich am Herzen lag und wie wertvoll diese Menschen für mich waren.

Der helle Glanz meiner Familie umgab mich wie eine warme, goldene Mulde im kältesten Wintereis. Es war nicht leicht, die gemütliche Küche zu verlassen, aber der Schnee hatte die Welt mit strahlender Reinheit überzogen, und meine Freundin wartete auf mich. Als ich die Haustür öffnete, glitzerte der mit Raureif überzogene Pfad durch den Wald, als wäre er mit Diamanten bestreut.

Nun war ich ganz und gar Hexe, mein Name stand in Satans Buch, meine Seele gehörte ihm. Ich hatte Angst gehabt, dass mich das zu einem bösen Wesen machen könnte, aber vielleicht gab es ja doch noch eine Möglichkeit, dem Weg des Lichts zu folgen. Ich wollte niemanden mehr enttäuschen. Niemals wieder.

»Halt dich einfach von jedem Ärger fern, bis das neue Jahr angebrochen ist!«, rief mir Tante Zelda hinterher. »Das solltest selbst du schaffen.«

OH HERR, WELCH NARREN DIESE STERBLICHEN DOCH SIND

27. Dezember, morgens

HARVEY

Die Brücke spannte sich wie ein weißer Bogen über den zugefrorenen Fluss, als hätte eine Hexenkönigin ihre bleiche Hand über das tosende Wasser gleiten lassen und es in Eis verwandelt.

Harvey fühlte sich so erfroren wie der Fluss. Egal wie oft er seinen Füßen befahl, sich zu bewegen, sie taten es nicht. Er brachte es einfach nicht über sich, diese Brücke zu überqueren.

Er hatte Roz gefragt, ob sie einen Spaziergang mit ihm machen würde – ohne ihr zu verraten, wohin er wollte –, aber Roz war bereits mit Sabrina verabredet. Dann hatte er in seiner Verzweiflung sogar seinen Dad gebeten, mit ihm über den Fluss zu gehen. Der hatte ihm befohlen, nicht länger Trübsal zu blasen, und vorgeschlagen, eine Runde Basketball mit ihm zu spielen.

»Ich weiß schon, dass du es nicht so mit Football hast«, hatte er gesagt. »Aber du wirfst im Sommer doch gerne mal ein paar Körbe, oder nicht? Da dachte ich mir, es wäre doch eine gute Idee, wenn du versuchst, ins Basketballteam zu kommen.«

»Äh … Ich glaube, das geht nicht«, war Harveys Antwort. »Nach der Schule gehe ich zu den WICCA-Treffen. Das ist der Klub für Frauenrechte, die Roz und Susie und …«

Er konnte Sabrinas Namen nicht aussprechen. Sein Dad kniff die Augen zusammen und musterte ihn verständnislos. Andererseits hatte er Harvey noch nie verstanden. »Du musst zum Treffen einer Gruppe von deinen Mädchenfreundinnen, die du jeden Tag siehst, um dort mit ihnen über den Kram zu reden, über den ihr ständig redet?«

Irgendwie hatte sein Dad da nicht unrecht.

»Da ist auch noch der Kunstkurs für Fortgeschrittene …«

Dad schnaubte abfällig. »Was sollen die Leute eigentlich in dir sehen, wenn sie dich anschauen?«

»Einfach nur mich«, antwortete Harvey.

Wieder ein Schnauben. »Das ist alles?«

Harvey wusste jedenfalls, was die Leute nicht in ihm sehen würden. Sie würden nicht Tommy sehen, Kapitän des Footballteams, ganzer Stolz seines Vaters. Tommy gab es nicht mehr, und plötzlich wollte sein Vater, dass Harvey Sport machte. Als wäre ein Harvey, der versuchte, eine schlechte Kopie von Tommy zu sein, immer noch besser als ein Harvey, der einfach er selbst war.

Tatsächlich war Harvey sogar kurz versucht, zum Basketball zu gehen, um seinem Dad diese Freude zu machen. Eine Freundin hatte er nicht mehr. Seine Freunde waren jetzt Sabrinas Freunde. Sein Bruder war für immer verloren. Nun hatte er niemanden mehr außer seinem Dad.

Ja, er wäre beinahe bereit, es zu tun. Aber er konnte nicht Ball spielen, ebenso wenig wie er diese Brücke überqueren konnte.

An Weihnachten hatte Sabrina seinen Dad mit einem Zauber belegt, damit er aufhörte zu trinken. Nun trank sein Dad tatsächlich nicht mehr, und das machte Harvey unglaublich wütend. Wenn die Magie ihn dazu bringen konnte, warum hatte sein Dad dann nicht von allein aufhören können? Warum hatte er dem Alkohol aufgrund von Magie abgeschworen, aber nicht seiner Familie zuliebe? Es hätte Tommy so glücklich gemacht, wenn ihr Vater trocken geworden wäre. So kam es Harvey vor wie ein schlechter Witz: Tommy war tot, und jetzt trank ihr Vater nicht mehr.

Er war so wütend auf seinen Vater. Er war so wütend auf Sabrina.

Unwillkürlich ballte Harvey die Fäuste und rammte sie in seine Jackentaschen. Die filigranen weißen Streben der Brücke verschwammen vor seinen Augen. Er stellte sich vor, wie sie sich in Knochen verwandelten, die in einer zerbrechlichen Konstruktion das Eis überspannten. Und in einer albtraumhaften Vision glaubte er zu sehen, wie er hinüberging und sie unter ihm wegbrachen.

Er konnte es nicht. Nicht heute. Als er sich abwandte, entdeckte er einige der Idioten aus seiner Klasse, die über die vereiste Straße auf ihn zu schlenderten. Ihr dumpfer Blick hellte sich auf, als sie ihn dort allein stehen sahen.

»Hey, Kinkle«, rief Billy Marlin. »Wo steckt denn der Rest deiner Tussengang?«

»Hi, Billy«, erwiderte Harvey. »Oh Mann, jetzt, wo ich dich hier sehe, fällt mir ein … Ich muss dringend weg.«

In einer so kleinen Stadt wie Greendale entschied sich das Schicksal eines Menschen bereits im Alter von fünf. Billy und seine Clique würden in Harvey immer nur den komischen Kunstnerd sehen, der nur mit Mädchen befreundet war, jedes Mal zusammenfuhr, wenn Susie Nasenbluten bekam, und einmal im Unterricht das Wort Chiaroscuro verwendet hatte. Und auch wenn Harvey längst nicht mehr der dünne Spargeltarzan von früher war, waren diese Typen sich sicher, dass er sich niemals verteidigen könnte oder würde.

Womit sie recht hatten. Susie und Sabrina waren die Kämpfer in ihrer Clique. Sabrina stürzte sich in verbissene Wortgefechte, während Susie einfach die Kontrolle verlor und sich auf ihr Gegenüber stürzte. Schon oft hatte Harvey sich überlegt, dass Roz und er wohl so groß geworden waren, um ihre kleinen, wutentbrannten Freundinnen besser zurückhalten zu können.

»Wenn ich dich sehe, fällt mir immer nur auf, was für ein totaler Loser du bist«, steuerte Billys Freund Carl zum Dialog bei.

»Na klar. Ich muss los«, konterte Harvey. »Hab noch eine wichtige Verabredung.«

»Mit wem denn?«, höhnte Billy. »Nach allem, was man hört, hat Spellman dich ja endlich abgesägt.«

»Eine wichtige Verabredung mit der Einsamkeit.«

»Wie tragisch«, fand Carl.

»Immer noch besser, als mit euch rumzuhängen«, erklärte Harvey achselzuckend. »Und tschüss.«

Er wollte sich an den Jungs vorbeischieben, aber Billy hielt ihn an dem voluminösen Ärmel seiner Fleece-gefütterten Winterjacke fest. Die schon leicht ramponierte Jacke, die an den Schultern spannte, war ein Erbstück seines Bruders.

Diese plötzliche Erkenntnis ließ Harvey innehalten. Die Typen in der Schule hatten ihn nie gemocht, ihn aber weitgehend in Frieden gelassen, denn er hatte immer unter dem Schutz seines großen Bruders gestanden. Tommy, der Footballheld, beliebt bei jedermann im Städtchen.

Tommy konnte ihn nun nicht mehr beschützen.

»Lass los«, verlangte Harvey zähneknirschend.

Billy zog weiter. Einen Moment lang glaubte Harvey, er müsse Billy schlagen.

Einen Moment lang wollte er es tun.

Dann rief jemand drüben an der Brücke: »Hey, Sterblicher!«

Entschlossen riss Harvey sich von Billy los und drehte sich zum Fluss um. Mit seinen dunklen Haaren und der schwarzen Kleidung sah Nick Scratch in der weißen Schneelandschaft aus wie ein Tintenklecks auf einem leeren Blatt Papier.

Entsetzt schloss Harvey die Augen. »Herr im Himmel.«

Dabei hatte er doch so gehofft, Nick niemals wiederzusehen.

Als er die Augen wieder öffnete, hatte Nick die Brücke überquert und kam zu ihnen herüber. Billy und die anderen stellten sich in Positur; offenbar hielten sie Nick für irgendeinen verweichlichten Fremdling in schicken Klamotten. Mit breiten Schultern stapfte Billy auf Nick zu.

Hastig schob sich Harvey zwischen die beiden.

»Tu ihnen nicht weh!«, rief er Nick zu.

»Äh … Wie bitte?« Billy klang vollkommen verblüfft.

Diese Typen waren Idioten, aber Harvey würde nicht mit ansehen, wie sie einem magischen Angriff ausgesetzt wurden. Das wäre nicht fair. Sie konnten sich schließlich nicht verteidigen.

Nick legte den Kopf schief. Schneeflocken legten sich wie feine Spitze auf seine Haare. Er schien Billy und die anderen erst jetzt zu bemerken.

»Geht weg, andere Sterbliche«, befahl Nick.

»Wer bist du überhaupt?«, raunzte Billy.

Nicks beinahe aber nicht ganz mitternachtsblaue Augen wurden schmal. »Ich bin der Typ, der dir befiehlt zu verschwinden. Und zwar jetzt.«

Wie jeder Schulhofschläger ließ sich auch Billy durch Selbstbewusstsein erst einmal aus dem Konzept bringen. Er schaute zu seinen Freunden hinüber, streifte Harvey mit einem herablassenden Blick und wandte sich dann mit einem fiesen Grinsen an Nick.

»Sonst tust du was, Großstadthonk?«

Nicks Lächeln war das eines bösartigen Engels. »Oh, ich werde …«

»Nein!«, protestierte Harvey.

Er stellte sich nun ganz vor Billy, sodass Nick ihn nicht mehr sehen konnte. Billy knurrte leise. Offenbar verlief sein heutiges Vorhaben, unschuldige Bürger zu drangsalieren, nicht ganz nach Plan.

»Ich werde dir ein Geheimnis verraten«, schlug Nick schließlich vor. Dabei sah er Harvey direkt an und nickte kurz.

Harvey ging beiseite. Immerhin war Billy schlau genug, leises Unbehagen zu empfinden, denn er trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

Nick packte Billy mit einer Hand am Kragen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es klang so, als wäre es nur ein einziges Wort. Harvey sah, wie sämtliche Farbe aus Billys Gesicht wich.

Billy taumelte rückwärts, fiel beinahe hin, fing sich im letzten Moment ab und rannte los. Seine Schritte waren unsicher, als wäre der Schnee tiefer, als es in Wirklichkeit der Fall war. Seine Freunde ließ er einfach zurück.

Nick breitete die Hände aus wie ein Bühnenmagier nach einem gelungenen Trick. »Wer möchte sonst noch ein Geheimnis erfahren?«

Die anderen Jungen ergriffen die Flucht. Wenige Sekunden später gab es nur noch Harvey, den Hexer und Fußspuren im Schnee.

»Freunde von dir?«, fragte Nick träge.

»Äh, nein. Bedroht man in deiner Schule etwa seine Freunde?«

Ohne dass sein selbstzufriedenes Grinsen verblasst wäre, antwortete Nick: »Nur die besonders engen. Haben sie dich belästigt?«

»So sind sie eben.«

»Und warum wolltest du dann nicht, dass ich sie mir vornehme?«

In gewisser Weise war Nick wirklich ein Fremder. Jemand, der eine komplett andere Sprache sprach. Was auch immer Harvey und er zueinander sagten, sie verstanden einander einfach nicht.

»Billy und seine Freunde wissen nicht, was du bist«, versuchte Harvey zu erklären. »Ich konnte nicht zulassen, dass sie verletzt werden.«

Nick sah ihn noch einen Moment verwirrt an, doch dann zuckte er mit den Schultern. Eventuelle Verletzungen Sterblicher waren offenbar völlig belanglos für ihn. »Erinnerst du dich an mich? Nick Scratch.«

»Nein, die Nacht, in der mein Haus von mordlustigen Geistern belagert wurde, ist mir komplett entfallen«, murmelte Harvey, um dann etwas lauter hinzuzufügen: »Hi, Nick.«

Er hätte ja gern gesagt: Schön, dich wiederzusehen. Aber das war es nicht.

Eigentlich hatte sich Harvey nie für sonderlich eifersüchtig gehalten. Aber ihm war auch klar, dass es an ihrer Schule kaum Konkurrenz gab, wenn es um Sabrinas Zuneigung ging. Sie selbst hatte die Schüler der Baxter High einmal als Sportfanatiker bezeichnet, deren Gehirne nur aus Beef Jerky bestanden, um dann noch hinzuzufügen, dass sie damit dem Beef Jerky definitiv unrecht tat.

Das hier war Konkurrenz. Genauer gesagt war es die klare Erkenntnis, dass er nicht mithalten konnte.

Was egal war. Sabrina war eine Hexe. Die Welt war zu einem Furcht einflößenden Ort geworden. Harvey wollte einfach nur nach Hause und wünschte sich so sehr, dort würde jemand auf ihn warten.

Nick schien das alles zu amüsieren. »Hi, Sterblicher.«

»Mir ist vollkommen schleierhaft, wie die Hexen es schaffen, ihre Existenz vor der Welt geheim zu halten, wenn sie ganz normale Leute ständig mit ›Sterbliche‹ ansprechen«, stellte Harvey fest. »Das ist nicht besonders raffiniert. Du kennst meinen Namen.«

»Du hast ja so recht, Harry.«

Langsam bekam Harvey Kopfschmerzen. Zwar hatte er schon gehört, dass Hexen böse waren, aber niemand hatte je erwähnt, dass sie einem auch noch den letzten Nerv raubten. »Was willst du, Nick?«

Er antwortete: »Sabrina.«

Eigentlich wusste Harvey gar nicht, warum ihn diese Antwort schockierte. Vielleicht war es einfach der Überraschungseffekt, weil Nick so gnadenlos direkt war.

Er holte tief Luft. »Okay. Na ja, Sabrina und ich sind nicht mehr zusammen. Wen sie also datet oder auch nicht, hat nichts mehr mit mir zu tun.«

»Ganz genau«, bekräftigte Nick missbilligend. »Ihr seid immer noch getrennt? Reiß dich mal zusammen, Sterblicher.«

In Harveys Gehirn schien es zu knacken wie in einer dünnen Eisdecke.

»Wie bitte?«

»Dein Verhalten ist lächerlich«, behauptete Nick.

»Mein Verhalten ist lächerlich?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass Sabrina dich liebt.«

»Äh … Ja, hast du«, gab Harvey zu.

»Deshalb dachte ich, wenn ich aus meinem Urlaub im Unheiligen Land zurückkomme, wärt ihr wieder zusammen. Aber meine Freundin sagte mir, dass dem nicht so ist und dass du nicht einmal Sabrinas Julgeschenk behalten wolltest. Könntest du mir bitte mal erklären, warum du so dämlich bist?«

»Ich habe Sabrina gefragt, ob wir wieder zusammenkommen können!«, brüllte Harvey. »Nachdem du mir das gesagt hattest, habe ich sie um einen Neuanfang gebeten, diesmal ohne Geheimnisse. Sie wollte nicht. Sie sagte, es wäre zu gefährlich für mich.«

Er wusste nicht einmal, warum er Nick das erzählte. Vielleicht, weil er sonst niemanden hatte, dem er es sagen konnte. Oder vielleicht, weil er wirklich dämlich war.

»Also: Sie liebt dich noch«, fasste Nick zusammen, »und du liebst sie noch.«

»Tut mir leid«, fiel Harvey ihm ins Wort, »aber inwiefern geht dich das überhaupt etwas an?«

Das schien Nick zu verblüffen. Unfassbar, da kam dieser Fremde einfach so vom Himmel gefallen und quetschte Harvey über sein Privatleben aus. Harvey hatte alles verloren, Nick war so dreist, ihm das auch noch reinzureiben, und nun tat Nick so, als wäre seine Reaktion eine Riesenüberraschung.

»Okay«, sagte Nick schließlich. »Ich sehe, wo das Problem liegt. Offenbar habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt: Ich bin bereit zu teilen.«

»Zu teilen?«, wiederholte Harvey. »Was zu teilen?«

In ihrem ganzen Gespräch war nichts aufgetaucht, das man hätte teilen können. Eigentlich hatten sie ja nur über eine Sache gesprochen, und die war keine Sache.

Harveys Verwirrung löste bei Nick offenbar Ratlosigkeit aus. Und Harvey wiederum starrte den Hexer mit aufkeimender Wut im Blick an.

»Du meinst doch nicht etwa … Sicher willst du nicht – Sabrina teilen?«

Inzwischen brüllte Harvey wieder. Mit einem hastigen Blick überzeugte er sich davon, dass die Typen vom Footballteam nicht mehr in Hörweite waren. Dass nirgendwo ein Mensch zu sehen war, beruhigte ihn genau so lange, bis ihm bewusst wurde, dass es Magie gab. Vielleicht konnten Tiere ja sprechen.

Unschuldige Babyeichhörnchen könnten mit anhören, was Nick Scratch hier von sich gab. Bestimmt waren die Babyeichhörnchen entsetzt.

Nick hingegen stellte zufrieden fest, dass Harvey es begriffen hatte: »Genau!«

»Ja, also …« Harvey zog seinen Rucksack höher auf die Schulter. »Sprich mich nie wieder an. Danke. Auf Nimmerwiedersehen.«

Kopfschüttelnd ging er davon. Was für ein kranker Scherz. Bislang hatte er geglaubt, Sabrinas Tanten wären exzentrisch – er hatte ja keine Ahnung gehabt.

Als Harvey zu Hause ankam, dämmerte es bereits, und der Schnee wurde grau wie Staub. Das Haus war kalt und dunkel, als er die Tür öffnete. Sein Vater war nicht da. Und Harvey glaubte auch nicht, dass er bald zurückkommen würde. Wenn sein Dad wütend war, zeigte er ihm immer die kalte Schulter. In eine Bar verschwand er jetzt wohl nicht mehr, aber vielleicht war er zum Schießen gegangen oder hatte eine Extraschicht in der Mine übernommen.

Nach dem Tod ihrer Mom waren Tommy und er übereingekommen, dass sie sich gegenseitig großziehen würden, da ihr Dad nicht in der Lage war, sich um sie zu kümmern. Von da an mussten sie ein Team sein. Also lernten sie, wie man Betten macht, wie man das Badezimmer putzt, wie man Abendessen kocht. Der elfjährige Tommy und der sechsjährige Harvey waren sich schnell einig, dass sie niemals lernen wollten, wie man Brokkoli oder andere eklige Sachen kocht, damit sie kein Gemüse mehr essen mussten. Mrs. Link von nebenan behauptete, das würde sich auf ihr Wachstum auswirken. Jahre später erinnerte Tommy sie einmal daran, begleitet von diesem Lachen, das andere immer dazu brachte, mit einzustimmen. Zu diesem Zeitpunkt waren beide Jungs bereits einen Kopf größer als ihr Vater, und Tommy meinte: »Ich denke, über unser Wachstum können wir uns nicht beschweren.«

Da sein Dad den Schnaps weggeschüttet hatte, hatte Harvey – sozusagen um das zu feiern – eine Lasagne gemacht; doch heute würden sie wohl nicht zusammen essen. Trotzdem setzte er sich noch eine Weile in die Dunkelheit und wartete, nur vorsichtshalber. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er beschloss, sich in sein Zimmer zu verziehen, wie er es immer machte, wenn sein Vater wütend war, und etwas zu zeichnen.

»Gute Nacht, Tommy.« Wie an jedem Abend während der letzten sechzehn Jahre rief er seinem Bruder einen Gutenachtgruß zu. Dann fiel ihm wieder ein, dass Tommy ja tot war. Er setzte sich an den Küchentisch, legte die Arme auf den Tisch und vergrub sein Gesicht darin.

Sein Vater machte sich ständig lustig darüber, dass Harvey so nah am Wasser gebaut hatte – er sei ein Baby, ein weinerliches Mädchen. Harvey hatte schon bei überwältigend schönen Sonnenuntergängen geweint; er hatte geweint, als Sabrina mit sieben von ihren Tanten auf einen Kurzurlaub mitgenommen wurde, weil er sie so vermisste; er hatte geweint, als der verletzte Babyvogel starb, den er gerettet hatte; er hatte beim Tod seiner Großtante geweint, die ihre Pfefferminzbonbons lieber gemocht hatte als Kinder. Beim Tod seiner Mutter hatte er an Tommys Schulter geweint, von wortloser Trauer zermalmt und doch sicher in den schützenden Armen seines großen Bruders.

Aber nicht diesmal.

Harvey hatte nicht um Tommy geweint. Er hatte überhaupt nicht mehr geweint, seit er die Waffe genommen und damit in Tommys Zimmer gegangen war, wo die leere Hülle seines Bruders im Bett lag und schlief. Die Erleichterung, die Tränen brachten, schien für ihn unerreichbar zu sein.

WENN HEXENKRAFT ENTFESSELT WIRD

27. Dezember, nachmittags

SABRINA

Die neue Teestube in der Stadtmitte war kurios, wenn auch vollkommen anders als der eher kitschig gestaltete Buchladen mit Café von Dr. Cerberus. Das Bischofstochter war wirklich eine ganz altmodische Teestube, in der die Scones und Kuchen auf viktorianisch blau gemustertem Porzellan und Etageren aus Messing serviert wurden. Hier standen selbst die allem Neuen gegenüber stets misstrauischen Bewohner von Greendale Schlange. Ich entdeckte so unerwartete Kundschaft wie die Sportskanonen der Schule, darunter auch Billy Marlin, und Mr. Kinkle mit seinen Minenkumpeln.

Die Inhaberin der Teestube war eine walisische Witwe namens Mrs. Ferch-Geg, die eine rot gepunktete Schürze trug und ihr blondes Haar zu einer so hohen Bienenkorbfrisur aufgetürmt hatte, dass sie sich ähnlich wie der Schiefe Turm von Pisa leicht zur Seite neigte. Laut ihrer Aussage hatte sie die unzähligen Eclairs in der Auslage alle selbst gemacht. Im Café herrschte ein ständiges Gemurmel von den Gesprächen der Gäste.

Wenn mein Treffen mit Roz doch bloß ebenso erfolgreich verlaufen würde wie die Eröffnung dieses Cafés. Normalerweise redeten wir nonstop, aber heute war unser Tisch die einzige Insel des Schweigens im ganzen Laden. Roz starrte mich so ängstlich an, als würde ich gleich mein Croissant verhexen.

»Äh … Und wie geht es dem Baby?«, fragte sie schließlich.

Meine Tante Zelda hatte in der Nacht der Dreizehn von Greendale die neugeborene Tochter unseres Hohepriesters entführt. An Weihnachten dann hatten wir Roz als Notfallbabysitter eingesetzt. Im Dezember war wirklich eine Menge los gewesen.

»Wir haben Leticia zu einer Waldhexe gegeben«, erklärte ich. »Zu ihrer eigenen Sicherheit.«

Erschrocken sah Roz mich an. »Laufen Adoptionen bei Hexen immer so ab?«

»Na ja, das war schon ein spezieller Fall.«

»Das sollte nicht abwertend klingen«, versicherte Roz hastig. »Ihr habt das bestimmt richtig entschieden. Ich war vorhin bei Susie. Sie ist immer noch ziemlich durch den Wind nach dieser Sache mit dem …«

Offenbar fiel es Roz schwer, das Wort auszusprechen. Sie drehte ihre leere Teetasse auf dem Unterteller, als würde sie in ihren zarten Porzellantiefen nach Inspiration suchen.

»Juldämon«, half ich ihr aus.

Der Juldämon hatte unsere Freundin Susie entführt. Ziemlich vertrackte Geschichte.

»Ja. Genau.« Roz stieß ein verkrampftes Lachen aus. »Sie meinte, deine Tanten und du, ihr hättet sie da rausgeholt. Das war gut.«

»Wenn du dich mit Susie getroffen hast …« Ich zögerte. »Hast du dann auch etwas von Harvey gehört? Weißt du, wie es ihm geht?«

Schweigen breitete sich aus, während Roz stirnrunzelnd in ihre Tasse starrte. Sie schien sich extrem unwohl zu fühlen.

Vermutlich ist es für alle schwer, wenn sich ein Pärchen in einer Clique trennt. Hoffentlich suchte Roz jetzt nicht nach den richtigen Worten, um mir so etwas mitzuteilen wie: »Harvey und ich machen ständig was zusammen! Und dann reden wir immer darüber, wie sehr er dich hasst. Und die Hexenkunst. Und Hexen. Und dich.«

»Ich habe Harvey schon länger nicht gesehen«, antwortete Roz schließlich. »Er hat angerufen und gefragt, ob wir zusammen spazieren gehen, aber da war ich schon mit dir verabredet. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir uns morgen treffen.«

Krampfhaft unterdrückte ich die aufkommende Eifersucht. Ich würde alles geben für einen Anruf von Harvey.

»Und, wie klang er am Telefon?«

Roz’ Blick hob sich vom Goldrand der Tasse. Die Augen hinter ihren dicken Brillengläsern, bernsteinbraun wie Tee ohne Milch, waren normalerweise immer ein wenig verträumt und warm. Heute nicht.

»Traurig. Harvey klang richtig traurig.«

Ich räusperte mich verkrampft. »Und wie geht es dir? Deinen Augen?«

»Nicht so toll«, erwiderte Roz knapp. »Hör mal, Sabrina, zu erfahren, dass ich meine Sehkraft verliere, weil eine Hexe einen meiner Vorfahren verflucht hat, war – heftig. Und ich glaube nicht, dass ich mit dir darüber reden möchte.«

»Aber wir sind beste Freundinnen«, wandte ich mit einem schockierten Blinzeln ein. »Wir sollten über alles reden können.«

Roz antwortete mit einer ungeduldigen Geste. Entweder schätzte sie die Bewegung falsch ein, oder ihre Sicht war schon so verschwommen, dass sie nicht genau wahrnahm, was wo stand. Jedenfalls schlugen ihre Tasse und der Unterteller aneinander und wären beinahe vom Tisch gefallen. Mit einem gemurmelten Zauber sorgte ich dafür, dass beides wieder aufrecht stand. Roz zuckte zusammen, als hätte sie das Klirren brechenden Porzellans gehört, das nie erklungen war.

Emsig kam Mrs. Ferch-Geg an unseren Tisch, um ihr Geschirr zu retten.

»Noch ein Tässchen?«, fragte sie mit ihrem singenden walisischen Akzent. »Oder ein Eclair? Ihr zwei unterhaltet euch ja prächtig, wie ich sehe.«

Roz’ Lippen bewegten sich stumm, dann presste sie sie aufeinander. »Eigentlich muss ich jetzt los.«

Mrs. Ferch-Geg nickte so resolut, dass ihre aufwendige Turmfrisur wackelte, und ging fort, um die Rechnung zu holen. Ich streckte die Hand über die gläserne Tischplatte und umfasste Roz’ Handgelenk.

»Der Fluch ist nicht meine Schuld.«

»Das weiß ich«, flüsterte Roz.

»Ich werde einen Weg finden, ihn aufzuheben und dir zu helfen, Roz. Das schwöre ich dir.«

Doch sie suchte bereits ihre Sachen zusammen. »Gib mir etwas Zeit, Sabrina.«

Als ich sah, wie sie herumtastete, um Mütze und Schal zu finden, brach mir beinahe das Herz.

Draußen vor dem Café versuchte sich Roz an einem Lächeln, scheiterte aber. Es fühlte sich an, als wäre unsere Freundschaft zu Boden gefallen und dort zerbrochen.

Ich hatte schon Harvey verloren. Ich wollte nicht all meine sterblichen Freunde verlieren. Mir war klar, dass ich sie nicht drängen durfte, aber so war ich nun einmal. Entweder bedrängte ich meine Freunde, oder ich ließ sie ganz in Ruhe. Irgendwie schaffte ich es nicht, einen Mittelweg zu finden, und ich wollte auf keinen Fall ohne sie sein.

»Lass mich dich wenigstens nach Hause begleiten.«

»Nein, Sabrina. Ich muss jetzt wirklich los.«

Ich sah zu, wie Roz eilig die Hauptstraße überquerte, und machte mir Sorgen; der Boden war vereist, und sie lief ziemlich schnell. Vielleicht wollten meine Freunde ja lieber ohne mich sein.

Sie schaute nach beiden Seiten, bevor sie rüberging, doch auf der anderen Fahrbahn näherte sich ein weißer Van. Als ich sah, wie Roz vor dem Wagen auf die Fahrbahn trat, wurde mir klar, dass sie ihn vor dem verschneiten Hintergrund nicht bemerkt hatte.

Sekundenbruchteile, mehr blieb nicht für die Angst. Der Van war viel zu schnell, die Straße vereist. Wenn ich mich teleportierte, wäre ich nicht schnell genug. Ohne nachzudenken, schrie ich eine Zauberformel.

»Das erleiden soll sie nicht, stell an ihre Stelle mich!«

Schneeflocken wirbelten auf wie in einer heftigen Böe, dann stand ich mitten auf der Straße, und der Van hielt direkt auf mich zu. Roz befand sich auf der anderen Straßenseite, in Sicherheit. Ich lächelte erleichtert.

»Die Szene hier ist mir zu dumm, drehe sie und kehr sie um«, murmelte ich. Die Reifen des Van drehten durch, und der Wagen geriet ins Schlingern. Während er an mir vorbeischlitterte, bemerkte ich den Schriftzug an der Seite: Capital Glass. Dann sah ich zu, wie der Van gegen einen Hydranten prallte.

Die Türen am Heck flogen auf, und die Ladung schoss explosionsartig heraus. Es war wie ein Wirbelsturm aus Glas. Funkelnde Scherben verteilten sich in der Luft und fielen in glitzernden Haufen vor meine Füße. Plötzlich stand ich quasi im Zentrum eines riesigen Kronleuchters. Es war, als ob hundert Fensterscheiben ringsum gleichzeitig zerbrachen.

Ich hatte keine Angst, verletzt zu werden. Schließlich war ich eine Hexe, und Tante Hilda und Tante Zelda ließen mich nie ohne Schutzzauber aus dem Haus. Doch während der Glasregen um mich herum niederging, hörte ich in meinem Kopf die Stimme meiner Tante, dröhnend wie eine warnende Glocke.

Kein Glas und keine Spiegel zerbrechen, sonst wird das Jahr für dich zur Katastrophe.

Roz kam auf mich zugerannt, und ein Großteil der Gäste aus der Teestube schob sich auf den Bürgersteig hinaus. Ich drückte Roz einmal an mich und sagte ihr, wie froh ich war, dass es ihr gut ging, dann verzog ich mich schnell, bevor jemand Fragen stellen konnte.

Ich hatte es so eilig, dass ich bei meinem Abgang beinahe den Direktor meiner alten Grundschule umrannte.

»Pass auf, wo du hinläufst«, sagte Mr. Poole leise. »Du kleine Hexe.«

Für einen Moment zögerte ich, da ich nicht sicher war, ob ich das richtig gehört hatte. Wie erstarrt stand ich allein in Eis und Glasscherben, während er in der Menge verschwand.

Als ich in der Akademie der Unsichtbaren Künste ankam, war ich noch immer etwas durch den Wind. Das Geräusch des brechenden Glases – erst ein lauter Knall, dann das melodische Klimpern, als alles herabregnete – verfolgte mich selbst dann noch, als ich durch die Gänge rannte. Meine Schritte hallten laut auf den Steinfliesen, als ob mir jemand auf den Fersen wäre.

Jetzt hatte ich keine Zeit, um mir über drohendes Unglück oder mies gelaunte alte Männer den Kopf zu zerbrechen. Ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen.

Die Hexenschule hatte während der Weihnachtszeit nicht so lange geschlossen wie die der Sterblichen, allerdings fand der erste Unterricht offiziell erst in ein paar Tagen statt. Das Böse ruht nicht, sagte Pater Blackwood oft und streng. Deshalb mussten wir, auch wenn es noch keine Kurse gab, bereits Vorlesungen besuchen. Außerdem hatten wir über die Julfeiertage einige Hausaufgaben bekommen. Eine davon musste heute abgegeben werden. Schwester Jackson, die mieseste meiner Lehrerinnen, hatte uns ein riesiges Projekt aufgedrückt und dann vorgeschlagen, dass wir in Zweiergruppen arbeiten sollen. Natürlich wollte sich niemand mit der Halbsterblichen zusammentun. Das hatte mich über die Jultage einige schlaflose Nächte gekostet, sonst hätte ich die Arbeit allein nie fertiggekriegt.

Nun verzog sich Schwester Jacksons Mund wie ein unter zu viel Gewicht verbogener Draht, als ich zur Tür hereinstürmte.

»Ah, Sabrina«, sagte sie. »Das wurde aber auch Zeit. Ich nehme an, Sie haben Ihre detaillierte Analyse des Skandals um Antipapst Johanna mit all seinen Folgen und Auswirkungen dabei?«

Mit einem trotzigen Lächeln öffnete ich meinen Rucksack. »Würde ich es sonst wagen, mich hier zu zeigen?«

»Wer weiß? Wie ich bereits feststellen konnte, neigen Sie ja zu unklugen Entscheidungen. Ganz wie der Rest der renitenten Spellman-Sippschaft.«

Hastig suchte ich zwischen meinen Büchern nach dem gebundenen Essay. Eigentlich hätte es ganz oben liegen müssen, aber es war nirgendwo zu sehen.

Pures Entzücken ließ Schwester Jacksons Gesicht aufleuchten. Wie ein Geier über einem sterbenden Esel stand sie selbstzufrieden hinter mir, während ich auf dem Steinboden des Klassenzimmers kniete und verzweifelt nach meinem Essay suchte. Irgendwann kippte ich sogar den ganzen Rucksack aus. Der Aufsatz war nicht da.

Mein Blick wanderte von dem chaotischen Bücherhaufen vor mir zu den dicht besetzten Stuhlreihen. Zu diesen Vorlesungen kamen auch Schüler aus dem Jahrgang über mir, von denen ich drei auf Anhieb erkannte. Früher hätte ich Prudence Night und ihre Unheimlichen Schwestern in Verdacht gehabt, meine Hausaufgabe versteckt zu haben, um mir einen Streich zu spielen, aber das miese magische Trio und ich kamen in letzter Zeit eigentlich besser miteinander aus. Im Moment beobachtete Prudence mit königlicher Haltung und einem Hauch von Interesse in den dunklen Augen das Geschehen. Doch da war keine Spur von der niederträchtigen Schadenfreude, die sie sicher gezeigt hätte, wäre das ihr Werk gewesen.

Nein, das hier war wohl kein Streich von Prudence. Was nichts an der Tatsache änderte, dass mein Aufsatz verschwunden war, Schwester Jackson mir mit bösartiger Gier im Nacken saß und nirgendwo Hilfe in Sicht war.

Bis plötzlich hinter mir eine Stimme ertönte.

»Sabrina und ich haben das Projekt zusammen gemacht«, behauptete Nick Scratch, was eine glatte Lüge war.

Ich fuhr in meiner doch recht würdelosen Hockstellung auf dem Boden herum. Nick hatte die Lippen zu einem Lächeln verzogen, das einerseits entwaffnend, andererseits aber auch höchst beunruhigend war. Mit großer Geste zog er einige in rotes Prägeleder gebundene Seiten hervor und überreichte sie Schwester Jackson.

Sichtlich enttäuscht murmelte Schwester Jackson, dass Nick und ich zu spät gekommen wären.

»Sündhaftigkeit ist das eine, Nicholas, Unpünktlichkeit etwas ganz anderes. Sie dürfen sich setzen.«

»Ich war so von Sündhaftigkeit erfüllt, dass ich die Zeit vergessen habe«, murmelte Nick und signalisierte mir, mich neben ihn zu setzen.

Er wickelte sich einen langen, schwarzen Schal vom Hals und schälte sich aus seiner Jacke. In seinen ebenholzschwarzen Haaren und auf seinen Schultern lagen halb geschmolzene Schneeflocken, die noch einmal funkelten, bevor sie wie Sterne am frühen Morgen verblassten. Ich setzte mich auf den Platz neben ihm.

Anscheinend hatte ich auch all meine Stifte vergessen, doch ein bleicher Junge auf der anderen Seite vom Gang borgte mir einen Bleistift.

Als die Vorlesung von Schwester Jackson endlich beendet war, stand ich hastig auf und raunte Nick verstohlen zu: »Das hättest du nicht tun müssen.«

»Wollte ich aber.«

Die anderen Schüler schlenderten nach und nach aus dem Raum. Angespannt drückte ich meinen Rucksack an die Brust, während Nick seinen auf die Schulter hob und mit mir auf den Flur hinaustrat. Dort blieb er seelenruhig stehen, als hätte er sonst nichts zu tun.

»Glaub mir, Nick, ich habe diese Hausaufgabe gemacht.«

»Aber sicher hast du das. Du scheinst mir nicht der Typ zu sein, der bei den Hausaufgaben schlampt.«

»Klar, ich bin schließlich kein Sünder«, betonte ich, was ihn schmunzeln ließ.

Das war nicht das strahlende Lächeln, das er für die Lehrer aufsetzte. Nein, es war unauffälliger, wärmer, irgendwie etwas Privates zwischen uns.

»Genau. Du hältst dich nicht mit kleinen Regelverstößen auf, was, Spellman? Du bist eine Rebellin im großen Stil. Der Diebstahl verbotener Bücher und nekromantische Zauberei, drunter tust du’s nicht. Mach es richtig oder mach Hausaufgaben. Deine neue Haarfarbe ist übrigens ziemlich sexy.«

»Oh.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Eigentlich hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, ob meine neue Haarfarbe sexy war oder nicht. Ich wusste ja nicht einmal so genau, ob ich sexy war. Alles in allem hoffte ich es natürlich.

Nick war definitiv sexy. Was ich ihm aber auf keinen Fall sagen würde.

Mit einem vorsichtigen Lächeln antwortete ich: »Äh … Danke. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich sie behalten werde. Vielleicht färbe ich sie auch wieder um.«

Nachdem ich meine Seele verpfändet hatte, waren meine Haare so weiß geworden wie der Schnee draußen. Richtig schlecht sah es nicht aus, aber irgendwie war es beunruhigend. Und ich hatte es immer wundervoll gefunden, dass meine Haare dieselbe Farbe hatten wie die meiner Mutter auf den Fotos. Zum Julfest hatte ich den Geist meiner Mutter heraufbeschworen. Sie war eine wunderschöne Frau mit blondem Haar gewesen, sterblich und liebevoll. So ganz anders als ich.