China an seinen Grenzen - Matthias Messmer - E-Book

China an seinen Grenzen E-Book

Matthias Messmer

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Beschreibung

Wer China verstehen will, muss mehr kennen als die Ostküste und die großen Metropolen, muss vordringen in die Peripherie. Matthias Messmer, der als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung 10 Jahre in China lebte, und seine Kollegin Hsin-Mei Chuang haben sich deshalb auf eine ungewöhnliche Reise an die Ränder dieses riesigen Landes begeben: an die Grenzen zu Nordkorea und Russland, zur Mongolei, zu Indien, Nepal und Bhutan, zu den zentralasiatischen Ländern an der Seidenstraße, zu Myanmar, Vietnam, Laos und zu Staaten im Südchinesischen Meer. Sie haben mit Menschen gesprochen, Erinnerungsorte besucht, geschichtliche Hintergründe aufgearbeitet und nicht zuletzt Stimmungen mit der Kamera eingefangen. Entstanden ist ein einzigartiges Bild Chinas abseits der großen Metropolen, das eine ganz neue Sicht auf dieses so vielseitige wie schwer fassbare Land ermöglicht. Ein ungewöhnliches, atmosphärisches Reisebuch und zugleich eine unbestechliche politisch-historische Analyse.

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Seitenzahl: 523

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Matthias Messmer / Hsin-Mei Chuang

China an seinen Grenzen

Erkundungen am Rand eines Weltreichs

Mit 48 Abbildungen und 13 KartenAus dem Englischen übersetzt von Ingrid Fischer-Schreiber

Reclam

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Matthias Messmer

Fotografien im Innenteil: Matthias Messmer

Karten: Hsin-Mei Chuang

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961434-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011201-4

www.reclam.de

Inhalt

VorwortEinführungDie Vergangenheit stirbt nieEin Projekt für die globale VormachtstellungSinozentrismusErinnerungen und Stimmen aus fernen WinkelnDie Last der GeopolitikDie Magie der Grenzgebiete»Wir« und »die Anderen«Die Soft Power eines HahnsNationale Erniedrigung – Wahrheit oder Propaganda?Darf es kein Nichts in der Geschichte geben?Das verwöhnte Kind mit der Zeitbombe: NordkoreaDurch Flüsse getrennt, durch Geschichte verbundenOhne Lippen frieren die ZähneRevolutionäre Bande in der modernen Welt»Wir mögen sie vielleicht nicht, aber sie sind unsere Nachbarn«Reisen für NeugierigeKnacknuss: Rettungsboot oder Plünderer?Rivalität zwischen Drache und Bär: RusslandVerträge für Handel und GewerbeRevolutionen, Kriege und IdeologienDas chinesisch-sowjetische Zerwürfnis und die russische DiasporaEine neue Ära des »Divide et impera«?Reisen für NeugierigeKnacknuss: Kann Moskau den chinesischen Landhunger in Fernost einhegen?Phantomschmerzen hinter der Großen Mauer: MongoleiGrassierende SinophobieWandernde GrenzenDas Dilemma der Inneren MongoleiGrenzübergreifender Streit um Dschingis KhanReisen für NeugierigeKnacknuss: Die »mongolische Frage« – ein Paradox chinesischer Geschichtsschreibung?Warum Xinjiang nicht Uiguristan werden darf: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan, PakistanEin Pulverfass mitten auf der Neuen SeidenstraßeDie Internationalisierung der Xinjiang-FrageKasachstan: radikale RealpolitikKirgisistan: Rohstoffe gegen Investitionen?Tadschikistan: Territorium gegen GefälligkeitenAfghanistan: Friedhof der WeltmächtePakistan: Der ewige Allwetter-Verbündete?Terra incognita? Nicht vor 1949Reisen für NeugierigeKnacknuss: Ruf des Muezzins oder Reiz der Partei?Geopolitisches Spiel im Himalaja: Indien, Nepal, BhutanHindi-Chini bhai-bhai: Brüderlichkeit auf dünnem EisGrenzlinien und die Politik des Nicht-VerhandelnsDer letzte TropfenDer Krieg von 1962Jenseits von GrenzstreitigkeitenDas asiatische Jahrhundert: Romanze oder Antipathie?Nepal und Bhutan: Spielwiesen für Indien und ChinaNepal, ein Fähnchen im WindBhutan und seine ökonomische PilgerfahrtSzenarien für die ZukunftReisen für NeugierigeKnacknuss: Die östliche Zivilisation – ein vergangener Traum?Opium und regionale Kleptokraten: MyanmarDie Rache der GeografieOpium und die China-VerbindungRückständig und entwicklungsbedürftig»Unerklärte Kolonie von Yunnan«?Burmesische EinsamkeitReisen für NeugierigeKnacknuss: Die Gestaltung von Chinas Grenzen: Pax Sinica – quo vadis?Kommunistische Brüder im Schatten: Vietnam und LaosDie Schattenseiten eines wohlwollenden MentorsKulturelle Sensibilität und Stolz auf eigene IdentitätVon »brüderlichen Genossen« zu erbitterten GegnernLaos: Zwischenhalt auf dem Weg nach Singapur?Reisen für NeugierigeKnacknuss: Asiens Wassertürme im Würgegriff des durstigen Drachen?Unsichere Gewässer und strategische Stützpunkte: das Chinesische Meer und darüber hinausEin Riese und viele ZwergeStreitigkeiten über maritime Gebiete und territoriale SouveränitätMeer der Fischer, Händler und wokouEine Große Mauer aus SandChinas »Taiwan-Frage«BambusnetzwerkÜberseewaisenFragile StabilitätenDie Macht der VieldeutigkeitReisen für NeugierigeKnacknuss: Wie weit wird der Drache schwimmen?Epilog: Zur Entstehung des BuchesLiteraturhinweiseEinführungDas verwöhnte Kind mit der ZeitbombeRivalität zwischen Drache und Bär: RusslandPhantomschmerzen hinter der Großen Mauer: MongoleiWarum Xinjiang nicht Uiguristan werden darf: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan, PakistanGeopolitisches Spiel im Himalaja: Indien, Nepal, BhutanOpium und regionale Kleptokraten: MyanmarKommunistische Brüder im Schatten: Vietnam und LaosUnsichere Gewässer und strategische Stützpunkte: das Chinesische Meer und darüber hinausÜber die Autoren

Vorwort

Betrachte die Vergangenheit, die großen Veränderungen so vieler Reiche; daraus kannst du auch die Zukunft vorhersehen.

(Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen, Kapitel 7)

Dieses Buch entstand aus der Leidenschaft zweier AutorInnen heraus – einer stammt aus einem winzigen Land in Mitteleuropa, die andere von einer noch etwas kleineren Insel im Pazifik. Wir wollen darin das historische Erbe an den Rändern gelegener Kulturräume und marginalisierter Lebensweisen nachzeichnen, um so die unsichtbaren Knoten zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu entwirren. Nachdem wir fast ein Jahrzehnt in China gelebt und häufig in dessen Nachbarländer gereist waren, sind wir überzeugt davon, dass der Aufstieg Chinas als Weltmacht völlig neue Möglichkeiten und Herausforderungen für die Welt schafft. Es ist höchste Zeit, dass sich ein internationales Publikum so objektiv wie möglich mit den wichtigsten Fragen auseinandersetzt, die mit dieser globalen wirtschaftlichen und geopolitischen Machtverlagerung zusammenhängen.

In den letzten Jahren haben brillante Wissenschaftler, politische Berater mit Insiderwissen und neugierige Journalisten Hunderte von Büchern und Artikeln über den Aufstieg Chinas geschrieben. Ihre Ideen und Meinungen haben uns sehr geholfen: Ohne sie hätten wir kein solides Fundament für unseren eigenen Band. Warum aber wollen wir der ohnehin schon umfangreichen Sammlung von Literatur zu diesem Thema noch etwas hinzufügen?

Wir sind überzeugt, dass unsere gemischte Autorenschaft den Lesern in vielerlei Hinsicht zugutekommt. Erstens beschäftigen wir uns mit diesem Thema aus asiatischer und westlicher Sicht. Zweitens haben uns unsere unterschiedlichen akademischen und kulturellen Hintergründe dazu veranlasst, einen ungewöhnlichen Ansatz zu wählen. Drittens sind wir mit keiner Institution verbunden, also fällt unsere Arbeit in die Kategorie der unabhängigen Forschung. Viertens wollen wir beide unseren unersättlichen Durst nach Neuem stillen, was dieses Buch zu einer nützlichen Quelle für Leser mit unterschiedlichsten Interessen macht. Schließlich, und das ist das Wichtigste, fühlen wir uns bei allen unseren Erkundungen und beim Schreiben in erster Linie den menschlichen Aspekten dieses Themas verpflichtet. Jenseits von Geschichte und Politik stehen hinter Konflikten und Kriegen immer individuelle Leben und Schicksale, die uns faszinieren und im Inneren berühren. Wir hoffen, unseren Lesern ein lebendiges Erlebnis zu vermitteln und ihr Mitgefühl für die von den Wechselfällen der Weltpolitik betroffenen Menschen zu wecken. In einer sich rapide verändernden, schnelllebigen Welt, in der Gefühle oft als überflüssig gelten, bietet dieses Buch die Möglichkeit, vor allem die menschliche Dimension von Chinas Aufstieg zu begreifen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass dieses Buch eine Vielzahl von Themen behandelt. Es untersucht einen Prozess, den der bekannte französische Gelehrte und Politiker Alain Peyrefitte einmal im Titel eines seiner Bücher zusammengefasst hat: Wenn sich China erhebt … erzittert die Welt. Seine 1973 geäußerten Ansichten haben sich als vorausschauend erwiesen. China an seinen Grenzen geht den Wurzeln des Aufstiegs Pekings zur Weltmacht aus den Überresten seines imperialen Erbes nach und diagnostiziert Chinas aktuelle Situation bzw. Stimmung. Besonderes Augenmerk legen wir auf die Auswirkungen der Weltpolitik in Regionen fernab von der Zentrale der Kommunistischen Partei Chinas. Anstatt uns auf die Diskussionen zu konzentrieren, die in den üblichen politischen Hotspots geführt werden, wenden wir uns in die »entgegengesetzte Richtung«, den äußersten Grenzen des Landes zu. Diese Gebiete mögen manchmal isoliert erscheinen, aber sie sind zwangsläufig »international«.

In diesem Buch geht es unter anderem um das Zusammenspiel von Geopolitik und Kulturgeschichte. Grenzgebiete sind Orte, an denen jedes Ereignis Auswirkungen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen hat, und sie sind oft die ersten, an denen Veränderungen in der Geopolitik nachvollziehbar werden. In einigen dieser Regionen scheint die Weltpolitik der Vergangenheit anzugehören, während sie in anderen immer wichtiger wird. Egal wie oft sich das politische Zentrum Chinas im Laufe der Jahrhunderte verschoben hat, die Grenzgebiete als Ganzes waren und bleiben für jedes Regime in Peking eine heikle Angelegenheit.

Nachrichten im Zusammenhang mit Chinas Aufstieg erreichen uns jede Woche und aus allen Richtungen, seien es die nukleare Bedrohung aus Nordkorea vor der Haustür Chinas, die Gebietsstreitigkeiten im Südchinesischen Meer oder das Säbelrasseln im Himalaja. Nur selten sind wir in der Lage, diese Ereignisse richtig einzuordnen und ihre Auswirkungen und Implikationen zu verstehen, da der historische Hintergrund für westliche Leser nicht immer leicht zugänglich ist. Sich der Zukunft über die Vergangenheit anzunähern – das scheint uns eine passende Beschreibung unseres Ansatzes zu sein. China an seinen Grenzen ist eine umfassende Darstellung und Diskussion der Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn. Obwohl dieses Buch keine Enzyklopädie ist, enthält es doch spezifische Merkmale eines derartigen Referenzwerks.

Der Leser erfährt viel über die Prinzipien der chinesischen Außenpolitik im Laufe der Jahrzehnte, über Muster des strategischen Denkens und des historischen Selbstverständnisses sowie über die Rolle von Propaganda, Sicherheit, Nationalismus und Erinnerungskultur bei der Gestaltung dieser Dinge. Einige Formulierungen in diesem Buch, wie »Projekt Welteroberung«, imitieren sensationelle Medienschlagzeilen, während andere, wie beispielsweise »Die Last der Geopolitik«, sich auf ernsthafte wissenschaftliche Forschungen über Chinas Aufstieg beziehen. Solche Ausdrücke sollen uns helfen, das Phänomen zu verstehen und zwischen gedachten Ängsten und realen Gefahren zu unterscheiden. In diesem Buch versuchen wir, solche Phrasen nur hier und da zu verwenden, um die Geduld unserer Leser nicht zu strapazieren. Da sich das Buch an ein breites Publikum richtet, haben wir auf Fußnoten verzichtet, aber für jedes Kapitel eine ausführliche Bibliographie beigefügt.

China an seinen Grenzen besteht aus einer Einführung und acht geografisch geordneten Kapiteln, die mit der chinesisch-nordkoreanischen Grenze beginnen und sich gegen den Uhrzeigersinn in Richtung der chinesischen Seegrenzen bewegen. Es endet mit Bemerkungen zur Entstehung des Buches, die dem Leser Einblicke in unsere Planung, Recherche und die Forschungsreisen geben, aufgrund derer wir dieses Buch schrieben. Jedes Kapitel beginnt mit einem einführenden Abschnitt, der den historischen, politischen und kulturellen Kontext der Beziehungen Chinas zum jeweiligen Nachbarland bzw. den jeweiligen Nachbarländern darstellt. Dieser Analyse folgen eine oder mehrere Reisereportagen (»Reisen für Neugierige«) – manchmal in chinesischen Grenzgebieten, manchmal auch weiter entfernt in einem Nachbarland –, die das Gesamtbild der internationalen Beziehungen einfangen und dem Leser einen authentischen Einblick in einen Ort oder eine Region bieten. Eine Karte in jedem Kapitel zeigt die Orte, die wir besucht haben. Abgeschlossen wird jedes Kapitel mit einer »Knacknuss«, wie man das in der Schweiz nennt: In diesen Abschnitten stellen wir ein wichtiges kontroverses Thema vor, das die Beziehung von China zu dem jeweiligen Nachbarland (oder den Nachbarländern) charakterisiert, um dem Leser Denkanstöße zu geben.

Mit Hilfe einiger Bilder wollen wir für unsere Leser dieses politische Thema auch visuell ansprechend aufbereiten. Wir sind überzeugt, dass vernachlässigte und verborgene Geschichten am ehesten durch die Einbeziehung von Fotografien nachvollziehbar werden, und wir hoffen, mit ihrer Hilfe die Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst – oder zwischen Wissen und Sensibilität – zu überbrücken. Während das Buch eher das Ergebnis intellektueller Arbeit ist, soll die Fotografie mehr Gefühle vermitteln.

Ein letztes Wort statt einer Zusammenfassung: In China an seinen Grenzen geht es nicht darum, konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen oder einer politischen oder ideologischen Agenda zu dienen. Wir sind keine außenpolitischen Strategen, und wir sehen Vorhersagen nicht als unsere Aufgabe an. Aber aufgrund unserer langjährigen Beschäftigung mit dem Thema glauben wir, dass Chinas Aufstieg wahrscheinlich weniger friedlich verlaufen wird, als es seine Führung verkündet und hofft. Das liegt nicht unbedingt daran, dass China eine territoriale Expansion anstrebt (wie im Südchinesischen Meer), sondern daran, dass China und seine Nachbarn sich gegenseitig vor Herausforderungen stellen, die die Region auf unbestimmte Zeit dominieren werden. Ob es uns gefällt oder nicht.

Einführung

Fast jeder hat bereits von den historisch belasteten Beziehungen zwischen Japan und China, von Nordkoreas nuklearen Ambitionen und deren potenziellen Gefahren für China oder auch von Chinas wachsendem Einfluss auf seine Nachbarn gehört. Aber nur den wenigsten sind etwa die heftig umkämpfte Insel Zhenbao (Russisch: Damanski) im Ussuri in Russlands Fernem Osten, die verlassenen Spielhöllen von Daluo an der Grenze zwischen China und Myanmar oder die weitreichenden touristischen Pläne für die umstrittene Yongxing Dao (Woody-Insel) im Südchinesischen Meer ein Begriff. Diese und andere entlegene, exotische Orte spielen eine wichtige Rolle beim Aufstieg Chinas zur Weltmacht. Deshalb stehen sie im Mittelpunkt dieses Buches.

China an seinen Grenzen handelt von Chinas Grenzen und seinen Nachbarn, und zwar sowohl im geografischen als auch im übertragenen Sinn. Geografisch erkunden wir Chinas Grenzregionen. Dabei handelt es sich um mehr als nur dünn besiedelte, von Minderheiten bewohnte Randgebiete, denn sie haben sich im Laufe der Zeit auch zu »gelobten Ländern« entwickelt, die neue Ressourcen und Chancen verheißen. In diesen Gebieten können wir buchstäblich mitverfolgen, wie Chinas Ambitionen, seine Ideologie und seine Territorialansprüche an ihre Grenzen stoßen, denn dort stellen die Ängste und das Misstrauen der Nachbarn Chinas Rolle als aufstrebende Großmacht [daguo] auf eine harte Probe.

Mit diesem Buch wollen wir den Lesern vor allem die Komplexitäten und Widersprüche vermitteln, mit denen China bei seinem ehrgeizigen Aufstieg zur Supermacht zu kämpfen hat. Wie auch unser früheres Buch China’s Vanishing Worlds beschäftigt sich diese Studie mit den Randzonen dieses großen Landes. Und auch hier zeigen wir, dass Ereignisse, die in weniger bekannten Gegenden des Landes stattfinden, einen weiterreichenden Einfluss haben, als ihr marginaler Status es vermuten lassen würde.

Die Vergangenheit stirbt nie

Die Leser dieses Buches werden bald merken, dass wir weder ein rein akademisches Buch noch einen detaillierten Reisebericht über einige der entlegensten Gebiete an Chinas Grenzen schreiben wollten. Da wir selbst viele Jahre in der akademischen Welt verbracht haben, wissen wir, wie wenig gewisse im Hörsaal diskutierte Themen mit der »echten Erfahrung« gemein haben. Hinter einem Buchtitel à la »Chinas Beziehungen mit seinen Nachbarn« würde der Leser wahrscheinlich ein trockenes Kompendium von Fakten und Zahlen vermuten, das weder Atmosphäre noch Lebensstile vermitteln und auch keine Nahaufnahmen von Menschen und ihrer Umgebung bieten kann. Unser Ziel ist es aber, ein lebendiges, persönlicheres, »menschlicheres« Porträt dieses großartigen Landes zu zeichnen.

Orte wie Nomonhan (Mongolisch: Gaqaa Nomhan Burd) an der früheren mandschurisch-mongolischen Grenze oder Kokang, ein von ethnischen Chinesen bewohntes Gebiet an der Grenze zwischen China und Myanmar, sind vor allem Historikern, Ethnologen und Anthropologen ein Begriff, aber außerhalb akademischer Kreise praktisch unbekannt. Mit einem anschaulicheren und individuelleren Ansatz wollen wir nicht nur Experten, sondern auch andere neugierige Leser auf außergewöhnliche historische Episoden und Kontexte hinweisen, da sie alle in unmittelbarem Zusammenhang mit dem aktuellen Aufstieg Chinas stehen. Wir sind keine Untergangspropheten, aber man muss sich schon des Umstands bewusst sein, dass (geo)politische Pyrotechnik eine Bedrohung darstellen kann, die knapp unter der Oberfläche lauert. Wie William Faulkner gesagt hat: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.«

Dieses Buch versucht auch zu erklären, warum zum Beispiel der vietnamesische Revolutionsführer Ho Chi Minh nach wie vor oft mit folgendem Ausspruch zitiert wird: »Was mich angeht, ziehe ich es vor, fünf Jahre französischen Mist zu riechen, als für den Rest meines Lebens chinesisch zu essen.« Wir wollen auch wissen, unter welchen Umständen der russische Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn in Zeiten der Sowjetunion vorausgesagt hat, dass ein Krieg mit China die UdSSR im besten Fall 60 Millionen Tote kosten würde – die besten Köpfe würden dabei zugrunde gehen. Heutzutage klingen diese Warnungen wie verzweifelte Schreie aus einer fernen Vergangenheit, aber viele Menschen erinnern sich daran, wenn vom Aufstieg Chinas oder, um den populären Slogan der chinesischen Regierung zu zitieren, vom »chinesischen Traum« [Zhongguo meng] die Rede ist.

China grenzt aktuell an 14 souveräne Staaten – damit hat es mehr Nachbarn denn jedes andere Land, abgesehen von Russland. Chinas rund 22 000 Kilometer lange Landgrenze ist die längste der Welt, dazu kommen noch einmal 15 000 Kilometer Seegrenze. Falls diese Zahlen alleine nicht reichen sollten, um die Komplexität der Situation ahnen zu lassen, hilft vielleicht ein genauerer Blick auf einige damit verbundene Fragen. Es stimmt, dass alle offenen Grenzstreitigkeiten in den letzten Jahren beigelegt wurden – mit den Ausnahmen von Indien und Bhutan. Aber obwohl viele der Konflikte in chinesischen Grenzgebieten Relikte aus der Vergangenheit sind, werfen sie noch immer einen Schatten auf die Gegenwart.

China an seinen Grenzen beleuchtet daher nicht nur historische Ereignisse, sondern untersucht auch die aktuelle Situation und die jüngsten Entwicklungen in den Grenzregionen: Wie schaut zum Beispiel der typische Alltag an einer Grenze aus, die zwei Länder trennt, die nach landläufiger Meinung am Rande eines Nuklearkriegs standen, wie beispielsweise China und die ehemalige Sowjetunion? Haben die jahrhundertelangen Streitereien zwischen China und Vietnam Spuren in der Grenzlandschaft zwischen diesen beiden sozialistischen Ländern hinterlassen? Wie wirken sich die engen Beziehungen zwischen Pakistan und China auf die Minderheiten in der Unruheregion Xinjiang aus? Ist der Chinesisch-Französische Krieg der 1880er Jahre noch von Belang für Chinas aktuelles geopolitisches Denken?

Das vorliegende Buch soll nicht nur Einblicke in die aktuelle Situation in den Grenzregionen Chinas vermitteln, sondern auch in die Beziehungen Chinas zu den angrenzenden Ländern. Aber eines muss von Anfang an klargestellt werden: Es ist kein Buch über die diplomatischen Beziehungen zwischen China und seinen Nachbarn. Sicher, manchmal benutzen wir in der Diskussion rund um Chinas Aufstieg Schlüsselbegriffe wie »Perlenkette« (string of pearls), einen Begriff, der sich auf das Netzwerk chinesischer Militär- und kommerzieller Basen im Indischen Ozean bezieht, oder »amerikanische Schwerpunktverlagerung nach Asien« (US pivot to Asia). Im Wesentlichen jedoch bietet dieses Buch Einblicke in einige vernachlässigte und oft fremde Lebenswelten weit abseits der zentralen Regionen Chinas [neidi].

Zwar werden keine Kamele und Pferde mehr aus der Mongolei nach China gebracht, China importiert auch nicht mehr so viel Ginseng aus Korea oder Pelz aus Russland wie in kaiserlichen Zeiten, und es gibt keine Dampfzüge der Chemins de Fer de L’Indo-Chine et du Yunnan mehr, die nach einem fixen Fahrplan von der Hafenstadt Haiphong durch einen früher tropischen Dschungel nach Kunming fahren. Aber trotz DHL-Frachtmaschinen und Hochgeschwindigkeitszügen, trotz groß angelegter Infrastrukturprojekte in ganz Asien, die Chinas wirtschaftlichen und sozioökonomischen Einfluss stärken sollen, und trotz Chinas Jagd nach Bodenschätzen bildet die Geografie der Vergangenheit nach wie vor eine wertvolle Referenz, will man aktuelle Trends, lauernde Konflikte und Kriegsrisiken verstehen. So beschwören manche Erinnerungslandkarten Geister vergangener Zeiten herauf, etwa mittels kultureller Konzepte, die China über die Jahrhunderte gestaltet haben und wahrscheinlich in der einen oder anderen Form in der aktuellen chinesischen Außenpolitik weiterleben.

Ein Projekt für die globale Vormachtstellung

Die Belt-and-Road-Initiative (BRI), die 2013 gestartet wurde, ist das wohl ehrgeizigste Projekt Chinas, um die Weltwirtschaft zu verändern und seinen Einfluss auf die Weltpolitik zu erhöhen. Mit der BRI hat die chinesische Regierung ein für alle Mal das seit Jahrzehnten akzeptierte außenpolitische Diktum Deng Xiaopings außer Kraft gesetzt: »sein Licht unter den Scheffel stellen und den rechten Augenblick abwarten« [tao guang yang hui]. Im Zentrum der BRI steht die Wiederherstellung zweier historischer Handelsrouten, nämlich eines wirtschaftlichen Landgürtels, der die Länder der alten Seidenstraße in Zentralasien, Westasien, dem Nahen Osten und Europa wieder miteinander verbindet, und einer Seeroute, die Chinas Küste mit Häfen in Südostasien, Südasien, Afrika und via Suezkanal mit dem Mittelmeer verbindet. Die Hauptfinanzierung der Initiative, auch »Neue Seidenstraße« genannt, kommt derzeit von der China Development Bank und den vier großen staatlichen Geschäftsbanken Chinas. Multilaterale Institutionen wie die Asia Infrastructure Investment Bank spielen eine untergeordnete Rolle. Allerdings hat Peking viele Details der Initiative vage gehalten, wie zum Beispiel die genauen Routen und die Länder, die letztlich Teil dieses ehrgeizigen Megaprojekts werden sollen.

Wie bei jedem Projekt dieser Größenordnung, insbesondere wenn die Pläne dafür einseitig in der Zentrale eines Einparteienstaates erstellt werden, wachsen die Bedenken und Zweifel. In Japan zum Beispiel haben Skeptiker argumentiert, die BRI sei nur ein Mittel, um »die Nachfrage nach chinesischen Bau- und Exportindustrien anzukurbeln, da sich die Binnenkonjunktur verlangsamt«. Indien vermutet, dass die BRI Pekings geostrategisches Ziel, letzten Endes die gesamte Welt zu beherrschen, verschleiern soll. Internationale Analysten kritisieren, dass eine adäquate Bewertung der potenziellen Risiken und negativen Auswirkungen der Initiative sowie ihrer finanziellen Machbarkeit für die weniger entwickelten Länder fehle.

Während einige ausländische Beobachter den Begriff »imperiale Überdehnung« von Paul Kennedy zur Beschreibung dieser chinesischen Initiative verwenden, haben andere der KPCh vorgeworfen, dass sie »das politische Umfeld kontrolliere« (Francis Fukuyama). Pekings Verharmlosung potenzieller Risiken, wie sie die fragile Situation in Xinjiang und der anhaltende Terrorismus und Konflikte in den Regionen entlang der Neuen Seidenstraße darstellen, ist selbst für einige Chinesen ein Grund zur Beunruhigung. Ge Jianxiong, Professor für Geschichte an der Fudan-Universität, stellt die Frage, ob ein solcher staatlich initiierter – und nicht nachfrageorientierter – Wirtschaftsgürtel erfolgreich funktionieren kann. »Nur weil es in der Geschichte einmal eine prosperierende Seidenstraße gab, heißt das noch lange nicht, dass sie definitiv wiederbelebt werden kann.« Mit anderen Worten: Noch nicht identifizierte Faktoren (und nicht nur Pläne oder hoffnungsvolle Träume) könnten das Ergebnis von Pekings langem globalem Marsch bestimmen.

Sinozentrismus

Nehmen wir zum Beispiel den konfuzianischen Begriff tianxia, der so viel wie »alles unter dem Himmel« bedeutet – verschiedene Stämme und Völker lebten damals unter der zentralen Herrschaft des Kaisers. Dieser Begriff bezog sich nicht auf spezifische Grenzen, wie es das westliche Konzept des Nationalstaates tut, sondern auf einen zivilisatorischen Grundsatz der Regierungsführung, der mit modernen Begriffen am besten als Universalismus oder präziser als chinesischer Kosmopolitismus definiert werden kann. Dank des sinozentrischen Konzepts tianxia übte China lange einen dominierenden Einfluss auf seine Nachbarstaaten aus, zum Beispiel durch sein Tributsystem [chaogong tixi], bei dem tributpflichtige Staaten [fanshuguo] dem chinesischen Kaiser Abgaben zahlen mussten. Heiß debattiert wird die Frage, ob die sogenannte periphere Politik [zhoubian zhengce] der aktuellen chinesischen Regierung als Fortsetzung dieses Systems mit anderen Mitteln gelten kann. Ein Grund, diese These zu bezweifeln, sind die von der Kommunistischen Partei (KPCh) benutzten politischen Slogans des »friedlichen Aufschwungs« [heping jueqi] oder des »Festigens der guten Nachbarschaft« [wending mulin]. Gestützt hingegen wird diese These dadurch, dass ein Strategem aus der historischen Sammlung 36 Strategeme [sanshiliu ji], deren Entstehung bis ins 5. Jahrhundert zurückgeht, häufig zitiert wird, nämlich »sich mit einem fernen Staat verbünden, um das Nachbarland anzugreifen« [yuanjiao jingong].

Seit den späten 1980er Jahren hat China seine Grenzen langsam wieder für die Außenwelt geöffnet, zumindest dort, wo es der chinesischen Führung vorteilhaft erschien. Während der Mao-Ära, als das Land im Wesentlichen von der Außenwelt isoliert war, waren die meisten Landgrenzen offiziell geschlossen. Heute proklamiert China eine Politik der Zusammenarbeit mit seinen Nachbarstaaten und anderen Ländern, die die Basis für gegenseitiges Vertrauen, gemeinsamen Nutzen und weltweiten Frieden bilden soll. So entstanden Projekte wie die Belt-and-Road-Initiative, das Kunming-Singapur-Eisenbahnnetzwerk oder der 400-Milliarden-Dollar-Gasdeal mit Russland. Im klassischen chinesischen Denken ähnelt der Staat einer großen Familie, deren Mitglieder in einem von Mauern begrenzten, aber auch geschützten Haus leben. Die Tür dient als offizieller Zugang zur Außenwelt; sie wird vom Familienoberhaupt kontrolliert und bewacht. Die Chinesische Mauer z. B. verkörperte dieses Konzept. Seit der Öffnung des Landes hat China stolz begonnen, ein Dutzend Zugänge [guomen] entlang seiner Grenzen zu errichten, um wieder eine kontrollierte Import- und Exportpolitik betreiben zu können. Diese ›Tore‹ werden normalerweise von eindrucksvoller, ja, pompöser Architektur geschmückt, als wollte man Außenseiter darin erinnern, dass China nach wie vor das Zentrum des Universums sei.

Erinnerungen und Stimmen aus fernen Winkeln

Wir haben dieses Buch auch als Protest gegen den Verlust von Erinnerung geschrieben: Erinnerungen an Wirklichkeiten und Illusionen, Konflikte und Harmonie, Enttäuschungen und Hoffnungen. Will man die Wunden der Vergangenheit heilen, kommt man nicht umhin, schmerzhafte Maßnahmen durchzuführen, Konflikte zu analysieren oder sogar die Leichen im Keller auszugraben. In den letzten Jahren hat sich China mit atemberaubender Geschwindigkeit eine Vorrangstellung auf der globalen Bühne erobert, wobei sehr viel – meist ungewollt, manchmal aber auch mit voller Absicht – verlorenging. Chinas Grenzregionen sind von enormer kultureller Diversität geprägt, und die Beziehungen mit den Nachbarstaaten über die Grenzen hinweg sind äußerst vielfältig. Aber in einer globalisierten Welt, in der alles besser, schneller und effizienter sein muss, entpuppen sich unterschiedliche Standpunkte schnell als Hindernisse. Die offizielle chinesische Geschichtsschreibung bringt oft jene Stimmen zum Schweigen, die Peking als unbequem empfindet, egal, ob sie aus der Vergangenheit oder der Gegenwart stammen.

Zu diesen unbequemen Stimmen zählen beispielsweise Bauern vom Volk der Shan, die sich gegen den massiven Pestizideinsatz chinesischer Investoren (zwecks Export größerer Mengen an Mais und Wassermelonen von Myanmar nach Yunnan) auf ihrem Boden wehren. Solche ›Stimmen‹ erklingen aber auch aus ›stillen Relikten‹: Überreste von Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg, die die Japaner in der heutigen Inneren Mongolei gebaut haben, vergilbte Familienfotos in der Wohnstube eines Überseechinesen oder auch die Steinruinen des früheren koreanischen Königtums Goguryeo in der Provinz Jilin – all diese Dinge beinhalten Zeugnisse aus einer bestimmten Zeit und haben Botschaften für diejenigen, die sie hören oder lesen möchten. Diese Stimmen, Geschichten, Gefühle, Spuren und Lebenswelten der Bevölkerung in entlegenen Grenzregionen helfen uns, den aktuellen Zustand Chinas besser zu verstehen.

Mit dem aktuellen Trend, auch in den entlegensten Teilen des Landes Bahnlinien für Hochgeschwindigkeitszüge oder Autobahnen zu bauen, geraten viele der früher einmal mehr oder weniger bekannten Namen von Bergpässen auf Handelsrouten in Vergessenheit. Dazu zählen der Bum-La-Pass in Arunachal Pradesh an der chinesisch-indischen Grenze, der Kulma-Pass, der China von Tadschikistan trennt, der Wakhan-Korridor, dessen östlichster Teil die afghanisch-chinesische Grenze markiert, oder der Mintaka-Pass an der Grenze zwischen China und Pakistan. Diese Namen sagen wahrscheinlich Rucksacktouristen, Schmugglern, Ethnologen oder Historikern mehr als den CEOs multinationaler Unternehmen. Dennoch werden diese Orte vielleicht wieder einmal in den Blickpunkt des Interesses rücken, wenn es dort zu Spannungen und Konflikten kommen sollte.

Die Last der Geopolitik

Neben historischen Ereignissen hat die Geografie immer eine herausragende Rolle dabei gespielt, wie China seine Politik des Aufbaus einer starken Nation gestaltet und welchen Platz es in der internationalen Staatengemeinschaft einnimmt. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Unmittelbar nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 galt die Hauptsorge der chinesischen Regierung der nationalen Sicherheit, der Entwicklung der Wirtschaft und der Konsolidierung ihrer Macht. Der neue Staat wurde ex negativo gegründet: Es wurde die Vergangenheit geleugnet und jede Beziehung dazu gekappt. Als die chinesische Nation [Zhonghua minzu] ›wieder auferstand‹, kam es zu neuen Spannungen mit benachbarten Ländern. Zwar war China im 19. und 20. Jahrhundert von westlichen Mächten erniedrigt worden: Sie hatten dem chinesischen Reich »Ungleiche Verträge« [bupingdeng tiaoyue] aufgezwungen und damit versucht, sich ihren Teil der Beute zu sichern. Aber die Schuld für alles Elend, das auf den Fall des letzten Kaisers folgte, auf andere zu schieben, mutet vielleicht etwas zynisch an, da die Qing-Dynastie selbst große Expansionsgelüste Richtung Westen und Südwesten an den Tag legte. In diesem Kontext dürfen wir das chinesische Sprichwort »wie eine Seidenraupe nagen, wie ein Wal verschlingen« [can shi jing tun] nicht vergessen, das die Vielfalt der Strategien zum Einverleiben fremder Territorien beschreibt.

Angesichts der Komplexität der Umstände, die zu Chinas phänomenalem Aufstieg führten, ist es fast unmöglich vorherzusagen, wie sich die Beziehungen zu seinen Nachbarn in der Zukunft gestalten werden. Einerseits scheint es seit der Gründung der VR China nur wenige konsistente »Werte« in der Nachbarschaftspolitik gegeben zu haben, denn Chinas Standpunkt wurde meist durch wechselnde strategische Ziele [zhanlüe mubiao] bestimmt: Es ging darum, eine nationale Identität herauszubilden, die territoriale Integrität zu wahren und ein für Chinas wachsenden Einfluss günstiges internationales Klima zu schaffen. Andererseits hat jeder Nachbar Chinas seine eigene Vergangenheit und seine Erfahrungen mit dieser aufstrebenden globalen Macht gemacht. Während sich die Beziehungen mit einigen Ländern (z. B. mit Russland) in den letzten paar Jahren deutlich verbessert zu haben scheinen und die Beziehungen mit anderen (z. B. mit Indien) zumindest auf dem bestmöglichen Niveau stabilisiert wurden, könnten die Beziehungen mit anderen Ländern (z. B. mit Nordkorea) leicht zerbrechen, wenn die globalen Trends sich in eine unerwartete Richtung entwickeln sollten.

Bei unseren zahlreichen Forschungsreisen für dieses Buch erkannten wir schnell, dass sich viele von Chinas ›Begrenzungen‹ – und vielleicht ist das seine Achillesferse – an seinen Landesgrenzen konzentrieren. Wie oben schon festgestellt, ist kaum ein anderes Land in der Welt in einem so komplexen nachbarschaftlichen Beziehungsgefüge gefangen. Ein beträchtlicher Teil der an China angrenzenden Länder ist entweder instabil oder ob des großen Nachbars beunruhigt. Während Russland im Moment keine größere Bedrohung für China darstellt, ist Nordkorea, das seine Nachbarn und die USA mit Nuklearwaffen bedroht, für Peking mehr als nur ein lästiger Vasallenstaat. Nach wie vor sind auch die Beziehungen zwischen China und Indien von beträchtlichem Misstrauen geprägt, obwohl man sich offiziell für Kooperation und offene Grenzen ausspricht. Der Streit im Südchinesischen Meer bedroht wie eine Zeitbombe die sino-vietnamesischen Beziehungen und auch andere Staaten, die Pekings militärische Aufrüstung auf den Inseln als Affront auffassen. Und die »Stan-Staaten« Zentralasiens, die an das sensible Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang grenzen, werden in Zukunft alle Hände voll zu tun haben, ihre Probleme mit China zu klären, zumal diese sich wahrscheinlich durch den wachsenden islamischen Extremismus verschärfen werden.

China hat kein Interesse daran, zwischen möglichen Unruhen zu Hause und Konflikten an seinen Grenzen aufgerieben zu werden. Deshalb wird es zwar manchmal vor Konfrontation nicht zurückschrecken, aber trotzdem alles versuchen, um militärische Konflikte mit seinen Nachbarn zu vermeiden. Allerdings können wir nicht voraussagen, welche politischen Ereignisse letztendlich in die Annalen eingehen und welche nur als Fußnoten der Geschichte in Erinnerung bleiben werden. Wir sind uns aber sehr sicher, dass Länder wie Vietnam, Myanmar, die Mongolei und andere weiterhin in den Medien präsent sein werden und China als ihr mächtiger Nachbar seinen Anteil an den Schlagzeilen haben wird. Egal, ob es um die Erweiterte Mekong-Subregion, um die Belt-and-Road-Initiative oder die Greater-Tumen-Initiative geht: Chinas wachsender Einfluss wird von kritischen Beobachtern weltweit aufs genaueste verfolgt werden. Die Spannungen werden höchstwahrscheinlich wachsen, denn solche Megaprojekte dienen nicht nur dazu, Harmonie zwischen Nationen und Völkern aufzubauen, sondern sollen auch den Aufkauf und die Ausbeutung von Bodenschätzen vorantreiben, die China so dringend braucht, um wirtschaftlich prosperieren zu können. Ein Wettbieten um kleine Territorien zwischen China und Ländern, die einen erdrückenden chinesischen Einfluss fürchten, hat bereits begonnen. Grenzregionen werden mit Sicherheit eine wichtige Rolle dabei spielen, da dort oft die begehrtesten Ressourcen verborgen liegen.

Die Magie der Grenzgebiete

Grenzen haben aber nicht nur eine politische und geografische Bedeutung, sondern es haftet ihnen – zumindest ist das unser Empfinden – etwas fast Magisches an. Grenzregionen sind vielfältige, komplexe Räume, in denen kulturelle und historische Erinnerungen, Mythen, Legenden, kuriose Traditionen, eigentümliche Sitten und ungewöhnliche Werte aufeinandertreffen. Die chinesischen Grenzgegenden sind meist von ethnischen Minderheiten bewohnt und liegen weit entfernt von den boomenden Metropolen. Sie entziehen sich eher der Kontrolle der Zentralregierung und bleiben weniger berührt von den Modernisierungskräften, sodass die Realität vor Ort den neugierigen Besucher ganz unvorbereitet trifft. Wenn wir das eigentliche China hinter uns ließen, führten uns unsere Reisen zum Beispiel in die Dörfer am Tumen-Fluss, der China von Nordkorea trennt, oder in den Fernen Westen, wo tadschikische Weiler das Viereck China – Kirgisistan – Tadschikistan – Afghanistan prägen. Wir hofften, in diesen entlegenen Regionen lang vergessene Geheimnisse zu entdecken, die im Treibsand vergangener Zeiten vergraben liegen. Manchmal hatten wir Glück, weshalb wir unsere »archäologischen« Entdeckungen in diesem Band präsentieren können. Dass »Reisen entlang der Grenzen« etwas Geheimnisvolles an sich haben, liegt auch daran, dass sich dort zumindest zwei Länder begegnen (oder manchmal aufeinanderstoßen) und oft mehr als zwei Völker nebeneinanderleben. Das verleiht der Situation nicht nur ihre Komplexität, sondern auch etwas Rätselhaftes.

Grenzen sind von Menschen gezogene Linien. Meist werden sie von Diplomaten, Strategen und Verwaltern bestimmt, die keinerlei Beziehung zu den Regionen haben, die sie zerschneiden oder diesem bzw. jenem Land zuteilen. Ginge es nach den Bewohnern der Grenzregionen, also des Gebiets auf beiden Seiten der tatsächlichen Grenze, so würde sich niemand an diese Linien halten. Herrscher, egal welcher Couleur, sind gleichwohl entschlossen, »eine widerspenstige Landschaft und ihre flüchtigen, widerständischen Bewohner zu unterwerfen«, wie James C. Scott in seinem bahnbrechenden Buch The Art of Not being Governed schreibt. Und jene, die tatsächlich in diesen Gegenden leben – »Barbaren aus freien Stücken« –, bewegen sich dessen ungeachtet zwischen den Staaten und um sie herum. Sie überqueren Grenzen, wann und wo immer es möglich ist. Das macht die Dinge nicht gerade einfacher – aber trägt jedenfalls zum mysteriösen Flair bei, das diese Orte umgibt. Manche Forscher sind der Meinung, dass Grenzen eine der paradoxesten Kreationen der Menschheit darstellen, ja, manchmal kaum nachvollziehbar sind, da sie sich im konstanten Fluss der Dinge ständig verschieben.

Nicht nur in China waren Grenzregionen Orte, die sich bestens als Exil für unliebsame Personen eigneten, ganz nach dem Motto »aus den Augen, aus dem Sinn«. Sie sind meist dünn besiedelt, und dank ihrer Abgeschiedenheit boten sie stets eine ideale Lösung für all jene, die beim Kaiser oder später bei der kommunistischen Elite in Ungnade gefallen waren. Die Insel Hainan im Süden Chinas war immer schon Rückzugsort für politische Exilanten, Kriminelle oder geschasste Beamte – der berühmteste war wohl Su Dongpo, ein chinesischer Schriftsteller und Staatsmann aus der Song-Dynastie (960–1279). Nordost-China, die frühere Mandschurei, war ebenfalls ein Ort, an den Behörden Räuber, Fälscher und jeden, der sich gegen die regierenden Mächte stellte, zu verbannen pflegten: In den späten 1950er Jahren wurde zum Beispiel Jean Pasqualini, der sich den chinesischen Namen Bao Ruowang zugelegt hatte, von der KPCh zu zwölf Jahren Haft dorthin verurteilt. In seinen Memoiren Gefangener bei Mao (1973) beschreibt er das Gefängnis, in dem er diese Jahre mit schwerer Arbeit verbracht hatte: Es befand sich in Beidahuang, das wegen der vielen Moore, des sumpfigen Graslandes und vor allem wegen seiner eisigen Winter die nicht nur körperlich herausforderndste Gegend der Mandschurei ist. Ironischerweise dient der Ort seiner Gefangenschaft heute nicht mehr als Gefängnis, sondern befindet sich auf dem Territorium der Beidahuang Group. Dieses berühmte Konglomerat besitzt angeblich mehr als 50 Flughäfen und 30 Flugzeuge für landwirtschaftliche Zwecke.

Grenzregionen sind aber nicht nur mit Fakten und Zahlen belastet, sondern transportieren auch Gefühle von Glück und Elend, Frieden und Krieg, Licht und Schatten. Uns hat der Wunsch angetrieben, das ›Abseits‹ der modernisierten Welt rund um uns zu finden, und wir wollen unseren Lesern nicht unbedingt Plätze zeigen, die man gesehen haben muss, sondern Orte, die noch Überraschungen bereithalten (Roland Barthes). Eine unscheinbare Notiz, die die Polizei an der Wand eines Landgasthauses angeheftet hat und die vor Fremden warnt, die nach Einfall der Dämmerung an Chinas Grenze zu Nordkorea herumlungern, gibt mehr Einblicke in den tatsächlichen Zustand der Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern als die Tatsache, dass Peking sich für Sechs-Parteien-Gespräche als vertrauensbildende Maßnahme einsetzt. Chinas Grenzregionen sind alles andere als Niemandsländer, in denen sich nur bewaffnete Soldaten, stacheldrahtbewehrte Zäune, Gruppen nomadischer Hirten oder gar der ausgebleichte Schädel eines Tieres befinden.

Die chinesischen Staatsmedien bemühen sich seit langem, die Grenzregionen Chinas den Bürgern näherzubringen. Die aber wissen nach wie vor nur wenig über diese Orte, die so weit von den chinesischen Megastädten entfernt liegen. In den letzten Jahren wurden Reiseserien wie Distant Home – Border Travels [yuanfang de jia – bianjiang xing] regelmäßig auf CCTV-Kanälen ausgestrahlt (wobei das Gros der Informationen sich auf touristische Sehenswürdigkeiten und weniger auf historische Ereignisse bezieht). Diese Reportagen erfreuen sich großer Beliebtheit bei jungen Menschen, die üblicherweise eher einen Strandurlaub in Thailand verbringen oder für ein Shoppingwochenende nach Japan oder Korea fliegen, als sich in unterentwickelte Regionen vorzuwagen, die nicht von Han-Chinesen bewohnt sind. Unwissenheit mag manchmal ein Segen sein, ist aber in jedem Fall eine kulturelle Falle. »Sie haben keine Kultur« [tamen meiyou wenhua] ist ein Kommentar, den man oft aus dem Munde Han-chinesischer Taxifahrer hört, wenn sie über uigurische Muslime oder über Mongolen reden. Als wir einmal versuchten, einen Inlandsflug nach Kashgar in Xinjiang zu buchen, fragte uns ein Shanghaier Angestellter von China Eastern Airlines sogar nach dem Namen des Landes, in dem diese Stadt liegt.

»Wir« und »die Anderen«

Für die Autoren des vorliegenden Buches ist eine Grenze nicht bloß eine »geografische Linie, die das Gebiet eines Staates von dem des Nachbarstaates scheidet«, wie die Definition des Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache lautet. Eine Grenze ist viel mehr und oft eng mit menschlichen Gefühlen verbunden: Sie ist eine Markierung, die auf die Probe gestellt und verändert werden kann, etwas, das – normalerweise – überschritten werden kann, über das man hinausgehen kann. Sie ist aber auch eine Linie, die einschränkt, die respektiert und nicht verletzt werden will. Für den Herrscher ist sie ein Mittel, die Beherrschten zu kontrollieren und in Schach zu halten. Wenn sie nicht gut bewacht wird, kann sie für Menschen, Dinge und Ideen durchlässig werden. Sie trennt Einflusssphären voneinander, auch solche kultureller und politischer Natur. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Grenzen immer wieder verschoben, je nachdem welche Macht das Land, das sie errichtete, gerade hatte. Wenn man einen historischen Atlas durchblättert, ist es, als würde man eine Timeline hinunterscrollen, die die Abfolge geopolitischer Machtkämpfe sichtbar macht, die von Regierungen, Warlords oder Rebellen vom Zaun gebrochen wurden.

Jeder politische Führer, der einen Grenzvertrag unterzeichnet, hofft wahrscheinlich, er werde ewigen Bestand haben. Man kann das in der gesamten Geschichte der Menschheit beobachten, und China bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Die Geschichte zeigt aber, dass jede Grenze, egal wann sie gezogen wurde, nur temporär ist. Das ist so sicher wie der Aufstieg und Fall von Imperien. Besonders deutlich wird dieses Faktum, wenn wir die sich ständig verändernden chinesischen Karten von der Qin- (221–206 v. Chr.) bis zur Qing-Dynastie (1644–1912) vergleichen. Das bedeutet aber auch, dass Krieg und Frieden Gegensätze darstellen, die (bedauerlicherweise) eng miteinander verknüpft sind. Die Peripherie eines Landes, auch die von China, ist oft der Ort, an dem die tragische Natur dieser Beziehung als Erstes spürbar wird. Die Entstehung der Grenzen von China, aber auch von anderen Ländern, wurde während der Jahrhunderte stark von Konflikten und Kriegen beeinflusst.

Auch wenn eine Grenze nicht primär als Mittel zur Exklusion dient, so markiert sie doch die offizielle, oft künstliche Grenze zwischen »uns« und »den Anderen«. Heute können die meisten Chinesen reisen, wohin sie wollen, vorausgesetzt, sie können sich die notwendigen Dokumente verschaffen. Anders schaute es zum Beispiel für viele Angehörige der kasachischen und uigurischen Minderheiten aus, die während der politisch bedingten Hungersnot in den frühen 1960er Jahren in die Sowjetunion flüchteten. Es gibt nach wie vor Menschen in China – in erster Linie ethnische Minderheiten wie die Uiguren oder die Tibeter –, denen das Recht, ins Ausland zu reisen, oft verwehrt wird. Für einen Außenstehenden ist es schwer zu beurteilen, wie groß die Unzufriedenheit unter den in Grenzgebieten lebenden Minderheiten tatsächlich ist. Mitglieder der genannten ethnischen Gruppen beklagen sich jedenfalls häufig über ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Vor der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1949 konnten sie die Grenze mehr oder weniger uneingeschränkt überschreiten und mit ihren Landsleuten auf der anderen Seite interagieren. Da sie ursprünglich Nomaden waren, hatten Grenzen für sie keine Bedeutung. Das hat sich seitdem radikal verändert, und die Grenzgebiete in diesen beiden Regionen stellen für die Zentralregierung besonders heikle Probleme dar. Peking will keine Unzufriedenheit und schon gar keine Instabilität in diesen Gebieten sehen. Also tut es alles in seiner Macht Stehende, um seine Macht an den Rändern des Landes nicht zu verlieren.

Auch in anderen Fällen kann eine Grenze eher ein unüberwindbares Hindernis als eine »durchlässige Mauer« zwischen drinnen und draußen darstellen: Man bedenke die Schwierigkeiten des Dissidenten-Schriftstellers Liao Yiwu, als er sich 2011 aus dem Land stahl (wiewohl mit einem gültigen Ausreisestempel, wie er immer wieder betonte) und nach Vietnam reiste, um via Hanoi und Warschau sein endgültiges Ziel Deutschland zu erreichen.

Es ist der 2. Juli 2011, zehn Uhr, als ich in der Stadt Hekou in Yunnan über die Grenze gehe. Wie ein Schlafwandler erreiche ich die alten Straßen von Vietnam. Als ich unvermittelt noch einmal auf mein Heimatland zurückschaue, kommt mir ein Lied in den Sinn:

Die Welt ist ein schmaler Steg

keine Angst

man kommt hinüber,

schreibt er später über seine Flucht. Er musste also nicht einmal ein Schlupfloch in der Grenze finden. Ein anderer Dissident, der seiner Heimat den Rücken kehrte, war Zhang Boli, ein Journalist und Anführer der Proteste auf dem Tian’anmen-Platz 1989. Für ihn bedeutete das Überschreiten der Grenze, dem Gefängnis zu entkommen: Nach einem misslungenen Fluchtversuch wurde er schließlich aus China nach Hongkong geschmuggelt – ein bemerkenswertes Beispiel für eine »Grenzverletzung«, wie es im offiziellen Jargon heißt. Um fair zu sein: China ist manchmal auch ein Zufluchtsort, zum Beispiel für viele aus Nordkorea Geflohene, die über die Grenze nach China kommen. Allerdings ist China jüngst erneut dazu übergegangen, »Überläufer« wieder in ihre Heimat abzuschieben, was von vielen internationalen Beobachtern zu Recht kritisiert wird.

Die Soft Power eines Hahns

Der Politikwissenschaftler Joseph Nye hat den Begriff »Soft Power« geprägt, mit dem er die Fähigkeit beschreibt, andere durch Kooptation statt durch Zwang oder Erpressung zu beeinflussen. Dieses Konzept charakterisiert das Denken der chinesischen Führung perfekt. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, was es im Kontext der Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn bedeutet. Der Markenname »China« dient dazu, die Überlegenheit der chinesischen Kultur zum Ausdruck zu bringen, und zwar nicht nur gegenüber dem Ausland, sondern auch gegenüber den in den Grenzgebieten lebenden Minderheiten. Er steht für Pekings Überzeugung von einem langen Prozess der kulturellen Expansion, im Zuge dessen die in Grenzregionen lebenden Völker die chinesische Zivilisation dankbar als einen Schritt akzeptierten, der sie endgültig zu Mitgliedern des Landes macht (Diana Lary). »Der chinesische Botschafter hier agiert wie ein Prokonsul« (ein Verwalter einer Provinz der Römischen Republik), bemerkte ein hochrangiger Diplomat eines Landes in Chinas Nähe uns gegenüber ganz unverblümt. Es ist vielleicht noch zu früh, um zu beurteilen, ob hinter Chinas unaufhaltsamem Aufstieg eine wohlmeinende zivilisatorische Mission steht oder lediglich ein ausgeklügelter strategischer Plan.

Wie oben dargelegt, muss man Chinas Aufstieg zur Weltmacht im Kontext der Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten sehen. Dieser Prozess war im 19. und 20. Jahrhundert von Erfahrungen der Erniedrigung geprägt. Er wurde aber auch vom Konkurrenzverhältnis zur Sowjetunion beeinflusst, die jahrzehntelang der kommunistische Rivale Chinas war, bzw. zu deren Nachfolgestaat, der Russischen Föderation. China befindet sich darüber hinaus auch in einem Konkurrenzverhältnis zu Indien, einer weiteren aufstrebenden Macht im Asien des 21. Jahrhunderts. Dieser erstaunliche Aufstieg – geboren aus einer Mischung von Minderwertigkeitskomplexen und maßlosem Selbstbewusstsein – hängt auch mit einer Reihe von Kriegen zusammen, die während der Herrschaft von Kaiser Qianlong (1711–1799) geführt wurden, den sogenannten »Zehn siegreichen Feldzügen« [shi quan wu gong]. Damals wurden weite Gebiete Zentralasiens (wie zum Beispiel Xinjiang) erobert und andere Regionen in Grenznähe wie Burma und Vietnam »befriedet« oder, weniger charmant ausgedrückt, »unterjocht«.

Es ist manchmal nicht einfach, diese Ereignisse in den richtigen Kontext zu stellen, um sie mit aktuellen Situationen in Beziehung setzen zu können. Das trifft vor allem dann zu, wenn sich Mythen und Realität zu einem großen historischen Bild verweben. Immer wieder haben wir die Metapher von China als Hahn gehört, denn die Landkarte des chinesischen Territoriums wird oft mit einem riesigen Hahn verglichen. Fast jedes Schulkind kennt diesen Vergleich, der auf Mao Zedong zurückgehen soll: Heute will man damit gerne erklären, warum Tibet, Xinjiang und Taiwan unveräußerliche Teile Chinas seien. Unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Chinas jüngste Territorialansprüche im Südchinesischen Meer letztlich mit der »Karte in Hahn-Form« zusammenpassen, haben bereits für hitzige Debatten unter Internetusern in China und den Nachbarländern geführt.

China an seinen Grenzen eröffnet einen fast magischen Einblick in weniger bekannte Welten, Ideen und Lebensformen, die auf die meisten Außenstehenden fremd oder zumindest exotisch wirken. Chinas »Grenzen« sind nicht gleichzusetzen mit seinen geografischen Grenzen, sondern gehen weit darüber hinaus. Man denke nur an die Pattsituation im Südchinesischen Meer oder im südlichen Tibet (wie die chinesische Regierung den indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh nennt) und an die Kontroverse um das Northeast Project [dongbei gongcheng] der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, das sich mit Pekings strategischen Absichten in Bezug auf Nord- und Südkorea beschäftigt. Man ist gut beraten, diese »Grenzen« in Bezug auf die »Zwei-Jahrhundertziele« [liangge yibainian] der Regierung zu verstehen, d. h. eine »gemäßigte Wohlstandsgesellschaft« [xiaokang shehui] zu werden und den »chinesischen Traum« zu verwirklichen. Genauso sollte man vorsichtig sein, wenn man die Nachbarschaftspolitik eines Staates aus der Sicherheit eines Pressezentrums, einer Gaststube oder eines Wohnzimmers heraus rühmt oder verdammt. Wir sollten auf den Teufel, der im Detail steckt, achten. Er zeigt sich normalerweise nicht in konventionellen Studien, Vorträgen und Landkarten, sondern kann nur durch umfassende Feldforschung entdeckt werden. Unsere Absicht ist es, Nuancen spürbar zu machen und nicht in Klischees zu verfallen. Wir hoffen, dass unser Buch den Lesern hilft, ein differenzierteres Verständnis der kulturellen Landschaften, der politischen Stimmungen und Lebenswelten in diesen Grenzregionen zu erlangen, auch wenn diese mit der eigenen Erfahrung scheinbar nichts gemein haben.

Auf der Fahrt in die Provinz Yunnan über die neuasphaltierte Burma Road geraten wir nachmittags in ein tropisches Unwetter. Schulkinder, die für das Wetter gerüstet sind, befinden sich gerade auf dem Heimweg. Viele ihrer Vorfahren sind beim Bau der Burma Road in den 1930er Jahren ums Leben gekommen. Die Burma Road war eine wichtige Arterie für den Nachschub der Alliierten Chinas im Zweiten Weltkrieg gegen die Japaner. Sie ist bis heute die einzige sichere Straße zwischen Myanmar und China. Und doch scheinen die Familien derer, die am Bau dieser wichtigen Straße beteiligt waren, bis heute auf ihre Entschädigung zu warten.

Nationale Erniedrigung – Wahrheit oder Propaganda?

So abstrakt, so ungreifbar dieser Ausdruck – das »Gesicht« – scheint, er bedeutet doch den feinstgeschliffenen Maßstab, nach welchem sich das öffentliche Leben in China in all seinen Beziehungen regelt.

(Lin Yutang, Mein Land und mein Volk, 1946.)

 

Wahrscheinlich ist die für westliche Ohren rätselhaft klingende Bezeichnung von »Chinas Jahrhundert der Erniedrigung« [bainian guochi] – also die Zeit der Intervention und Aggression durch die Westmächte sowie Japan zwischen dem Ersten Opiumkrieg 1839 und der »Befreiung« des Landes 1949 – auf den Begriff des »Gesichts« zurückzuführen. Da viele Konflikte und Ereignisse, die oft dem »Jahrhundert der Erniedrigung« zugeordnet werden, in den Randregionen Chinas stattfanden, ist dieses Thema eng mit den Grenzgebieten des Landes verknüpft. Seit Jahrzehnten gründen die chinesischen Führer ihre Politik auf endlose Erzählungen über den Verlust von Territorien und Chinas Wunsch, jeden Zentimeter Land, den die Qing-Dynastie verloren hat, zurückzugewinnen. Bereits in der Republikanischen Ära (1912–1949) wurden von Intellektuellen und Propagandisten sogenannte »Demütigungskarten« erstellt, die alle Chinesen daran erinnern sollten, »die nationale Erniedrigung nie zu vergessen« [wu wang guochi]. Besessen von diesem Mantra, ignorieren chinesische Führer wohlweislich gewisse Tatsachen – zum Beispiel, dass das chinesische Reich selbst expansionistisch und seine Politik gegenüber den Nachbarländern nicht immer friedlich war.

Seit der Gründung der VR China haben die »antiimperialistischen« Kommunisten ein politisches Klima geschaffen, das das patriotische Revival begünstigt. Manchmal, wenn es vorteilhaft erscheint, dürfen nationalistische Intellektuelle Bücher wie China Is Not Happy oder China Can Say No veröffentlichen. Aber die Unterschiede zwischen solchen nationalistischen Ideologen und den Spitzenpolitikern verschwimmen manchmal, besonders wenn es um die »Integrität und Souveränität« des chinesischen Territoriums geht, zum Beispiel im Südchinesischen Meer oder an den umstrittenen Hängen des Himalaja.

Darf es kein Nichts in der Geschichte geben?

Manchmal kann Propaganda auch nach hinten losgehen und eine Wirkung haben, die fast an Satire erinnert: »Die Gegenwart der Sowjetunion wird unsere Zukunft sein« [sulian de jintian jiushi women de mingtian], besagt ein stolzer chinesischer Slogan der frühen 1950er Jahre, der die chinesische Führung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 albtraumartig verfolgt.

Das Schicksal des früheren politischen Feindes und ideologischen Partners motivierte Präsident Xi Jinping 2013 bei einer Rede vor Parteimitgliedern dazu, den »historischen Nihilismus« [lishi xuwuzhuyi] anzuprangern. Er warnte davor, die »historische Unvermeidbarkeit des chinesischen Weges in Richtung Sozialismus« [Zhongguo zou xiang shehui zhuyi de lishi biranxing] in Frage zu stellen. Drei Jahre später erschien unter dem Titel »Xi Jinping: Es darf kein Nichts in der Geschichte geben« [lishi buke xuwu] eine Sammlung von Xis öffentlichen Kommentaren zum Thema Nihilismus auf der Webseite Dangjian (wörtlich: »Aufbau der Partei«), die von der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei (neulich in Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und Informationspolitik umbenannt) herausgegeben wird. Strikte Anweisungen von oben verlangen nämlich, dass jede Darstellung historischer Ereignisse, die von der offiziellen Parteiversion abweicht, unterbunden werden muss.

Die Diskussion dieses – für westliche Ohren – doch ziemlich absurd klingenden, aber nach wie vor wichtigen Themas ist nicht neu. Tatsächlich kam der Begriff in Mode, als der damals neu bestellte Generalsekretär der KPCh Jiang Zemin fast dieselben Worte nutzte, um eine der Untugenden (neben dem Wunsch nach Freiheit und Demokratie) zu beschreiben, die die Partei nach den Tian’anmen-Protesten 1989 ernsthaft erschütterten. Er hatte den 1988 von CCTV ausgestrahlten Dokumentarfilm River Elegy [Heshang] gesehen. Dieser Film entmystifizierte die Rückständigkeit der traditionellen chinesischen Kultur und stieß Diskussionen an, ähnlich wie sie in der Sowjetunion während der Politik von Glasnost und Perestroika unter Michail Gorbatschow geführt wurden.

Selbst heute geben chinesische Führer dem historischen Nihilismus die Schuld für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Ein weiteres kniffliges Problem in diesem Kontext ist die fehlgeschlagene Minderheitenpolitik der UdSSR, die den Nationalismus in den Grenzregionen bis zum Siedepunkt anheizte. Nachdem China Stalins Minderheitenpolitik bis ins Detail kopiert hat, fürchtet Peking vor allem das Risiko, das die eigenen ethnischen Minderheiten [shaoshu minzu] in den Grenzregionen für die Stabilität des Landes darstellen. Die Führung weiß nur zu gut, dass die Forderungen nach Unabhängigkeit, die heute in Xinjiang und Tibet laut werden, denen in den ehemaligen Sowjetrepubliken ähneln.

Der Tag des Sieges, an dem des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, wird bis heute in allen Städten und Dörfern Russlands begeistert gefeiert. Das Bild zeigt eine Veranstaltung am 9. Mai 2015 in der abgelegenen Ortschaft Nowoselenginsk in der zu Russland gehörenden Republik Burjatien. Eine junge Frau verteilt kascha, eine Buchweizengrütze, zubereitet nach einem Rezept der Roten Armee aus dem »Großen Vaterländischen Krieg«. Verständlicherweise möchte Peking nicht dasselbe Schicksal erleiden wie die Sowjetunion und ein Viertel seines Territoriums über Nacht verlieren. Zudem ist von Bedeutung, dass die Region um Nowoseleginsk einst der Qing-Dynastie gehörte, bevor der Zar sein Reich nach Osten ausdehnte.

Das verwöhnte Kind mit der Zeitbombe: Nordkorea

Eine Wanderung zum Gipfel des Tashan ist weder besonders aufregend noch anstrengend, aber die Aussicht ist spektakulär: In der Entfernung erhaschen wir einen Blick auf den »Turm des göttlichen Lichts«, ein monumentales Relikt aus der Zeit des Balhae-Reichs (698–926), eines koreanischen Königreichs, das stark vom China der Tang-Dynastie beeinflusst war. Zu unseren Füßen erstreckt sich ein grüner Kiefernwald bis ins Tal, wo er an riesige Wohnkomplexe und Fabriken grenzt, die zur Großgemeinde Changbai gehören. Wirklich faszinierend ist aber der Panoramablick über die nordkoreanische Stadt Hyesan und ihre Umgebung. Sie liegt in der Provinz Ryanggang jenseits des Flusses Yalu. »Möchten Sie einen Blick auf das Land von ›Kim Fatty III‹ werfen?«, fragt uns eine Hochchinesisch sprechende Frau. Viele Chinesen bedienen sich dieses abfälligen Spitznamens, wenn sie vom nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un sprechen, obwohl der Begriff auf chinesischen Webseiten seit 2016 zensiert wird. Die Frau verkauft nicht nur Snacks und Erfrischungen, sondern lässt uns auch gegen eine kleine Gebühr durch zwei Teleskope schauen, die auf einer Plattform über dem Tal stehen.

Offenbar sorgt es für einen speziellen Nervenkitzel, wenn man ganz normale Menschen am anderen Flussufer bei ihren Alltagsaktivitäten beobachtet. Allerdings gibt es nur wenige Länder, bezüglich derer diese Art des Voyeurismus so verführerisch ist. Diese Faszination hat mehrere Gründe: Der wichtigste ist wohl, dass wir nicht hinter die Fassade Nordkoreas schauen können. Wir wollen nichts versäumen, wohl wissend, dass das, was wir nicht sehen, aufschlussreicher ist als das, was wir sehen. Manchmal fühlt man sich wie in einem Theater bei der Vorführung einer Laterna magica – ohne zu wissen, wer der Zeremonienmeister ist und ob die Show eher bildend oder unterhaltend gemeint ist.

Durch Flüsse getrennt, durch Geschichte verbunden

Chinas Beziehungen zu Nordkorea sind komplex und widersprüchlich, und es ist eine Herkulesaufgabe, ihre Feinheiten zu erklären. Nordkorea ist ein geheimnisvolles Land. Die gemeinsame Grenze mit China ist ungefähr 1400 Kilometer lang und folgt den Flüssen Yalu und Tumen. Obwohl die Beziehungen zwischen China und Nordkorea nur ein paar Jahrzehnte alt sind, tragen beide Länder schwer an der Last ihrer gemeinsamen Geschichte, die enormen Druck auf die aktuellen Beziehungen ausübt. Zeichen dieser Belastung sind an mehreren Punkten entlang der Grenze sichtbar: von Yanji, der Hauptstadt des Autonomen Bezirks Yanbian der Koreaner in der Provinz Jilin, bis nach Dandong, der größten Grenzstadt in der Provinz Liaoning. Die Landschaft entlang der beiden Flüsse ist gleichförmig und öde, sieht man vom Berg Paektusan [bzw. auf Chinesisch Changbaishan] ab. Reisende haben also genug Zeit, um sich zu fragen, wie die Geschichte dieser Region die aktuelle Situation beeinflusst. Wir versuchen unterwegs, die Richtung vorherzusagen, in die sich die Beziehung zwischen den vormals so eng Verbündeten in Zukunft entwickeln könnte. Eine der größten Herausforderungen bilden die Menschenrechtsverletzungen und die Atomwaffentests. Wie passt das zu dem, was wir von außen sehen, und zu dem, was wir nicht sehen dürfen, aber trotzdem zu entziffern versuchen? Ein Ausflug in diese Grenzregion hilft vielleicht, Nordkoreas erratisches Verhalten zumindest ansatzweise zu verstehen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie dieses rätselhafte Land tickt.

Die beiden Jungs, die am östlichen Ufer des Yalu-Flusses stehen, entdecken uns sehr schnell, fast zu schnell. Stundenlang waren wir dem sich dahinschlängelnden Fluss gefolgt und hatten versucht, alles Lebendige auf der anderen Seite zu erkennen: Bauern, die ihre Felder bestellen oder Ziegen zum Trinken führen, Frauen, die Kleider im Fluss waschen, Soldaten, die am spärlich bewachsenen Ufer patrouillieren oder einfach nur entspannen und miteinander plaudern. Dörfer mit traditionellen strohgedeckten Lehmhäusern liegen verstreut am Ufer und wirken ganz friedlich in der Idylle der späten Nachmittagssonne. Es ist schwer zu glauben, dass die nordkoreanische Wirtschaft in den 1970er Jahren besser dastand als die des nordöstlichen Chinas. Als wir eine kurze Rast machen, kommt einer der Jungs zum Ufer gerannt. Bevor wir ihm überhaupt zuwinken und fragen können, was er will, hat er schon ein paar Steine in der Hand und schleudert sie wütend zu uns hinüber. »Fahren wir weiter«, meint unser Fahrer schnell, »bevor mein Auto verbeult ist.« Ist dies vielleicht bereits eine Metapher für die »Nation rassistischer Zwerge«, wie es in der Überschrift einer Rezension von Brian Reynolds Myers’ kontroversem Buch The Cleanest Race – How North Koreans See Themselves and Why it Matters hieß?

Ohne Lippen frieren die Zähne

China profitiert an sich nicht von solch provokantem Verhalten der Bewohner seines Nachbarlandes, aber es hat seinen Anteil daran (und keinen geringen), dass die Beziehungen so schwierig sind. Seit seiner Gründung hat Nordkorea eine sehr ambivalente Haltung gegenüber Ausländern, egal ob Chinesen oder Nicht-Chinesen. Der Grund dafür ist Juche, die patriotische Ideologie des Landes, die auf Selbstversorgung gründet und alle Schichten der nordkoreanischen Gesellschaft durchdrungen hat. Diese extrem egoistische Denkweise, die der Außenwelt mit Gleichgültigkeit begegnet, wurde bereits vom ersten Diktator Nordkoreas, Kim Il-sung, entwickelt. 1950 fiel er in Südkorea ein und begann im Mai 1951 zu fürchten, dass Mao Zedong eine Einigung mit den USA befürworten, d. h. die damals gültige Front als Demarkationslinie akzeptieren würde. Gemäß dem sowjetischen Botschafter in der Demokratischen Volksrepublik Korea sagte Kim zu seinem engen Vertrauten, dem später als Spion hingerichteten Pak Hong-Yong: »Ich würde eher den Krieg ohne chinesische Hilfe fortführen, als eine solche Konzession zu machen. Es macht keinen Unterschied, wir brauchen so ein Korea nicht.« Nationalistischer Stolz stand immer ganz oben auf der Agenda der drei Kims, genauso wie auch eine gewisse Abenteuerlust. So charakterisiert jedenfalls der bekannte chinesische Historiker Shen Zhihua, basierend auf seinen Erfahrungen aus der Zeit des Kalten Krieges, den politischen Ansatz eines Kim Il-sung sowie sein Verhältnis zur Außenwelt.

Wenn man sich die Umstände, die zur Gründung von Nordkorea führten, genauer anschaut, versteht man ein bisschen besser, warum die scheinbar irrationale Haltung der nordkoreanischen Führung nicht nur business as usual ist, sondern in vielerlei Hinsicht aus einem gewissen Pragmatismus resultiert. Mehr als 60 Jahre nach der Staatsgründung scheint Kim Il-sungs Enkel gegenüber manchen Dingen, die seinem mächtigen Nachbarn wichtig sind, genauso gleichgültig zu sein wie sein Großvater. Journalisten haben zu Recht bemerkt, dass die Beziehungen zwischen Peking und Pjöngjang ziemlich abkühlten, nachdem Nordkorea nicht nur 2013 seinen dritten Nuklearwaffentest durchgeführt, chinesische Fischer festgenommen und ihre Schiffe beschlagnahmt hatte, sondern auch Jang Song-thaek, der für Handelsbeziehungen mit China eingetreten war, hinrichten ließ. Mit anderen Worten: Konflikte oder Streitigkeiten mit China sind nichts Neues für Nordkoreas Führer, wie es die Geschichte der Beziehung der beiden Staaten nur allzu gut belegt. Diese ist oft, aber nicht immer korrekt, mit der Metapher »Zähne und Lippen« bezeichnet worden: Wenn es keine Lippen (Nordkorea) gibt, frieren die Zähne (China).

Seit der Gründung Nordkoreas gingen Kooperation und Misstrauen im Umgang der beiden Nachbarländer immer Hand in Hand, und die Führer beider Länder schienen sich bei vielen Begegnungen über ihr Gegenüber zu ärgern. Zhou Enlai beklagte sich, dass die Nordkoreaner zu Beginn des Koreakrieges (1950–1953) nur selten Geheimdiensterkenntnisse mit den Chinesen teilten. Kim hingegen nahm es Mao übel, dass er darauf bestand, dass China das Militärkommando über die gemeinsamen Truppen im Kampf gegen die Einheiten der Vereinten Nationen behalten sollte. Auch wenn es immer wieder Anlass zum Streit zwischen den beiden Ländern gab, erwies sich aber letzten Endes die »Vernunftehe« (Shen Zhihua) stärker als alle Unstimmigkeiten. Es stimmt wahrscheinlich, dass beide Länder dieses endlose Katz-und-Maus-Spiel zu ihrem eigenen strategischen Vorteil spielen (China nimmt dabei immer eine geopolitische Perspektive ein, während Nordkorea um sein Überleben fürchtet). Deswegen sind ihre Beziehungen auch so unberechenbar. Aber dieser Tage scheint Kim Jong-un mehr zu riskieren als seine Vorgänger.

Die Wandmalerei der Gedenkstätte auf der anderen Seite des Flusses ist kaum sichtbar. Beim genaueren Hinschauen erkennt man durch das Teleobjektiv einen aufrecht stehenden Mann mit weißer Jacke, Schal und Stiefeln, fast wie ein Dandy, der mitten im Schnee steht und in die Ferne blickt. Neben der Malerei, in der realen Welt, steht ein Soldat mit einem Maschinengewehr über der Schulter. Er scheint dieses Propagandagemälde zu schützen – vielleicht vor Vandalismus? Es zeigt Kim Il-sung, wie er gerade den Yalu-Fluss überquert und seinen revolutionären Pfad beschreitet, um Nordkoreas höchster Führer zu werden. – Die allgemeine Öffentlichkeit weiß, dass Chinas Unterstützung für Nordkorea bis auf den Koreakrieg zurückgeht. Aber wichtiger (und weniger bekannt) ist, dass das Überleben der chinesischen Kommunisten vor der Gründung der VR China in hohem Maße von ihren koreanischen Kameraden abhing, und das war Jahre vor dem Koreakrieg. »Transnationale Kader-Beziehungen« nannten Forscher wie Charles Kraus diese engen Verbindungen der beiden kommunistischen Parteien. Die Führer beider Länder können diese Fakten nicht ignorieren, und es wirkt, als würden sie mit diesen historischen »Lasten« bis zum heutigen Tag kämpfen.

Revolutionäre Bande in der modernen Welt

In Yanji, der Hauptstadt des Autonomen Bezirks Yanbian der Koreaner in der Provinz Jilin, kann es sehr kalt werden. Die vor allem von ethnischen Koreanern bewohnte Stadt machte im Jahr 2000 tragischerweise internationale Schlagzeilen. Damals wurde der Pfarrer Kim Dong-shik, der seinen ständigen Wohnsitz in den USA hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach von nordkoreanischen Agenten gekidnappt, über die Grenze in eines der berüchtigten Gefangenenlager gebracht und später zu Tode gefoltert. Es ist eine der vielen Gräueltaten, die mit Nordkorea in Verbindung gebracht werden; sie werden von Menschenrechtsorganisationen penibel dokumentiert und in Protestaktionen beklagt. Bei unseren Spaziergängen auf der Straße des Lichts [Guangming jie] in Yanji herrscht aber Normalität, von Brutalität ist nichts zu spüren: Wir sehen Werbung für Schönheitssalons, Wahrsager, Karaoke, ein Hochzeitsfotoatelier und Geschäfte, die lokale Spezialitäten von Geweihsprossen (ein Aphrodisiakum) bis hin zu Ginseng verkaufen – und alles ist in zwei Sprachen angeschrieben: Chinesisch und Koreanisch.

Größere Gruppen von Koreanern wanderten zuerst in dieses Gebiet ein, das am Ende der Qing-Dynastie als »Mandschurei« bezeichnet wurde. Die meisten flohen vor Naturkatastrophen. Als Japan im Jahr 1910 Korea formell annektierte, kam es zu einer zweiten Einwanderungswelle, die von den Han-Chinesen nicht immer enthusiastisch begrüßt wurde. Am Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte der koreanische Bevölkerungsanteil mit ungefähr 1,7 Millionen Koreanern in den drei nordöstlichen Provinzen Chinas seinen Höhepunkt (ein Drittel davon kehrte später wieder auf die Koreanische Halbinsel zurück). Ethnische Koreaner schlossen sich nicht nur vor bzw. während des Zweiten Weltkriegs antijapanischen Aktivitäten an, sondern viele unterstützten auch während des Chinesischen Bürgerkriegs die Kommunisten in ihrem Kampf gegen die nationalistische Regierung. Als die Nationalisten die Transport- und sonstigen Verbindungen zwischen südlicher und nördlicher Mandschurei abschnitten, wurden die chinesischen Kommunisten, was die Versorgung betraf, vollkommen von Korea abhängig. Es sind diese revolutionären Beziehungen zwischen der KPCh und der Kommunistischen Partei Koreas (der Vorgängerin der heutigen Partei der Arbeit Koreas), die die Beziehungen zwischen den beiden Ländern bis heute prägen. Auch wenn territoriale Ansprüche Nordkoreas zumindest für den Moment kein Thema mehr zu sein scheinen (obwohl Pjöngjang nach wie vor gerne die Souveränität über einen großen Teil des Paektusan hätte), könnten sich derartige aus der Vergangenheit stammende brüderliche Verpflichtungen in Zukunft als hinderlich erweisen.