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Pekings chinesischer Weg und sein strategisches Großprojekt "Neue Seidenstraße" sind mehr als das Ringen mit den USA um Platz eins. Sie sind der Versuch, dem westlichen Modell von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein Ende zu bereiten und es durch das chinesische aus Kapitalismus und Unfreiheit zu ersetzen. Wenn die Europäer nicht untergehen wollen, müssen sie sich gemeinsam dem Kampf der Systeme stellen. Der Journalist und Autor Martin Winter bewertet Europas geostrategische Herausforderungen im Lichte der neuesten Entwicklungen in den USA, der Pandemie und des Entstehens der weltweit größten Freihandelszone in Asien. Eindringlich skizziert er, was die EU tun sollte, damit nicht alles in Gefahr gerät, was Europa ausmacht.
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Seitenzahl: 417
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Umschlaggestaltung: Sabine Schröder Umschlagmotiv: Sashkin /shutterstock
Satz: Sibylle Schug, München
E-Book Konvertierung: Text & Bild | Michael Grätzbach
ISBN: 978-3-7844-8408-2
www.langenmueller.de
Ohne die vielen Thinktanks,
politischen Stiftungen und Experten aus aller Welt, die China seit Jahren kritisch
beobachten und regelmäßig darüber berichten,
und ohne die Politiker und Diplomaten,
die bereitwillig und ausführlich Auskunft
über die europäische Chinapolitik gegeben
haben, wäre dieses Buch nicht möglich geworden.
Ihnen allen danke ich.
Martin Winter
Inhalt
1 Unangenehmes Erwachen
2 Heerschau in Peking – 1. Oktober 2049
3 Vier Verwundbarkeiten und ein Schlachtplan
4 Viele Monster und ein Drache
5 China ist überall
6 Die Not, die Gier und die Macht des chinesischen Geldes
7 Das neue Imperium
8 Rüstungswettlauf – China holt auf
9 Amerika und China. Das Duell des Jahrhunderts?
10 Exkurs: Kleines Taiwan – großer Krieg?
11 Russland Arm in Arm mit China – der europäische Albtraum
12 Kontrolle total – China arbeitet am Traum aller Autokraten
13 Attacke – Chinas Weg gegen das Modell Westen
14 Europa – Vision und Misere
15 Wachsen oder Vergehen – Europas China Challenge
Quellen
1
Die Europäer sind Teil des Ringens um die globale Vorherrschaft – ob sie es mögen oder nicht.
UNANGENEHMES ERWACHEN
Die Europäer schauen mit wachsender Nervosität auf die Welt. Lange hatten sie sich vor den großen, globalen Konflikten in Sicherheit gewähnt. Geschützt durch ihre wirtschaftliche Kraft und eingebettet in den, wie es ihnen schien, schier unüberwindlichen Westen, hatten sie sich seit dem Beginn des Jahrhunderts einer gewissen Selbstzufriedenheit hingegeben. Das war riskant. Wie riskant, zeigt sich in den zwei großen Krisen, die 2020 über die Welt kamen, der Handelskrieg zwischen den USA und China und die Coronapandemie. Wer es bis dahin noch nicht wusste, weiß nun, dass die Erfolge der Vergangenheit nicht vor den Gefahren der Gegenwart und der Zukunft schützen.
Die Hoffnung, dem noch irgendwie ausweichen zu können, ist vergeblich. Denn die Europäer stehen nicht mehr vor diesen Gefahren, sondern sie stecken schon mittendrin. Ob sie es wollen oder nicht, sie sind Teil des großen Ringens um die globale Vorherrschaft. Auf die Führungsmacht USA ist nur noch sehr bedingt Verlass. Russland schlägt in imperialem Phantomschmerz um sich und zertrümmert dabei Teile der fragilen, internationalen Friedensordnung. Als reichte das noch nicht, wird die große Macht im fernen Asien immer aggressiver. Um diese Tatsache sollten sich die Europäer ganz besondere Sorgen machen, denn sie ist die in der Geschichte der Europäischen Union und damit in der der Bundesrepublik Deutschland bislang größte und gefährlichste Herausforderung für das eigene, freiheitliche Modell.
Natürlich ist es auch den Europäern nicht entgangen, dass sich das Reich der Mitte spätestens seit der Jahrtausendwende zu einer Wirtschafts- und Technologiemacht entwickelt. Aber in ihrem Eifer, lukrative Geschäfte mit China abzuschließen, hatten sie fahrlässig oder mutwillig die andere Seite der chinesischen Entwicklung unterschätzt. In China wächst nicht nur ein Wirtschaftsriese heran, sondern auch eine politische, militärische und ideologische Großmacht mit globalem Anspruch.
Zu diesem Schluss waren die USA schon unter Präsident Barack Obama gekommen. In Europa brauchte man dagegen bis 2019, um kritisch und genauer hinzuschauen. »Aufgewacht« wurde dann das chinapolitische Schlüsselwort in Berlin und Brüssel. Paris verkündete das Ende der Naivität. Manche Illusion über eine goldene europäisch-chinesische Zukunft wurde diskret entsorgt. »Systemwettbewerb« avancierte zum Zentralbegriff dieser Debatte. Aber erst als das Coronavirus über die Welt kam, gewann die Chinakritik die Oberhand über die Wegschauer, die sich in Wirtschaft und Politik gleichermaßen finden. Das Coronavirus war und ist nicht chinesisch, aber der Umgang mit dem Beginn der Pandemie hat einige der dunklen Seiten in den europäisch-chinesischen Beziehungen zum Vorschein gebracht. So stellte sich in dieser Gesundheitskrise Europa immer lauter die Frage, ob es sich nicht zu sehr von Zulieferungen aus China abhängig gemacht hat, nicht nur bei Hygieneprodukten wie Masken, sondern auch auf anderen Gebieten.
Während sie die Dimensionen der chinesischen Herausforderung zu verstehen begannen, mussten sich die Europäer zugleich der Erkenntnis stellen, dass es den Westen, so wie sie ihn kannten und wie sie sich geschützt in ihm eingerichtet hatten, nicht mehr geben wird. Unter Präsident Donald Trump fingen die USA an, sich aus ihrer internationalen Führungsrolle zurückzuziehen. Gleichzeitig wurde die Politik der zunehmend nur noch an den eigenen Interessen orientierten Großmacht immer aggressiver. Washington brach einen schweren Handelskrieg mit China vom Zaun, nicht nur ohne Abstimmung mit seinen westlichen Partnern, sondern im Gegenteil auch noch begleitet von wirtschaftlichen Attacken auf die Europäer. Von den Ambitionen Chinas bedroht, mit einem Amerika als Partner, auf den man sich auch nach Trumps Abwahl nicht mehr voll verlassen kann, und in unangenehmer Nachbarschaft zu Russland lebend, stecken die Europäer in einer Klemme. Aus der kommen sie nur, wenn sie einen eigenen Weg finden. Anderenfalls kommen sie im Kampf der Großen und der Möchtegerngroßen unter die Räder.
Obwohl sich die Europäer dieser prekären Lange mehr oder weniger bewusst sind, schwanken sie, wie sie ihr begegnen sollten. Sie sind sich nicht einmal darüber einig, wie die chinesische Herausforderung zu bewerten sei.
Ist China immer noch mehr Chance als Gefahr? Soll man sich anschmiegen oder zum Gegenschlag ausholen? Eine gemeinsame und wirkmächtige Antwort Europas auf die Globalisierung chinesischer Art ist nicht in Sicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sie geben wird, ist angesichts der tief sitzenden außen- und sicherheitspolitischen Uneinigkeit der Europäer gering. Sie haben ihren chinapolitischen Moment möglicherweise schon verpasst. Jedenfalls als Gemeinschaft, denn der chinesische Spaltpilz hat sich in der EU bereits festgesetzt. Einige Mitglieder der Europäischen Union haben sich mit dem neuen, imperialen China schon zu weit eingelassen. Die einen aus Not. Die zweiten aus Gier. Die dritten aus Mutwillen, weil ihnen das westliche Modell nicht behagt.
Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten steht das sozialistisch regierte und kapitalistisch bewirtschaftete China kurz davor, zur größten Volkswirtschaft der Welt aufzusteigen. China hat aus Kapitalismus und Leninismus ein einzigartiges Modell aus Unterdrückerstaat und Wirtschaftserfolg geformt. Durch einen Handelskrieg lässt sich das nicht mehr aus der Welt schaffen. Denn einen Handelskrieg, der China wirksam aufhalten könnte, kann sich der Westen nicht leisten. Wer es dennoch versucht, riskiert dramatische Einbrüche der Wirtschaft und des Wohlstandes in Europa und in Amerika mit unkontrollierbaren sozialen und politischen Folgen. China ist auf Amerika und Europa angewiesen – aber umgekehrt gilt das ebenso.
Selbst die Coronapandemie beendet den chinesischen Aufstieg nicht. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen hat Corona zwar manches durcheinandergebracht und die Zweifel an der Globalisierung gestärkt. Aber die ökonomischen und geostrategischen Grunddaten der kommenden Jahrzehnte werden dadurch nicht verändert. Zum anderen haben die USA in der Coronakrise einen desaströsen Eindruck hinterlassen, zum Schaden auch Europas. Denn das amerikanische Versagen in der Pandemie hat in gleich doppelter Weise das Vertrauen in den Westen und in seine Fähigkeiten weltweit tief erschüttert. Einerseits hat sich die Supermacht zu Hause lange Zeit als weitgehend hilflos gegenüber der Herausforderung erwiesen. Zum anderen hat sich die Führungsmacht USA der Führung im weltweiten Kampf gegen das Virus verweigert.
Der amerikanisch verursachte Ansehensverlust des Westens hat Folgen für den Wettbewerb der Systeme. Die Menschen schauen weltweit zwar kritischer auf China. Für Peking war das Jahr 2020 ein PR-Desaster. Zugleich aber schätzen die Menschen, wie die Studie Transatlantic Trends 2020 ergab, China stärker als eine global einflussreiche Macht ein, während die USA spürbar an Boden verlieren. Die Mehrheit der Europäer geht sogar von einem Sieg Chinas im Ringen mit den USA aus. Fast sechzig Prozent glauben, dass China »in zehn Jahren die stärkere Macht« sein werde, wie eine Umfrage des European Council on Foreign Relations 2021 ergab.
Wie also umgehen mit diesem schier unaufhaltsam wachsenden China? Da gibt es jene, die hoffen, dass der wirtschaftliche Erfolg eines Tages seine staatlichen Ziehväter frisst, dass sich die wachsende ökonomische Mittelschicht in China politisiert, sich der staatssozialistischen Herrschaft entledigt und sich mehr oder weniger in das westliche Regelwerk des Handels, der liberalen Staatsordnung und in die multilaterale Ordnungsidee fügt. Andere setzen auf einen Prozess der Verelendung. Hinter der mächtigen Fassade der Volksrepublik verberge sich ein wirtschaftlich, sozial und politisch marodes System, das über kurz oder lang in sich zusammensacken werde – so wie es der Sowjetunion ergangen ist. Das sind zwei sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen, die aber einen gemeinsamen Nenner haben: Hoffnung. Die Hoffnung, dass das chinesische System keinen Erfolg haben kann und es sich auf die eine oder andere Weise selbst erledigen wird.
Hoffnungen kann man hegen, aber als Fundament einer europäischen Chinapolitik taugen sie nicht. Sie sind im Gegenteil riskant. Denn wer sich die gegenwärtige Welt schöndenkt, dem drohen bei der Kollision mit der Realität schmerzhafte Lehren. Diese Kollision kann Europa vermeiden und zugleich Einfluss auf den Lauf der Welt nehmen, wenn es seine Politik auf der Annahme aufbaut, dass ein Umsturz der politischen Verhältnisse in China weder heute noch morgen und wahrscheinlich auch nicht übermorgen zu erwarten ist. Bestenfalls lässt sich darauf hoffen, dass irgendwann wieder die Moderaten in der Kommunistischen Partei Chinas die Linie bestimmen. Aber auch die werden nicht auf den Alleinherrschaftsanspruch der KPCh verzichten. Die Europäer sollten darum keine Zeit mit Träumen vom Regimewechsel in Peking verschwenden, sondern sich nüchtern der Frage stellen, welche Form der Koexistenz mit diesem China gefunden werden kann, die auch europäischen Interessen dient. Eine gemeinsame westliche Position gegenüber China, wie sie nach dem Ende der Ära Trump transatlantisch verstärkt diskutiert wurde, dürfte angesichts teilweise unterschiedlicher Interessen diesseits wie jenseits des großen Teichs nur partiell möglich sein. Europa braucht also aus zwei Gründen eine eigenständige Chinapolitik: Zum einen, um sich China gegenüber zu behaupten. Zum anderen, um sein Gewicht im Westen angemessen zum Tragen bringen zu können.
Europa sei, das räumen Politiker, Diplomaten und Wirtschaftsführer ein, viel zu lang zu gutgläubig gewesen, man habe nicht genau hingeschaut und man habe sich eben einfach nicht gekümmert. Dass die Europäer die Herausforderung aus dem Osten vergleichsweise spät erkannten, hatte wohl auch mit den romantischen Bildern vom Reich der Mitte zu tun, die Marco Polo im 13. Jahrhundert mit seinen abenteuerlichen Reiseberichten geprägt hat und die auch heute noch in europäischen Köpfen herumspuken. China ist außerdem weit weg. Zugleich ist es nicht so einfach, sich aus dem Schubladendenken zu lösen, das strikt zwischen Wirtschaft, Politik, Kultur und internationaler Zusammenarbeit separiert und das die Haltung gegenüber China lange geprägt hat.
Immerhin steht das Thema China seit 2020 prominent auf der europäischen Tagesordnung. Es liegt im eigenen Interesse der Europäer, genauer und kritischer hinzuschauen, was da in China vor sich geht, und entschiedener zu reagieren. Denn Europa ist nicht Zuschauer, sondern Teil jenes globalen Spiels, in dem bis Mitte dieses Jahrhunderts darüber entschieden werden wird, wie die Zukunft aussieht: multipolar, bipolar oder Alleinherrschaft einer einzigen Supermacht.
Wie sehr diese Dinge im Fluss sind und wie ungewiss die Zukunft ist, zeigt das Beispiel des renommierten Asienexperten Parag Khanna. 2008 vertrat er noch die Drei-Imperien-Theorie. »Die Weltordnung wird durch Beziehungen zwischen Imperien – nicht zwischen Staaten oder Kulturen – geprägt«, schrieb er damals in »Der Kampf um die zweite Welt«. Neben den USA und China sah Khanna die Europäische Union als eines der »drei natürlichen Imperien«. Zwölf Jahre später vertritt Khanna eine radikal andere Position. Die Zukunft der Welt sei »asiatisch«. Also nicht amerikanisch, europäisch, chinesisch oder indisch. Angesichts der Schwäche des Westens und der Dynamik der asiatischen Länder glaubt Khanna an eine Renaissance jener glorreichen Vergangenheit von vor mehr als tausend Jahren, in der die asiatischen Staaten durch die Seidenstraße miteinander verbunden und dadurch Europa kulturell und ökonomisch weit voraus waren. China wäre also nur ein Teil eines Asiens, wenn auch ein sehr wichtiger, das bis an den Bosporus reichen und das die Zukunft prägen würde.
Ob nun Kampf der Imperien oder Sieg der asiatischen Wirtschafts- und Lebensweise über die westliche, die europäische Union steht so oder so vor dem gleichen Problem: Sie ist wegen innerer Zerwürfnisse und außenpolitischer Uneinigkeit selten in der Lage, ihre Stärken zum Tragen zu bringen. Es reicht für die Europäer also nicht, die chinesische Herausforderung als das zu erkennen, was sie ist. Sondern sie müssen sich auch fragen, was sie selbst tun müssen, um in diesem Spiel bestehen zu können. »Entweder Europa arbeitet zusammen oder wir werden strategisch irrelevant«, hatte 2009 der damalige EU-Außenbeauftragte Javier Solana gewarnt. Geschehen ist seitdem nichts. Die Straßen von Brüssel sind zwar gepflastert mit fleißigen Kommissionspapieren zu China, mit Gipfelerklärungen, mit Ratsbeschlüssen und mit gemeinsam mit Peking verabredeten Vorhaben. Und das Organigramm der institutionellen Kooperation zwischen Brüssel und Peking ist beeindruckend. Aber eine europäische Chinapolitik ergibt das alles nicht.
Während China seit 2013 immer weiter und immer selbstbewusster nach der Welt ausgreift, verlieren sich die Europäer im Klein-Klein ihrer internen Unverträglichkeiten. Diese Politik des mühsamen Kriechganges ist gefährlich in einer Zeit, in der in Sekundenschnelle Billionen Dollar um die Welt geschickt werden, in der neue Technologien im Jahresrhythmus Menschen und Märkte umkrempeln, in der staatliche und private Hacker in entfernten Ländern Chaos auslösen können und China in knapp vierzig Jahren eine Zwölf-Millionen-Wirtschaftsmetropole wie Shenzen aus dem Boden stampft. In solch einer Zeit haben die Europäer eines nicht: Zeit. Bleibt es uneinig und lethargisch, dann wird Europa zwischen China und den USA zerrieben.
Wenn das geschieht, dann geht mehr verloren als geopolitischer Einfluss oder wirtschaftliche Kraft. Dann wird auch beschädigt, was Europa im Kern ausmacht: Seine Art zu leben. Das europäische Modell aus Freiheit des Einzelnen, Liberalität in der Wirtschaft und Vielfalt in der Politik geriete in Gefahr. Denn beim Ringen mit China geht es nicht nur darum, wer welche Märkte beherrscht oder wer den größeren Atomknopf hat. Sondern es geht auch um die Regeln, nach denen sich die Welt künftig richtet. Als Teil des Westens steht Europa in einem Wettbewerb der Systeme. Chinas Weg kann nicht der europäische sein. Umgekehrt muss Peking das westliche Modell zurückdrängen, wenn es zu einer weltbeherrschenden Macht werden will. Auch das nämlich hat das moderne China vom Westen gelernt: Wer die Welt beherrschen will, der muss sie nicht nur wirtschaftlich von sich abhängig machen und militärisch überlegen sein, sondern der muss auch die internationalen Regeln und Standards prägen und die Welt geistig und politisch beeinflussen.
Die Chinesen begleiten ihre ökonomische Offensive mit einer ideologischen. Die fällt ihnen umso leichter, als der feste Glaubenssatz der Europäer von der Überlegenheit ihres Modells ins Wanken geraten ist. Selbst in ihren eigenen Reihen machen sie die Erfahrung, dass dem freien Markt die persönliche und politische Freiheit sowie der demokratische Rechtsstaat nicht auf dem Fuße folgen, wie die Beispiele Polen, Ungarn oder Rumänien zeigen. Demokratien sind nicht auf dem Vormarsch, Diktatoren, Autokraten, Halbautokraten und Populisten aber sehr wohl, wie etwa in der Türkei, in Russland oder Brasilien. Selbst erprobte Demokratien wie die amerikanische können der populistischen und antidemokratischen Versuchung verfallen, wie man seit Donald Trump weiß.
Der chinesische Weg, zumal dann, wenn er mit Geld gepflastert ist, gewinnt nicht nur Anhänger in Ländern, die nichts anderes als Autokratien gewohnt sind, sondern auch in dem einen oder anderen europäischen. Bei dem anstehenden Kampf der Systeme geht es für die Europäer also nicht nur darum, wovon sie in Zukunft leben wollen, sondern auch, wie. Die Europäer müssen sich entscheiden, ob sie Sieger oder Opfer sein wollen.
Sich sorgfältig, aber schnell auf den unvermeidbaren Zusammenstoß mit China vorzubereiten, liegt aus einem weiteren Grund im Interesse Europas. Den Westen, wie wir ihn einmal kannten, gibt es nicht mehr. Selbst wenn Donald Trumps »America first« nur eine Episode bleibt, Spuren wird sie auf jeden Fall hinterlassen. Die in der Ära Trump offensichtlich gewordene politische und soziale Zerrissenheit des Landes schwächt auch dessen Nachfolger. Selbst wenn sie die USA zu alter, internationaler Stärke zurückführen wollten, es dürfte ihnen kaum gelingen. Nach dem gewalttätigen Sturm eines von Trump aufgeheizten Mobs am 6. Januar 2021 auf das Kapitol, den Sitz des US-Kongresses, kam Richard Haas, Präsident des renommierten New Yorker Council on Foreign Relations zu dem Schluss, dass der Schaden, der an diesem Tage der US-Außenpolitik zugefügt worden ist, groß sei. »Die Post-Amerika-Welt, eine, die nicht länger von amerikanischer Überlegenheit bestimmt wird, kommt früher als erwartet – weniger wegen des unaufhaltsamen Aufstiegs von anderen, sondern wegen dessen, was die Vereinigten Staaten sich selbst angetan haben«, schreibt der erfahrene Diplo-mat und Politikwissenschaftler.
Die bequeme Formel, wonach die Amerikaner die Dinge der Welt für den Westen schon richten werden, funktioniert nicht mehr. Das ist einerseits ein Ergebnis der inneren Schwäche der USA. Andererseits funktioniert sie auch deswegen nicht länger, weil die europäischen und amerikanischen Interessen nicht mehr deckungsgleich sind, wie etwa zur Zeit des Kalten Krieges mit der Sowjetunion. Europa muss sich also selbst kümmern, aus seinen eigenen Machtinteressen heraus, aber auch, weil es im Zweifel allein den Westen gegen das Vordringen eines neuen Modells verteidigen muss, wenn die USA sich weiter aus dem Multilateralismus zurückziehen. Aber was kommt da eigentlich auf Europa zu? Und was soll es tun?
Die Lage Europas lässt sich in einfache Zahlen fassen: Standen die sieben größten Industrienationen der Welt (G7) – darunter die europäischen Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien – 1995 noch für 45 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes, so wird dieser Anteil bis zum Jahr 2050 nach verschiedenen Schätzungen auf 20 Prozent absinken. Der Anteil Asiens wird dagegen von 22 auf rund 50 Prozent ansteigen. Diesen Trend werden auch die wirtschaftlichen Turbulenzen im Gefolge der Coronakrise nicht grundlegend ändern. Allein diese Verlagerung der ökonomischen Gewichte lässt Europa große Teile seiner Einflusswege einbüßen. Viele Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas orientieren sich darum immer weniger am Westen, sondern wenden sich jenen zu, die ökonomisch erfolgreicher sind. Und das sind nicht die Europäer, sondern Koreaner, Inder, vor allem aber Chinesen.
Wer sich Europa auf einem Globus anschaut, diesen dann langsam nach links dreht und ihn stoppt, sobald, sagen wir, Kasachstan in die Mitte seines Blickfeldes gerät, der hat vor Augen, was auf dem Spiel steht, der Superkontinent Eurasien. Der erstreckt sich von der Beringsee im Osten, an deren anderem Ufer der US-Bundesstaat Alaska liegt, bis zur irischen Westküste am Atlantik, gegenüber der Ostküste der USA. Zu Eurasien gehören der indische Subkontinent und die Arabische Halbinsel. Dieser aus Europa und Asien zusammengesetzte Kontinent ist das Zuhause von über 4,5 Milliarden Menschen, er teilt sich in über 90 Staaten auf und erstreckt sich über zwölf Zeitzonen. Über die Hälfte der Menschen in Eurasien lebt in Indien (1,3 Milliarden) und China (1,4 Milliarden). Eurasien ist mit 55 Millionen Quadratkilometern fünf Mal so groß wie die USA.
Und die Europäische Union? Sie liegt am westlichen Rand dieses Großkontinents, ist mit knapp vier Millionen Quadratkilometern noch nicht einmal halb so groß wie China und hat nur rund ein Drittel von dessen Bevölkerung. Bei der Wirtschaftskraft liegen die EU und die USA am Ende der 2010er-Jahre immer noch vor China. Dieser Vorsprung der Europäer aber wird in dem Maß zusammenschmelzen, in dem die Dynamik der chinesischen Wirtschaftsentwicklung anhält und Europa sich mit kleinen Wachstumsraten bescheiden muss.
Ob das 21. Jahrhundert einmal das amerikanische, das europäische, das chinesische oder gar das asiatische genannt werden wird, hängt davon ab, wem es am besten gelingt, Handelswege und Rohstoffquellen zu beherrschen, an der Spitze der technologischen und industriellen Entwicklung zu stehen, weltweit Regeln und Standards zu setzen, möglichst viele andere Länder in politischen Allianzen oder in direkter Gefolgschaft an sich zu binden und militärisch stark genug zu sein, das alles abzusichern. Und, besonders wichtig: die Macht über die internationalen Datenströme zu erlangen und zu behalten.
Das chinesische Problem ist politisch ungleich komplexer als die Herausforderung durch die Sowjetunion während des Kalten Krieges. China ist für Europa wirtschaftlich unverzichtbar und darum sehr nah. Politisch ist es den Europäern als eine Parteidiktatur sehr fern. Und geostrategisch liegt es weit weg, auf der anderen Seite der Welt. Die Versuchung, die ökonomischen Vorteile mitzunehmen und die politischen Nachteile zu ignorieren, ist zwar auch nach dem Erwachen in den politischen Quartieren der Europäischen Union groß. Doch angesichts des chinesischen Anspruchs, die USA bis zur Mitte dieses Jahrhunderts als Weltmacht Nummer eins abzulösen, muss Europa davon ausgehen, dass eine grundstürzende Änderung der Weltordnung bevorsteht.
Wenn sie mit ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell überleben wollen, müssen die Europäer nüchtern analysieren, was China will, was es kann und was es in die Waagschale zu werfen bereit ist. Bei einem aufziehenden Konflikt zwischen Staaten, riet der preußische Stratege Carl von Clausewitz, solle man des Gegners »Widerstandskraft abmessen«, bevor man es unternehme, ihn niederzuwerfen. Diese Widerstandskraft bestehe aus zwei Faktoren, die sich nicht voneinander trennen lassen, »die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft«. Es geht also darum auszumessen, über welche Mittel China verfügt und ob es den Willen besitzt, sie bis zum bitteren Ende einzusetzen.
In Europa wird jede größere Industrieanlage auf ihr Risiko-potenzial hin geprüft. Dabei wird der größte anzunehmende Unfall durchgespielt, und die Sicherheitssysteme werden an diesem GAU ausgerichtet. Das schließt den Super-GAU, also das vorher nicht Berechenbare wie die Katastrophen in Tschernobyl oder Fukushima nicht aus, es reduziert die Gefahren jedoch erheblich.
Die Politik muss mit zu vielen Unbekannten kalkulieren, als dass sie sich mit der gleichen Präzision auf einen GAU vorbereiten könnte. Dennoch hilft ein Worst-Case-Szenario, einen klareren Blick dafür zu bekommen, wohin die Reise gehen könnte und was man tun müsste, um die Route zu ändern. Es stellt sich also die Frage, wie sieht die Welt zur Mitte des Jahrhunderts aus, wenn China all das erreicht, was es sich unter seiner gegenwärtigen Führung vorgenommen hat?
Um die zu beantworten, lohnt es sich, für einen Moment in das Jahr 2049 zu reisen. Es ist der 1. Oktober. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking beginnen die Feiern zur hundertsten Wiederkehr der Gründung der Volksrepublik durch Mao Zedong. Auf dieses Jubiläum waren alle Anstrengungen der chinesischen Führung in den vergangenen Jahrzehnten gerichtet. Dabei ging es um nichts weniger als um die Vollendung Chinas als Weltmacht und als sozialistisches Land. Auf dem Platz treffen wir den Außenminister der Europäischen Konfödera-tion. Europäische Konföderation?
2
China kämpft nicht, es zermürbt. China überzieht die Länder, die es von sich abhängig machen will mit einem Krieg, der nicht wie ein Krieg daherkommt.
HEERSCHAU IN PEKING – 1. OKTOBER 2049
Alvise Lombardi ist schlecht gelaunt. Mürrisch schaut er auf den Platz des Himmlischen Friedens hinunter. Der liegt noch still und menschenleer da. Nur die Tribünen werden nach und nach von übernächtigten Politikern und Diplomaten bevölkert, die von weit her angereist sind. Das chinesische Protokoll hat die ausländischen Gäste in aller Herrgottsfrühe geweckt und hierhergeschleppt. Sie sind die Staffage für die Heerschau der chinesischen Macht. Peking legt Wert darauf, dass ihm alle Welt Reverenz erweist. An ihrem hundertsten Geburtstag demonstriert die Volksrepublik, wie mächtig die Strategie der Seidenstraße sie gemacht und wer jetzt das Sagen hat. Nicht überall, aber doch fast überall und immer.
Selbst wenn es dabei, wie heute, nur um einen frühen Aufbruch zur Feststätte geht, lassen die Chinesen keinen Zweifel aufkommen, wer bestimmt. Lombardi gibt es nicht gern zu, aber irgendwie bewundert er das Geschick der Chinesen, im diplo-matischen und politischen Umgang selbst mit kleinen Gemein-heiten eine größtmögliche Wirkung zu erzielen. Alle ärgern sich, so früh hierhergekarrt worden zu sein, aber keiner widersetzt sich. Die Chinesen sind Weltmeister in der Kunst, zu beeindrucken und zugleich Furcht zu verbreiten.
Immerhin, man sitzt bequem. Die farbenfroh geschmückten Tribünen, die den Platz, auf dem sechzig Jahre zuvor freiheitshungrige Studenten niedergemacht worden waren, zur vorüber-gehend größten Arena in der Geschichte der Menschheit machen, sind mit weichen Sesseln, einer Bar mit freundlicher Bedienung und allem ausgestattet, was man braucht, um einen ganzen Tag an diesem Ort auszuhalten. Den geehrten Gästen soll es an nichts fehlen, hatte die Hostess versichert, die ihnen ihre Plätze gezeigt hatte. Minidrohnen fliegen die Tribünen ab. Lombardi schaut gar nicht hin. Man hat sich daran gewöhnt, rund um die Uhr überwacht zu werden. In seinen Unterlagen war Lombardi über eine Fußnote gestolpert. Danach kommt in China eine öffentliche Überwachungskamera auf zwei Einwohner. Ob das stimmt? Wer weiß, aber glaubhaft scheint es ihm schon.
Lombardi, Außenminister und Vizepräsident der Europäischen Konföderation (EK) lässt seinen Blick über die Tribünen wandern. Frauen in eleganten Kleidern und Männer in feinen Anzügen füllen nach und nach die Reihen, dazwischen leuchtet der eine oder andere grelle Farbtupfer auf. Manch ein Gast hat sich in die farbenfrohe Festtagstracht seiner Heimat geworfen. Die Gästeliste liest sich wie das Anwesenheitsprotokoll der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die freilich ließe sich leichter schwänzen. Diese Feier ist dagegen ein Muss. Fernzubleiben kann sich keiner leisten. Wobei es zur politischen Realität dieser neuen Welt gehört, dass sich die meisten gern bei der führenden Weltmacht anlehnen. In deren Kraftfeld ist es zwar nicht immer angenehm, aber doch meist profitabel, politisch wie pekuniär. China hält mit 35 Prozent den größten Einzelanteil am globalen Bruttosozialprodukt, und seine privaten wie staatlichen Unternehmen haben sich bis in den letzten Winkel der Welt verbreitet. Die Giganten der Daten-industrie und des Internethandels sitzen in Shenzen und in Shanghai. Es ist ratsam, um das Wohlwollen der chinesischen Herren zu buhlen. Je näher ein Volk geografisch an China liegt, desto unmittelbarer spürt es den Druck und desto mehr muss es sich bemühen.
Das Werben um die Gunst Pekings hatte am Abend zuvor einen ersten Höhepunkt erreicht. Gekrönte Häupter, Präsidenten, Regierungschefs, Minister, Staatsoberhäupter, Kanzler, Ministerpräsidenten, Minister, Diplomaten, Stammeshäuptlinge, Generäle und die Damen und Herren globaler Konzerne hatten sich Schulter an Schulter auf dem Empfang der chinesischen Regierung gedrängt. Unter dem Dach des gewaltigen, einem buddhistischen Tempel nachempfundenen Zeltes, das nicht weit vom Platz des Himmlischen Friedens hochgezogen worden war, hatte man sich um die einflussreichsten Minister und um die Mandarine der Kommunistischen Partei geschart. Sich in Fleisch und Blut zu zeigen wirkt immer noch mehr, als eine noch so ausgefeilte Präsentation im virtuellen Raum. Auch untereinander achteten die Gäste darauf, eine gute Figur zu machen. Bloß kein öffentlicher Streit, nicht einmal kleine Rangeleien.
Die Gastgeber haben ihrem Fest das Motto »Chinas Weg zu einer harmonischen Welt« gegeben. Nichts und niemand soll die gute Stimmung stören. Man ist ausgesucht höflich zueinander. Hinter der Festtagsfassade jedoch beobachtet und belauert man sich. In diesen Zeiten herrscht ein harter Wettbewerb um die besten Plätze am chinesischen Suppentopf. Ehrliche Partner finden sich unter den Staaten nur selten, Freunde fast nie. Dafür geht es um zu viel.
Einige wenige allerdings schwimmen nicht mit diesem Strom. Sie haben ihre ganz eigene Vorstellung davon, was gut für sie ist. Die Bockigkeit, mit der sie sich gegen das Sinisieren der Welt sperren, verärgert Peking – und beunruhigt es zugleich. Wären das nur ein paar kleine Völker irgendwo am Ende der Welt, die sich China widersetzen, würde man in Peking nicht einmal mit den Achseln zucken. Aber es sind ausgerechnet die Staaten der Europäischen Konföderation, die sich querlegen. Staaten, die über den äußersten Westen Eurasiens herrschen, der in den chinesischen Plänen eine wichtige Rolle spielt und den fest in den Griff zu bekommen China immer noch nicht gelungen ist.
Es gibt kaum eine Verhandlung zwischen der Europäischen Konföderation und China, in der es deswegen nicht laut wird. Lombardi hat es sich angewöhnt, einfach nicht mehr auf die kalkulierten Wutausbrüche der chinesischen Verhandlungsführer zu reagieren. Dabei helfen ihm die chinapolitischen Planspiele, mit denen seine Mitarbeiter ihn auf mögliche chinesische Strategien vorbereiten, wie Peking doch noch eine beherrschende Mehrheit in Westeuropa zusammenbekommen könnte, wie man in Aktiengesellschaften sagen würde.
Lombardi war auch diesmal mit dem Gefühl nach Peking gereist, gut präpariert zu sein. Doch Zhang Tian hatte ihn kalt erwischt. Der chinesische Minister für europäische Angelegenheiten hatte ihn während des Empfangs in eine ruhige Ecke gezogen. Man müsse reden. Kurz, knapp und ohne die üblichen Höflichkeitsformeln. Ohne sich in diplomatischen Präliminarien zu verlieren, kündigte Zhang harsch an, Chinas Geduld sei nun zu Ende. Wenn die Konföderation glaube, es sich leisten zu können, die Wünsche Pekings weiter zu ignorieren, dann werde sie einen hohen, für sie zu hohen Preis zahlen müssen. Lombardi wusste aus langer Erfahrung, dass solche Grobheiten nur den Weg für den eigentlichen Angriff ebnen.
Der kam aus einer Ecke, aus der Lombardi ihn nie vermutet hätte und bei dem es ihm kalt wurde. So ganz nebenbei, eher wie einen Nebengedanken zu all den üblichen wirtschaftlichen Folterinstrumenten, die Peking ja noch auf Europa anwenden könne, erwähnte Zhang, dass die chinesische Kriegsmarine Manöver vor der Westküste Europas plane. Nun ja, sicher sei das noch nicht, andererseits aber auch kein großer Aufwand. Die Mittelmeerflotte könne in ein paar Tagen im Nordatlantik sein. Dorthin solle, habe er gehört, demnächst auch die siebte chinesische Flotte aufbrechen, die in Südafrika stationiert ist. Aber das sei, wie gesagt, nur ein Gerücht.
Ob Gerücht oder nicht, die Botschaft war klar. Theoretisch hatten sie in Brüssel die Möglichkeit schon einmal durchgespielt, dass China eine militärische Drohkulisse aufbauen könnte. Aber daran geglaubt hatte Lombardi keine Sekunde. Eine offene militärische Konfrontation dieser Größenordnung würde aller bisherigen chinesischen Politik widersprechen. China hatte sich bislang fast sklavisch an die Lehren seines Militärstrategen Sun Tsu gehalten, der vor über zweieinhalbtausend Jahren geschrieben hatte, dass die größte Leistung darin bestehe, »den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen«.
Die Volksrepublik China kämpft nicht, sie zermürbt. China überzieht die Länder, die es von sich abhängig machen will, mit einem Krieg, der nicht wie ein Krieg daherkommt. Mal streut es billige Kredite, mal investiert es in Bildung und Forschung, mal baut es Straßen. Wo sich das Wohlverhalten der Herrschenden nicht kaufen lässt, da wird ihren Ländern mit dem Verlust von Wohlstand gedroht. Wer seine Schulden in Peking nicht zurückzahlen kann, dem wird das Land unter dem Hintern weggepfändet. Die Herren in Peking beherrschen das Kriegshandwerk der Geduld perfekt. Sie umschmeicheln, locken und ködern mit großzügigen Wohltaten so lange, bis die Beute in der wirtschaftlichen und politischen Schuldenfalle sitzt.
Mit ihrer Militärmacht drohen die Chinesen normalerweise nicht. Jeder kennt sie. Und kaum eines der kleinen oder mittelgroßen Länder wäre in der Lage, ihr zu widerstehen. In diesem Krieg um die Herrschaft über den eurasischen Kontinent ist das Militärische darum bisher nur ein leises Rauschen im Hintergrund gewesen, das zu überhören man sich angewöhnt hatte. Dass Chinas Führer Wu Quan, ohne dessen Wissen und Zustimmung diese Drohung gegen Europa nie ausgesprochen worden wäre, diese Linie verlässt, ist besorgniserregend. Peking will sich offensichtlich unter allen Umständen und zu jedem Preis die letzte Meile bis zum Atlantik und bis zur Nordsee einverleiben, um den eurasischen Kontinent ganz unter seine Kontrolle zu bekommen.
China ist die führende Großmacht der Welt. Die kann sich keine leeren Drohungen leisten. Chinesische Manöver, vielleicht sogar gemeinsam mit ein paar russischen Kriegsschiffen, vor den Küsten Frankreichs, in der Irischen See und in der Nordsee würden Wellen der Angst durch Europa jagen, vom Nordkap bis zur Südspitze der Iberischen Halbinsel. Die Europäische Konföderation hat es schon schwer genug, ihre Völker immer und immer wieder davon zu überzeugen, dass es sich auch um den Preis wirtschaftlicher Nachteile lohnt, die eigene Freiheit zu verteidigen. Das ist ein mühsames Geschäft. Seit einigen Jahren schon legen Parteien bei den Wahlen zu, die die robuste Chinapolitik der Konföderation attackieren. In Brüssel weiß man, dass diese Parteien von Peking Geld bekommen, dass die Chinesen Einflussagenten in den politischen Apparaten bezahlen und dass gezielte Falschmeldungen über die sozialen Medien verbreitet werden. China versucht, Ängste zu schüren, die die Europäische Konföderation entscheidend schwächen könnten. Die Konföderation ist außen- und sicherheitspolitisch zwar enger zusammengeschweißt als die untergegangene Europäische Union, aber es ist immer noch eine Gemeinschaft mit Ausgangstür. Wenn durch diese unter chinesischem Druck nur ein oder zwei Länder gehen, dann wäre das der Anfang vom Ende der Konföderation.
Selbst wenn das abgewendet werden kann und selbst wenn China seine Flotten irgendwann wieder in ihre Heimathäfen zurückruft, bleibt Europa doch mit einem langfristigen strategischen Problem zurück. Seine Handelsrouten nach Nord- und Südamerika sind potenziell bedroht. Denn von nun an rechnet man besser damit, dass China sich militärisch im Atlantik festsetzen will, was sowohl für die USA wie für die Europäische Konföderation neue sicherheitspolitische Risiken aufwirft.
Diese innereuropäischen und transatlantischen Folgen der chinesischen Drohung hatte Lombardi schon einmal grob durchgerechnet, während Zhang noch auf ihn einredete. Schön war das Ergebnis nicht. Und seine Antwort an Zhang war am Vorabend denn auch ziemlich schwach ausgefallen. Die internationalen Gewässer stünden allen offen, hatte er gesagt. Man solle sie aber mit Vorsicht befahren. Vor allem solle man sich vor Gerüchten hüten, denn aus denen könnten Stürme werden. Zhang hatte nur gelächelt. Peking kenne die militärische Stärke der Europäer und ihre Grenzen.
Die EK hatte in den letzten Jahren zwar aufgerüstet. Sie hatte sich ein Raketenabwehrsystem zugelegt, und die Einheiten zu Lande, zu Wasser und in der Luft waren modernisiert worden. Selbst bei der Cyber-Kriegsführung hatte man kräftige Fortschritte gemacht. Aber man hatte immer noch einen langen Weg vor sich, um an eine direkte Konfrontation mit der Volksbefreiungsarmee auch nur denken zu können. Schlimmer noch, die französische und die britische Atomstreitmacht sind zu schmalbrüstig, um wirksam abzuschrecken. Kurzfristig wieder unter den amerikanischen atomaren Schutzschirm zu schlüpfen dürfte schwierig werden. Wir haben, denkt Lombardi, trotz aller Vorsicht im Umgang mit dem Reich der Mitte die Grundregel aller internationalen Politik missachtet: Hope for the best, prepare for the worst.
Uns bleibt nicht viel Zeit, hatte Lombardi der Präsidentin der Konföderation Gabrielle Moulin noch am Abend zugeflüstert. Bevor China seine Drohung nach und nach über die sozialen Medien in die Öffentlichkeit sickern lasse, um den Druck auf die Europäer zu erhöhen, müsse die Europäische Konföderation umgehend sicherstellen, dass alle Mitgliedsländer auf Linie blieben. Peking ziele auf die Ängstlichen und Unsicheren, spiele den Fuchs, der den Hühnerhaufen auseinanderstieben lässt. Als Erstes müssten nun die Reihen fest geschlossen und die Schwankenden freundschaftlich, aber entschieden untergehakt werden.
Moulin weiß, wenn sich die Angst in einem Land erst einmal festgekrallt hat, dann wird es nur noch schwer zum Kampf zu bewegen sein. Sie muss so schnell wie möglich die Deutungshoheit über den chinesischen Schritt gewinnen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Sie muss den chinesischen Diplomaten und Agenten zuvorkommen, die schon bald damit beginnen werden, gezielt in einigen Hauptstädten der Europäischen Konföderation gefährliche Gerüchte über chinesische Militärmanöver zu streuen. In der von China gelenkten Presse, die auch in Europa gelesen und beachtet wird, werden Andeutungen über die militärischen Überlegungen erscheinen, flankiert von einer scheinheiligen Empörung über die Konföderation, die China den freien Zugang zu ihren Märkten verweigere. Moulin wundert sich immer aufs Neue darüber, wie China es schafft, großen Teilen der Welt einzureden, der Gralshüter des freien Welthandels zu sein.
Moulin wird unmittelbar nach den Feierlichkeiten nach Brüssel zurückkehren und einen Sondergipfel einberufen. In ihrem Kopf legt sie sich bereits zurecht, was sie sagen wird. Sie muss die Unsicheren einfangen: die Dänen, die Belgier, aber auch die Finnen. Sie müssen in der Überzeugung gefestigt werden, Teil eines starken Ganzen zu sein. Stärke und Einigkeit, darum geht es. Denn die Botschaft, die sie den Konföderierten bringen muss, ist klar und einfach: Die letzte Schlacht um den Westen beginnt jetzt. China hat sie mit einer militärischen Drohung eröffnet. Aber sie wird auf vielen und ganz anderen Ebenen und mit sehr unterschiedlichen Waffen ausgekämpft werden. Es geht um unsere Freiheit. Wenn wir die Kontrolle über die Lebensadern unserer Völker verlieren, werden uns auch bald die politischen und persönlichen Freiheiten genommen werden.
Moulin starrt auf den Platz, ohne etwas zu sehen. Es wird ihre wichtigste Rede werden. Es ist geschehen, was sie oft gefürchtet und genauso oft erhofft hat. Der Moment, in dem man sich entscheiden muss, in dem es keine Ausflüchte, Ausreden und auch keine diplomatischen Notausgänge mehr gibt, ist da. Die Zeit der Hoffnung auf irgendwelche doch noch irgendwie tragbaren Kompromisse geht zu Ende. Erfolg und Niederlage liegen nur wenige Millimeter voneinander entfernt. Es ist das Endgame, das Spiel, in dem Peking möglicherweise die besseren Karten hat. Gewiss, eine militärische Drohung kann ungeahnte Widerstandskräfte in Europa wecken. Aber darauf wetten sollte man nicht. An schweren Zeiten kann man wachsen, man kann an ihnen aber auch zugrunde gehen. Europa hat da eine schmerzhafte Erfahrung hinter sich. Im Jahre 2030 war die Europäische Union an der Herausforderung zerbrochen, dem immer weiter ausgreifenden China eine große und schlagkräftige europäische Macht entgegenzusetzen.
Zhang hatte seine Drohung mit einer Mischung aus Weinerlichkeit und Aggressivität garniert. Es sei doch nicht fair, klagte er, Chinas gute Absichten zu bezweifeln. Der chinesische Weg, den der verehrte, leider schon verblichene Vorsitzende Xi Jinping der Welt geschenkt habe, sei im Gegenteil eine noble und großzügige Geste. Dieser Weg kenne nur ein Ziel, Harmonie in den Gesellschaften und unter den Völkern und Frieden und Entwicklung allüberall. Er, Lombardi, werde bei längerem Nachdenken die Win-win-Situation begreifen, wenn die Westeuropäer ihre Tore endlich ganz und ohne Restriktionen für chinesische Investoren und Projekte öffneten. Und wenn sie endlich ihre Köpfe benutzten und einsähen, dass die Sicherheitsarchitektur, die die Seidenstraße zu Lande und zu Wasser in Afrika, im Pazifik und in Eurasien begleitet, tausend Jahre Frieden bringe.
Einschmeichelnd hatte Zhang vorgerechnet, wie das Bruttoinlandsprodukt in Westeuropa steigen, die Arbeitslosigkeit sinken und der Wohlstand anschwellen würden, wenn man die Seidenstraße nun endlich ganz bis zum Atlantik und an die Nordsee durchbauen könnte. Und wenn man die freie Fahrt auf ihr, ob nun zu Wasser, zu Lande, in der Luft oder im Cyberspace gemeinsam und Arm in Arm absichern könnte. Auch käme es doch allen zugute, wenn der Seeweg durchs Mittelmeer nach Europa und in den Atlantik nicht mehr durch beschränkte nationale Interessen behindert werde und seine volle wirtschaftliche Kraft entfalten könne. Das alles würden ihm die europäischen Unternehmer sicher bestätigen.
Ja sicher, man wisse, dass die Europäer um ihre Freiheit fürchten. Aber das sei doch lächerlich, und außerdem sei das eine Beleidigung des chinesischen Volkes. Das habe schon unter der Führung von Mao Zedong nicht nur für seine Freiheit, sondern für die Freiheit aller unterdrückten Völker gekämpft, anders als die Europäer. Die hätten von ihrer Freiheit anderen nie etwas abgegeben. Im Gegenteil. Als Kolonialisten hätten sie die Welt ausgebeutet und die Völker unterdrückt. Nach all dem Chaos und dem Elend, das der Westen über die Menschheit gebracht habe, sei China nun dabei, der Welt, Hand in Hand mit allen Völkern, die guten Willens sind, eine innere Balance zu verschaffen, die allen Frieden, Wohlstand und Glück bringt.
Lombardi hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Dass Zhang diesen Propagandakitsch immer wieder über ihm ausschüttete, daran hatte er sich gewöhnt. Dass sich der, wie er wusste, kluge und gebildete Chinese solch einer intellektuellen Tieffliegerei hingab, wunderte ihn jedes Mal aufs Neue. Aber er gab ihm, wenigstens fürs Protokoll, die Antwort, die er immer gab. Man solle sich doch bitte schön die Köpfe nicht sinnlos mit Vergangenem belasten, sondern über das Heute und Morgen reden. Europas Straßen, Eisenbahnen, Datenautobahnen und Wasserwege stünden allen offen, auch chinesischen Händlern. Aber die Souveränität über ihre Lebensadern behielten unsere Staaten und Völker fest in ihren Händen. Da denke Europa nicht anders als die USA oder auch als China.
Während er weiter auf den leeren Platz starrt, denkt Lombardi über Zhangs wirtschaftliche Argumente nach. Vieles davon machte Sinn – wenn man es aus dem Blickwinkel der Unternehmens- und Finanzwelt betrachtete. Seit Jahren drängten die Wirtschaftsvertreter in der Europäischen Konföderation auf eine konziliantere Chinapolitik. Ginge es nur um Wirtschaft und Handel, dann könnte man sich gewiss einigen. Es geht aber um mehr. Der Kern des Problems ist die Frage, ob die Europäer in Freiheit und in der Art würden weiterleben können, die sie sich erkämpft und die sie zu schätzen gelernt hatten. China bedroht das alles. Peking verfolgt seit den mittleren 2010er-Jahren neben ökonomischer, politischer und militärischer Macht auch das Ziel, die Idee der freiheitlichen Demokratie durch die des chinesischen Weges zu ersetzen. Lombardi hatte es aufgegeben, Zhang davon zu überzeugen, dass das europäische Beharren auf Freiheit und Souveränität eine Wirtschaftsbeziehung zwischen China und der Konföderation ganz und gar nicht ausschließe. Und dass man durchaus flexibel sei, allerdings nicht, wenn es um das europäische Politik- und Lebensmodell gehe.
Lange hatten die Europäer gebraucht, sich zu dieser harten Haltung durchzuringen. Viel zu lange, wie nicht nur Lombardi mittlerweile weiß. Nur sehr zögerlich und anfangs wohl auch widerwillig hatten die europäischen Staaten und Völker nach und nach erkannt, welches Preisschild an der chinesischen Versuchung klebte. Erst als nicht mehr zu übersehen war, wie immer mehr Länder in Asien und Afrika und selbst einige am Rande Europas in die Abhängigkeit von China gerieten, leiteten vor allem die westeuropäischen Länder einen scharfen Kurswechsel gegenüber Peking ein.
Lombardi muss diesen Kurs nun im Auftrag und zum Nutzen der Konföderation eisern verfolgen. Vom Auftreten der chinesischen Herren lässt er sich schon lange nicht mehr blenden. Gewiss, sie zitieren Konfuzius, tragen elegante Anzüge, wissen sich zu benehmen und haben immer den neuesten Schrei der Kommunikationstechnologie zur Hand. Auf dem internationalen Parkett führen sie sich ausgesprochen manierlich auf. Ganz anders als ihre kommunistischen Vorgänger Stalin, Mao oder die grässliche Familie Kim, die sich ihre Völker mit brutaler Gewalt untertan und die Welt gefügig machen wollten. Aber eine Diktatur bleibt nun mal eine Diktatur, auch wenn sie fein poliert daherkommt.
Je mehr China es schafft, dieses Jahrhundert nach seinen Plänen zu formen, desto mehr wünscht sich Lombardi das amerikanische Jahrhundert zurück. Die Chinesen vermeiden zwar einige der Fehler, die die Amerikaner und die Europäer in den letzten zwei Jahrhunderten gemacht haben. Sie betreiben keinen offenen Kolonialismus, und wer sich in ihre Abhängigkeit begeben hat oder in sie geraten ist, der hat davon meist auch einen wirtschaftlichen Nutzen. Letztlich kann aber auch das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Herren in Peking nichts anderes als Diktatoren sind, die die Freiheit bekämpfen, weil sie ihr gefährlichster Gegner ist. Darum will das kommunistische China, das hat Lombardi schon als junger Politiker in den 2030erJahren begriffen, die Welt nicht nur ökonomisch und politisch anführen, sondern sie auch ideologisch prägen.
An diesem 1. Oktober 2049 demonstriert China seine globale Macht. Im chinesischen Selbstverständnis heißt das, auch politisch-geistig zu führen. Xi Jinping war es nie allein um sichere Transportwege zu Lande und zu Wasser und um ungehinderten Handel gegangen. Er war in gleichem Maß von dem Wunsch besessen, dem westlichen Denken die Kraft zu entziehen und es unattraktiv zu machen. Denn das Konzept der liberalen Demokratie barg in seinen Augen den Sprengstoff, der den Machtanspruch der Kommunistischen Partei Chinas in die Luft jagen konnte. Wie kaum etwas anderes hatte Xi den Sog der Freiheit auf die jungen, gut ausgebildeten und wirtschaftlich erfolgreichen Schichten, aber auch auf die verfolgten und unterdrückten Minderheiten in China und in Chinas Vasallenstaaten gefürchtet. Auf jene Staaten also, von deren innerer Stabilität und Chinatreue die Sicherheit der für Peking überlebensnotwendigen Handelsrouten abhing.
Zu Hause hatte Xi deshalb die Überwachung der Menschen intensiviert und die Unterdrückung abweichender Meinungen verstärkt. Den Rest der Welt hatte er mit einem dichten Netz aus Konfuzius-Instituten überzogen, die unter dem Deckmantel von Sprachunterricht und Kulturaustausch Propaganda für den chinesischen Weg machten, Einflussagenten in den Gastländern rekrutierten und die Auslandschinesen auf Linie hielten. In großem Stil vergab Peking Stipendien. Schon in den 2020er-Jahren hatte China die USA und Großbritannien hinter sich gelassen. Studenten aus aller Welt zog es nicht mehr an die ehrwürdigen Universitäten des Westens, sondern an die chinesischen Kaderschmieden. Chinesen, die in amerikanischen und europäischen Universitäten und Forschungslabors in Spitzentechnologie ausgebildet worden waren, wurden mit großzügigen Angeboten in ihr Heimatland zurückgelockt – und brachten ihr im Westen erworbenes Wissen mit.
In Europa wurde andererseits beneidet und bewundert, wessen Kind in China einen Praktikumsplatz ergattert hatte. Als Venezianer war Lombardi anfangs von Xis Projekt einer neuen Seidenstraße begeistert gewesen. Es schien, als sei Marco Polo wiederauferstanden, der im 13. Jahrhundert als Kaufmann von Venedig aus in das Machtzentrum des Reiches der Mitte gereist war, und dessen Bericht den Europäern einen faszinierenden Blick auf diesen geheimnisvollen und reichen Orient erlaubt hatte. Als Kind hatte er sich oft in die Abenteuer des Marco Polo hineingeträumt. Der unter seinen Altersgenossen damals sehr populären Verlockung Chinas hatte Lombardi nach einigen propagandistisch sehr aufgeladenen Kursen im Konfuzius-Institut seiner Heimatstadt dann jedoch widerstanden und sich stattdessen durch das Studium der Geostrategie an der niederländischen Universität Utrecht den Blick für die globalen Zusammenhänge und für die Kräfte, die in ihnen wirken, geschärft.
Neulich hatte er mit Freunden aus dieser Zeit zusammengesessen, und sie hatten sich gefragt, wann Europa die Sache mit China entglitten ist und warum. Nun ist ja, wer zurückschaut, immer klüger als die Zeitgenossen der Ereignisse. Doch selbst aus der Rückschau mussten sie nach langen Debatten einräumen, dass es sehr schwer war, das chinesische Problem in den 2010er-Jahren in seiner ganzen Dimension zu erkennen und zu verstehen, wie es auf die Europäische Union wirken würde. Es gab eben nicht den einen Punkt oder das eine große Ereignis, an dem der Schalter der Weltpolitik umgelegt worden wäre. Europas Abstieg und Chinas Ausgreifen nach Westen waren schleichende Prozesse, die lange Zeit nichts miteinander zu tun zu haben schienen.
Natürlich gab es Anzeichen, gab es Warnhinweise. Aber die wurden entweder übersehen, nicht in den richtigen Zusammenhang gestellt oder auch einfach heruntergespielt. Schon Ende der 2010er-Jahre wuchs unter europäischen Politikern die Skepsis gegenüber Peking und seinen Absichten. Nur eben nicht bei allen. Politisch hatten sich schon zu viele mehr oder minder offen auf die Seite Pekings geschlagen. So sehr, dass es schon damals kaum mehr möglich war, eine gemeinsame kritische Position der Europäischen Union zu China durchzusetzen. Auf europäischen Gipfeln und bei Ministerräten wurden Beschlüsse zu China so lange verwässert, bis sie Peking keinen Anlass mehr gaben zu protestieren. Vor allem einige Länder aus Osteuropa, die 2004 und danach der Europäischen Union beigetreten waren, hatten sich dort nie wirklich integriert und sich schon sehr bald von China einbinden lassen.
Ende der 2030er-Jahre hatte sich Lombardi in einer Forschungsarbeit über den Niedergang der Europäischen Union in die vielen Analysen und Gutachten zu China versenkt, die in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre in Europa, in den USA, in Japan, in Indien oder in Australien auf den Markt gekommen waren. Allesamt kluge Papiere voller wichtiger Hinweise. Man hätte sehen können, wenn man es denn gewollt hätte. Dass dies im Westen im Allgemeinen und in der Europäischen Union im Besonderen nur wenige taten, führte Lombardi damals wie heute auf drei Faktoren zurück: chinesisches Geschick, europäisches Ungeschick und amerikanische Beschränktheit.
Die Kombination dieser drei Faktoren verhinderte, China spätestens Anfang der 2020er-Jahre politisch ausreichend robust zu konfrontieren, es vor die Wahl zu stellen, sich an die internationalen Regeln zu halten und andere Lebensentwürfe als den eigenen zu respektieren, oder isoliert zu werden. Lombardi und seine alten Studienfreunde hüteten sich jedoch davor, die Schuld einfach den einen oder anderen der damals verantwortlichen Politiker zuzuweisen. Denn China begann, seine Muskeln spielen zu lassen, als der Westen von einer Schwäche befallen wurde, die kaum vorauszuahnen gewesen war: Überdruss am eigenen Modell, verursacht durch eine toxische Mischung aus Globalisierungsangst, nationalem Egoismus und Geschichtsvergessenheit.
Der Erfolg des Trumpismus in den USA half, China den Weg zu ebnen. Sozial und ethnisch tief zerrissen und der dauernden, weltweiten Einsätze ihrer Soldaten müde, kehrten die Amerikaner ihrer Führungsrolle in der Welt den Rücken. Sie gaben den Instinkten einer allein auf sich selbst und seine Interessen konzentrierten Großmacht nach, schädigten den Multilateralismus und untergruben die liberale Weltordnung. Das westliche Modell überlebte, schwer beschädigt, im Wesentlichen nur in Europa. Den Europäern und einigen anderen Ländern war nach dem Rückzug der Amerikaner die Rolle als Anker des Westens zugefallen, aber sie konnten sie nicht ausfüllen. Ohne die Rückendeckung der Amerikaner und angesichts einer durch die amerikanischen Turbulenzen beschädigten NATO, konnten die Europäer international nur noch geschwächt auftreten. Das konnte nicht gut gehen. Denn zu all dem politischen Elend des Westens kam hinzu, dass sich die Europäische Union damals schon im ersten Stadium ihres Verfalls befand, wie sich auch in der großen Pandemie Anfang der 2020er-Jahre gezeigt hatte. Die erste Reaktion aller Mitgliedsländer auf das Virus war ein Rückfall in alte, nationalistische Instinkte gewesen: Man schloss seine Grenzen. Der Imageschaden, den das bei den eigenen Bürgern und in der Welt anrichtete, konnte auch durch ein später aufgelegtes gemeinschaftliches Investitionsprogramm nicht wettgemacht werden. Spätestens jetzt wusste die Welt: Wenn diese EU unter Druck gerät, dann wankt sie bedenklich.
Ein Gebräu aus Nationalismus, Neid, Vorurteilen, Missverständnissen und die damit einhergehende Blindheit für die globale und historische Dimension der europäischen Einigung hatte die Union zermürbt. Ihre Werte, um die sie in früheren Zeiten beneidet worden war, zählten in einigen Mitgliedsstaaten nur noch wenig oder gar nichts mehr. Populisten wie der Ungar Viktor Orbán, der die »illiberale Demokratie« in der EU eingeführt und sie zur Blaupause für alle nationalistischen Wiedergänger gemacht hatte, spielten auf der Klaviatur des Widerstandes: gegen die Herrscher in Brüssel, gegen den Hegemon in Berlin, gegen die Ausbeutung durch die großen Industrieländer, gegen die Fremden. Auch Polen, das größte und wichtigste Land unter den osteuropäischen, schlug mit dem systematischen Abbau des Rechtsstaates den ungarischen Weg ein.
Die Dämme gegen die Attacken der illiberalen Demokraten bekamen gefährliche Risse, als in Italien und Österreich Rechtsextremisten und Populisten zumindest zeitweise an die Regierung kamen und damit salonfähig wurden. Deutsche und Franzosen, Niederländer und Schweden, Iren und Spanier traten dem lange nicht entschieden genug entgegen, und als sie es taten, war es zu spät. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Europäer den Westen hätten stärker machen müssen, waren sie mit inneren Streitigkeiten beschäftigt. Die Briten und die Union verzehrten ihre Kräfte in einem dreijährigen Rosenkrieg über Großbritanniens Ausstieg aus der Gemeinschaft. Dem historischen Projekt einer politisch immer engeren Union erwuchsen mehr und mehr Gegner, die die EU auf eine Freihandelszone zurückstutzen wollten.