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Große Gefühle zur Weihnachtszeit Was ist romantischer als die Weihnachtszeit? Egal wo, auf der ganzen Welt knistert es. Jede Geschichte in diesem Adventskalender verzaubert mit einem wunderbar weihnachtlichen Setting. Denn die große Liebe findet man überall: beim Spaziergang über den verschneiten Adventsmarkt in Straßburg, beim eisigen Winterschwimmen in Wales oder am Strand in Brasilien unter der Weihnachtspalme. Hinter jedem Türchen wartet eine exklusive, wunderschön romantische Kurzgeschichte darauf, die Vorweihnachtszeit zu versüßen! Ein Adventskalender mit Geschichten von Jennifer Adams, Mareike Allnoch, Anna Augustin, Bianka Behrend, Sophia Chase, Anna Dietrich, Andreas Dutter, Kathinka Engel, Katelyn Erikson, Christian Handel, Nicole Knoblauch, Laura Labas, Kira Licht, Franka Neubauer, Julia Pauss, Justine Pust, Stefanie Santer, Nina Schilling, Linda Schipp, Andreas Suchanek, Marie Weis, Allie Well, Yvonne Westphal und Ana Woods
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Mit Geschichten von:
Jennifer Adams • Mareike Allnoch • Anna Augustin • Bianka Behrend • Sophia Chase • Anna Dietrich • Andreas Dutter • Kathinka Engel • Katelyn Erikson • Christian Handel • Nicole Knoblauch • Laura Labas • Kira Licht • Franka Neubauer • Julia Pauss • Justine Pust • Stefanie Santer • Nina Schilling • Linda Schipp • Andreas Suchanek • Marie Weis • Allie Well • Yvonne Westphal • Ana Woods
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Cover & Impressum
1 – Irland
Bianka Behrend
The Fairytale of Glenbeigh
Bianka Behrend
1
2 – Südkorea
Nicole Knoblauch
Der erste Schnee
Nicole Knoblauch
2
3 – Island
Christian Handel
Von Trollen, Katzen und Büchern
Christian Handel
3
4 – Österreich
Sophia Chase
Love Hurts
Sophia Chase
4
5 – Finnland
Allie Well
Coming Home
Allie Well
5
Damals
Jetzt
6 – Hawaii
Kira Licht
Heartbeat to Heartbeat
Kira Licht
6
7 – Wales
Ana Woods
The Love We Feel
Ana Woods
7
8 – USA
Kathinka Engel
Love is Mad
Kathinka Engel
8
Sal
Lula
Sal
Lula
Sal
Lula
Sal
9 – Deutschland
Anna Dietrich
Hochzeit auf Schloss Moritzburg
Anna Dietrich
9
10 – England
Marie Weis
The Wishing Tree
Marie Weis
10
4. Dezember
15. Dezember
18. Dezember
20. Dezember
21. Dezember
25. Dezember
11 – Mexiko
Yvonne Westphal
Weihnachtsmänner in Beach Shorts
Yvonne Westphal
11
12 – Frankreich
Jennifer Adams
Strasbourg – mon amour
Jennifer Adams
12
13 – Norwegen
Katelyn Erikson
Lichtermeer an Gefühlen
Katelyn Erikson
13
14 – Neuseeland
Linda Schipp
Actually, Love
Linda Schipp
14
15 – Schweiz
Justine Pust
Claus, can you hear me?
Justine Pust
15
16 – Brasilien
Nina Schilling
Sommer, Sonne … Weihnachten!
Nina Schilling
16
17 – Schweden
Andreas Suchanek
Ein Julbock zum Verlieben
Andreas Suchanek
17
18 – Alaska
Anna Augustin
The Holiday Train
Anna Augustin
18
19 – Polen
Franka Neubauer
A Second Chance Under the Christmas Stars
Franka Neubauer
19
20 – Griechenland
Andreas Dutter
My Big Sweet Greek Christmas
Andreas Dutter
20
21 – Island
Mareike Allnoch
A Whisper of Christmas Magic
Mareike Allnoch
21
22 – Spanien
Stefanie Santer
1:100000
Stefanie Santer
22
Lola
Xavier
Lola
Xavier
Lola
Xavier
Lola
23 – Shetlandinseln
Julia Pauss
Snowed in Love
Julia Pauss
23
Rafael
Alex
Rafael
24 – Italien
Laura Labas
Il Babbo Natale Segreto
Laura Labas
24
Uno
Due
Tre
Quattro
Cinque
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Bianka Behrend wurde 1999 in Berlin geboren. Sie ist Bücherwurm, Künstlerin und Autorin. Wenn sie nicht gerade mit Stift oder Pinsel vor Leinwand, iPad oder dem Spiegel sitzt, reitet sie, betreibt Kraftsport, schaut zum hundertsten Mal »Der Herr der Ringe« oder schlüpft ins Kostüm einer Fantasyfigur. Auf ihrem Instagram-Account @bibibuecherverliebt bloggt sie mit Bodypaintings und Armbemalungen über Bücher.
Wenn es nur noch ein bisschen stärker regnete, würden die Scheibenwischer unseres Kleinwagens – von Finnian liebevoll Rennschnecke getauft – den Geist aufgeben. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Der irische Winter zeigte sich seit Wochen von seiner besten Seite und bescherte uns einen Mix aus Hellgrau, Dunkelgrau und noch mehr Grau; gepaart mit Wolkenbrüchen in allen Varianten. Ausgerechnet heute hatte der Himmel sich für anhaltenden Sturzregen entschieden. Besser hätten wir es für unsere Fahrt nach Limerick wirklich nicht treffen können.
Mit gerunzelter Stirn fixierte ich den nass glänzenden Asphalt vor mir und drosselte das Tempo sicherheitshalber noch etwas mehr. Im Grunde schlichen wir bereits über den Ring of Kerry, dessen Tempolimit auf diesem Abschnitt eigentlich bei 100 km/h lag. Aber dank der Sichtweite von höchstens zehn Metern kroch ich lieber, als waghalsig meinen und Finnians Hals zu riskieren. Meine Eltern würden es verkraften, sollten wir das Abendessen verpassen. Hauptsache, wir kämen überhaupt irgendwann an.
Meine Finger umklammerten das Lenkrad unwillkürlich fester, als eine Sturmböe seitlich gegen den Wagen drückte. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu fluchen. Dieser dämliche Sturm hätte gerne einen Tag länger warten können, ehe er Weihnachten noch ungemütlicher machte. Dann säßen wir längst bei meinen Eltern vor dem Kamin, würden Mums sündhaft leckere Mince Pies in uns hineinstopfen und Das Wunder von Manhattan zum dreihundertfünfundneunzigsten Mal schauen, während Finnian von Dingle in Beschlag genommen werden würde. Der Kater meiner Eltern liebte niemanden so abgöttisch wie meinen Freund. Sobald dieser das Haus betrat, waren alle anderen für den Maine Coon unsichtbar, und Finnian wurde zum Kuschelkissen degradiert. Ein Grund, warum ich es lieber mochte, wenn Mum und Dad uns in Waterville besuchten. Dann lief ich zumindest nicht Gefahr, von Krallen getroffen zu werden, sollte ich es wagen, mit meinem Freund kuscheln zu wollen. Dass ich mal eifersüchtig auf einen achteinhalb Kilo schweren Kater sein würde, hätte ich auch nicht gedacht.
Ein Stottern des Motors riss mich aus meinen Gedanken. Kurz überlegte ich, ob ich mir das Geräusch nur eingebildet hatte, als das gleichmäßige Brummen erneut durch ein Ruckeln unterbrochen wurde.
»Was war das?«, fragte ich alarmiert über das Prasseln des Regens und das Dudeln des Radios hinweg.
»Was war was?« Mit einer Hand hob Finnian das rechte Polster seiner Noise-Cancelling-Kopfhörer und blickte mich abwartend an. Wie er im Auto am Laptop arbeiten konnte, war mir ein Rätsel. Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur versuchte, Nachrichten auf meinem Handy zu lesen.
»Na, dieses Ruckeln.«
»Ein Schlagloch? Der Wind?«
»Sicher nicht. Das hat sich anders angefühlt.« Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, geschah es wieder. Der Motor hakte, schien für mehrere Sekunden völlig auszusetzen, ehe er weiterstotterte. Es klang, als wäre das Auto kurz vorm Abwürgen, dabei trat ich aufs Gas und war definitiv im richtigen Gang.
»Nicht gut«, stieß ich hervor. »Gar nicht gut.« Als wollte unsere Rennschnecke mich in meiner aufsteigenden Furcht bestätigen, begann die Motorkontrollleuchte orangegelb zu blinken.
»Halt an«, hörte ich Finnian sagen.
»Nach der Kurve.« Meine Stimme klang ruhiger, als ich erwartet hatte, obwohl mein Puls bereits deutlich in die Höhe geklettert war. »Komm schon, komm schon, komm schon«, feuerte ich das Auto an, lenkte es in die Kurve und verkrampfte bei jedem Rucken und Stottern etwas mehr. Nie waren mir fünfzig Meter länger vorgekommen.
Als wir den Kurvenbereich weit genug hinter uns gelassen hatten, lenkte ich den Wagen links ran und kam zum Stehen. Sofort erstarb der Motor mit einem jämmerlichen Beben. Hastig zog ich die Handbremse an und ließ mich gegen die Lehne meines Sitzes fallen. Bis auf das Trommeln des Regens auf dem Dach herrschte Stille; sogar die Scheibenwischer waren mitten in der Bewegung eingefroren und klebten nun quer über der Windschutzscheibe. Langsam drehte ich den Kopf zu Finnian und suchte seinen Blick. Die Kopfhörer hingen inzwischen in seinem Nacken, den Laptop hatte er zugeklappt.
»Fuck.«
»Kannst du laut sagen.«
»Versuch, ihn zu starten.«
»Es wird nicht funktionieren. Die Motorkontrolllampe hat geblinkt.«
»Versuch es trotzdem«, beharrte er.
»Na schön.« Ich trat die Kupplung durch und drehte den Schlüssel herum. Ein kurzes Stottern, dann Stille. Beim zweiten Mal gab das Auto überhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich.
»Scheiße, wir hätten zu Hause bleiben sollen«, fluchte Finnian. »Ich habe dir gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, bei diesem Mistwetter zu fahren.«
»Dann ist es jetzt also meine Schuld, oder was?«, erwiderte ich gereizt. »Wer hat denn den Wartungstermin vergessen und ihn auf Januar verschoben?«
»Dein Ernst, Ellie?«
Sekundenlang starrten wir einander an, Finnian mit verbissenem Gesichtsausdruck und zerfurchter Stirn, ich mit trotzig vorgeschobenem Kinn. Ja, er hatte vorgeschlagen, aufgrund des vorhergesagten Sturms nicht zu meinen Eltern zu fahren und Weihnachten dieses Jahr zu zweit zu verbringen, und ich hatte so lange protestiert, bis er eingeknickt war. Aber hätte er das Auto letzte Woche wie verabredet zur Wartung gebracht, wären wir vielleicht trotzdem sicher in Limerick angekommen, anstatt mitten im Nirgendwo liegen zu bleiben. Uns gegenseitig Vorwürfe zu machen half aber auch nicht weiter. Also schluckte ich meinen Ärger mühsam hinunter und holte tief Luft.
»Streiten bringt nichts. Lass uns lieber schauen, was wir jetzt machen. Ich hatte nämlich nicht vor, hier zu übernachten.«
Finnian mahlte kurz mit dem Kiefer, ehe ein Teil der Anspannung von seinem Gesicht wich und seine Schultern herabsanken. »Einen Abschleppdienst am 24. Dezember um …« Er blickte auf das Display seines Handys. »… um kurz vor fünf können wir garantiert vergessen.«
»Was ist, wenn wir in den nächsten Ort laufen und dort nach Hilfe fragen?«, schlug ich vor, obwohl mich unter normalen Umständen keine zehn Pferde in diesen Regen kriegen würden.
»Bis Glenbeigh sind es etwa zwei Kilometer. Wir wären sicherlich schneller, als wenn wir hier Stunden auf einen Abschleppdienst warten.« Finnian wirkte ebenso wenig begeistert wie ich. Kurz starrte er die bunte Landkarte auf seinem Handy an, dann seufzte er. »Hast du die Regencapes im Kofferraum?«
»Immer.«
»Alles klar.« Er verstaute seinen Laptop und die Kopfhörer in den Tiefen seines Rucksacks, holte meinen eigenen von der Rückbank und legte ihn mir auf den Schoß. Ich zog währenddessen den Reißverschluss meiner Jacke zu und stopfte meine braunen Haare unter die Kapuze. »Auf drei?«, fragte ich und schloss meine Finger um den Türgriff.
Finnian nickte. »Eins, zwei, drei!«
Kaum hatte ich die Tür aufgestoßen, drückte der Wind einen Schwall kalten Regen ins Innere des Autos. Ich senkte den Kopf, rutschte aus dem Wagen, warf die Tür zu und hastete zum Kofferraum. Finnian öffnete die Klappe, wühlte sich durch unser Chaos an Jutebeuteln, Wasserflaschen und noch mehr Beuteln, ehe er die beiden knallroten Regencapes fand. Ich drückte mich so gut ich konnte unter die Kofferraumklappe, doch der Sturm ließ den Regen von gefühlt allen Seiten gleichzeitig auf uns einprasseln, sodass meine Hose innerhalb weniger Augenblicke an meinen Beinen klebte.
Finnian stülpte mir das Cape über Kopf und Rucksack, strich eine nasse Haarsträhne aus meiner Stirn und hüllte sich dann selbst in leuchtfeuerrotes Plastik. Aufgrund seiner Größe reichte das Cape ihm nur bis zur Mitte der Oberschenkel, während meins immerhin über die Knie ging.
Wir mussten einen urkomischen Anblick abgeben, als wir uns Hand in Hand mit gesenkten Köpfen gegen den Wind stellten und die menschenleere Straße hinunterstapften. Meine Boots waren zwar warm, allerdings nicht besonders wasserfest. So sickerte die Feuchtigkeit nach und nach in meine Schuhe und durchnässte meine Socken.
Jeder Schritt war eine böse Überraschung. Mal mussten wir uns gegen den Wind stemmen, mal schoben uns die Böen regelrecht vorwärts, mal drängten sie uns fast von der Straße. Nur Finnians warme Hand in meiner gab mir Halt und bestärkte mich darin, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Weiter und weiter. Wir würden das zusammen durchstehen.
Eine halbe Ewigkeit verging, und es fühlte sich an, als wären wir nicht einmal hundert Meter vorangekommen; auch das sanfte Auf und Ab der Straße hinderte uns an einem gleichmäßigen Tempo. Ich fror und schwitzte zugleich, während der Sturm mir den Atem raubte und meine Beine mir beim nächsten Anstieg deutlich zu verstehen gaben, dass ihnen etwas mehr Kraftsport nicht schaden würde. Wie in Trance kämpften wir uns vorwärts. Bis auf das Rauschen des Winds und das Prasseln des Regens hörte ich nichts.
Umso mehr erschrak ich, als erst die Lichter eines Autos und dann der Wagen selbst neben uns auftauchte und merklich abbremste. Ich wischte mit der freien Hand Wasser aus meinem Gesicht und blinzelte gegen die neuen Tropfen an. Das Beifahrerfenster wurde heruntergelassen.
»Ihr seht aus, als würdet ihr eine Mitfahrgelegenheit brauchen!«, tönte eine Frauenstimme aus dem Inneren.
»Ja«, keuchte ich.
Die Fahrerin winkte auffordernd. »Dann steigt ein.«
Finnian und ich wechselten einen schnellen Blick. Mehr brauchte es nicht. Wir waren uns einig. Ich kletterte auf die Rückbank, Finnian stieg auf der Beifahrerseite ein. Die warme Heizungsluft umfing mich wie eine Decke, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass quasi jeder Zentimeter meines Körpers klatschnass war und ich die ganzen Polster volltropfte.
»Bis Glenbeigh kann ich euch mitnehmen«, sagte unsere Retterin, während sie den Motor anließ. Ich schätzte sie auf Ende dreißig. Ihr blonder Bob hatte ebenfalls Regen abgekommen und wellte sich auf natürliche Weise.
»Das ist perfekt«, erwiderte ich hastig. »Da wollten wir sowieso hin.«
»Entschuldigt meine Neugier, aber wie kommt man auf die Idee, bei solchem Wetter zu wandern?« Mit hochgezogenen Brauen musterte sie uns, und Verwirrung huschte über ihr Gesicht, als ich lachen musste.
»Wir wandern nicht. Unser Auto hat einen Motorschaden und ist liegen geblieben«, erklärte Finnian und berichtete von unserem Pech sowie unserem nicht ganz durchdachten Plan, in Glenbeigh Hilfe zu holen. Die Miene unserer Fahrerin wechselte von verwirrt zu einer Mischung aus ungläubig und mitfühlend.
»Ich fürchte, ihr habt schlechte Karten«, zerschmetterte sie meine Hoffnung, es heute doch noch irgendwie zu meinen Eltern zu schaffen. »Der Sturm wird schlimmer werden und vermutlich erst in der Nacht abflauen. Bei Dunkelheit und solchen Wetterbedingungen wird niemand mehr rausfahren. Zudem ist Christmas Eve.«
Resigniert starrte ich aus dem Fenster. Das Tageslicht schwand bereits merklich und tauchte die Hügel in Schatten. Ich versuchte, Enttäuschung und Frust nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, doch das war alles andere als einfach, wenn man nass, kalt und hungrig war.
Nach kurzer Zeit tauchten die Häuser von Glenbeigh zwischen den Bäumen auf. In den Fenstern standen Kerzen, und überall schimmerten rote Laternen. Der Ort war nicht sehr groß, und so hielten wir recht schnell vor einer angestrahlten Steinkirche im Zentrum.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich und war schon drauf und dran, zurück in den Regen zu schlüpfen, als unsere Fahrerin mich zurückhielt.
»Seht ihr den Pub dort drüben?« Sie deutete auf eines der Häuser auf der anderen Straßenseite. Dank der Weihnachtsbeleuchtung konnte ich den Schriftzug über der Tür gut erkennen. Liona’s Pub stand dort in hübsch geschwungenen Buchstaben.
»Der gehört meiner Frau Fiona und mir, und ich würde euch gerne auf heißen Whiskey, Burger und Mince Pies einladen. Ein Zimmer hätten wir auch frei, und morgen früh sorge ich dafür, dass ihr so schnell wie möglich nach Limerick kommt.«
»Das ist … ich meine …« Ich brach ab, weil mir bei so viel Freundlichkeit die Worte fehlten.
»Was Ellie damit sagen wollte, ist danke«, sprang Finnian mir zur Seite.
»Genau.« Ich räusperte mich. »Vielen, vielen Dank, Mrs …«
»Caitlin McGrath, aber nennt mich bitte Caitlin. Und nicht dafür.« Unsere Fahrerin und nun Gastgeberin lächelte herzlich.
Mit deutlich leichteren Herzen folgten wir ihr hinüber zum Pub. Ein helles Glöckchen klingelte beim Öffnen der Tür, und kuschelig warme Luft schlug uns entgegen, zusammen mit dem Geruch von Kaminfeuer, gebratenem Essen und Punsch. Mir knurrte augenblicklich der Magen.
Urige Holzmöbel nahmen einen Großteil des Raumes ein, in dem wir standen. Mein Blick schweifte über die offene Galerie, den blank geputzten Bartresen und eine kleine Bühne, auf der Musikinstrumente standen. Stechpalmengirlanden und -gestecke, Kerzen und warmweiß leuchtende Lichterketten verliehen dem Pub gemütlichen Weihnachtszauber.
Wir waren bei Weitem nicht die einzigen Gäste. Ein halbes Dutzend der Tische war besetzt, Gelächter und angeregtes Stimmengemurmel erfüllten die Luft. Caitlin steuerte zielstrebig die Bar an, hinter der eine Frau ihres Alters mit beneidenswert glänzenden Merida-Locken Guinness zapfte. Kaum hatte sie uns, oder besser gesagt Caitlin, entdeckt, begannen ihre Augen mit den Kerzen um die Wette zu leuchten. Sie stellte zwei volle Biergläser auf ein Tablett, ehe sie zu uns kam.
»Wen hast du denn da mitgebracht?«, erkundigte sie sich neugierig. Bevor Finnian oder ich den Mund aufmachen konnten, hatte Caitlin uns bereits einander vorgestellt – bei der Frau mit den Merida-Locken handelte es sich um Fiona –, zu zwei Barhockern manövriert und uns die nassen Regencapes abgenommen. Die Rucksäcke verstauten wir zu unseren Füßen.
Da nun eindeutig klar war, dass wir hier übernachten würden, holte ich mein Handy raus und versuchte, meine Mum zu erreichen. Natürlich ging sie nicht ran. Das tat sie nie, weil sie ihr Telefon immer auf lautlos stellte. Also sprach ich ihr eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse auf den Anrufbeantworter und schickte ihr unseren Standort. So würden sie und Dad sich hoffentlich keine Sorgen machen.
Als ich das Handy weggelegt hatte, stand vor mir ein dampfendes Glas Whiskey. In der goldgelben Flüssigkeit schwamm eine Zitronenscheibe, und das Getränk war mit einem Rosmarinzweig, Sternanis sowie einer Zimtstange dekoriert worden. Ich legte meine klammen Hände um das Glas und seufzte zufrieden, als die Hitze durch meine Haut drang. Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Die Kombination aus honigsüß und fruchtig-sauer zusammen mit dem rauchigen Geschmack des Whiskeys explodierte förmlich auf meiner Zunge. Ich war mir sicher, noch nie etwas Besseres getrunken zu haben.
»Was darf ich euch zu essen bringen?«, erkundigte Fiona sich lächelnd. Ich blickte zu Finnian, der schon durch die Karte geblättert hatte, und überließ es ihm, mir etwas auszusuchen. Zum einen war ich äußerst unkompliziert, was Essen anging, zum anderen kochte er meist für uns beide und wusste genau, was ich gerne aß.
Einen vegetarischen Burger, eine Portion Süßkartoffelpommes und einen Mince Pie später fühlte ich mich endlich wieder wie ein vollständiger Mensch. Die Kälte war aus meinem Körper gewichen, und der heiße Whiskey tat sein Übriges, sodass meine Wangen sich warm anfühlten und mein Kopf leicht. Zufrieden schmiegte ich mich an Finnian, der seinen Arm um meine Schulter gelegt hatte und mir einen Kuss aufs Haar gab.
»Magst du noch einen?« Fragend deutete Fiona auf mein inzwischen leeres Glas.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, erwiderte ich. »Aber der war himmlisch. Verrätst du mir das Rezept?«
»Im Tausch gegen ein Stechpalmengesteck.« Die Irritation stand mir wohl offen ins Gesicht geschrieben, denn Fiona stützte sich schmunzelnd auf die Unterarme und begann zu erklären. »Es ist bei uns Tradition geworden, dass alle Gäste, die in der Weihnachtszeit herkommen und nach dem Rezept unseres heißen Whiskeys fragen, es im Tausch für ein kleines selbst gebasteltes Gesteck aus Stechpalmen bekommen.«
»Das ist irgendwie süß«, meinte ich.
»Und reiner Eigennutz.« Caitlin ließ davon ab, Gläser zu trocknen, warf sich das Geschirrtuch über die Schulter und stellte sich zu uns an den Tresen.
»Ach ja?«
»Ja, denn diese Tradition«, sie malte mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft, »ist eigentlich nur entstanden, weil jemand hier ganz vernarrt in Stechpalmendeko, aber zu faul zum Basteln ist.«
»Hey«, protestierte Fiona empört, schaffte es jedoch nicht, dabei ernst zu bleiben. »Es ist eine Win-win-Situation. Und beschwert hat sich bisher auch noch niemand. Im Gegenteil.«
»Muss an deiner Furcht einflößenden Art liegen«, neckte Caitlin sie, doch der liebevolle Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Furcht einflößend wie ein Kätzchen. Und im Bändigen von Furcht einflößenden Kätzchen bin ich zum Glück Meisterin.« Caitlins Grinsen war ansteckend.
Kurz darauf saßen Finnian und ich vor einem Haufen Stechpalmenzweige und steckten Fiona einen Strauß zusammen. Dass ich mir dabei mehr als einmal in die Finger pikte, war längst vergessen, als ich das Rezept für den heißen Whiskey auf meinem Handy notierte.
Die kleine Musikergruppe auf der Bühne begann, Fairytale of New York zu spielen, und Finnian zog mich auf die inzwischen frei geräumte Fläche in der Mitte des Raums, wo die anderen Gäste schon ausgelassen tanzten und mitsangen.
Seine Hand lag fest auf meinem unteren Rücken, sein Blick ruhte auf mir, und ich verlor mich in der Betrachtung seines Gesichts, das mir nach all den Jahren, die wir uns inzwischen kannten, bis ins kleinste Detail vertraut war. Weil ich jede Stelle berührt, jede perfekte Unperfektheit nachgefahren und mich in jeden Millimeter davon immer wieder neu verliebt hatte. Ich war ihm verfallen. Meinem Beinahe-Doktor der Informatik mit seiner Begeisterung für Programmiersprachen und elendig lange Buchstaben-Zahlen-Kombinationen, der Stunden vor dem Bildschirm verbringen, aber auch genauso lange mit mir Irlands Wanderwege erkunden konnte.
»Was bin ich froh, dass du den Wartungstermin vergessen hast«, rief ich im Versuch, die Musik zu übertönen.
»Und du mich überredet hast, heute zu deinen Eltern zu fahren«, erwiderte er. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken und konnte nicht aufhören zu lächeln. Der Sturm und unser Motorschaden hatten uns den allerschönsten Christmas Eve beschert, und ich wusste, ich würde mich noch sehr, sehr lange an diesen Abend erinnern.
»Komm her«, murmelte er, beugte sich zu mir herunter, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich. Automatisch schloss ich die Augen und gab mich dem Kuss hin. O ja, und wie ich mich an diesen Abend erinnern würde.
All the drunks they were singing
We kissed on a corner
Then danced through the night.
Nicole Knoblauch schreibt seit ihrer Jugend humorvolle Liebesromane, die immer auch ernste Themen ansprechen. Die Liebe, egal ob in der Familie, zwischen Freunden oder einem Paar, bleibt dabei immer das Hauptthema. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen am Rande des Rhein-Main-Gebiets ihr ganz persönliches Happy End.
Dahee schlug die Augen auf und wusste zuerst nicht, was sie geweckt hatte. Sie lauschte in die Stille und hörte ein dunkles Brummen. Der Generator auf dem Dach des Hauses. Eine andere Wohngemeinschaft hatte es irgendwie geschafft, sich gegen alle Regeln dort eine kleine Sauna einzurichten, die sie mit so einem Gerät betrieben. Gern samstagmorgens in aller Früh, wenn sie vom Feiern zurückkamen.
Dafür war es in ihrer kleinen Studenten-WG umso ruhiger. Ihre nervige Mitbewohnerin Younghee, die immer die Musik zu laut aufdrehte und sich vor der Hausarbeit drückte, besuchte an diesem Wochenende ihre Familie. Das kam nicht gänzlich unerwartet, denn eigentlich wäre sie an der Reihe gewesen, Bad und Treppenhaus zu putzen. Ihre andere Mitbewohnerin Insook war letzte Woche ausgezogen, weil sie geheiratet hatte. Die Hochzeit war so schön gewesen, dass Dahee ein wenig neidisch geworden war, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.
Daher war Dahee an diesem Wochenende allein.
Sie schwang die Füße aus dem Bett. Es war kalt im Raum, wie jeden Morgen, doch das machte ihr nichts aus. Der Winter war ihre liebste Jahreszeit. Ganz besonders der Dezember, in dem Seoul im Glanz Tausender Lichter erstrahlte.
Auch wenn sie kein Weihnachten im klassischen Sinn feierte, liebte Dahee die Idee hinter diesem Fest. Liebe und Frieden für alle war eine Botschaft, mit der sie sich identifizieren konnte.
Ein Weihnachtslied vor sich hin summend trat sie unter die Dusche und genoss die Wärme. Die Vorfreude auf den großen Tag war kaum zu unterdrücken. Vielleicht war es heute so weit?
Sie summte immer noch, als sie aus der Dusche stieg und nach dem Föhn griff, wobei ihr Blick auf den großen Rahmen über dem Waschbecken fiel. Statt eines Spiegels waren da nur ein paar Splitter und ein kleiner Zettel. Dahee beugte sich vor, um ihn zu lesen. In krakeliger Handschrift stand dort: Tut mir leid, Leute. Kleiner Unfall. Ich besorge einen neuen Spiegel, versprochen. Y.
Younghee, natürlich. Die Frau war nicht nur faul, sondern auch tollpatschig. Sie hatte bereits den Spiegel im Flur auf dem Gewissen und jetzt offensichtlich auch den im Bad.
Na toll, wie sollte Dahee sich nun frisieren? Sie schob den Gedanken energisch zur Seite. Dann eben nur ein einfacher Pferdeschwanz. Heute würde sie sich die Laune auf keinen Fall verderben lassen. Wenigstens waren die Fenster heil geblieben. Dort spiegelte sie sich ein wenig, das sollte reichen. Doch sobald ihr Blick das Badfenster streifte, entwich ihr ein freudiger Schrei.
»Ist alles in Ordnung da drin?«, kam es von der anderen Seite, was Dahee zusammenzucken ließ. Sollte sie nicht allein sein?
»Wer bist du?«, fragte sie ängstlich, den Föhn wie eine Pistole vor sich haltend. Das würde nur wenig bringen, aber besser als gar keine Waffe war es allemal.
»Ich bin Ayun, deine neue Mitbewohnerin. Ich bin gestern eingezogen, erinnerst du dich?«
Richtig, Ayun. Dahee wusste nur, dass die junge Frau gerade erst angefangen hatte zu studieren und etwas schüchtern war. Sie hatten bisher kaum ein Wort miteinander gewechselt. Dahee war sich nicht einmal sicher, ob sie Ayun auf der Straße erkannt hätte. Also nickte Dahee, bevor ihr auffiel, dass Ayun sie nicht sehen konnte.
»Ja. Hast du gesehen, dass es schneit? Das ist eindeutig ein Zeichen.«
»Ein gutes oder ein schlechtes?«
»Ein superdupermegaextragutes natürlich. Ich treffe gleich meinen Freund.«
»Wie wundervoll.« Dahee konnte das Schmunzeln in der Stimme ihrer Mitbewohnerin förmlich hören. »Brauchst du noch lange?«
»Nein. Aber angesichts des Schnees muss ich mich noch mehr beeilen.« Sie schaltete den Föhn ein und unterband damit erst einmal jede weitere Unterhaltung.
Was sollte sie anziehen? Der Schnee machte diesen Tag zwar perfekt, doch auf die Stiefel mit den hohen Absätzen würde sie wohl verzichten, für den Fall, dass es draußen rutschig wurde.
Ujin würde das verstehen. Sie glaubte sowieso nicht, dass er ihrem Outfit große Beachtung schenken würde. So oberflächlich war er nicht. Sie kannten sich seit einer Ewigkeit, und er wusste, was er an ihr hatte.
Sie waren heute verabredet, und er würde ihr endlich die Frage aller Fragen stellen, davon war Dahee fest überzeugt.
Sie wollten zusammen die Weihnachtswelt der Großen Mall besuchen. Eine lange Fahrt stand ihr bevor, doch das war ihr egal. Besonders zu dieser Zeit des Jahres. Ganz Seoul leuchtete im magischen Weihnachtsglanz, und auch wenn die Betriebsamkeit und Hektik überall zunahmen, traten sie doch irgendwie in den Hintergrund.
Die Mall war bekannt für eines der schönsten vorweihnachtlichen Spektakel überhaupt: Vor dem Gebäude stand ein riesiger, hell beleuchteter Baum. Jedes Jahr übertraf er den des Vorjahres.
In diesem Jahr gab es zusätzlich noch ein Labyrinth, in dessen Mitte sich ein besonders magischer Ort für Liebende befand, versteckt vor den Augen der Welt. Den wollten sie aufsuchen.
Dahees Wangen brannten, wenn sie an Ujins bedeutungsvollen Blick und das sanfte Lächeln dachte, als er sie zu diesem Treffen eingeladen hatte. Die Anzeichen waren eindeutig. Sie legte eine Hand auf ihre Brust und fühlte ihr Herz wild dagegenhämmern. Nein, nicht darüber nachdenken, sonst wurde es vielleicht nicht wahr.
Und trotzdem zierte ein Lächeln ihre Lippen, als sie aus dem Bad trat.
»Guten Morgen«, sagte Ayun, die in einem geblümten Morgenmantel vor der Tür gewartete hatte. Die junge Frau lächelte freundlich, bevor sie im Bad verschwand. Dahee ging ins gemeinsame Wohnzimmer der WG und erblickte wieder die Schneeflocken, die vor dem großen Fenster entlangtanzten. Sie konnte nicht an sich halten und drückte die Nase an die Scheibe. Daran konnte man sich unmöglich sattsehen. Der erste Schnee des Winters!
»Wenn das kein gutes Omen ist«, murmelte sie und lachte dann aus vollem Herzen. Der erste Schnee und immerwährende Liebe gehörten unweigerlich zusammen. Sollte ihr wirklich das große Glück beschieden sein, einen Antrag während des ersten Schneefalls zu erhalten?
»Warum lachst du?«, fragte Ayun, die gerade aus dem Bad kam.
»Ich treffe mich gleich mit Ujin, so heißt mein Freund. Wir besuchen heute die Mall.«
»Dann solltest du dich etwas sputen. Immerhin ist das der erste Schnee des Winters. Halb Seoul wird auf den Beinen sein, um diesen Tag mit einem geliebten Menschen zu verbringen.«
Dahee stöhnte. Die Straßen und Bahnen würden schon bald völlig verstopft sein. Sie musste versuchen, die Mall vorher zu erreichen. Oder ihr zumindest so nah wie möglich kommen, damit sie den Rest des Weges laufen konnte.
Aber zuerst musste sie sich hübsch machen. Sie schnappte sich ihre Tasche und durchwühlte sie.
»Was suchst du denn?«, fragte Ayun, die sich inzwischen aufs Sofa gesetzt hatte.
»Meinen Handspiegel«, seufzte Dahee.
»Oh«, bemerkte Ayun, »ich glaube, den hat sich Younghee gestern Abend ausgeliehen. Sie hatte ein Date, und ihrer war kaputt.«
Natürlich war er das. Dahee spürte, wie sich ein hysterisches Kichern seinen Weg durch ihre Kehle nach draußen bahnte. »Ayun, hast du einen Spiegel, den du mir leihen kannst?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Die Gefragte schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, tut mir leid. Aber ich kann dir beim Frisieren und Anziehen helfen, wenn du möchtest.«
Dahee fiel ein Stein vom Herzen. »Du bist eine Lebensretterin.«
Ayun stellte sich schnell als große Hilfe heraus. Schon nach zwanzig Minuten war Dahee komplett frisiert und nicht nur wintertauglich, sondern auch chic gekleidet.
»Wow, du bist aber schnell«, stellte sie bewundernd fest.
»Ach, na ja, ich habe Übung darin«, erwiderte die junge Frau. »Ich helfe meiner Großmutter oft beim Zurechtmachen.«
»Ah, verstehe. Deine Großmutter wird deine Hilfe bestimmt schmerzlich vermissen, jetzt, wo du hier bei uns wohnst.«
»Ach nein, das denke ich nicht.« Ayun lachte. »Sie kommt ganz gut allein zurecht.«
Lachend drehte sich Dahee einmal im Kreis. »Und? Wie sehe ich aus?«
»Fantastisch, er wird dir nicht widerstehen können.«
Dahee sah auf die Uhr. »Besser, ich gehe.« Spontan umarmte sie ihre neue Freundin. »Vielen Dank, Ayun, du ahnst nicht, wie sehr du mir geholfen hast. Ich schulde dir was.«
Keine zehn Minuten später saß sie in der Bahn.
Die Lichter zogen an ihr vorbei, das Gemurmel um sie herum wurde lauter und lauter, je näher sie dem Stadtzentrum kamen, und sie träumte von ihrer Zukunft mit Ujin. Der Verlobung würde bald die Hochzeit folgen, ein oder zwei Kinder und ein erfülltes Leben. Und später, in vielen Jahren, wenn sie einmal alt und grau waren, würden sie sich gemeinsam an diesen Tag erinnern.
Deshalb nahm sie alles in sich auf, jede Kleinigkeit, jede Lichterkette, jede Schneeflocke, und schloss alles fest in ihrem Herzen und ihren Erinnerungen ein. In der Hoffnung, diesen Tag zu konservieren, wie es leider nur selten mit schönen Momenten gelang.
Endlich erreichte sie ihre Station, stieg aus und ließ sich mit der Menschenmenge treiben. Wie erwartet war es in der Stadt voll. Es hatte aufgehört zu schneien, und es war auch kein Schnee liegen geblieben, daher sah sie nicht ganz so viele verliebte Paare, wie sie erwartet hatte.
Aber das hatte auch sein Gutes. Mit etwas Glück würde es im Labyrinth nicht zu voll sein. Sie beschleunigte ihre Schritte, betrat den Vorplatz der Mall und hielt für einen Augenblick inne, gerührt von der vorweihnachtlichen Stimmung. Hunderte Lichter in verschiedenen Farben glänzten um die Wette. Die Luft war erfüllt von diesem typisch weihnachtlichen Duft von erhitztem Alkohol und karamellisiertem Zucker. Herrlich.
Sie war zu früh, wie erwartet, doch das machte nichts. So konnte sie dem Treiben zusehen und sich daran erfreuen, dass es Tage wie diesen gab. Tage, an denen man mehr lachende als ernste Gesichter sah, denn das war es doch, worauf es im Leben ankam. Überall lag Liebe in der Luft. Was für ein Geschenk.
»Dahee?« Da war er.
Mit einem Lächeln im Gesicht drehte sie sich um und sah Ujin auf sich zukommen. Groß und schlank war er, elegant gekleidet und überhaupt der schönste Mann, dem sie je begegnet war. Seit er seine eigene Firma gegründet hatte, arbeitete er viel, und er wirkte nicht mehr ganz so unbeschwert wie früher. Aber was machte es schon, wenn er ein bisschen älter aussah, als er in Wirklichkeit war, solange er sie von ganzem Herzen liebte?
»Ujin«, sagte sie, ging auf ihn zu, und sie küssten sich kurz. Das fühlte sich immer noch ein wenig merkwürdig an. Nicht, weil sie seine Küsse nicht mochte, das Gegenteil war der Fall. Doch Dahee stammte aus einem sehr strengen Elternhaus. Ob ihre Eltern sich überhaupt je geküsst hatten? Wahrscheinlich nicht, und wenn, dann gewiss nicht in der Öffentlichkeit und schon gar nicht vor ihrer Hochzeit.
Lachend zog Ujin sie fester an sich. »Du darfst mich küssen, ohne dass deine Mutter mit erhobenem Zeigefinger auf uns zukommt. Sie ist über hundert Kilometer weit weg.«
»Ich weiß. Aber sie sitzt mir seit fünfzehn Jahren im Nacken. Das schüttelt man nicht so einfach ab.«
»Vor fünfzehn Jahren waren wir unschuldige Kinder, die ihre Lippen für eine Sekunde aufeinanderpressten, nur um herauszufinden, wie es sich anfühlt.« Er zwinkerte und sah ihr tief in die Augen. »Heute sind wir Liebende, die sich am Tag des ersten Schnees küssen. Außerdem sind wir moderne Stadtmenschen, was scheren uns die Regeln der alten Leute auf dem Land?«
Er senkte seine Lippen auf ihre, und diesmal küsste Dahee ihn richtig. Denn er hatte recht. In ihrem kleinen Dorf waren sie strengen Regeln unterworfen gewesen. Heute lebten sie in Seoul, und alles war möglich.
Das zeigte ihre Liebe deutlich. Ujin war zwei Jahre vor ihr in die Stadt gegangen, um zu studieren. Ihre Eltern hatten gehofft, dass sie ihn bis zu ihrem Schulabschluss vergessen würde, doch das war nicht geschehen.
Sie hatten sich geschrieben, und er war jedes Mal bei ihr vorbeigekommen, wenn er im Dorf zu Besuch gewesen war. Ihre Liebe hatte gehalten, und jetzt waren sie beide hier.
Hand in Hand gingen sie bis zum Eingang des Labyrinths und reihten sich in die Schlange ein. »Sie lassen immer nur wenige Paare gleichzeitig hinein«, erklärte Dahee, die sich das Treiben während ihrer Wartezeit angesehen hatte. »Wahrscheinlich soll so jedes Paar die Möglichkeit bekommen, in die Mitte zu gelangen und seine Zeit dort zu genießen.« Sie suchte Ujins Blick. Sah sie dort ein kleines Aufblitzen? Einen Hinweis darauf, dass ihre Vermutung richtig war und er ihr gleich einen Antrag machen würde?
Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie noch einmal. »Ich kann es gar nicht erwarten.« In seiner Stimme lag all die Liebe und tiefe Zuneigung, die auch sie empfand.
Dahees Inneres bebte, und sie meinte, ihr Herz wolle vorausgaloppieren und sich bereits auf den Weg in die Mitte des Labyrinths machen.
Endlich waren sie an der Reihe und traten zwischen die immergrünen Büsche. Sie waren über zwei Meter hoch und künstlich, doch das störte Dahee nicht.
»Fast wie echt«, sagte Ujin und streifte mit den Fingern an der Hecke entlang. »Welche Richtung?« Bereits nach wenigen Metern hatten sie die erste Abzweigung erreicht. Dahee zeigte nach rechts. Sie betraten den neuen Gang, und Weihnachtsmusik erklang. So ging es weiter, und nach zwei Sackgassen erreichten sie schließlich die Mitte.
Ein wenig atemlos blieb Dahee stehen. Dieser Ort übertraf all ihre Erwartungen. Der Weg öffnete sich in ein herzförmiges Zentrum. Die Lichter spiegelten sich im glitzernden Kunstschnee, und sanfte Weihnachtsmusik ertöne aus den gut versteckten Lautsprechen.
»Komm!« Ujin streckte ihr die Hand entgegen und führte sie zu der kleinen Steinbank im Zentrum des kleinen Platzes, neben der ein herrlich geschmückter Weihnachtsbaum in den Himmel ragte. Er war eine kleinere Ausgabe der riesigen Tanne vor der Mall und erstrahlte in herrlichem Glanz.
Genau wie mein Herz, dachte Dahee. Alles in ihr strahlte, lief über vor Glück, und am liebsten hätte sie laut gejauchzt vor Freude.
Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank, ihre Blicke verfingen sich, und Liebe hüllte sie ein. Eine Liebe, von der sie sicher war, dass sie die Jahre überstehen würde. Sie würden zusammen alt und grau werden und ihren Enkelkindern von diesem magischen Tag erzählen.
»Choi Dahee, vom ersten Tag an war für mich klar, wie das mit uns enden wird. Ich habe dich im Park spielen gesehen und zu meinem Bruder gesagt: Da läuft das Mädchen, das ich einmal heiraten werde. Er hat gelacht und es meiner Mutter erzählt, die ebenfalls gelacht hat. Doch das war mir egal, denn ich habe es von Anfang an gewusst.« Er stand auf und zog etwas aus der Jackentasche. Dann kniete er sich vor ihr auf den Boden und öffnete das kleine Kästchen, in dem ein goldener Ring funkelte. »Dahee, Liebe meines Lebens, willst du mich heiraten und den Rest deiner Tage an meiner Seite verbringen?«
»Ja!« Die Worte waren mehr ein Schluchzen und gingen unter in dem liebevollen Kuss, der folgte.
Obwohl sie so lange auf diesen Augenblick gewartet hatte, konnte sie ihr Glück dennoch kaum fassen. Ihre Hand zitterte, während er ihr den Ring ansteckte. Er passte perfekt. Natürlich. Denn zum einen war alles an diesem Tag perfekt, und zum anderen kannten sie sich lang genug.
Der Rest des Tags verging wie im Rausch: ein Chor, der nur für sie Weihnachtslieder sang, ein großer Einkaufsbummel und danach eine gemeinsame Kutschfahrt durch das abendliche Seoul. Ujin scheute weder Kosten noch Mühen, um den Tag für sie unvergesslich zu machen. Als die Kutsche spätabends vor dem großen Gebäude ankam, in dem sie lebte, waren schon alle Lichter aus. Viele Studenten fuhren am Wochenende nach Hause, und die anderen waren wahrscheinlich irgendwo feiern. Nur in ihrem Wohnzimmer brannte noch Licht. Bestimmt wartete Ayun dort, um zu erfahren, was heute passiert war. Dahee freute sich schon darauf, ihr jede Einzelheit dieses unvergesslichen Tages zu schildern. Und gleich morgen früh würde sie all ihre Freunde und Verwandten anrufen, um ihnen die tolle Neuigkeit mitzuteilen. Sie war jetzt verlobt!
***
Franz Bergmoser war zum ersten Mal in Südkorea. Seine Firma Snow Austria stellte die besten Schneekanonen der Welt her, und er war stolz darauf. Es war sein erster Auftrag im fernen Osten. Angeblich war der Auftraggeber ein reicher Koreaner, der eine Menge Geld auf den Tisch geblättert hatte, um kurzfristig einen Servicetechniker einfliegen zu lassen. Da Franz der einzige verfügbare Mann gewesen war, der sowohl einen gültigen Reisepass als auch passable Englischkenntnisse vorweisen konnte, war die Wahl auf ihn gefallen, und man hatte ihn direkt in ein Flugzeug nach Seoul gesetzt.
Ein Chauffeur hatte Franz am Flughafen abgeholt und ihn in einer noblen Limousine direkt hierhergebracht. Eigentlich hatte Franz erwartet, irgendwo in die Berge gefahren zu werden, in ein Skigebiet oder etwas Ähnliches. Doch nun stand er hier vor einem Wohnblock, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Franz hätte gerne die Adresse auf seinem Auftrag mit dem Straßennamen verglichen, doch aus den Kreisen und Strichen auf den Schildern wurde er nicht schlau. Also zuckte er mit den Schultern und fragte sich gerade, welche der vielen Klingeln er wohl drücken sollte, als eine junge Frau die Tür öffnete.
»Guten Abend«, sagte sie auf Englisch und schüttelte seine Hand. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«
»Guten Abend«, erwiderte er. »Mein Name ist Franz Bergmoser, von Snow Austria.«
»Mein Name ist Ayun, Kim Ayun.«
Fasziniert sah er die gut aussehende junge Frau an und stotterte: »Oh, das … das ist ein sehr schöner Name.« Innerlich hätte er sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Bestimmt hielt sie ihn für einen kompletten Trottel.
Doch sie lächelte ihn nur freundlich an und antwortete: »Ich wurde nach Tante Ayun benannt, der Trauzeugin meiner Großmutter.« Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihm, ihr zu folgen. Anstatt des erwarteten Aufzugs gingen sie in ein Treppenhaus. Er dachte an die großen Koffer mit Ersatzteilen und Werkzeugen, die noch draußen vor der Tür standen, und seufzte.
Sie zuckte verlegen mit den Schultern. »Eigentlich ist Tante Ayun gar nicht mit mir verwandt, sie war die beste Freundin meiner Großmutter. Die beiden haben sich damals während ihrer Studienzeit in diesem Haus kennengelernt. Wir waren alle sehr traurig, als sie vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben kam.«
»Mein Beileid.«
»Danke.«
Schweigend gingen sie nebeneinander die Treppe hoch, bis Franz das Schweigen brach: »Darf ich eine Frage stellen?«
»Immer heraus damit.«
»Wieso haben Sie eine Schneemaschine auf dem Dach?«
Ayun blieb stehen und sah ihn nachdenklich an. »Sie würden es mir nicht glauben.«
Franz zuckte mit den Schultern. »Versuchen Sie’s.«
»Also, Sie erinnern sich an den Unfall, von dem ich erzählt habe? Den, bei dem Tante Ayun starb?«
Franz nickte.
»Meine Großmutter war ebenfalls in den Unfall verwickelt, aber sie überlebte, wenn auch schwer verletzt.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Danke. Jedenfalls trug sie eine schwere Schädelverletzung davon. Ihr Gedächtnis wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen. Wenn sie morgens aufwacht, kann sie sich nicht mehr an den Tag zuvor erinnern. Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert noch, auch wenn sie vieles vergessen hat.«
Inzwischen waren sie auf dem Dach angekommen und liefen zu der Schneekanone, die neben einer Hütte stand, die wie eine behelfsmäßig zusammengezimmerte finnische Sauna aussah.
»Hier ist die Maschine, sie macht in letzter Zeit immer häufiger merkwürdige Geräusche. Sie muss unbedingt vor Sonnenaufgang repariert sein, der Preis spielt keine Rolle.«
Franz sah die junge Frau verwirrt an. »Es tut mir wirklich leid für Ihre Großmutter, aber ich verstehe den Zusammenhang immer noch nicht.«
Sie rieb sich die Schläfen. »Meine Großmutter ist fünfundsechzig Jahre alt. Jeden Morgen, wenn sie aufwacht, glaubt sie, es sei der Morgen ihrer Verlobung. Und jedes Mal, wenn man ihr erklärt, was wirklich los ist, bricht es ihr das Herz, weil sie begreift, dass sie nicht nur den glücklichsten Tag ihres Lebens vergessen hat, sondern auch die darauffolgenden vierzig Jahre mit meinem Großvater, ebenso wie die Geburt ihrer Kinder, ihrer Enkel, und wie sie Tante Ayun kennengelernt hat. Alles.« Offensichtlich erschüttert schüttelte Ayun den Kopf.